INFOBRIEF TÃRKEI - Rosa Luxemburg Stiftung Hessen
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<strong>INFOBRIEF</strong> TÜRKEI<br />
EDITORIAL<br />
2<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
die Beziehungen der Türkei zu ihren südlichen Nachbarstaaten<br />
stecken inmitten eines Umbruchs, an<br />
dessen Ausgang die politischen Grenzen im Nahen<br />
Osten neu gezogen werden könnten. Während diese<br />
Grenzen in der vergangenen Dekade insbesondere<br />
durch den Ausbau von Handelsbeziehungen zwischen<br />
der Türkei und Syrien, dem Irak und dem Iran<br />
durchlässiger wurden, erscheint der seit zwei Jahren<br />
andauernde Krieg in Syrien als Unterbrechung dieser<br />
Dynamik. Vor Ausbruch des Krieges wurde noch über<br />
den Ausbau der bilateralen Beziehungen zwischen<br />
der Türkei und Syrien zu einer Art Wirtschaftsunion<br />
gesprochen, diese Option erscheint kaum noch realistisch.<br />
Auch wenn unklar ist, wie der Krieg beendet<br />
werden wird, ist durch ihn unerwartet eine neue Ausgangslage<br />
entstanden. Im Norden Syriens haben sich<br />
neue staatliche Strukturen unter der Führung einer<br />
kurdisch-nationalen Partei herausgebildet, die in zukünftige<br />
politische Gleichungen einbezogen werden<br />
muss. Ein Zurück zum Status quo ante wird es wohl<br />
kaum geben. Die Beziehungen zwischen der kurdischen<br />
Autonomiebehörde im Norden Iraks und der<br />
Türkei unterliegen ohnehin seit einiger Zeit einer<br />
Dynamik, die ein politisches und wirtschaftliches<br />
Zusammenrücken als Option erscheinen lassen.<br />
De facto hat es die Türkei an ihrer südlichen Grenze<br />
inzwischen mit zwei halb-autonomen kurdischen<br />
Staatsgebilden zu tun.<br />
Hinzu kommt ein dritter kurdisch-nationaler Akteur,<br />
die kurdische Bewegung in der Türkei, die seit über<br />
30 Jahren mit allen Mitteln bekämpft wird und trotzdem<br />
nicht besiegt werden konnte. Noch vor wenigen<br />
Monaten sinnierten regierungsnahe Kreise über eine<br />
»totale Eliminierung« der kurdischen Bewegung, und<br />
der Ministerpräsident bedauerte sehr, dass der inhaftierte<br />
Vorsitzende der PKK Abdullah Öcalan seinerzeit<br />
nicht hingerichtet wurde. Inzwischen scheint sich das<br />
Blatt vollkommen gewendet zu haben. Die türkische<br />
Regierung und Öcalan sind erneut »in einen Dialog<br />
getreten« und wollen die kurdische Frage angeblich<br />
gemeinsam ein für allemal lösen. Frieden steht bevor,<br />
heißt es, während die türkische Regierung offiziell<br />
weiterhin die »Terrorbekämpfung« als Ziel der aufgenommenen<br />
Gespräche benennt.<br />
Diverse Strategen sprechen dagegen von einer türkisch-kurdischen<br />
Allianz unter sunnitischer Flagge<br />
im Nahen Osten. Als gemeinsame Vision wird eine<br />
Konföderation bestehend aus der Türkei und den<br />
überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten in Syrien,<br />
im Irak und im - momentan nicht im Blickfeld stehenden<br />
- Iran als Vernunftlösung gepriesen, von der<br />
alle Seiten profitierten. Die PKK hat sich zwar äußerst<br />
skeptisch gezeigt. Nichtdestotrotz folgte sie Öcalans<br />
Aufruf, rief einen Waffenstillstand aus und erklärte<br />
sich grundsätzlich bereit, die bewaffneten Einheiten<br />
aus der Türkei abzuziehen.<br />
Was für manche eine Horrorvision ist, verbunden<br />
mit einem großen Krieg im Nahen Osten, ist für andere<br />
das genaue Gegenteil. Der gegenwärtige Prozess<br />
könnte die Beilegung des bewaffneten Konflikts<br />
zwischen kurdischer Bewegung und der türkischen<br />
Regierung bedeuten, sowie die durch den Krieg in<br />
Syrien unterbrochene Dynamik in eine vollkommen<br />
neue politische Bahn lenken. Angesichts der abrupten<br />
Kehrtwende, die die türkische Regierung in dieser Sache<br />
hingelegt hat, ist allerdings Vorsicht und Skepsis<br />
angebracht. Unwahrscheinlich erscheint desweiteren,<br />
dass die kurdische Bewegung in der Türkei, die seit<br />
Jahren ein demokratisches, soziales, auf Gleichheit<br />
beruhendes Gesellschaftsprojekt verteidigt, sich von<br />
einem Tag auf den anderen zur Erfüllungsgehilfin<br />
eines solch waghalsigen Projekts transformiert: das<br />
einer Konföderation, die auch unter dem Label »Neo-<br />
Osmanismus« verhandelt wird. Obgleich manche<br />
Stimme aus der kurdischen Bewegung Sympathien<br />
für ein konföderales Modell und Begeisterung für diese<br />
vermeintliche Win-win-Situation erkennen lässt,<br />
erscheint die insbesondere bei Sozialisten und Sozialistinnen<br />
in der Türkei aufkommende Befürchtung,<br />
die kurdische Bewegung könnte sich einer chauvinistisch,<br />
patriarchal und islamistisch artikulierten, regionalimperialistischen<br />
Zielsetzung eines imaginierten<br />
türkisch-kurdischen Machtblocks verschreiben, einseitig<br />
und vorschnell.