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Zur Sozial- und Kulturgeschichte - Thomas Huonker

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Steuer eingezogen; sie wurde an die vom Krieg besonders hart betroffenen Landgemeinden<br />

verteilt, darunter Oerlikon. 21<br />

Die mit dem Umsturz von 1798 eingeforderte allgemeine Rechtsgleichheit erlebte in der<br />

Restaurationszeit von 1815 bis 1830 einen Rückschlag, wurde aber in Zürich von den Liberalen<br />

vor allem nach dem Ustertag am 22. November 1830 erfolgreich vorangetrieben. 1839<br />

kam mit dem Züriputsch gegen die babsichtigte Berufung des liberalen Theologen David<br />

Friedrich Strauss (1808-1874) an die 1833 gegründete Universität Zürich erneut ein Rückschritt.<br />

Doch wiederum gestärkt durch eine grosse Volksversammlung am Schwamendinger Tag von<br />

1841 22 setzten sich nach dem Sonderb<strong>und</strong>skrieg mit der Gründung des liberalen B<strong>und</strong>esstaats<br />

1848 schliesslich nicht nur in Zürich, sondern schweizweit die Liberalen durch.<br />

Industrialisierung <strong>und</strong> erste Arbeiterorganisationen<br />

Die von den Liberalen umgesetzte Gleichheit gab vorerst jedoch nur den christlichen Männern<br />

das gleiche Wahlrecht. Gleiche Rechte hiess für die Liberalen keineswegs gleiches Einkommen,<br />

gleiches Vermögen oder gleichen Landbesitzanteil, wie es, ebenfalls im Gefolge der<br />

französischen Revolution <strong>und</strong> ebenfalls unter Berufung auf Gleichheit <strong>und</strong> Brüderlichkeit, die<br />

ersten <strong>Sozial</strong>isten 23 ab 1830 zunehmend lautstark forderten.<br />

Die ökonomischen Ungleichheiten waren nun nicht mehr legitimiert durch feudale Traditionen<br />

eines sich als gottgewollte Obrigkeit inszenierenden städtischen Patriziats. Zudem waren<br />

sie nicht kleiner, sondern eher grösser geworden. Einige wenige konnten in einer kurzen<br />

Lebensspanne Fabrik um Fabrik eröffnen <strong>und</strong> sich luxuriöse Villen erbauen lassen, während<br />

die Mehrheit nicht nur im alten Elend verkam, sondern dazu noch einer intensivierten Ausbeutung<br />

der Arbeitskraft unterzogen wurde. In den entstehenden Fabriken galten Arbeitszeiten<br />

vom frühen Morgen bis in den späten Abend. Als Unterkunft dienten Verschläge,<br />

später einfache Kosthäuser neben der Fabrik. Frauen <strong>und</strong> Kinder mussten ebenfalls in der<br />

Fabrik arbeiten. Ganze Familien atmeten nur am Sonntag etwas frische Luft, wenn sie dann<br />

nicht todmüde den unter der Woche versäumten Schlaf nachholten.<br />

Selbständige Handwerker <strong>und</strong> die ehemaligen Heimarbeiter der Textilinstrie, etwa die Handweber,<br />

konnten mit der industriellen Konkurrenz nicht mithalten <strong>und</strong> sanken ebenso ins Fabrikproletariat<br />

ab wie die in einer intensivierten Landwirtschaft zusehends entbehrlichen<br />

Knechte, Mägde <strong>und</strong> Taglöhner. Auch viele Kleinbauern, die an steilen <strong>und</strong> schattigen Lagen<br />

auf keinen grünen Zweig kamen, konnten ihren Betrieb nur halten, wenn sie in die Fabrik<br />

gingen, während Frau <strong>und</strong> Kinder auf dem Hof arbeiteten.<br />

Im Kanton Zürich gab es 1827 r<strong>und</strong> 5000 in Spinnereien Beschäftigte. Davon waren 1430<br />

Männer, 1150 Frauen <strong>und</strong> 2400 Kinder unter 16 Jahren. Die täglichen Arbeitszeiten, inklusive<br />

Samstag, dauerten 12 bis 14, teilweise 16 St<strong>und</strong>en. Vom Elend dieser Menschen profitierte<br />

beispielsweise Heinrich Kunz, genannt der „Spinnerkönig“, der mit Fabriken in Zürich <strong>und</strong><br />

Schaffhausen begonnen hatte. „Ende der 1830er Jahre besass Kunz mit einem Anteil von 9%<br />

aller schweizerischen Spindeln das grösste Spinnereiunternehmen des Landes. Zwischen 1835<br />

<strong>und</strong> 1845 kaufte er Spinnereien in Adliswil, Linthal, Rorbas <strong>und</strong> Kemptthal hinzu. Nach<br />

diesen Erwerbungen hatte er r<strong>und</strong> 150'000 Spindeln in Betrieb, beschäftigte 2'000<br />

Arbeitskräfte <strong>und</strong> erzielte einen Umsatz von 3,5 Millionen Franken. Kunz galt als der grösste<br />

Spinnereiunternehmer seiner Zeit in Europa.“ 24<br />

21 Bolliger 1983, S. 53<br />

22 vgl. Hans Max Kriesi: Gottfried Keller als Politiker, Frauenfeld 1916, S. 28<br />

23 vgl. u.a. Michael Vester, Hg.: Die Frühsozialisten 1789–1848. 2 Bde. Hamburg 1970f.<br />

24 Sarah Brian Scherer, Artikel Heinrich Kunz im Historischen Lexikon der Schweiz<br />

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