Kommt und staunt - Straßenkinder in Addis Abeba
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<strong>Kommt</strong><br />
<strong>und</strong> Staunt<br />
30 Jahre Aktion<br />
‘<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’<br />
im Kirchenkreis Marburg-Land
<strong>Kommt</strong> <strong>und</strong> <strong>staunt</strong><br />
30 Jahre Aktion<br />
‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’<br />
im Kirchenkreis Marburg-Land<br />
Marburg 2003<br />
‚<strong>Kommt</strong> <strong>und</strong> <strong>staunt</strong>’ wird herausgegeben im Auftrag des<br />
Kirchenkreisvorstandes des Kirchenkreises Marburg-Land als<br />
Dank an alle, die die Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’<br />
durch Gaben <strong>und</strong> Gebete förderten <strong>und</strong> weiter fördern werden.<br />
Veröffentlicht im Zusammenhang mit dem Besuch des<br />
Bischofs der Evangelischen Kirche von Kurhessen <strong>und</strong><br />
Waldeck, Dr. Mart<strong>in</strong> He<strong>in</strong>, im November 2003
Die Kirchengeme<strong>in</strong>den des Dekanats<br />
Marburg-Land<br />
Altenvers<br />
Niederweimar<br />
Amönau<br />
Oberrosphe<br />
Bauerbach<br />
Oberwalgern<br />
Beltershausen<br />
Oberweimar<br />
Bürgeln<br />
Rodenhausen<br />
Caldern<br />
Rollshausen-Seelberg<br />
Cappel<br />
Ronhausen<br />
Cölbe<br />
Roth<br />
Cyriaxweimar<br />
Schönstadt<br />
Dilschhausen<br />
Schwarzenborn<br />
Dreihausen<br />
Simtshausen<br />
Ebsdorf<br />
Sterzhausen<br />
Elnhausen<br />
Todenhausen<br />
Fronhausen<br />
Treisbach<br />
Gisselberg<br />
Unterrosphe<br />
Goßfelden-Sarnau<br />
Warzenbach<br />
Hachborn<br />
Wehrda, Mart<strong>in</strong>skirche<br />
Hassenhausen<br />
Wehrda, Tr<strong>in</strong>itatiskirche<br />
Heskem<br />
Wehrshausen<br />
Kirchvers<br />
Weipoltshausen<br />
Leidenhofen<br />
Weitershausen<br />
Lohra<br />
Wenkbach-Argenste<strong>in</strong><br />
Mellnau<br />
Wetter<br />
Michelbach<br />
W<strong>in</strong>nen<br />
Moischt<br />
Wittelsberg<br />
Münchhausen<br />
Wolfshausen<br />
Niederasphe<br />
Wollmar<br />
Niederwalgern
Vorwort<br />
Auf dem Titelfoto <strong>und</strong> auf der Rückseite dieses Heftes fallen<br />
zwei K<strong>in</strong>der besonders <strong>in</strong>s Auge. Das K<strong>in</strong>d mit dem blauen<br />
Schultertuch <strong>und</strong> das K<strong>in</strong>d mit dem weißen Kopfüberwurf. Wir<br />
sehen <strong>in</strong> den Gesten der beiden e<strong>in</strong>e Möglichkeit, das Projekt<br />
‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ zu beschreiben.<br />
Während das l<strong>in</strong>ke K<strong>in</strong>d dankend die Hände<br />
zusammenlegt <strong>und</strong> den Kopf beugt – e<strong>in</strong>e<br />
Geste des Nehmens – hält das andere K<strong>in</strong>d<br />
die Hände ause<strong>in</strong>ander, blickt uns an <strong>und</strong><br />
sche<strong>in</strong>t uns durch die geöffneten Hände – e<strong>in</strong>e Geste des Gebens<br />
– e<strong>in</strong>en Gruß zu senden.<br />
Geben <strong>und</strong> Nehmen, Nehmen <strong>und</strong> Geben.<br />
Das ist die besondere Art, <strong>in</strong> der unser geschwisterlicher Kontakt<br />
mit den Christenmenschen der Zentralsynode der Mekane<br />
Yesus Kirche <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> geschieht.<br />
In den Beiträgen dieses Heftes wird es immer wieder betont,<br />
dass die geschwisterliche Verb<strong>und</strong>enheit mit Menschen im für<br />
uns so fernen Äthiopien vom christlichen Geist der Gegenseitigkeit<br />
getragen wird.<br />
Wir hier im Marburger Land sammeln Geld <strong>und</strong> ‚spenden’ Gebete<br />
als Gaben der Nächstenliebe bis nach Äthiopien.<br />
Unsere Gaben <strong>und</strong> Gebete werden dann <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> <strong>und</strong><br />
Umgebung <strong>in</strong> die christlichen Geme<strong>in</strong>den <strong>und</strong> an K<strong>in</strong>der <strong>und</strong><br />
Jugendliche weitergegeben. Von dort erreichen uns Nachrichten,<br />
dass wir helfen konnten, <strong>und</strong> wir werden von dort ‚gespendeten’<br />
Gebeten erreicht.
Dekan Voss nennt das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag ‚E<strong>in</strong>mal Segen <strong>und</strong><br />
Zurück’.<br />
Wir hoffen, mit diesem Heft e<strong>in</strong>erseits Menschen zu erreichen,<br />
die schon lange die partnerschaftliche Hilfe unseres Kirchenkreises<br />
nach Äthiopien begleiten, andererseits wollen wir Informationen<br />
<strong>und</strong> E<strong>in</strong>drücke für die weitergeben, die sich neu<br />
für <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> <strong>in</strong>teressieren. Ausdrücklich<br />
wollen wir auch Konfirmandengruppen <strong>und</strong> K<strong>in</strong>dergottesdienste<br />
mit diesem Heft grüßen. Gesa Hentschel hat vor allem für<br />
sie die Paul <strong>und</strong> Mia Cartoons gezeichnet <strong>und</strong> getextet.<br />
Im Redaktionskreis dieses Heftes waren wir alle schon von der<br />
Aktion <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> überzeugt <strong>und</strong> begeistert,<br />
als wir die Arbeit an diesem Heft aufnahmen. Jetzt, wo es <strong>in</strong><br />
die Hände derer kommen kann, die diese Aktion seit vielen<br />
Jahren tragen <strong>und</strong> weitertragen, ist unsere Überzeugung noch<br />
e<strong>in</strong>mal gewachsen: Was hier gel<strong>in</strong>gt, ist e<strong>in</strong> Stück der Wahrheit<br />
des Himmels unseres Gottes, der die Welt überspannt, um<br />
Menschen zu Geschwistern der Liebe Jesu zu machen.<br />
Marburg im Herbst 2003<br />
Hans–G. Hentschel<br />
Joachim Striepecke<br />
Stefan Aumann
Inhalt<br />
Grußwort von Pfr. i. R. Dr. Friedrich Jens Mommsen 2<br />
Grußwort von Rev. Girma Chaka, <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> 4<br />
Grußwort von Pfr. Mart<strong>in</strong> Zekl 6<br />
Dem ganzen Menschen dienen 8<br />
Fußbälle für <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> 11<br />
<strong>Kommt</strong> <strong>und</strong> <strong>staunt</strong> 13<br />
Wer ist ...? 15<br />
Was leistet das Programm ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong><br />
<strong>Abeba</strong>’? 20<br />
E<strong>in</strong>mal Segen <strong>und</strong> zurück 21<br />
Paul <strong>und</strong> Mia: Fre<strong>und</strong>e 25<br />
Anstoß- <strong>und</strong> Durchhalteenergie 26<br />
Paul <strong>und</strong> Mia: Ke<strong>in</strong> Typ 29<br />
Gespräch mit dem Ehepaar Mommsen 30<br />
Das Gleichnis vom Senfkorn auf Amharisch 34<br />
Staunendes Auge, offenes Herz ... 36<br />
Aus Hungerhilfe wurde umfassende Lebenshilfe 40<br />
Interview mit Dorle Wilke 42<br />
Zeuge der Dankbarkeit 48<br />
Paul <strong>und</strong> Mia: Kaugummi 49<br />
Almaz’ Traum 50<br />
Wie sieht die politische <strong>und</strong> soziale Lage <strong>in</strong> Äthiopien<br />
aus? 52<br />
Paul <strong>und</strong> Mia: Total gleich 54<br />
Fiche 55<br />
Zu guter Letzt 56
Grußwort von<br />
Pfr. i. R. Dr. Friedrich Jens Mommsen<br />
Beauftragter des Kirchenkreises<br />
Marburg-Land für die Aktion<br />
‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong>-Adeba’<br />
bis November 2001<br />
Statt e<strong>in</strong>es üblichen Grußwortes will ich erzählen, wie der Name<br />
der Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ zustande kam.<br />
Das von uns zu Weihnachten 1974 gesammelte Spendengeld<br />
für Äthiopien (8304,75 DM) wurde von dem Hermannsburger<br />
Pfr. Johannes Launhardt, der damals vor Ort Schatzmeister<br />
der Mekane Yesus Kirche war, verwendet, um 17 Mädchen<br />
<strong>und</strong> Jungen, die er zusammen mit se<strong>in</strong>er Frau von der Straße<br />
holte, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.<br />
Die Lage <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> war damals so dramatisch, dass ungeheuer<br />
viele hungernde K<strong>in</strong>der durch die Straßen ‚streunten’.<br />
Das kommunistische Regime Mengistu wollte aber mit der<br />
Hauptstadt e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>druck machen. Deshalb wurden<br />
diese bettelnden <strong>und</strong> herumstreifenden K<strong>in</strong>der von der Straße<br />
e<strong>in</strong>gesammelt <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Auffanglanger nach Siga Meda gebracht.<br />
Von dort sollten sie nach Kuba gebracht werden, um<br />
2
sie e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> loszuse<strong>in</strong> <strong>und</strong> ihnen andererseits e<strong>in</strong>e<br />
kommunistische Erziehung zukommen zu lassen.<br />
In Kenntnis dieser Verbr<strong>in</strong>gungspläne schlug uns der damalige<br />
Generalsekretär der Mekane Yesus Synode, Gud<strong>in</strong>a Tumsa,<br />
e<strong>in</strong> Pilotprojekt vor, das von Marburg nach <strong>Addis</strong> helfen sollte.<br />
Der Name dieses Pilotprojektes lautete: ‚Helft <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>n<br />
Familien zu f<strong>in</strong>den’.<br />
Pfr. Dr. Mommsen beim 1. Besuch<br />
<strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> 1982 mit<br />
e<strong>in</strong>em Geschenk für jedes<br />
K<strong>in</strong>d: e<strong>in</strong> Neues Testament <strong>in</strong><br />
der Muttersprache<br />
Durch dieses Projekt wurden etliche K<strong>in</strong>der zu ihren Eltern<br />
oder zu (von der Kirche ausgewählten) Pflegeeltern zurückgebracht.<br />
In <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> wurde das Programm ‚Family Reunification<br />
Programme’ genannt. Wir nannten es, wie es heute<br />
so vielen vertraut <strong>und</strong> bekannt ist: ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> A-<br />
beba’.<br />
Ich selbst b<strong>in</strong> 28 Jahre der Beauftragte des Kirchenkreises<br />
Marburg-Land für diese Arbeit gewesen <strong>und</strong> danke Gott, dass<br />
er mir die Kraft gegeben hat, mich für dieses Projekt e<strong>in</strong>zusetzen.<br />
Mit Gottes Hilfe <strong>und</strong> <strong>in</strong> Jesu Namen soll es auch weiter dazu<br />
beitragen, jungen Menschen <strong>in</strong> Äthiopien Leben zu ermöglichen,<br />
das e<strong>in</strong>e Hoffnung auf Zukunft hat.<br />
3
Grußwort von Rev. Girma Chaka<br />
Präsident der<br />
Zentraläthiopischen Synode<br />
der Mekane Yesus Kirche,<br />
<strong>Addis</strong>-<strong>Abeba</strong><br />
The Launch<strong>in</strong>g of the <strong>Addis</strong> Ababa Street Children Programme<br />
The former Urban Desk of the then council of the Lutheran<br />
Congregations of <strong>Addis</strong> Ababa started the Programme <strong>in</strong> 1974<br />
<strong>in</strong> co-operation with the Rehabilitation Agency for the Disabled,<br />
a Government ran Humanitarian Agency based <strong>in</strong> <strong>Addis</strong><br />
Ababa. The number of children who were first re-unified was<br />
17. Due to the ever-<strong>in</strong>creas<strong>in</strong>g magnitude of the need, the<br />
number of the target groups and their benefits also started<br />
ris<strong>in</strong>g from year to year; besides, the programme also tried to<br />
reach most of the regions, namely, the Amhara National<br />
regional state, the Oromia National regional state and the<br />
Somali National regional state. Consequently, the number of<br />
the beneficiaries has <strong>in</strong>creased from 17 to 1014 now and the<br />
centres have also grown up to 23 at present.<br />
The former <strong>Addis</strong> Ababa street children, and the present<br />
Family Re-unification Programme is supported f<strong>in</strong>ancially by<br />
the Marburg-Land Church Circuit. We know that the good<br />
hearted great man Dr. Mommsen is beh<strong>in</strong>d this programme<br />
who has approached and won the lov<strong>in</strong>g heart of his beloved<br />
4
people and his honourable Government to support the <strong>Addis</strong><br />
Ababa street children f<strong>in</strong>ancially. At this juncture, we are happy<br />
to express that h<strong>und</strong>reds of the beneficiaries of the programme<br />
have ga<strong>in</strong>ed a lot. To mention some of the achievements,<br />
some of the beneficiaries have become physicians, nurses,<br />
government officials, self employees, garage owners, small<br />
and medium size owners, congregation elders and so on.<br />
Last but not least we would earnestly like to mention that we<br />
would s<strong>in</strong>cerely like to appreciate and thank Dr. Mommsen.<br />
Meanwhile, our profo<strong>und</strong> gratitude goes to the Marburg church<br />
circuit who raises f<strong>und</strong> and transfers to our church so that the<br />
beneficiaries get support timely and we also appreciate the<br />
confidence the church circuit has entrusted on us. Our s<strong>in</strong>cere<br />
thanks also go to Dr. Karl-Ludwig Voss who is the Dean of the<br />
Marburg-Land church circuit, the Rev. Mart<strong>in</strong> Zekl, and the<br />
board members of the church circuit, not to forget Rev.<br />
Johannes Launhardt as well.<br />
Let the Almighty God Bless the 30th Anniversary of the Family<br />
Re-unification Programme!<br />
In se<strong>in</strong>em Grußwort er<strong>in</strong>nert der Präsident an die Anfänge des<br />
<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>programms, das zunächst auf die Unterstützung<br />
von 17 K<strong>in</strong>dern konzentriert war, aufgr<strong>und</strong> des ständig zunehmenden<br />
Ausmaßes an Bedürftigkeit aber sehr schnell <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />
vielfacher H<strong>in</strong>sicht durch die f<strong>in</strong>anzielle Hilfe aus dem Kirchenkreis<br />
Marburg-Land ausgebaut werden konnte.<br />
Er unterstreicht die besondere Rolle Pfr. Dr. Mommsens für<br />
den Erfolg des Projekts, der nicht zuletzt daran erkennbar sei,<br />
dass aus <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>n Ärzte <strong>und</strong> Schwestern, Regierungsbeamte,<br />
Selbstständige <strong>und</strong> auch kirchliche Funktionsträger<br />
werden konnten.<br />
Se<strong>in</strong> tiefer Dank gilt neben Pfr. Dr. Mommsen <strong>und</strong> Pfr. Johannes<br />
Launhardt dem Engagement des Kirchenkreises, für den<br />
er stellvertretend Dekan Dr. Voss <strong>und</strong> Pfr. Mart<strong>in</strong> Zekl nennt.<br />
5
Grußwort von Pfr. Mart<strong>in</strong> Zekl<br />
Beauftragter des Kirchenkreises<br />
Marburg-Land für die Aktion<br />
‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong>-Adeba’<br />
seit November 2001<br />
Wer wissen will, wie unsere Welt aussieht, hat viele Möglichkeiten,<br />
es zu erfahren. Doch man kann fragen, ob wir wirklich<br />
immer alles wissen wollen. E<strong>in</strong> Mensch, der die Schönheiten –<br />
auch die Nöte – der Welt <strong>in</strong> fremden Ländern sehen will, muss<br />
beharrlich <strong>und</strong> genau se<strong>in</strong>. Oder muss e<strong>in</strong>e gute Hilfe haben –<br />
kenntnisreich <strong>und</strong> <strong>in</strong>formiert, unbestechlich <strong>und</strong> kritisch.<br />
Was vor dreißig Jahren anf<strong>in</strong>g, hatte ganz handfest damit zu<br />
tun, dass Menschen bei uns etwas gesehen haben – e<strong>in</strong>e Not<br />
andernorts; <strong>und</strong> sie haben gesehen, dass sie helfen konnten.<br />
Sehr kle<strong>in</strong> <strong>und</strong> eher zerbrechlich war es. Als Hilfe für e<strong>in</strong>e bestimmte<br />
furchtbare Hungersnot <strong>in</strong> Äthiopien war es gedacht.<br />
Wir s<strong>in</strong>d dankbar dafür, dass daraus e<strong>in</strong>e verlässliche E<strong>in</strong>richtung<br />
geworden ist, die schon so lange funktioniert.<br />
F<strong>in</strong>anzielle Hilfe ist leicht zu transportieren <strong>und</strong> sie ist zu kontrollieren.<br />
F<strong>in</strong>anzielle Hilfe braucht e<strong>in</strong>en zuverlässigen Partner<br />
– <strong>und</strong> die Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ hat diesen<br />
Partner <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er im Land ansässigen evangelischen Kirche<br />
auch gef<strong>und</strong>en: der Äthiopischen Evangelischen Kirche Meka-<br />
6
ne Yesus (EECMY). Hier <strong>in</strong> Deutschland ist der zuverlässige<br />
Partner das Missionswerk Hermannsburg.<br />
Kle<strong>in</strong> war der Anfang, kle<strong>in</strong> wie e<strong>in</strong><br />
Senfkorn; aber es ist e<strong>in</strong>e große<br />
Sache daraus geworden. Sehr viele<br />
Jugendliche haben <strong>in</strong> ihrem Land<br />
e<strong>in</strong>e neue Lebensqualität erfahren.<br />
E<strong>in</strong>em Land, das auf ganz andere<br />
Weise christlich geprägt ist als unseres<br />
<strong>und</strong> zugleich vom Islam <strong>und</strong><br />
von traditionellen Naturreligionen<br />
mitgeprägt wird.<br />
Was diese Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ durch die vielen Gaben<br />
unzähliger Spender<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Spender<br />
aus dem Marburger Land <strong>und</strong> auch von außerhalb geleistet<br />
hat, ist e<strong>in</strong> Stück von der Herrschaft Gottes, die auf unserer<br />
Erde sichtbar wird, nämlich:<br />
• Hilfe, die über die Jahre unsicherer, gefährdeter Jugendzeit<br />
h<strong>in</strong>weghilft, den Schulbesuch ermöglicht <strong>und</strong> ermutigtes<br />
Selbstbewußtse<strong>in</strong> wachsen lässt;<br />
• Hilfe, die die B<strong>in</strong>dung an die Familie weiterh<strong>in</strong> gewährleistet;<br />
• Hilfe, die mit e<strong>in</strong>er evangelischen Geme<strong>in</strong>de verb<strong>in</strong>det <strong>und</strong><br />
das Bild Jesu Christi <strong>in</strong> geschwisterlicher Nähe zeigt.<br />
Ich sehe auf die Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ als e<strong>in</strong>er,<br />
der aus der Pfarrerschaft des Kirchenkreises Marburg-<br />
Land Verantwortung für dieses Projekt übernommen hat, mit<br />
besonders dankbarem Herzen <strong>und</strong> wünsche allen, die diese<br />
Aktion unterstützen, e<strong>in</strong> ebenso dankbares Herz.<br />
Wir können an diesem bescheidenen Platz dazu beitragen,<br />
dass die Welt nicht bleibt wie sie ist, sondern durch Liebe <strong>und</strong><br />
Treue um Jesu willen verändert wird.<br />
7
Dem ganzen Menschen dienen<br />
Was charakterisiert das Projekt ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’?<br />
Von Dekan Dr. Karl-Ludwig Voss<br />
Im Herbst 1994 war ich dabei, mich mit me<strong>in</strong>er neuen Aufgabe<br />
als Dekan im Marburger Land anzufre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> vertraut zu<br />
machen. Bald kam der Beauftragte des Projektes ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>’<br />
zu mir. Er wollte mir die Wichtigkeit <strong>und</strong> Bedeutung dieses<br />
Arbeitsgebietes ans Herz legen.<br />
Aber erst nach e<strong>in</strong>igen Wochen sollte ich merken, dass diese<br />
Partnerschaft mit äthiopischen Christen <strong>und</strong> die Teilhabe am<br />
Leben von damals noch 800 <strong>und</strong> heute 1014 K<strong>in</strong>dern unvergleichlich<br />
wichtig <strong>und</strong> für alle Beteiligten bereichernd ist.<br />
‚Dem ganzen Menschen<br />
dienen’ lautet das Leitwort der<br />
evangelischen Mekane Yesus<br />
Kirche. Dieses ganzheitliche<br />
Menschenbild kommt auch im<br />
geme<strong>in</strong>samen Projekt zum<br />
Tragen.<br />
‚Dem ganzen Menschen<br />
dienen’ – das bedeutet, dass<br />
es nicht alle<strong>in</strong> um materielle<br />
Hilfe geht, mit der sich auch<br />
viele andere Organisationen dankenswerter Weise engagieren,<br />
sondern es geht auch um e<strong>in</strong>e geistlich religiöse Dimension bei<br />
unserem Projekt.<br />
So hat sich e<strong>in</strong> selbstverständliches gegenseitiges Geben <strong>und</strong><br />
Nehmen, Nehmen <strong>und</strong> Geben zwischen Christen <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>den<br />
des Kirchenkreises Marburg-Land <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>den<br />
der ‚Zentraläthiopischen Synode’ der Mekane Yesus Kirche<br />
entwickelt.<br />
8
Unsere Partnerschaft ereignet<br />
sich ‚auf Augenhöhe’<br />
zwischen den beteiligten<br />
Menschen <strong>in</strong> Deutschland<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong> Äthiopien. Das ist gut<br />
<strong>und</strong> prägt unsere ‚christliche<br />
Geme<strong>in</strong>schaft’.<br />
Zur Zeit belaufen sich die<br />
materiellen Leistungen pro<br />
Jahr auf etwa 130.000,- Euro. Aber mit Geldsummen ist eben<br />
nur e<strong>in</strong> Teilbereich dessen benannt, was wir <strong>in</strong> dieser Partnerschaft<br />
haben. Ebenso wichtig – wenn nicht sogar wichtiger! –<br />
ist der Austausch von konkreten Lebens- <strong>und</strong> Glaubenserfahrungen<br />
<strong>und</strong> das ‚<strong>in</strong>formierte Beten’ füre<strong>in</strong>ander.<br />
Es ist gut, geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>e Lebensbasis zu suchen. Denn ‚Lebens-<br />
<strong>und</strong> Glaubensqualität’ ist ke<strong>in</strong> deutsch-europäischer Exportartikel<br />
für e<strong>in</strong> afrikanisches Land.<br />
Es kann auch nicht darum gehen, dass sich E<strong>in</strong>zelne mit e<strong>in</strong>em<br />
solchen Projekt profilieren <strong>und</strong> ihr Image pflegen. Darum<br />
ist das Projekt ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ nicht an e<strong>in</strong>zelne<br />
Personen, sondern an die Geme<strong>in</strong>schaft der Kirchengeme<strong>in</strong>den<br />
unseres Kirchenkreises geb<strong>und</strong>en. Mir sche<strong>in</strong>t es<br />
richtig, dass mit unserer Partnerschaft im Rahmen der äthiopischen<br />
Gesellschaft e<strong>in</strong> positiver Lebensanstoß gegeben wird,<br />
der <strong>in</strong> diesem konkreten Fall gefährdeten jungen Menschen<br />
zugute kommt.<br />
Erstaunlich ist übrigens, dass sich dieses Projekt auch positiv<br />
auf das Zusammenleben von Christen <strong>und</strong> Kirchengeme<strong>in</strong>den<br />
<strong>in</strong> der Marburger Region ausgewirkt hat. Auch hier ist deutlich<br />
spürbar, dass wir immer wieder neu e<strong>in</strong>e Theologie brauchen,<br />
die sich am elementar Menschlichen orientiert <strong>und</strong> dem Leben,<br />
d. h. dem ganzen Menschen dient. Den Anstoß zu e<strong>in</strong>er solchen<br />
Theologie können wir uns im Hören auf das Leitwort der<br />
Mekane Yesus Kirche geben lassen: ‚Dem ganzen Menschen<br />
dienen’.<br />
9
Fußbälle für <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong><br />
Von Landespfarrer für Diakonie Mart<strong>in</strong> Slenczka<br />
„Zwei ganz wichtige Anliegen habe ich, wenn Sie bei uns im<br />
Kirchenkreis Marburg-Land Dekan werden.“ Mit diesen Worten<br />
sprach mich der damalige Pfarrer der Geme<strong>in</strong>de der Tr<strong>in</strong>itatiskirche<br />
<strong>in</strong> Wehrda, Pfarrer Dr. Mommsen, an, als ich im Juni<br />
1982 zur Vorstellung <strong>in</strong> die Pfarrkonferenz gekommen war.<br />
Das e<strong>in</strong>e Anliegen war die Förderung der Partnerschaft mit<br />
dem Kirchenkreis Querfurt bei Halle a. d. Saale. Das andere<br />
war das Projekt ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’, aus dem später<br />
die Partnerschaft des Kirchenkreises mit der Mekane Yesus<br />
Kirche <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> geworden ist.<br />
Beides habe ich damals gern zugesagt. Beides hat dann auch<br />
e<strong>in</strong>en ganz wichtigen Platz <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Tätigkeit als Dekan des<br />
Kirchenkreises Marburg-Land e<strong>in</strong>genommen.<br />
„To serve the whole man“ lautet e<strong>in</strong> Leitsatz der Mekane Yesus<br />
Kirche, mit dem sie ihr Selbstverständnis <strong>und</strong> ihre Aufgabe<br />
beschreibt. Darauf kommt es an. „Dem ganzen Menschen dienen“,<br />
das ist auch der Leitgedanke beim Projekt ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’. Mit e<strong>in</strong>er Spende von 45,00 äthiopischen Birr<br />
(damals ca. 30,00 DM) im Monat konnte <strong>in</strong> dem von Mangel<br />
<strong>und</strong> Hunger schwer gezeichneten Land e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d nicht nur<br />
zu essen <strong>und</strong> zu tr<strong>in</strong>ken, sondern auch Kleidung, Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge<br />
<strong>und</strong> Schuldbildung gegeben werden.<br />
Als e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Initiative hatte diese Partnerschaft <strong>in</strong> der Tr<strong>in</strong>itatiskirche<br />
<strong>in</strong> Marburg-Wehrda begonnen. Zuerst waren es fünf,<br />
dann 17 <strong>und</strong> schließlich 250 K<strong>in</strong>der, die <strong>in</strong> das Programm aufgenommen<br />
waren, als ich Gelegenheit hatte, mit e<strong>in</strong>er Delegation<br />
des Kirchenkreises persönlich nach <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> zu reisen,<br />
um mich vor Ort von der Wirksamkeit des Projektes zu<br />
überzeugen. Partnerschaften mit anderen Kirchen s<strong>in</strong>d nie<br />
E<strong>in</strong>bahnstraßen, bei denen von unserer Seite vor allem Geld<br />
fließen soll. Partnerschaften haben – richtig verstanden – im-<br />
11
mer zwei Wege der Erfahrungen <strong>und</strong> der Hilfe, bei denen es<br />
auch um noch sehr viel mehr geht als nur um das Geld.<br />
Beim Besuch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Geme<strong>in</strong>de erlebten wir,<br />
wie die K<strong>in</strong>der vor dem<br />
Geme<strong>in</strong>dehaus Fußball<br />
spielten. Freilich, e<strong>in</strong>en<br />
Fußball hatten sie nicht.<br />
Aus Lappen zusammen<br />
geb<strong>und</strong>en war der Ball,<br />
mit dem sie <strong>in</strong> der gleichen<br />
Weise begeistert<br />
spielten, wie K<strong>in</strong>der es bei uns tun. E<strong>in</strong>en richtigen Ball hätten<br />
sie gern gehabt, aber <strong>in</strong> der Weltstadt <strong>Addis</strong> Abebeba war er<br />
für sie unerreichbar. Diese Erfahrung hat mich sehr bewegt.<br />
Ich fragte unsere äthiopischen Begleiter, ob es irgende<strong>in</strong>e<br />
Möglichkeit gäbe, e<strong>in</strong>en Fußball zu besorgen. Und tatsächlich,<br />
unsere Begleiter setzten alle Hebel <strong>in</strong> Bewegung, um e<strong>in</strong>en<br />
Fußball zu besorgen. Im Hilton-Hotel wurden sie schließlich<br />
fündig. Am nächsten Tag konnte ich den K<strong>in</strong>dern persönlich<br />
e<strong>in</strong>en richtigen Fußball überreichen. Man kann sich kaum vorstellen,<br />
wie groß die Freude <strong>und</strong> Begeisterung der K<strong>in</strong>der war.<br />
Später wurde aus diesem Anstoß e<strong>in</strong>e Fußball-Aktion der K<strong>in</strong>dergottesdienst-K<strong>in</strong>der<br />
aus Marburg-Land für die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong><br />
<strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>. Mit ihren Kollekten-Geldern sammelten die K<strong>in</strong>der<br />
für dieses Projekt, an dem sie damit sehr konkret beteiligt<br />
waren. So konnten zahlreiche Fußbälle von Marburg-Land<br />
nach <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> geschickt werden. E<strong>in</strong>e Aktion, an die ich<br />
bis heute mit großer Freude <strong>und</strong> mit Dankbarkeit denke.<br />
Dankbar b<strong>in</strong> ich mit dem Kirchenkreis dafür, dass aus dieser<br />
Partnerschaft e<strong>in</strong> so lebendiges Mite<strong>in</strong>ander geworden ist, das<br />
se<strong>in</strong>e Bedeutung trotz aller Veränderungen bis heute behalten<br />
hat. Ich wünsche der Partnerschaft auch weiter e<strong>in</strong> gutes Gedeihen<br />
<strong>und</strong> Gottes reichen Segen.<br />
12
<strong>Kommt</strong> <strong>und</strong> <strong>staunt</strong><br />
Von Pfr. Hans-G. Hentschel<br />
Dies ist e<strong>in</strong> Heft, das ganz der Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong><br />
<strong>Abeba</strong>’ gewidmet ist. Seit dreißig Jahren gibt es e<strong>in</strong> reges H<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> Her von Gedanken, Gebeten <strong>und</strong> Gesprächen mit den<br />
Geme<strong>in</strong>den der Mekane Yesus Kirche <strong>in</strong> der Zentralsynode<br />
<strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>s <strong>in</strong> Äthiopien.<br />
Dies ist e<strong>in</strong> Heft, das ganz dem W<strong>und</strong>er des Wachstums gewidmet<br />
ist. Aus kle<strong>in</strong>en Anfängen ist etwas Großes <strong>und</strong> vielleicht<br />
sogar Großartiges geworden.<br />
Darum soll mit dem Titel ‚<strong>Kommt</strong> <strong>und</strong> <strong>staunt</strong>’ <strong>und</strong> auf diesen<br />
beiden Seiten an e<strong>in</strong> Gleichnis Jesu er<strong>in</strong>nert werden, das die<br />
w<strong>und</strong>erbaren Möglichkeiten des Wachstums vom Kle<strong>in</strong>en zum<br />
Großen beschreibt.<br />
Da heißt es bei Markus im 4. Kapitel:<br />
Und Jesus sprach: Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen,<br />
<strong>und</strong> durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden? Es<br />
ist wie e<strong>in</strong> Senfkorn: wenn das gesät wird aufs Land, so ist's<br />
das kle<strong>in</strong>ste unter allen Samenkörnern auf Erden; <strong>und</strong> wenn es<br />
gesät ist, so geht es auf <strong>und</strong> wird größer als alle Kräuter <strong>und</strong><br />
treibt große Zweige, so dass die Vögel unter dem Himmel unter<br />
se<strong>in</strong>em Schatten wohnen können.<br />
Jesus lädt uns alle mit se<strong>in</strong>em Gleichnis vom Senfkorn zum<br />
Staunen e<strong>in</strong>. Die Fähigkeit zum Staunen haben viele Menschen<br />
über all den W<strong>und</strong>ern der Technik <strong>und</strong> des modernen<br />
Lebens verloren, weil ihnen der w<strong>und</strong>erbare Charakter vieler<br />
D<strong>in</strong>ge nicht mehr bewusst ist.<br />
Und das Kle<strong>in</strong>e zu bestaunen, haben die meisten ohneh<strong>in</strong> verlernt.<br />
‚Denkt das Kle<strong>in</strong>e mit dem Großen zusammen <strong>und</strong> be<strong>staunt</strong><br />
es, denkt den Anfang <strong>und</strong> das Ende zusammen <strong>und</strong> be<strong>staunt</strong><br />
ihn’, lädt Jesus mit dem Senfkorngleichnis e<strong>in</strong>. ‚Be<strong>staunt</strong>, dass<br />
13
auch das Himmelreich sich vom Kle<strong>in</strong>en zum Großen entwickelt.’<br />
In den Rahmen solches Staunens über die Möglichkeiten des<br />
Himmelreiches gehört dieses Heft.<br />
Da haben im Oktober/November des Jahres 1973 e<strong>in</strong>ige Frauen<br />
aus der Geme<strong>in</strong>de Wehrdas, die verstorbene Frau Ellen<br />
Jungraithmayr gehörte dazu <strong>und</strong> Frau Rosemarie von Oppen<br />
war dabei, angesichts des Hungers <strong>in</strong> Äthiopien e<strong>in</strong>e Haussammlung<br />
<strong>in</strong> Wehrdas Geme<strong>in</strong>debezirk durchgeführt, die von<br />
Pfr. Dr. Mommsen als zuständigem Geme<strong>in</strong>debezirkspfarrer<br />
mitgetragen wurde.<br />
Es kamen 4.251,- DM zusammen, die der <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de<br />
wohnende Professor Hermann Jungraithmayr über den Umweg<br />
e<strong>in</strong>es Afrikanistenkongresses <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> an den Präsidenten<br />
der Mekane Yesus Kirche übergeben konnte, um wohnungslosen<br />
Jugendlichen zu helfen.<br />
Im Jahr 1974 machten Schüler der Mart<strong>in</strong>-Luther-Schule e<strong>in</strong>e<br />
Sammlung für <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>. Es kommen 8.741,98 DM zusammen.<br />
Davon werden 15 Volksküchen gegen den Hunger<br />
e<strong>in</strong>gerichtet. Im Jahr 1975 hat man sich vorgenommen, 30 bis<br />
50 K<strong>in</strong>dern im hungernden Äthiopien regelmäßig von Monat zu<br />
Monat zu helfen. Bei der Weihnachtskollekte kommen<br />
12.618,65 DM zusammen. Jetzt nennt sich das Projekt ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’.<br />
Im Jahr 1979 werden <strong>in</strong> Marburg <strong>und</strong> Umgebung für dieses<br />
Projekt 35.033,10 DM gespendet, im Jahr 1982 113.084,- DM.<br />
Die Zahl der monatlich unterstützten K<strong>in</strong>der wird auf 120 erhöht.<br />
1984 erreichen die Spenden 137.571,- DM. Es s<strong>in</strong>d jetzt<br />
150 K<strong>in</strong>der. Heute haben wir <strong>in</strong> den Kirchenkreisen Marburg-<br />
Land <strong>und</strong> Kirchha<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spendenaufkommen von 133.204,95 €<br />
(= 260.526,24 DM) im Jahr 2002 <strong>und</strong> es s<strong>in</strong>d 1014 K<strong>in</strong>der, die<br />
regelmäßig unterstützt <strong>und</strong> von der Straße geholt werden.<br />
14
Wer ist … ?<br />
1014 K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche werden vom Programm des Kirchenkreises<br />
Marburg Land erreicht. Die Verantwortlichen im<br />
Marburger Land kennen viele davon aus Begegnungen während<br />
der Besuche <strong>in</strong> <strong>Addis</strong>.<br />
Pfr. Dr. Mommsen stellte im Jahr 1978 e<strong>in</strong>ige Jugendliche vor.<br />
Wer ist Gorfu?<br />
Gorfu ist zwölf Jahre alt. Im Alter von sechs Monaten wurde er<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Straßengraben gef<strong>und</strong>en.<br />
E<strong>in</strong>e ältere Witwe nimmt das hilflose Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d auf.<br />
Als diese Witwe selbst vom Betteln leben muss, <strong>und</strong> für Gorfu<br />
nicht mehr sorgen kann, schickt sie Gorfu weg.<br />
Gorfu lebt auf der Straße.<br />
Er wird <strong>in</strong> das <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>programm aufgenommen, lebt<br />
wieder bei der Witwe, besucht e<strong>in</strong>e Schule.<br />
15
16<br />
Zenebe Yimer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief vom 21. November 1988
Wer ist Tsiggie?<br />
Das junge Mädchen Tsiggie ist e<strong>in</strong>es der K<strong>in</strong>der, das von uns<br />
unterstützt wird. 15 Jahre alt. Den Vater hat Tsiggie schon vor<br />
Jahren bei e<strong>in</strong>em Unfall verloren. Ihre Mutter ist krank <strong>und</strong> arbeitsunfähig.<br />
Von ihrem Stiefvater kann Tsiggie nicht ernährt<br />
werden.<br />
Tsiggie treibt sich <strong>in</strong> den Straßen herum, schläft im Freien <strong>und</strong><br />
bettelt sich ihre knappen Mittel zum Überleben zusammen.<br />
Tsiggie wird durch das <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>programm unterstützt,<br />
lebt jetzt wieder bei ihrer Mutter.<br />
Mädchen, die solches Glück nicht hatten, verdienen sich ihren<br />
Lebensunterhalt als Prostituierte.<br />
Wer ist Tamirou?<br />
Der Junge Tamirou ist elf Jahre. Se<strong>in</strong>e Mutter starb, se<strong>in</strong> Vater<br />
ist arbeitsunfähig.<br />
In der vierten Klasse verlässt Tamirou die Schule, um sich <strong>in</strong><br />
den Straßen mit anderen K<strong>in</strong>dern zusammen herumzutreiben.<br />
Nachts geht er zum Vater.<br />
Bevor er <strong>in</strong>s <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>programm aufgenommen wird, werden<br />
se<strong>in</strong>e Lebensumstände untersucht. Man stellt fest, dass<br />
Tamirou <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Vater <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fensterlosen Raum ohne<br />
Fußboden schlafen. Zum Essen reicht es nur e<strong>in</strong>mal am Tag<br />
morgens <strong>in</strong> der Frühe.<br />
Tamirou wird <strong>in</strong> das Programm aufgenommen, er geht wieder<br />
regelmäßig zur Schule.<br />
17
Seit den Anfängen s<strong>in</strong>d etliche Jahre vergangen <strong>und</strong> andere<br />
Menschen haben die Verantwortung im Projekt übernommen.<br />
Pfr. Mart<strong>in</strong> Zekl stellt von se<strong>in</strong>em letzten Besuch im Jahr 2001<br />
zwei Jugendliche vor.<br />
Wer ist Emame?<br />
Emame ist 14 Jahre alt, sie lebt <strong>in</strong> Fiche <strong>und</strong> geht seit drei Jahren<br />
<strong>in</strong> die Schule. Sie hat vier Schwestern <strong>und</strong> zwei Brüder.<br />
Ihre Mutter ist vor vier Jahren gestorben, ihr Vater ist kriegsversehrt.<br />
Er hat ke<strong>in</strong>e Arbeit <strong>und</strong> ke<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen.<br />
Emame lebt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zwei-Zimmer-Haus, das ke<strong>in</strong>en festen<br />
Fußboden <strong>und</strong> ke<strong>in</strong> dichtes Dach hat. Alle <strong>in</strong> der Familie gehen<br />
barfuß. Für Schuhe <strong>und</strong> Bekleidung fehlen die Mittel.<br />
Durch das <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>programm hat Emame fürsorgliche<br />
Begleitung erfahren <strong>und</strong> freut sich nun über Kleidung, Schuhwerk,<br />
tägliche Nahrung <strong>und</strong> die Möglichkeit, lernen zu können.<br />
In ihrer Geme<strong>in</strong>de s<strong>in</strong>gt sie im Chor.<br />
Wer ist Ababash?<br />
Ababash ist Vollwaise. Die Mutter ist bei der Geburt gestorben.<br />
Mit ihren vier Geschwistern kam sie bei Nachbarn unter, nachdem<br />
der Vater bei e<strong>in</strong>em Unfall ums Leben gekommen war.<br />
Die Waisenk<strong>in</strong>der lebten bei e<strong>in</strong>em Mitglied der Geme<strong>in</strong>de im<br />
Stadtteil Kolfe. Auf Dauer konnte Ababash von der Geme<strong>in</strong>schaft<br />
nicht mehr versorgt werden.<br />
Die heute neunjährige Ababash ist seit zwei Jahren im Programm<br />
<strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de Kotobe. Sie ist sehr praktisch veranlagt<br />
<strong>und</strong> arbeitet oft im K<strong>in</strong>dergarten der Geme<strong>in</strong>de mit.<br />
18
Abdi Temesgens Wünsche für die Zukunft<br />
19
Was leistet das Programm<br />
‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>‘?<br />
Von Pfr. Mart<strong>in</strong> Zekl<br />
Wenn der Satz „Tu Gutes <strong>und</strong> rede darüber“ hier gefragt ist,<br />
dann kann die Antwort nur lauten: es ist unglaublich, was dieses<br />
e<strong>in</strong>fache Programm tatsächlich – Monat für Monat – leistet:<br />
• 1014 K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendliche werden <strong>in</strong> zwanzig verschiedenen<br />
Geme<strong>in</strong>den über e<strong>in</strong>e Zeit von 10 Jahren h<strong>in</strong> begleitet<br />
<strong>und</strong> getragen – <strong>und</strong> das seit vielen Jahren;<br />
• sie erhalten Geld für Nahrung, Kleidung, Schuhe, Hygiene,<br />
Schule <strong>und</strong> mediz<strong>in</strong>ische Betreuung;<br />
• sie erhalten fre<strong>und</strong>lich-menschliche Begleitung <strong>in</strong> geistlicher<br />
H<strong>in</strong>sicht durch Mitarbeiter der jeweiligen Geme<strong>in</strong>de;<br />
• sie bleiben <strong>in</strong> der Familienstruktur verankert, weil sie bei<br />
der Familie wohnen, <strong>und</strong> das ist e<strong>in</strong>fach gut afrikanisch;<br />
• es wird ke<strong>in</strong>es der K<strong>in</strong>der gegenüber den Geschwistern<br />
dadurch bevorzugt, dass es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em besonderen Haus<br />
wohnt.<br />
So problematisch es sche<strong>in</strong>en mag, Geld zu schicken – es<br />
schafft den Menschen, die davon leben, Freiheit <strong>und</strong> br<strong>in</strong>gt sie<br />
zu verantwortlichem Umgang damit.<br />
Was dieses Programm leistet – im Englischen heißt es noch<br />
immer „Family Re-unification Programme“, weil es anfangs<br />
tatsächlich um „Zusammenführung“ g<strong>in</strong>g –, es ist wahrlich viel:<br />
• es ermutigt junge Menschen <strong>in</strong> jenem Land, ihr Leben <strong>in</strong><br />
die Hand zu nehmen;<br />
• es macht sie stark, Verantwortung zu lernen;<br />
• <strong>und</strong> es ist e<strong>in</strong> Beispiel für die Gleichberechtigung der<br />
Mädchen <strong>und</strong> Jungen – <strong>und</strong> das ist im afrikanischen Kontext<br />
bemerkenswert.<br />
20
E<strong>in</strong>mal Segen – <strong>und</strong> zurück<br />
Von Dekan Dr. Karl-Ludwig Voss<br />
E<strong>in</strong> junger äthiopischer Geschäftsmann setzte sich neben<br />
mich. Auch er wollte nach <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> fliegen. Als er hörte,<br />
dass ich Christ <strong>und</strong> dazu noch Pfarrer sei, erzählte er mir viel<br />
von sich. Unter anderem auch davon, dass er e<strong>in</strong>e Bibelschule<br />
besucht habe <strong>und</strong> manchmal als Prediger tätig sei. So unbeschwert<br />
<strong>und</strong> heiter wie ihn habe ich lange ke<strong>in</strong>en Menschen<br />
von se<strong>in</strong>em Glauben reden hören.<br />
Das war e<strong>in</strong> guter Anfang unserer Reise. Sie sollte zu zwanzig<br />
Kirchengeme<strong>in</strong>den der Mekane Yesus Kirche führen. Davon<br />
erzählte ich me<strong>in</strong>em Nachbarn im Flugzeug, <strong>und</strong> auch von den<br />
1014 K<strong>in</strong>dern, die der Kirchenkreis Marburg-Land monatlich<br />
unterstützt. In Zusammenarbeit mit der „Central Synod“ ist diese<br />
Hilfe für gefährdete K<strong>in</strong>der organisiert, K<strong>in</strong>der, die leicht <strong>in</strong><br />
das Milieu der <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> abgleiten könnten. Die Hilfe umfasst<br />
Ernährungs- <strong>und</strong> Kleiderhilfe ebenso wie e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ische<br />
Vorsorge <strong>und</strong> Unterstützung bei der Beschaffung von<br />
Lernmaterial für die Schule.<br />
Zwei Personen der Marburger Delegation, Pfarrer Mart<strong>in</strong> Zekl<br />
<strong>und</strong> Dr. Claudia Kuhnhen waren schon zehn Tage früher gefahren.<br />
Sie hatten schon e<strong>in</strong>ige der Geme<strong>in</strong>den des K<strong>in</strong>derprojekts<br />
besucht, die weit entfernt im Osten des Landes lagen. Als<br />
Ärzt<strong>in</strong> unterstrich Frau Kuhnhen, „Doktor Claudia“ genannt,<br />
21
immer wieder die mediz<strong>in</strong>ische Versorgung <strong>und</strong> auch Maßnahmen<br />
zur Aidsprävention. Me<strong>in</strong> äthiopischer Nachbar freute<br />
sich, von all diesen D<strong>in</strong>gen zu hören <strong>und</strong> verabschiedete sich<br />
sieben St<strong>und</strong>en später bei der Ankunft <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> mit e<strong>in</strong>em Segenswort.<br />
Jugendreferent<strong>in</strong> Wiebke Buff <strong>und</strong> ich wurden am Flugplatz<br />
erwartet. Und schon am nächsten Morgen fanden die ersten<br />
Begegnungen mit Mitarbeitern der äthiopischen Partnerkirche<br />
statt <strong>und</strong> bald auch die Treffen mit Eltern, K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Koord<strong>in</strong>atoren<br />
des Hilfsprogramms. Und e<strong>in</strong> Wort kam immer wieder<br />
vor: Segen, Bless<strong>in</strong>g. Das, was uns mite<strong>in</strong>ander teilen lässt,<br />
materiell <strong>und</strong> geistlich greifbar <strong>und</strong> spürbar. Die Spendengelder<br />
von Menschen <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>den des Marburger Landes<br />
kommen an, <strong>und</strong> es kommt etwas zurück, das mehr ist als<br />
Dank.<br />
Im Berufsbildungscenter Selam traf ich u. a. auf den zwanzigjährigen<br />
Amare. Schon als K<strong>in</strong>d war er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Heimatgeme<strong>in</strong>de<br />
durch das Marburger Programm gefördert worden. Wir<br />
konnten uns auf Englisch unterhalten, <strong>und</strong> so erfuhr ich, dass<br />
er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahr se<strong>in</strong>e Ausbildung beenden würde. Er hofft<br />
dann, e<strong>in</strong>en Arbeitsplatz<br />
als Mechaniker<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Werkstatt zu<br />
f<strong>in</strong>den <strong>und</strong> für sich<br />
selbst sorgen zu<br />
können. Was wäre<br />
aus ihm geworden,<br />
wenn er nicht den<br />
Weg <strong>in</strong> unser Projekt<br />
gef<strong>und</strong>en hätte?<br />
Um wie viel besser<br />
s<strong>in</strong>d auch die Chancen der beiden jungen Mädchen, die, aus<br />
den K<strong>in</strong>dergruppen <strong>in</strong> Kotobe oder Kolfe kommend, jetzt e<strong>in</strong>e<br />
hauswirtschaftliche Lehre absolvieren <strong>und</strong> uns im Lehrrestaurant<br />
beim Mittagessen bedienten.<br />
22
Auf eigenen Füßen stehen, das ist das Ziel. Manche erreichen<br />
es durch e<strong>in</strong>e Ausbildung als Schlosser oder als Hauswirtschafter<strong>in</strong><br />
oder auch durch die Möglichkeit, e<strong>in</strong> eigenes Lädchen<br />
oder e<strong>in</strong>e Friseurstube zu betreiben.<br />
Die unterstützten K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Familien sollten erfahren, dass<br />
ihre Hilfe von konkreten Menschen <strong>und</strong> nicht von anonymen<br />
Organisationen kommt. Deshalb haben wir auch e<strong>in</strong>zelne Familien<br />
aufgesucht: Am Stadtrand von <strong>Addis</strong> hatten wir die<br />
Hauptstraße verlassen.<br />
Wir mussten<br />
aus dem Geländewagen<br />
aussteigen.<br />
Vor den primitiven<br />
Hütten aus<br />
Wellblech <strong>und</strong> Planen<br />
stolperten wir<br />
über e<strong>in</strong>e freie Fläche,<br />
wo Knochen<br />
<strong>und</strong> alle Sorten von<br />
Müll herumlagen.<br />
Hier werden sonst Tiere geschlachtet, wurde uns gesagt. E<strong>in</strong><br />
herrenloser H<strong>und</strong> streunte herum. Noch e<strong>in</strong> Sprung über e<strong>in</strong>en<br />
kle<strong>in</strong>en Abwassergraben, dann standen wir vor e<strong>in</strong>er Wellblechhütte.<br />
Dort erwarteten uns e<strong>in</strong>e Frau <strong>und</strong> ihre etwa zwanzigjährige<br />
Tochter. Sie hatten sich durch Spendengelder e<strong>in</strong>e<br />
Kuh kaufen können. Die lebte mit ihnen <strong>in</strong> derselben Hütte.<br />
Die Frauen versicherten uns, dass die regelmäßigen kle<strong>in</strong>en<br />
E<strong>in</strong>nahmen durch den Verkauf von Milch ihren Lebensunterhalt<br />
ganz entscheidend absicherten. Aber es war nicht nur e<strong>in</strong>e<br />
Frage der materiellen Unterstützung. Dass wir uns so ganz<br />
direkt gegenüberstanden, uns fragend oder lächelnd ansahen,<br />
machte das Besondere der Situation aus, nicht nur hier, sondern<br />
auch bei vielen anderen Begegnungen.<br />
23
Hans Joachim Krause, seit Februar Pfarrer der deutschsprachigen<br />
Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> <strong>Addis</strong>, vorher <strong>in</strong> Wetter/Krs. Marburg tätig,<br />
hat uns mit se<strong>in</strong>er Frau<br />
Gerl<strong>in</strong>d bei vielen Besuchen<br />
begleitet. Ebenso<br />
hat Pfr. i. R. Johannes<br />
Launhardt als Dolmetscher<br />
<strong>und</strong> Vermittler während<br />
der ganzen Reise<br />
unschätzbare Dienste geleistet.<br />
Jahrzehnte hat er<br />
<strong>in</strong> Äthiopien gelebt <strong>und</strong> die Mekane Yesus Kirche mit aufgebaut.<br />
Er spricht fließend die gebräuchlichsten Sprachen, das<br />
offizielle Amharisch <strong>und</strong> das verbreitete Oromija.<br />
Immer wieder hat mich die spontane <strong>und</strong> herzliche Art des<br />
menschlichen Umgangs angesprochen. Wir haben sie auch <strong>in</strong><br />
den Gottesdiensten erlebt, wenn Menschen durch begeisterte<br />
Zwischenrufe u. a. mich als Prediger ermuntert haben.<br />
Nach vierzehn Tagen trafen wir uns abends<br />
am Flughafen, um uns zu verabschieden.<br />
Ato Daniel (rechts), der äthiopische Leiter<br />
unseres Programms, ebenso wie Kes Girma,<br />
der Präsident der zentraläthiopischen Synode,<br />
<strong>und</strong> andere Fre<strong>und</strong>e waren zum<br />
Abschied gekommen. Gerührt <strong>und</strong> erfüllt von<br />
vielen lebendigen Erfahrungen ließen wir uns<br />
Airbusses fallen.<br />
<strong>in</strong> die Sitze des<br />
Als ich unter den Fluggästen, zwei Reihen vor mir, den jungen<br />
Geschäftsmann vom H<strong>in</strong>flug wiedererkannte, war es ganz natürlich,<br />
dass wir uns fröhlich umarmten. Später gab er mir e<strong>in</strong>en<br />
schön geschliffenen zierlichen Granatste<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Hand mit<br />
den Worten: Thanks. And God bless you. Danke. Und Gott<br />
segne euch. Das gilt schließlich für alle an diesem Projekt beteiligten<br />
Menschen, <strong>in</strong> Äthiopien <strong>und</strong> im Marburger Land.<br />
24
Paul <strong>und</strong> Mia: Fre<strong>und</strong>e<br />
Von Gesa Hentschel<br />
Mia:<br />
Wir haben e<strong>in</strong>en Neuen <strong>in</strong> der<br />
Schule. Der kommt aus Äthiopien.<br />
Weißt du, wo das ist?<br />
Paul:<br />
Ja, das weiß ich. Das ist <strong>in</strong> Afrika.<br />
Wenn du dir Afrika im Atlas<br />
anguckst, sieht das aus wie e<strong>in</strong><br />
Pferdekopf <strong>und</strong> da, wo die Ohren<br />
s<strong>in</strong>d, da ist Äthiopien.<br />
Mia:<br />
Woher weißt du das denn so<br />
genau?<br />
Paul:<br />
Ich habe Fre<strong>und</strong>e <strong>in</strong> Äthiopien. Die leben <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>.<br />
Das ist die Hauptstadt.<br />
Mia:<br />
Fre<strong>und</strong>e <strong>in</strong> Äthiopien? Das ist doch sehr weit weg.<br />
Paul:<br />
Naja, eigentlich s<strong>in</strong>d es K<strong>in</strong>der, die ich noch nie gesehen<br />
habe, aber wir helfen denen vom K<strong>in</strong>dergottesdienst aus.<br />
Schicken denen was von unserem Geld. Dann kriegen sie<br />
was zu Essen <strong>und</strong> Spielsachen <strong>und</strong> Klamotten.<br />
Mia:<br />
Das würde ich nicht gerade Fre<strong>und</strong>e nennen, aber e<strong>in</strong>e gute<br />
Idee ist es trotzdem.<br />
25
A<br />
Von Pfr. Hans-G. Hentschel<br />
Wir denken aber im Kirchenkreis immer wieder auch an die<br />
Durchhalteenergie, die dann Pfr. Friedrich Jens Mommsen<br />
aufgebracht hat, um aus den bescheidenen, menschenfre<strong>und</strong>nstoß-<br />
<strong>und</strong> Durchhalteenergie<br />
Jede Bewegung benötigt Energie. Das wissen wir alle. Auch<br />
die Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’, deren dreißigjähriges<br />
Bestehen wir bedenken, braucht <strong>und</strong> brauchte Energien.<br />
Energien, die Menschen e<strong>in</strong>gebracht haben, um auf die<br />
Schwestern <strong>und</strong> Brüder immer wieder h<strong>in</strong>zuweisen, denen es<br />
<strong>in</strong> weit entfernten Landen oft genug am Allernötigsten fehlt.<br />
Anstoßenergie ist e<strong>in</strong>e andere Energie als die des Durchhaltens.<br />
Beide Energien aber s<strong>in</strong>d nötig, wenn e<strong>in</strong> Werk gel<strong>in</strong>gen<br />
<strong>und</strong> bleiben soll.<br />
So denken wir im Kirchenkreis<br />
an die Anstoßenergie<br />
zurück, die Frau <strong>und</strong><br />
Herr Jungraithmayr im Oktober<br />
1973 aufgebracht haben,<br />
als sie darauf h<strong>in</strong>wiesen,<br />
dass ‚am anderen<br />
Ende der Welt’ – <strong>in</strong> Äthiopien<br />
– Menschen <strong>in</strong> großem<br />
Elend leben, denen auf<br />
eigentlich ganz e<strong>in</strong>fache<br />
Weise geholfen werden<br />
kann: Auf spendende Weise.<br />
Dass Herr Professor Jungraithmayr<br />
als gefragter <strong>und</strong><br />
vielreisender Afrikanist hier<br />
besondere Verb<strong>in</strong>dungen<br />
<strong>und</strong> Möglichkeiten hatte, war<br />
hilfreich.<br />
26
lichen <strong>und</strong> nächstenliebenden Anfängen e<strong>in</strong>er Idee zur Hilfe<br />
e<strong>in</strong> Hilfsprojekt zu gestalten, das heute 1014 K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> Ju-<br />
gendlichen zugute kommt.<br />
Wer Pfarrer Mommsen kennt, weiß, dass er ‚die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> <strong>Addis</strong>’<br />
niemals vergisst, <strong>und</strong> dass er an vielen Stellen immer wieder<br />
für ‚die K<strong>in</strong>der’ bittet <strong>und</strong> drängt. Manchmal bleiben fre<strong>und</strong>liche<br />
Bitten auch ungehört, deutliches Drängen jedoch wird<br />
wahrgenommen. Pfarrer Dr. Mommsen hat sich <strong>in</strong> der langen<br />
Geschichte, die ihn mit dem Projekt ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong><br />
<strong>Abeba</strong>’ verb<strong>in</strong>det nie gescheut, Gelder zuweilen auch e<strong>in</strong>zu-<br />
<strong>in</strong> <strong>Addis</strong> etwas zukommen zu<br />
fordern. Manche PolitikerInnen er<strong>in</strong>nern sich daran, wie der<br />
Pfarrer der Tr<strong>in</strong>itatisgeme<strong>in</strong>de auch quengeln konnte, wenn es<br />
darum g<strong>in</strong>g, den K<strong>in</strong>dern lassen.<br />
Das Projekt ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ wäre nicht das,<br />
was es heute ist, ohne diesen unermüdlichen Sammler <strong>und</strong><br />
Mahner: „Vergesst die K<strong>in</strong>der nicht!“<br />
Dabei tat es diesem Durchhalteenergieverbrauch, den Pfarrer<br />
Mommsen – aber auch se<strong>in</strong>e Frau – e<strong>in</strong>brachte, gut, als sich<br />
dann noch weitere Menschen e<strong>in</strong>fanden, die die <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> nicht vergessen wollten.<br />
27
Er verbr<strong>in</strong>gt heute viel Zeit damit, die Kontakte zu pflegen, die<br />
nötig s<strong>in</strong>d, um das Projekt ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ weiterh<strong>in</strong><br />
‚präsent’ <strong>in</strong> Köpfen <strong>und</strong> Herzen der Geme<strong>in</strong>deglieder im<br />
Kirchenkreis Marburg-Land zu halten.<br />
Das Projekt wurde von e<strong>in</strong>em Ausschuss der Kreissynode des<br />
Kirchenkreises mitbegleitet, zu dem bis heute Menschen gehören,<br />
die sich mit Durchhalteenergie e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen. Dieser Aus-<br />
schuss wurde fünf<strong>und</strong>zwanzig Jahre von Pfr. Dr. Mommsen<br />
<strong>und</strong> wird jetzt von Pfr. Zekl begleitet.<br />
Gott selbst hat dem Projekt ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’<br />
Gedeihen geschenkt <strong>und</strong> hat<br />
se<strong>in</strong>en bewahrenden Segen auf<br />
diese gute Aktion gelegt. Es ist<br />
sicher auch se<strong>in</strong> Werk, dass er<br />
Menschen mit e<strong>in</strong>em großen<br />
Herzen voll Liebe für die fernen<br />
Schwestern <strong>und</strong> Brüder ausgestattet<br />
hat, aber auch mit e<strong>in</strong>em<br />
starken Herzen, das mutig <strong>und</strong><br />
offensiv für e<strong>in</strong>e gute Sache zu<br />
kämpfen vermag. Immer wieder<br />
braucht Gott Menschen für se<strong>in</strong><br />
Reich.<br />
Wir danken Gott für die genannten <strong>und</strong> die vielen ungenannten<br />
Menschen, die mit ihrer Durchhalteenergie bis heute dafür sorgen,<br />
dass wir mit e<strong>in</strong>er gewissen f<strong>in</strong>anziellen Sicherheit 1014<br />
K<strong>in</strong>dern Jahr für Jahr helfen können, die Liebe Gottes zu<br />
schmecken, die sich auch dar<strong>in</strong> äußert, dass ferne Geschwister<br />
ihnen das Leben sichern.<br />
28
Paul <strong>und</strong> Mia: Ke<strong>in</strong> Typ<br />
Paul:<br />
<strong>Addis</strong> ist ke<strong>in</strong> Typ. Das ist e<strong>in</strong> Hilfsprogramm für K<strong>in</strong>der <strong>in</strong><br />
Äthiopien.<br />
Mia:<br />
Wofür hast du denn hier e<strong>in</strong> Sparschwe<strong>in</strong> für dich <strong>und</strong> noch<br />
e<strong>in</strong>s für diesen Typen mit dem komischen Namen <strong>Addis</strong> stehen?<br />
Mia:<br />
Und wofür hast du die bei-<br />
den Sparschwe<strong>in</strong>e?<br />
Paul:<br />
Immer wenn ich mal was<br />
Kle<strong>in</strong>geld habe, stecke ich<br />
es <strong>in</strong> zwei verschiedene<br />
Sparschwe<strong>in</strong>e. E<strong>in</strong>en Euro<br />
<strong>in</strong> me<strong>in</strong>s <strong>und</strong> zwanzig Cent<br />
<strong>in</strong> das für <strong>Addis</strong>.<br />
Und zu Weihnachten kaufe<br />
ich aus me<strong>in</strong>em die<br />
Geschenke für die Familie<br />
<strong>und</strong> br<strong>in</strong>ge das <strong>Addis</strong>geld<br />
als Spende <strong>in</strong> den<br />
K<strong>in</strong>dergottesdienst.<br />
Mia:<br />
Ke<strong>in</strong>e schlechte Idee, Paul.<br />
29
Gespräch mit dem Ehepaar Mommsen<br />
Geführt von Pfr. Hans-G. Hentschel<br />
Redaktion:<br />
Herr Pfarrer Mommsen, was würden Sie im Rückblick auf<br />
dreißig Jahre ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ aus Ihrer Sicht<br />
als den entscheidenden Durchbruch zum Gel<strong>in</strong>gen dieses<br />
Projektes bezeichnen?<br />
Dr. Friedrich Jens Mommsen:<br />
Von nur e<strong>in</strong>em entscheidenden Durchbruch kann man im<br />
Gr<strong>und</strong>e nicht sprechen. Es gab viele Stationen, die Durch-<br />
war wohl, dass Lehrer <strong>und</strong><br />
brüche bedeuteten. Der erste<br />
Schüler der Mart<strong>in</strong>-Luther-Schule im Januar 1974 den Vor-<br />
Straßensammlung für diese Aktion machten.<br />
schlag zu e<strong>in</strong>er<br />
Ich hatte gute Kontakte zu dieser Schule …<br />
Hannelore Mommsen:<br />
Die Schulgeme<strong>in</strong>de der Mart<strong>in</strong>-Luther-Schulandere auch die Sammelaktion zu Weihnachten ’73 mitbe-<br />
hatte wie viele<br />
kommen. Zudem g<strong>in</strong>gen damals die Bilder aus Äthiopien<br />
unentwegt durch alle Zeitungen <strong>und</strong> das Fernsehen. Vor allem<br />
wurden immer wieder hungernde K<strong>in</strong>der gezeigt …<br />
Dr. Friedrich Jens Mommsen:<br />
Ich beantragte auf den Vorschlag der Schule h<strong>in</strong> die Ge-<br />
beim Regierungspräsi-<br />
nehmigung e<strong>in</strong>er Straßensammlung<br />
dium. Der Regierungspräsident lehnte diesen Antrag aber<br />
r<strong>und</strong>weg ab.<br />
Hannelore Mommsen:<br />
Da konnte er auch gar nicht anders handeln, weil sonst viel<br />
zu viele gekommen wären …<br />
Dr. Friedrich Jens Mommsen:<br />
Ich habe dann e<strong>in</strong>e Genehmigung zu e<strong>in</strong>er Straßensammlung<br />
von dem damaligen Dekan des Kirchenkreises Mar-<br />
30
R<br />
burg-Land, Walter Krug, <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Kollegen <strong>in</strong> Marburg-<br />
Stadt, Walter Lacher bekommen. Das Ergebnis der Straßensammlung<br />
betrug über 4000,- DM, was für die damalige<br />
Zeit e<strong>in</strong>e sehr große Summe war.<br />
edaktion:<br />
War e<strong>in</strong>e Folge dieser Sammelaktion die erhöhte Aufmersamkeit<br />
für die Probleme <strong>und</strong> Nöte <strong>in</strong> Äthiopien im Landkreis<br />
<strong>und</strong> im Kirchenkreis?<br />
Dr. Friedrich Jens Mommsen:<br />
Ja, das kann man so sagen. Deshalb fand ich mit der Bitte<br />
um weitere Hilfen für die notleidenden K<strong>in</strong>der auch offene<br />
Ohren beim damaligen Oberbürgermeister der Stadt Marburg,<br />
Dr. Hanno Drechsler …<br />
Hannelore Mommsen:<br />
Diese Unterstützung ist übrigens durch die Jahre bei allen<br />
Oberbürgermeistern Marburgs bestehen geblieben …<br />
Dr. Friedrich Jens Mommsen:<br />
… <strong>und</strong> ich fand e<strong>in</strong>e offene Tür bei den Landräten, die seither<br />
jährlich e<strong>in</strong>e bestimmte Summe über ihren Fond bei der<br />
Kreissparkasse zur Verfügung stellten. Durch die Vermitt-<br />
auch zweimal Spenden vom damaligen M<strong>in</strong>isterpräsidenten<br />
lung e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>degliedes gab es zu Beg<strong>in</strong>n der Aktion<br />
Holger Börner, der von der Aktion vor allem deswegen sehr<br />
überzeugt war, weil 100 Prozent der Spenden, die über<br />
Hermannsburg weitergeleitet wurden, bei den K<strong>in</strong>dern ankamen.<br />
Ich muss allerd<strong>in</strong>gs auch sagen, dass ich recht<br />
schnell überall als ‚Bettler’ für unsere K<strong>in</strong>der bekannt war …<br />
Hannelore Mommsen:<br />
Wir mussten sehr lachen, als wir e<strong>in</strong>mal beim E<strong>in</strong>kaufen den<br />
Oberbürgermeister trafen <strong>und</strong> ganz normal grüßten, als der<br />
schon sagte: ‚Ja, ja. Natürlich werden Sie auch <strong>in</strong> diesem<br />
Jahr das Geld für Ihre K<strong>in</strong>der bekommen.’<br />
31
Nach e<strong>in</strong>em Gottesdienst für die K<strong>in</strong>der mit ihren Eltern vor der Hauptkirche<br />
<strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> (1982) – l<strong>in</strong>ks oben Dr. Friedrich Jens Mommsen.<br />
Dr. Friedrich Jens Mommsen:<br />
Ich habe mich für jede größere Spende immer selbst be-<br />
Zei-<br />
dankt <strong>und</strong> habe den Spendenquittungen, die das Kirchliche<br />
Rentamt ausfüllte, meistens noch e<strong>in</strong> paar persönliche<br />
len beigelegt. Viele Spender<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Spender kenne ich<br />
gut. Oft haben auch Brautpaare gesagt: ‚Nehmen Sie die<br />
Kollekte bitte für die <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>’.<br />
R<br />
D<br />
H<br />
edaktion:<br />
Wie hat die Landeskirche dieses Projekt e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Kirchenkreises<br />
damals gesehen?<br />
r. Friedrich Jens Mommsen:<br />
Zunächst äußerst zurückhaltend. Der damalige Propst, Waldemar<br />
Immel, war der Me<strong>in</strong>ung, dass die kirchlichen Hilfen<br />
für Menschen <strong>in</strong> den Hunger- <strong>und</strong> Elendsgebieten der Welt<br />
eher aus ‚e<strong>in</strong>em großen Topf’ kommen sollten. Er wollte lieber<br />
e<strong>in</strong>e Unterstützung von ‚Brot für die Welt’ oder der ‚Ausbildungshilfe<br />
Junger Christen’. Deshalb war er zunächst gegen<br />
e<strong>in</strong> so kle<strong>in</strong>es <strong>und</strong> regional geb<strong>und</strong>enes Projekt.<br />
annelore Mommsen:<br />
Späterh<strong>in</strong> hat er es aber auch auf se<strong>in</strong>e Weise<br />
unterstützt …<br />
32
Dr. Friedrich Jens Mommsen:<br />
Im Jahre 1982 wurde ich von der Mekane Yesus Kirche zu<br />
e<strong>in</strong>em Besuch e<strong>in</strong>geladen, weil die Menschen dort e<strong>in</strong>mal<br />
e<strong>in</strong>em Vertreter des Programms e<strong>in</strong>en Dank für alle die unbekannten<br />
Spender<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Spender ausdrücken wollten.<br />
Ich beantragte für diesen Besuch Diensturlaub <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle<br />
Unterstützung, weil ich mir selbstverständlich den<br />
Flug nicht von <strong>Addis</strong> aus bezahlen lassen konnte <strong>und</strong> wollte<br />
– <strong>und</strong> beides wurde r<strong>und</strong>weg abgelehnt. Der damalige<br />
Propst Dr. Christian Zippert allerd<strong>in</strong>gs ließ das nicht auf sich<br />
beruhen <strong>und</strong> durch se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satz erhielt ich Diensturlaub<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Beihilfe zu den Kosten aus der Kasse des Spren-<br />
gels.<br />
Hannelore Mommsen:<br />
Dr. Zippert war eigentlich von Anfang an von der Richtigkeit<br />
des Vorhabens überzeugt.<br />
Dr. Friedrich Jens Mommsen:<br />
Als ich von dem Besuch nach e<strong>in</strong>er abenteuerlichen Zeit <strong>und</strong><br />
Reise zurückkam – Äthiopien war nicht auf Reisende aus<br />
dem Westen e<strong>in</strong>gerichtet <strong>und</strong> manche Orte konnte ich nur<br />
erreichen, weil man mich wegen des Doktortitels für e<strong>in</strong>en<br />
Arzt hielt, aber das s<strong>in</strong>d andere Geschichten … – brachte<br />
ich e<strong>in</strong> persönliches Dankschreiben des damaligen Kirchenpräsidenten<br />
der Evangelischen Mekane Yesus Kirche Ima-<br />
mit, das dieser dann an alle<br />
nuel Abraham an den Propst<br />
Geme<strong>in</strong>den des Sprengels weitergab. Vielleicht ist das der<br />
eigentliche Moment gewesen, <strong>in</strong> dem die Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ auf e<strong>in</strong>e breite kirchengeme<strong>in</strong>dliche<br />
Öffentlichkeit stieß. Von der Landeskirche erhielten wir für<br />
den Kirchenkreis dann auch bald die Genehmigung, dass<br />
wir die Erntedank- <strong>und</strong> die Heiligabendkollekten für die <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong><br />
erheben durften. Das war e<strong>in</strong> bedeutender Schritt.<br />
Dazu bekamen wir von der Landeskirche immer wieder Geld<br />
aus so genannten ‚zwischenkirchlichen Mitteln’.<br />
33
Das Gleichnis vom Senfkorn<br />
auf Amharisch<br />
Markus 4,30–32<br />
Amharisch – die Sprache der Amhara – ist die Amtssprache<br />
Äthiopiens, neben der es r<strong>und</strong> 70 weitere Sprachen, darunter<br />
Oromija (Galla) <strong>und</strong> Tigr<strong>in</strong>ja, gibt. Es wird <strong>in</strong> äthiopischer<br />
Schrift geschrieben, die aus der altsüdarabischen Schrift her-<br />
ist. Die frühesten Zeugnisse des Amharischen<br />
vorgegangen<br />
stammen aus dem 14. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
Das Gleichnis vom Senfkorn (Markus 4,30–32):<br />
30 Und er sprach: Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen,<br />
<strong>und</strong> durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden?<br />
31 Es ist wie e<strong>in</strong> Senfkorn: wenn das gesät wird aufs Land, so<br />
ist’s das kle<strong>in</strong>ste unter allen Samenkörnern auf Erden; 32 <strong>und</strong><br />
wenn es gesät ist, so geht es auf <strong>und</strong> wird größer als alle<br />
Kräuter <strong>und</strong> treibt große Zweige, so dass die Vögel unter dem<br />
Himmel unter se<strong>in</strong>em Schatten wohnen können.<br />
34
Staunendes Auge, offenes Herz …<br />
Er<strong>in</strong>nerungen an ‚<strong>Addis</strong>’ von Wiebke Buff, die zur Zeit des Besuchs<br />
Jugendmitarbeiter<strong>in</strong> im Kirchenkreis war<br />
„Die Sicherheitskontrollen am Flughafen s<strong>in</strong>d sehr streng.<br />
Manchmal lassen sie Fremde nicht re<strong>in</strong>!“ – Mit unbewegter<br />
Miene schaut sich der junge Zollbeamte me<strong>in</strong>en Reisepass an.<br />
Unter welcher Telefonnummer ich <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> erreichbar wäre?<br />
Die Telefonnummer der Mission weiß ich nicht, aber ich darf<br />
nach langem Zögern trotzdem passieren.<br />
Dieser kühle Empfang <strong>in</strong> Äthiopien<br />
bereitet mich <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise auf<br />
das Chaos vor, das dann folgt: der<br />
Lärm, der e<strong>in</strong>em entgegenbrandet,<br />
das Gehupe, das Geschrei der<br />
Menschen, Esel, Kamele. Und die<br />
Gerüche: Auspuffgase, Tierdung,<br />
exotische Gewürze! Desorientiert halte ich mich an me<strong>in</strong>em<br />
Koffer fest, b<strong>in</strong> noch nicht wirklich angekommen. Von überall<br />
zupfen kle<strong>in</strong>e Jungen an mir rum. „Money, money! Please,<br />
please!“<br />
Im Jeep darf ich am Fenster sitzen; wenn ich nicht so müde<br />
wäre, würde ich mich vermutlich zu Tode fürchten. In den<br />
kommenden Tagen werde ich mich e<strong>in</strong>igermaßen an den äthiopischen<br />
Fahrstil gewöhnen.<br />
Erst als ich am nächsten Morgen um fünf Uhr durch den Ruf<br />
des Muezz<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nahe gelegenen Moschee geweckt werde,<br />
durchfährt es mich heiß – ich b<strong>in</strong> angekommen.<br />
Vor dem Besuch der ersten Geme<strong>in</strong>de b<strong>in</strong> ich ziemlich aufgeregt!<br />
Die größten Schwierigkeiten habe ich mit der Dankbarkeit, die<br />
die Menschen uns als f<strong>in</strong>anziellen Wohltätern zeigen. Damit<br />
kann ich gar nicht gut umgehen! Wie wenig gebe ich, es tut mir<br />
36
überhaupt nicht weh, ich muss auf nichts verzichten – <strong>und</strong> hier<br />
überlebt dadurch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d mit se<strong>in</strong>er ganzen Familie!<br />
Die Äthiopier verstehen unsere Scham <strong>in</strong> diesen D<strong>in</strong>gen nicht.<br />
Uns Deutschen fällt es ja sehr schwer, Dankbarkeit zu zeigen<br />
<strong>und</strong> noch schwerer, sie auch anzunehmen.<br />
Von den Äthiopiern habe ich gelernt, dass man Dankbarkeit<br />
zulassen kann.<br />
Seit <strong>Addis</strong> gehe ich anders mit Geschenken um. Nie wieder<br />
werde ich über e<strong>in</strong> Geburtstagsgeschenk sagen: „Das wäre<br />
doch nicht nötig gewesen!“<br />
Ich werde <strong>in</strong> diesen zwei Wochen verändert. Ich kann viele<br />
D<strong>in</strong>ge nicht mehr so sehen, wie sie sich mir früher darstellten.<br />
An jedem weiteren Tag <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> lerne ich <strong>und</strong> werde von der<br />
Gebenden zur Nehmenden, freue mich auch über die Spontaneität<br />
der Menschen hier. Leider kann ich nicht so spontan<br />
se<strong>in</strong> wie ich es sonst b<strong>in</strong>.<br />
So br<strong>in</strong>ge ich zwar me<strong>in</strong>e beiden Predigten für K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>igermaßen<br />
über die Bühne, aber wirklich zufrieden b<strong>in</strong> ich<br />
nicht, weil ich normalerweise frei rede, den Menschen <strong>in</strong> die<br />
Augen schaue, auf die Zuhörer e<strong>in</strong>gehe. Da me<strong>in</strong> Englisch<br />
37
dafür nicht ausreicht, ist mir das <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> nicht möglich. Ich<br />
habe me<strong>in</strong>e Texte bis aufs i-Tüpfelchen ausformuliert.<br />
Sonntag. Heute sollen<br />
wir <strong>in</strong> unterschiedlichen<br />
Gottesdiensten<br />
e<strong>in</strong><br />
Grußwort sagen. Kes<br />
Girma, der Präsident<br />
der Synode, hat mich<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de<br />
e<strong>in</strong>geladen. Den<br />
Abend vorher habe ich<br />
mir e<strong>in</strong> paar Sätze<br />
aufgeschrieben. Ich will sagen, dass wir durch das Gebet von<br />
Deutschland nach Äthiopien verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d, will von me<strong>in</strong>em<br />
Jugendbibelkreis erzählen.<br />
Wir bef<strong>in</strong>den uns gerade im dicksten Verkehr <strong>und</strong> ich b<strong>in</strong> damit<br />
beschäftigt, die Beifahrertür des uralten Autos festzuhalten,<br />
damit wir sie nicht verlieren, als mich Bruder Girma (auf Englisch<br />
natürlich) fragt: “Nun Ehit (Schwester) Wiebke, worüber<br />
wirst du heute predigen?“<br />
Anders als bei uns, wo der Pfarrer über alles, nur nicht über<br />
zwanzig M<strong>in</strong>uten predigen darf, ist <strong>in</strong> Äthiopien nach 40 M<strong>in</strong>uten<br />
noch nicht Schluss. Nach e<strong>in</strong>er kurzen Schrecksek<strong>und</strong>e<br />
antwortete ich: „Der Heilige Geist wird’s weisen.“ Das tut er<br />
dann auch, <strong>und</strong> ich b<strong>in</strong> ihm <strong>in</strong> diesem Tagen nicht zum ersten<br />
Mal besonders dankbar.<br />
Dass der Geist Gottes unter uns ist, merken wir alle immer<br />
wieder. Täglich erlebe ich e<strong>in</strong> Stück von Pf<strong>in</strong>gsten: Verstehen,<br />
ohne die Sprache zu können. Sich als e<strong>in</strong>e Familie <strong>in</strong> Jesus zu<br />
fühlen. Das spüre ich jeden Tag neu.<br />
Ich spüre das <strong>in</strong> der Umarmung des K<strong>in</strong>des, das auf me<strong>in</strong>en<br />
Schoß geklettert war. Ich spüre es auch beim Frisbeespielen<br />
mit den Jugendlichen nach dem Gottesdienst. Bei den liebevol-<br />
38
len E<strong>in</strong>ladungen zum Essen, wo der letzte entbehrliche Birr <strong>in</strong><br />
den Kauf von Lebensmitteln gesteckt wurde.<br />
Viele D<strong>in</strong>ge fallen mir wieder e<strong>in</strong>, während ich dies hier schreibe:<br />
Ich denke an den kle<strong>in</strong>en Jungen, der sorgfältig den Asphalt<br />
aus der Straße ‚popelt’, um die Bröckchen als Teer für<br />
die Dächer zu verkaufen.<br />
An die Bettler<strong>in</strong>, der ich aus Versehen e<strong>in</strong>en 10-Birr-Sche<strong>in</strong><br />
(ca. 1 Euro) <strong>in</strong> die Hand gedrückt habe, von dem sie vermutlich<br />
e<strong>in</strong>e ganze Woche leben wird.<br />
An die verkrüppelte junge Frau, deren Gesicht förmlich von<br />
<strong>in</strong>nen her leuchtet.<br />
An den fremden ‚lebensrettenden’ Mann, der mich gerade<br />
noch vor dem heranbrausenden Bus von der Straße zieht. An<br />
die Gewürzhändler<strong>in</strong> auf dem Markt…<br />
Ich b<strong>in</strong> verändert zurückgekommen. Mit staunenderen Augen<br />
<strong>und</strong> offenerem Herzen.<br />
39
Aus Hungerhilfe wurde umfassende<br />
Lebenshilfe<br />
Von Pfr. Johannes Launhardt<br />
Am 23. April 1973 erhielten wir <strong>in</strong> der<br />
Kirchenleitung des Äthiopisch-Evangelischen<br />
Mekane Yesus Kirche e<strong>in</strong>en erschreckenden<br />
Bericht über Dürre <strong>und</strong> Hungersnot <strong>in</strong> der<br />
nordäthiopischen Prov<strong>in</strong>z Wollo. Nachdem<br />
Kaiser Haile Selassie im November 1973 die<br />
Prov<strong>in</strong>z Wollo besucht <strong>und</strong> das erschreckende<br />
Ausmaß der Not gesehen hatte, wurde <strong>in</strong> den<br />
Medien darüber berichtet.<br />
So erreichte die Nachricht von hungernden Menschen auch<br />
Marburg. Frauen der Wehrdaer Tr<strong>in</strong>itatisgeme<strong>in</strong>de, darunter<br />
Frau Jungraithmayr, hören von der Not, sammeln Geld <strong>und</strong><br />
leiten es nach <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> weiter. In me<strong>in</strong>er Gegenwart wird<br />
das Geld dem Generalsekretär der Mekane Yesus Kirche ü-<br />
bergeben <strong>und</strong> direkt für Hungerhilfe verwandt.<br />
Im Februar 1974 sammelten Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler der<br />
Mart<strong>in</strong>-Luther-Schule für die Hungernden <strong>in</strong> Äthiopien fast<br />
8.800.-DM.<br />
Die Hungersnot <strong>in</strong> Wollo wurde bald auch <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong><br />
sichtbar. Viele Menschen flüchteten <strong>in</strong> die Hauptstadt <strong>in</strong> der<br />
Hoffnung, dort Brot <strong>und</strong> Arbeit zu f<strong>in</strong>den. Nachts schliefen sie<br />
an Hauswänden, tagsüber bettelten sie. Weil uns klar wurde,<br />
dass e<strong>in</strong> Brötchen oder e<strong>in</strong>e Banane gegen die Not der Menschen<br />
ke<strong>in</strong>e Lösung darstellen, g<strong>in</strong>g ich zusammen mit e<strong>in</strong>em<br />
äthiopischen Sozialarbeiter dazu über, e<strong>in</strong>zelnen Menschen<br />
e<strong>in</strong>e Berufsausbildung oder Starthilfe zu geben.<br />
Da stand z. B. Nigussie Meressa aus Nordäthiopien mittellos<br />
auf der Straße. Wir gaben ihm von dem Geld aus Marburg<br />
40
300 E$, um e<strong>in</strong>en Führersche<strong>in</strong> zu machen <strong>und</strong> sich se<strong>in</strong>en<br />
Lebensunterhalt selbst zu verdienen.<br />
In manchen Fällen zahlten wir für Jugendliche, die auf der<br />
Straße herumlungerten, das Schulgeld, damit sie e<strong>in</strong>en Ab-<br />
bekämen. Manchmal bestand unsere Hilfe auch nur<br />
schluss<br />
dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>em bettelnden oder kranken Menschen die Busfahrt<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Heimat zu bezahlen. Dank der Mittel aus Marburg<br />
konnten wir helfen.<br />
Durch die <strong>in</strong> Marburg aufgebrachten Spenden begannen wir,<br />
Eltern oder Pflegeeltern von <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>n zu unterstützen.<br />
E<strong>in</strong>mal im Monat erhielt die Mutter oder Pflegefamilie Getreide.<br />
Das Projekt „ <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>“ bezahlte das Schulgeld direkt an<br />
die Schule, gab e<strong>in</strong>mal im Jahr Schulkleidung aus <strong>und</strong> besorgte<br />
die mediz<strong>in</strong>ische <strong>und</strong> soziale Begleitung der K<strong>in</strong>der. Später<br />
kam noch e<strong>in</strong>e Berufsbildungshilfe dazu.<br />
Dank der unermüdlichen Spendenbereitschaft der Menschen<br />
im Marburger Land konnte die Zahl der unterstützten <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> ständig erhöht werden. Heute s<strong>in</strong>d es<br />
1014 <strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> im Programm. E<strong>in</strong>e erstaunliche Opfer-<br />
Leistung, für die ich auch im Namen der Empfänger nur dan-<br />
ken kann.<br />
Aus e<strong>in</strong>er privaten Initiative ist e<strong>in</strong> Programm erwachsen,<br />
durch das buchstäblich Tausende von Äthiopiern <strong>und</strong> Äthiopier<strong>in</strong>nen<br />
e<strong>in</strong>e leibliche,<br />
geistige <strong>und</strong> seelische<br />
Lebenshilfe erhielten.<br />
Menschen aus Deutschland<br />
behielten das, was<br />
Gott ihnen anvertraut<br />
hatte nicht für sich, sonern<br />
gaben davon weiter.<br />
Darauf lag <strong>und</strong> liegt e<strong>in</strong><br />
großer Segen.<br />
41
Interview mit Dorle Wilke<br />
Geführt von Joachim Striepecke<br />
Mitglied des Ausschusses für<br />
Mission <strong>und</strong> Partnerschaft<br />
seit 1973<br />
Redaktion:<br />
Frau Wilke, Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e derjenigen Personen, die das Projekt<br />
‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ von Anfang an miterlebt<br />
haben. Wie hat eigentlich alles begonnen?<br />
Dorle Wilke:<br />
Es war im Jahr 1973 als Frau Jungraithmayr e<strong>in</strong>es Tages<br />
von e<strong>in</strong>er Afrikareise zurückkam, auf der sie mit ihrem Mann<br />
war <strong>und</strong> sagte, dass dort K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> großer Not seien. Da<br />
müsste doch Abhilfe geschaffen werden. Und da weiß ich,<br />
dass Pfr. Mommsen sofort bereit war <strong>und</strong> sagte: „Wir wollen<br />
mal sehen, was wir tun können.“ – Das würde ich sozusagen<br />
als Geburtsst<strong>und</strong>e empf<strong>in</strong>den.<br />
Redaktion:<br />
Wie g<strong>in</strong>g es denn daraufh<strong>in</strong> weiter?<br />
Dorle Wilke:<br />
Oh, dann g<strong>in</strong>g es sehr schnell. Es war klar, wie viel Geld<br />
man brauchte, um e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d zu unterhalten. Nämlich ungefähr<br />
30 DM pro Monat. Das weiß ich deshalb, weil jeder, der<br />
42
mithelfen wollte, sich fragte, „Kann ich e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, kann ich<br />
zwei K<strong>in</strong>der unterstützen“.<br />
Redaktion:<br />
Wozu wurde das Geld verwendet?<br />
Dorle Wilke:<br />
Die Hilfe wurde zum e<strong>in</strong>en für den Unterricht gebraucht. Außerdem<br />
sollten die K<strong>in</strong>der im Jahr e<strong>in</strong> Paar Schuhe bekommen,<br />
zweimal im Jahr e<strong>in</strong> Stück Seife <strong>und</strong> natürlich die Ernährung.<br />
Sie haben „Teff“ – das ist e<strong>in</strong> ganz kle<strong>in</strong>es schwarzes<br />
Korn, was wir vielleicht Reis nennen würden. Nach dem<br />
Kochen können daraus z. B. Eierkuchen gebacken werden.<br />
Redaktion:<br />
Was war Ihnen denn besonders wichtig?<br />
Dorle Wirke:<br />
Ganz wichtig an dem Programm war, dass die K<strong>in</strong>der nicht<br />
gesondert <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim kommen, sondern <strong>in</strong> ihrer vertrauten<br />
Umgebung bleiben. Die Familie sollte gestützt <strong>und</strong> Aggressionen<br />
sollte vorgebeugt werden. Das war der erste Gedan-<br />
ist bis heute ke. Und der geblieben.<br />
R<br />
edaktion:<br />
Mit wie vielen K<strong>in</strong>dern ist es denn 1977 losgegangen?<br />
Dorle Wilke:<br />
Es waren 17 K<strong>in</strong>der am Anfang. Und das war für die kle<strong>in</strong>e<br />
Geme<strong>in</strong>de schon allerhand. Schließlich musste das Geld<br />
erst e<strong>in</strong>mal aufgebracht werden, wobei auch Pfr. Mommsen<br />
immer sagte, ihm läge mehr daran, langfristig zu helfen,<br />
konkret: E<strong>in</strong> Dauerauftrag der läuft <strong>und</strong> Planungssicherheit<br />
bietet, also ke<strong>in</strong>e kurzfristige Aktion.<br />
Redaktion:<br />
Jetzt wurde es also ernst...?<br />
43
Dorle Wilke:<br />
Das ist es, was bei diesem Projekt auch wichtig ist: man hat<br />
nicht danach gefragt, „Bist du evangelisch, bist du katho-<br />
Dorle Wilke:<br />
... genau <strong>und</strong> der erste Schreck folgte unmittelbar: Es war<br />
eben nicht damit getan, dass man vierteljährlich...<br />
Redaktion:<br />
...wurde das Geld direkt überwiesen?<br />
D<br />
R<br />
D<br />
orle Wilke:<br />
Ne<strong>in</strong>, das Geld konnte über Herrmannsburg kostenfrei nach<br />
Äthiopien gesandt werden. Aber – um auf das eigentliche<br />
Problem zurückzukommen – der Schreck lag dar<strong>in</strong>, dass<br />
man bei dieser Anzahl von K<strong>in</strong>dern schon e<strong>in</strong>e Rücklage<br />
von e<strong>in</strong>em Jahr ständig bereit halten musste. Dies ist bis<br />
heute so.<br />
edaktion:<br />
Wie haben<br />
Sie sich damals entschieden?<br />
orle Wilke:<br />
Also, ich habe es persönlich so empf<strong>und</strong>en, bei allem, wie<br />
es uns hier geht, dem Lebensstandard, den wir hier haben,<br />
dass man wenigsten diese Sache unterstützt <strong>und</strong> sagt: „Gut,<br />
das hier ist me<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g.“<br />
Redaktion:<br />
Wie viele K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d es eigentlich heute?<br />
Dorle Wilke:<br />
Über 1000 – genau 1014. Es waren eben viel mehr K<strong>in</strong>der<br />
auf der Straße <strong>und</strong> so hatte man sich zum Pr<strong>in</strong>zip genommen,<br />
die ärmsten auszuwählen.<br />
Redaktion:<br />
Religion oder das Missionarische spielten ke<strong>in</strong>e Rolle?<br />
44
lisch, bist du sonst was?“, sondern man hat wirklich die K<strong>in</strong>-<br />
das ist<br />
der, die <strong>in</strong> der größten Not waren, <strong>in</strong>s Projekt genommen. Es<br />
sollte also ohne religiösen Zwang geschehen. Und<br />
e<strong>in</strong>e Sache, die, wie ich f<strong>in</strong>de, sehr schön <strong>und</strong> überzeugend<br />
ist.<br />
Redaktion:<br />
Von 17 auf über 1000, das kl<strong>in</strong>gt überwältigend. Wie kam es<br />
zu diesem Anstieg?<br />
Dorle Wilke:<br />
Nach manchen Ause<strong>in</strong>andersetzungen, neuen Spendern<br />
<strong>und</strong> ebenso vielen Sitzungen hatten wir erreicht, dass diese<br />
jährliche Schwankungsreserve aufgebaut worden war. Und<br />
dann konnten wir daran gehen, das Projekt aufzustocken,<br />
weil wir merkten, hier kommt Geld <strong>und</strong> da. Das s<strong>in</strong>d sichere<br />
E<strong>in</strong>nahmen. Pfr. Mommsen hatte manchmal auch große<br />
Spender. Also es wuchs das Kapital an. Und ich er<strong>in</strong>nere<br />
mich, als wir wieder e<strong>in</strong>mal im Missionsausschuss saßen<br />
<strong>und</strong> Pfr. Mommsen sagte, wir müssten weitere K<strong>in</strong>der aufnehmen<br />
– <strong>und</strong> wir sagten „Ne<strong>in</strong>!“. Es war schwierig <strong>und</strong> wir<br />
fühlten uns schlecht dabei. Nun, wir konnten nicht spontan<br />
sagen, „Wir machen das!“, sondern es musste ja stets fest<br />
<strong>und</strong> auf Dauer zugesagt werden. Und wir haben damals um<br />
50, um 20 K<strong>in</strong>der echt gerungen. Das lief viele Jahre so.<br />
Redaktion:<br />
Und dann, wie kam es zu der heutigen Zahl?<br />
Dorle Wilke:<br />
Ja, das änderte sich, als man merkte, wie viel Geld man auf<br />
der hohen Kante liegen hatte. Dann wurde auch der Missi-<br />
erweitert. Tja, <strong>und</strong> die neu H<strong>in</strong>zugekomme-<br />
onsausschuss<br />
nen sagten: „Es ist doch nicht richtig, dass man hier Geld<br />
auf der ‚Halde’ hat <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Zeit verhungern K<strong>in</strong>der, <strong>und</strong><br />
überhaupt, man müsste mehr K<strong>in</strong>der aufnehmen.<br />
45
„… die ärmsten K<strong>in</strong>der auszuwählen“<br />
Ausschlaggebend für die Aufnahme <strong>in</strong> das Förderprogramm<br />
ist alle<strong>in</strong> die Bedürftigkeit. Es s<strong>in</strong>d die Ärmsten<br />
der Armen, die e<strong>in</strong>en monatlichen Beitrag von umge-<br />
rechnet r<strong>und</strong> 15 € für sich <strong>und</strong> ihre Familien erhalten.<br />
Dabei ist unerheblich,<br />
• ob es sich um Mädchen oder Jungen handelt,<br />
wobei e<strong>in</strong>e möglichst gleiche Berücksichtigung<br />
angestrebt wird;<br />
• welcher Religion oder Konfession die Bedürftigen<br />
angehören: ob protestantisch oder orthodox, ob<br />
ungetauft oder muslimisch;<br />
• <strong>in</strong> welchem Alter – e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>destalter von sechs<br />
Jahren vorausgesetzt – die K<strong>in</strong>der <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
<strong>in</strong> Not geraten.<br />
46
Redaktion:<br />
Ihre Reaktion...?<br />
Dorle Wilke:<br />
... ich weiß noch, ich war wie verste<strong>in</strong>ert, weil ich dachte, wir<br />
haben so darum gerungen <strong>und</strong> jetzt mit e<strong>in</strong>em Mal wurde<br />
zu geschlagen. Und da gab’s ne große Zahl – <strong>und</strong> es g<strong>in</strong>g!<br />
Redaktion:<br />
Gab es weitere Veränderungen durch die Öffnung des Missionsausschusses?<br />
Dorle Wilke:<br />
Die Erweiterung brachte e<strong>in</strong>e weitere wichtige Sache: Frau<br />
Dr. Kuhnhen, die Leiter<strong>in</strong> des Ges<strong>und</strong>heitsamts, stieß <strong>in</strong> un-<br />
seren Kreis h<strong>in</strong>zu <strong>und</strong> sie brachte e<strong>in</strong>e ganz andere Perspektive<br />
<strong>in</strong> unsere Überlegungen. Ihre Fragen drehten sich<br />
um die mediz<strong>in</strong>ische Betreuung. Natürlich gibt es immer<br />
Leute, die sagen, „Das ist doch nicht nötig!“. Ich me<strong>in</strong>e: „Das<br />
ist nöt ig <strong>und</strong> das ist gut so!“ Es muss möglich se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Sache<br />
zu ändern, zu erweitern, wenn der Gr<strong>und</strong>gedanke erhalten<br />
bleibt.<br />
Redaktion:<br />
Zum Schluss e<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> die Zukunft...?<br />
Dorle Wilke:<br />
Gerne. – Nun, es hört ja <strong>in</strong> diesen Tagen e<strong>in</strong>e ganze Generation<br />
auf, wenn Sie so wollen. Wir brauchen junge Menschen,<br />
die sich für das, was wir tun, begeistern lassen. Wir<br />
Alten haben uns im Missionsausschuss immer gefragt: „Was<br />
haben wir den Menschen <strong>in</strong> Äthiopien versprochen?“ Und<br />
die Antwort war im Gr<strong>und</strong>e ganz e<strong>in</strong>fach: „Lasst sie doch so<br />
leben, wie sie möchten, bleiben, was sie s<strong>in</strong>d. Unsere Hilfe<br />
ist e<strong>in</strong> Zeichen zum Leben dieser Menschen, e<strong>in</strong> Zeichen,<br />
uns geht’s gut <strong>und</strong> hier helfen wir. – Ja, das tun wir gerne.“<br />
47
Zeuge der Dankbarkeit<br />
E<strong>in</strong> Brief von Pfr. Hans-Joachim Krause<br />
Während der letzten 30 Jahre hat Äthiopien <strong>in</strong>folge von<br />
Kriegen, Hungernöten <strong>und</strong> dem Übergang zur demokrati-<br />
gehabt. Die Rechte der K<strong>in</strong>der<br />
schen Verfassung große wirtschaftliche, soziale <strong>und</strong> politische<br />
Herausforderungen<br />
werden mit Füßen getreten.<br />
E<strong>in</strong>igen Tausend K<strong>in</strong>dern, Jugendlichen <strong>und</strong> jungen Erwachsenen<br />
ist die ganzheitliche Fürsorge durch das Marburger<br />
<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>-Projekt <strong>in</strong> der Evangelischen Partnerkirche<br />
Mekane Yesus <strong>in</strong> Äthiopien heilsam widerfahren.<br />
Dessen b<strong>in</strong> ich <strong>in</strong> all den Jahren Zeuge geworden.<br />
Jedesmal, wenn ich ehrenamtlich die „Marburger“ K<strong>in</strong>der<br />
<strong>in</strong> verschiedenen Geme<strong>in</strong>den besuche, rührt mich der<br />
tiefempf<strong>und</strong>ene Dank an, den ich durch Mitarbeiter, Eltern<br />
<strong>und</strong> besonders durch die leuchtenden Augen der<br />
K<strong>in</strong>der erfahre.<br />
Es fällt mir leicht, diesen Dank weiterzugeben.<br />
Ich hoffe, dass auch <strong>in</strong> Zukunft psycho-soziale Unterstützung<br />
<strong>und</strong> die Erziehung der K<strong>in</strong>der wichtige Methoden<br />
s<strong>in</strong>d, um den Teufelskreis von Ausgrenzung <strong>und</strong> Stigmatisierung<br />
zu durchbrechen.<br />
Möge die Liebe Jesu Christi Geber <strong>und</strong> Empfänger weiterh<strong>in</strong><br />
segnen.<br />
48
Paul <strong>und</strong> Mia: Kaugummi<br />
Mia:<br />
Heute ist Sonntag. Da<br />
haben die Geschäfte<br />
leider zu. Wollen wir uns<br />
e<strong>in</strong> paar Kaugummis<br />
aus dem Automaten zie-<br />
hen?<br />
Paul:<br />
Das e<strong>in</strong>zige Geld, das ich<br />
habe, ist die Kollekte für<br />
den K<strong>in</strong>dergottesdienst.<br />
Mia:<br />
Dann nimm doch das!<br />
Paul:<br />
Nee! Das ist für <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>.<br />
Mia:<br />
Was ist das denn?<br />
Paul:<br />
Das ist, wenn du statt selber Kaugummi zu kauen, K<strong>in</strong>dern<br />
<strong>in</strong> Afrika hilfst, e<strong>in</strong> anständiges Brot zu kriegen.<br />
49
Almaz' Traum<br />
Von Dr. med. Claudia Kuhnhen<br />
Sie ist 17 Jahre alt, seit 8 Jahren im ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong>programm’.<br />
Ich traf sie <strong>in</strong> Urael, e<strong>in</strong>er Stadtteilgeme<strong>in</strong>de von <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>,<br />
im Herbst 2000 bei der letzten Reise unserer Delegation nach<br />
Äthiopien. Sie war <strong>in</strong> der 12. Klasse, also der Abschlußklasse,<br />
sie hat Englisch gelernt <strong>und</strong> konnte deshalb direkt mit mir<br />
sprechen, ohne Dolmetscher, der sonst unsere Gespräche<br />
vom Amharischen, der e<strong>in</strong>heimischen Sprache, <strong>in</strong>s Englische<br />
übersetzen muß. Natürlich ist sie schüchtern, spricht sehr leise<br />
m it mir, der weißen Ärzt<strong>in</strong> aus dem Marburger Land, „Dr. Claudia,<br />
hakim natcho“, wie man mich hier vorstellt.<br />
Au f me<strong>in</strong>e Frage, welchen Beruf<br />
sie nach der Schule erlernen<br />
möchte, antwortet sie leise: „nurse“<br />
oder „medical doctor, like<br />
you!“ .Wirklich nur e<strong>in</strong> Traum –<br />
oder realisierbar? E<strong>in</strong>e „nurse“ –<br />
Krankenschwester – haben wir<br />
auch bei der MYC, Schwester<br />
Martha. Sie besucht jeden Monat<br />
die Geme<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> denen unsere<br />
K<strong>in</strong>der leben, <strong>und</strong> schaut sich die<br />
kranken K<strong>in</strong>der an. Sie gibt<br />
e<strong>in</strong>fache Medikamente aus wie<br />
Wurmmittel, Hautsalben gegen<br />
Ekzeme, fiebersenkende Mittel<br />
oder entscheidet, wer e<strong>in</strong>e ärztliche Behandlung braucht. Wir<br />
haben ihr diesmal Zahnzangen mitgebracht, damit sie die<br />
Milchzähne der K<strong>in</strong>der ziehen kann.<br />
Almaz kennt sie <strong>und</strong> ihr Aufgabengebiet, so e<strong>in</strong>e Ausbildung,<br />
vielleicht auch als „health-worker“ (Ges<strong>und</strong>heitsarbeiter),<br />
möchte sie auch machen!<br />
50
Arbeit gibt es genug! In e<strong>in</strong>em Land, <strong>in</strong> dem über 40 % der<br />
Bevölkerung Analphabeten s<strong>in</strong>d, meistens die Frauen, kann<br />
man Aufklärung <strong>und</strong> Information über Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Hygienefragen<br />
nur durch direkten Kontakt von Mensch zu<br />
Mensch weitergeben. Bei den schwierigen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />
überlebensnotwendigen Themen wie Verhütung, zur HIV/Aids-<br />
Prävention oder zur weiblichen Beschneidung werden Gleichaltrige,<br />
man nennt es "Peer-Education", dr<strong>in</strong>gend gebraucht.<br />
Doch wer zahlt Almaz e<strong>in</strong>e 3-jährige Ausbildung?<br />
In unserem Programm, das Schulgeld, Ernährung, Schulkleidung<br />
<strong>und</strong> mediz<strong>in</strong>ische Hilfe zahlt, geht es nach der Schule<br />
nicht weiter. E<strong>in</strong> "Startgeld" für e<strong>in</strong>e Erstausstattung als Handwerker<br />
hilft ihr nicht. Also wird "nurse" doch e<strong>in</strong> Traum bleiben?<br />
Und gar e<strong>in</strong>e Ausbildung zur Ärzt<strong>in</strong>? Aussichtslos? Ihre<br />
Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> träumt auch – sie möchte Pilot<strong>in</strong> werden!<br />
Nie hätten diese beiden Mädchen aus e<strong>in</strong>fachsten sozialen<br />
Verhältnissen überhaupt diese Träume haben können, wenn<br />
sie nicht durch das Programm des Marburger Landes e<strong>in</strong>e<br />
solche Schulbildung <strong>und</strong> damit Lebenshilfe erhalten hätten! Sie<br />
wissen das, bedanken sich mit den anderen für die geleistete<br />
Hilfe <strong>und</strong> schauen mich aus großen dunklen Gesichtern <strong>und</strong><br />
Augen erwartungsvoll an!<br />
Können wir mehr tun? Können wir e<strong>in</strong>igen, die wir zum Schu-<br />
doch e<strong>in</strong>e qualifizierte<br />
labschluß gebracht haben, vielleicht<br />
Berufsausbildung ermöglichen, <strong>in</strong>dem wir konkret für E<strong>in</strong>zelne<br />
e<strong>in</strong>e Patenschaft für die Berufsausbildung f<strong>in</strong>anzieren? Natür-<br />
lich darf das Schulprogramm darunter ke<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anziellen E<strong>in</strong>bußen<br />
erleiden, denn die Zahl der hilfsbedürftigen K<strong>in</strong>der<br />
nimmt nicht ab!<br />
Träumen wir mit Almaz <strong>und</strong> ihrer Fre<strong>und</strong><strong>in</strong>! Ohne Visionen <strong>und</strong><br />
Träume können wir die Zukunft nicht gestalten.<br />
51
Wie sieht die politische <strong>und</strong> soziale<br />
Lage <strong>in</strong> Äthiopien aus?<br />
Der Versuch e<strong>in</strong>er Standortbestimmung von Pfr. Mart<strong>in</strong> Zekl<br />
Heute s<strong>in</strong>d es vor allem drei wichtige ethnische Gruppen, die<br />
das äthiopische Leben prägen. Sie stehen <strong>in</strong> ihren kulturellen<br />
Eigenheiten <strong>in</strong> Konkurrenz. Zu den Amharen <strong>und</strong> den Oromo<br />
treten die Tigre, die ursprünglich zu Eritrea gehörten, bis Eritrea<br />
<strong>in</strong> den siebziger Jahren vom kaiserlich-amharischen Reich<br />
annektiert wurde. Diese spät h<strong>in</strong>zugekommene Tigre-Kultur<br />
beansprucht heute e<strong>in</strong>e führende Rolle, nicht ohne den Widerspruch<br />
der anderen beiden Gruppierungen besonders der O-<br />
romo. Die Tigre hatten dabei e<strong>in</strong>e herausragende Rolle im<br />
Kampf gegen das vorausgegangene Diktaturregime des Haile<br />
Mengistu übernommen <strong>und</strong> <strong>in</strong> diesem Kampf erheblichen Blutzoll<br />
gezahlt, aus dem sie me<strong>in</strong>en, das Recht herleiten zu dür-<br />
Die politische <strong>und</strong> soziale Lage <strong>in</strong> Äthiopien ist kompliziert zu<br />
beschreiben, wenn man das als Außenstehender versuchen<br />
will. Das Land sucht im Gegenüber zu den E<strong>in</strong>flüssen aus Europa,<br />
den USA <strong>und</strong> der arabisch-islamischen Welt nach e<strong>in</strong>er<br />
eigenen Identität.<br />
Das alte Äthiopien war deutlich kle<strong>in</strong>er <strong>und</strong> anders, als wir es<br />
heute f<strong>in</strong>den können. Seit dem dritten Jahrh<strong>und</strong>ert war es<br />
christlich geprägt <strong>und</strong> hatte se<strong>in</strong>en Ort im heutigen nördlichen<br />
Teil.<br />
Die Städte Aksum <strong>und</strong> Gondar waren lange Zeit die Haupt-<br />
des äthiopischen Reiches, geprägt von der Kultur der<br />
Städte<br />
Amharen. Portugiesisch-katholischer Mission hat es sich zwar<br />
widersetzt, doch waren schon im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert Kontakte<br />
nach Europa wichtig, vor allem im Blick auf europäische Waffentechnik.<br />
Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert gelang es, die nicht christlichen Oromo-<br />
Stämme im Süden <strong>in</strong> das Reichsgebiet e<strong>in</strong>zugliedern.<br />
52
fen, e<strong>in</strong> besonderes politisches Gewicht im demokratischen<br />
Äthiopien zu haben. Bevor der Diktator Mengistu sich die<br />
Macht nahm, hatte Kaiser Haile Selassi geherrscht. Unter der<br />
kommunistisch geprägten Diktatur hatten die Kirchen <strong>und</strong> die<br />
Christen zu leiden. Viele unserer heutigen älteren Partner <strong>in</strong><br />
den Ortsgeme<strong>in</strong>den der Mekane Yesus Kirche haben lange<br />
Zeit <strong>in</strong> Gefängnissen verbracht.<br />
Heute ist Äthiopien e<strong>in</strong>e B<strong>und</strong>esrepublik, <strong>in</strong> der es immer wieder<br />
zu Spannungen der e<strong>in</strong>zelnen Länder mit der B<strong>und</strong>esregierung<br />
kommt, die auch mit den ethnischen Gruppenvorlieben zu<br />
tun haben. Die B<strong>und</strong>eshauptstadt ist <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>.<br />
Die Schere zwischen sehr wenigen reichen Menschen <strong>und</strong><br />
sehr vielen armen Menschen ist für uns unvorstellbar groß.<br />
Viele Menschen haben außer der eigenen Arbeitskraft nichts,<br />
um ihr Leben abzusichern. Bezahlte Arbeit aber ist knapp.<br />
Hilfsorganisationen aus Europe <strong>und</strong> den USA stehen hier e<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> wenden sich besonders den K<strong>in</strong>dern <strong>und</strong> den Jugendlichen<br />
zu. Lange Wartelisten geben Zeugnis über die Hoffnung<br />
vieler äthiopischer Eltern, dass ihre K<strong>in</strong>der über den Weg der<br />
Förderung durch Hilfsorganisationen e<strong>in</strong>er guten Zukunft entgegengehen<br />
können, die vor allem durch Ausbildung gesichert<br />
werden kann. Jedem Ausbildungsbemühen zuvor steht aber<br />
der tägliche Bedarf an Nahrung, Kleidung, mediz<strong>in</strong>ischer Hilfe<br />
<strong>und</strong> vielen anderen D<strong>in</strong>gen, die das Überleben sichern.<br />
53
Paul <strong>und</strong> Mia: Total gleich<br />
Von Gesa Hentschel<br />
Mia:<br />
Weißt du, was ich blöd<br />
f<strong>in</strong>de?<br />
Paul:<br />
Was denn?<br />
Mia:<br />
Ich f<strong>in</strong>de es blöd, wenn<br />
die Jungs den Mädchen<br />
vorgezogen werden. Ich<br />
habe im Fernsehen gesehen,<br />
dass sich <strong>in</strong> manchen<br />
Ländern bei Geburten<br />
die Eltern viel mehr<br />
über Jungs als über Mädchen freuen. Und die Jungs dürfen<br />
zur Schule, lernen Lesen <strong>und</strong> Schreiben <strong>und</strong> die Mädchen<br />
müssen arbeiten <strong>und</strong> können nicht zur Schule.<br />
Paul:<br />
Weil das ungerecht ist, unterstützen wir im K<strong>in</strong>dergottesdienst<br />
auch die Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’. Da<br />
werden Jungs <strong>und</strong> Mädchen total gleich behandelt.<br />
Mia:<br />
Lernen da auch Mädchen Schreiben <strong>und</strong> Lesen?<br />
Paul:<br />
Klar. Da gibt es ke<strong>in</strong>e Unterschiede. Das f<strong>in</strong>de ich gut.<br />
Mia:<br />
Ich auch.<br />
54
Fiche<br />
Von Pfr. i. R. Dr. Friedrich Jens Mommsen<br />
Bei der jährlichen Mitteilung über die <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Gem<br />
e<strong>in</strong>den unterstützten K<strong>in</strong>der tauchte 1987 e<strong>in</strong> mir bis dah<strong>in</strong><br />
unbekannter Ort auf. Die Rückfrage ergab, dass <strong>in</strong> Fiche ca.<br />
125 km nördlich der Hauptstadt besondere Dürre <strong>und</strong> Bürger-<br />
Fiche war damit der erste Ort, <strong>in</strong> dem unsere<br />
krieg herrschten.<br />
Ak tion über die Stadt <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g.<br />
Deshalb wollten Dekan Slenczka <strong>und</strong> ich 1988 unbed<strong>in</strong>gt auch<br />
die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Fiche besuchen. Doch uns wurde von der Synode<br />
mitgeteilt, dass das nicht möglich sei, weil <strong>in</strong> dem Bürgerkrieg<br />
<strong>in</strong> diesem Gebiet schon Mitarbeiter verletzt worden seien. Als<br />
wir dann 1988 <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong> ankamen, war dann aber doch<br />
e<strong>in</strong> Besuch <strong>in</strong> Fiche zusammen mit der Synodenleitung geplant.<br />
Empfangen wurden wir im Büro der Staatspartei des<br />
Diktators Mengistu; denn die Kirche besaß dort ke<strong>in</strong>en eigenen<br />
Raum. Eltern <strong>und</strong> K<strong>in</strong>der waren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>terhof versammelt<br />
<strong>und</strong> erhielten dabei auch ihren monatlichen Unterhalt aus un-<br />
Programm serem ausgezahlt.<br />
Der Parteisekretär bedankte sich für unsere – wie er betonte –<br />
selbstlose Hilfe aus dem fernen Europa. Er lud uns – ebenfalls<br />
ungewöhnlich – danach zu e<strong>in</strong>em Essen e<strong>in</strong>. Aufgr<strong>und</strong> dieses<br />
Besuchs bekam die Mekane Yesus Kirche <strong>in</strong> Fiche e<strong>in</strong> Stück<br />
La nd, das sonst alle<strong>in</strong> dem Staat gehörte. Bei unserem nächs-<br />
Areal nicht nur „unsere“<br />
ten Besuch 1992 fanden wir auf dem<br />
nun 100 K<strong>in</strong>der, sondern auch e<strong>in</strong>e Kirche, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Verwaltu<br />
ngsgebäude <strong>und</strong> vor allem e<strong>in</strong> Wasserreservoir mit e<strong>in</strong>er<br />
Wasserleitung <strong>in</strong> den Ort mit 20.000 E<strong>in</strong>wohnern vor.<br />
Die Menschen brauchten nun nicht mehr ihr Wasser aus den<br />
Pfützen zu schöpfen. Das war nach dem Gr<strong>und</strong>satz dieser<br />
Kirche geschehen, immer dem ganzen Menschen zu helfen. In<br />
Fiche war dadurch e<strong>in</strong>e lebendige christliche Geme<strong>in</strong>de entstanden<br />
– wie das auch <strong>in</strong> den meisten anderen Orten unseres<br />
Hilfsprogrammes geschah.<br />
55
Zu guter Letzt<br />
E<strong>in</strong> ganz herzlicher Dank muss <strong>und</strong> soll zum 30jährigen Be-<br />
Rechnung zu<br />
stehen der Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong> <strong>Abeba</strong>’ auch dem<br />
Kirchlichen Rentamt Marburg ausgesprochen werden. Ohne<br />
die ungezählten Arbeitsst<strong>und</strong>en, die die MitarbeiterInnen des<br />
Rentamtes dar<strong>in</strong> <strong>in</strong>vestiert haben, die Spenden <strong>und</strong> Kollekten<br />
aus dem Marburger Land weiterzuleiten, <strong>und</strong> die Spendenquittungen<br />
zu schreiben, ohne dafür e<strong>in</strong>en Betrag <strong>in</strong><br />
stellen, könnte die Hilfe nicht die se<strong>in</strong>, die sie ist.<br />
Namentlich danken wir für alle MitarbeiterInnen Herrn He<strong>in</strong>rich<br />
Wagner, der die Verwaltung der ‚<strong>Addis</strong>-Konten’ übernommen<br />
hat <strong>und</strong> Herrn Helmut Wenz, der als Leiter des Rentamtes das<br />
Projekt nicht alle<strong>in</strong> wohlwollend, sondern immer auch tatkräftig<br />
von der verwaltungstechnischen Seite her begleitet.<br />
Nicht unerwähnt bleiben soll die Tatsache, dass dieses Heft<br />
mit e<strong>in</strong>er extra für den Druck bestimmten Spende f<strong>in</strong>anziert<br />
werden konnte.<br />
Wir s<strong>in</strong>d gewiss, dass Gott die fröhlichen Geber liebt <strong>und</strong> verb<strong>in</strong>den<br />
auch hiermit das Versprechen: Ihre Spende kommt an.<br />
Spendenkonten der Aktion ‚<strong>Straßenk<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>Addis</strong>-<strong>Abeba</strong>’<br />
Konto-Nr. 12467<br />
Sparkasse Marburg-Biedenkopf<br />
BLZ 533 500 00<br />
Konto-Nr. 2800101<br />
Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel<br />
BLZ 52060410<br />
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