MUSIK IN BADEN-WÜRTTEMBERG - von Erdmann-Abele
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40 Jahre Musica Nova in Reutlingen 251<br />
nik), porträtierte mit Werken <strong>von</strong> John Cage, Christian Wolff und des Radikal-<br />
Minimalisten Tom Johnson die Jahre zwischen 1980 und 1990.<br />
Doch pochte der Zeit-Puls subtil und unüberhörbar auch in Konzerten jenseits<br />
solch’ pfiffiger und griffiger Programmkonzepte. Politische Brisanz besaß<br />
der Auftritt eines kroatischen Pianisten bereits im Vorfeld eines Konzerts, das<br />
in der Saison 1996/97 Komponisten aus dem ehemaligen Jugoslawien hätte gewidmet<br />
sein sollen. In einem Brief des Pianisten an <strong>Erdmann</strong> heißt es: »Außerdem<br />
sind mir Werke <strong>von</strong> serbischen Komponisten nicht verfügbar, und letztendlich<br />
ist es mir aus politischen Gründen nicht möglich, diese Werke öffentlich<br />
zu vertreten.« 25 Die Antwort des Reihen-Leiters fällt überzeugend kompromisslos<br />
aus:<br />
Energisch widersprechen muss ich Ihren Gedanken hinsichtlich „serbischer Komponisten“<br />
und „politischen Gründen“. Wir hatten einmal in Deutschland eine Zeit, in der Musik eines<br />
Mendelssohn aus „politischen Gründen“ nicht gespielt werden durfte. Ich werde nicht dulden,<br />
dass in Reutlingen Komponisten nur deshalb nicht aufgeführt werden, weil sie einer bestimmten<br />
Volksgruppe angehören. Bitte überdenken Sie nocheinmal Ihre Entscheidung eines<br />
Programmangebots aus Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien. 26<br />
Die Vertragsverhandlungen scheiterten. – Oder das Konzert mit dem Titel »Ex<br />
oriente lux«, das sich im März 2003, wenige Tage nach Beginn des Irak-Kriegs,<br />
west-östlichem Gratwandern verpflichtet hatte und Brücken spannte, wo die Politik<br />
Klüfte riss. Selbst die Ereignisse des 11. September 2001 haben auf der<br />
Reutlinger Musica Nova-Bühne einen Brennspiegel für Reflexe gefunden – in<br />
Form des 2007 hier uraufgeführten Stücks Suckle für Bariton, Cello und Klavier<br />
des Australiers James Hullick, das – ausgelöst <strong>von</strong> »Nine-Eleven« – eine<br />
Grundempfindlichkeit des Komponisten thematisierte, »sein Misstrauen gegenüber<br />
der Verdrängungs- und Verharmlosungs-Strategien heutiger Zeit, die der<br />
grausamen Idylle irrsinniger Oberflächlichkeit geradewegs ins offene Messer<br />
läuft«. 27<br />
Elektronische Klänge und blinde Flecken<br />
Beim Gang in die Archive und dem Blick auf die Programme der Musica Nova<br />
seit 1989 entfaltet sich ein eindrucksvolles Panorama: Nicht nur Schönberg,<br />
Berg und Webern wurden hier aufgeführt, auch Eisler und Adorno; nicht nur<br />
Schostakowitsch und Prokofieff, Krenek und Janáček, auch Wladimir Vogel und<br />
Alfred Schnittke, Martinů und Varèse. Maderna und Berio, Nono und Dallapiccola<br />
erklangen hier ebenso wie Messiaen und Boulez, Dutilleux und Dusapin.<br />
Xenakis und Lutoslawski standen neben Ives und Crumb, Stockhausen und<br />
Reimann neben Cage und Reich, Rihm und Killmayer neben Bernstein und Britten.<br />
Und nimmt man Henze und Holliger, Hölszky und Gubaidulina, Klaus<br />
Huber und Jürg Baur hinzu, so sind mit diesen Namen doch lediglich die Hö-<br />
25 Brief vom 31. Mai 1994.<br />
26 Brief vom 29. Juni 1994.<br />
27 Reutlinger Nachrichten, 22. Juni 2007.