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Wer bin ich? Selbstverständlichkeit und Selbstvergessenheit

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Selbst-verständl<strong>ich</strong>keit<br />

Dass man s<strong>ich</strong> mit s<strong>ich</strong> selbst beschäftigt, ist keineswegs selbstverständl<strong>ich</strong>. Selbstverständl<strong>ich</strong> ist eher<br />

das Gegenteil. Solange alles „in Ordnung“ ist, gibt es gar keinen Gr<strong>und</strong> s<strong>ich</strong> mit s<strong>ich</strong> selbst zu<br />

beschäftigen. Ein Kind, das auf die Welt kommt, fragt s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t als erstes: wer <strong>bin</strong> <strong>ich</strong>? Es nimmt s<strong>ich</strong> - in<br />

einer Unmittelbarkeit mit der Welt, die es erlebt - als gegeben an; es nimmt alles einfach auf. Vermutl<strong>ich</strong><br />

nimmt es sogar Mangel, Hunger, Schmerz, ungefragt als selbstverständl<strong>ich</strong> hin; jedenfalls reagiert es auf<br />

sein Erleben mit unmittelbarem Ausdruck. Es dauert wohl Monate, wenn n<strong>ich</strong>t sogar Jahre, bis es s<strong>ich</strong><br />

selbst als ein eigenes Zentrum von Wahrnehmungen <strong>und</strong> Gefühlen auffällt, die s<strong>ich</strong> von anderem<br />

unterscheiden. Und schon die ersten Wahrnehmungen von „<strong>ich</strong> <strong>bin</strong> <strong>ich</strong>“ bringen dann eine minimale<br />

Distanzierung von s<strong>ich</strong> selbst mit s<strong>ich</strong>: <strong>ich</strong> nehme „m<strong>ich</strong>“ wahr - <strong>und</strong> zugle<strong>ich</strong> identifiziere <strong>ich</strong> „m<strong>ich</strong>“ mit<br />

dem, was <strong>ich</strong> da wahrnehme.<br />

Diese Dialektik von Distanzierung <strong>und</strong> Identifikation ist n<strong>ich</strong>t nur in den lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> frühen<br />

Phasen der Entdeckung meiner Selbst relevant. Auch im normalen Alltag gilt, dass wir n<strong>ich</strong>t bei uns sind.<br />

„Heute will <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> besuchen; hoffentl<strong>ich</strong> <strong>bin</strong> <strong>ich</strong> daheim“ heißt es bei Karl Valentin. In der Regel sind<br />

wir n<strong>ich</strong>t bei uns „daheim“, vielmehr sind wir beschäftigt mit dem, was uns jeweils gerade beeindruckt:<br />

mit den Projekten <strong>und</strong> Plänen unserer Welt. In Phasen, in denen wir in unserer Aktivität ganz aufgehen,<br />

verschwindet das Selbstbewusstsein ganz im Hintergr<strong>und</strong> des Erlebens. Überspitzt gesagt: wenn wir uns<br />

auffallen, ist das schon ein Krisensymptom. Ich falle mir auf, wenn etwas n<strong>ich</strong>t stimmt: wenn <strong>ich</strong><br />

stolpere, wenn mir etwas weh tut – oder nur juckt, wenn m<strong>ich</strong> plötzl<strong>ich</strong> jemand anspr<strong>ich</strong>t, wenn m<strong>ich</strong><br />

ein unerwartetes Gefühl überrascht, usw. Zuerst <strong>bin</strong> <strong>ich</strong> mir selbst-verständl<strong>ich</strong>, <strong>und</strong> dass <strong>ich</strong> mir zur<br />

Frage werde, ist ein Heraustreten oder Herausfallen aus dieser primären, quasi paradiesischen<br />

Selbstverständl<strong>ich</strong>keit.<br />

In der primären Erfahrung wird gr<strong>und</strong>sätzl<strong>ich</strong> zweierlei mit erfahren:<br />

- Ich stehe prinzipiell, von Anfang an in Ver<strong>bin</strong>dung, <strong>bin</strong> bezogen <strong>und</strong> in Gemeinschaft. Ich werde mir<br />

selber erst bewusst, wenn (bzw. indem) mir etwas anderes, Fremdes widerfährt; <strong>und</strong> darin erfahre<br />

<strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> selbst an der Grenze: im Gegenüber zu einem/etwas anderem. Daraus folgt: „Ich“ <strong>und</strong> „Wir“<br />

sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Das „Ich“ ist immer schon sozial verfasst. Was<br />

<strong>und</strong> wer <strong>ich</strong> <strong>bin</strong>, bestimmt s<strong>ich</strong> in Unterschiedenheit <strong>und</strong> zugle<strong>ich</strong> in Bezogenheit auf anderes.<br />

G.H.Mead definierte das Selbst daher als „the generalized other“: jedes Selbstempfinden baut s<strong>ich</strong><br />

auf aus generalisierten Beziehungserfahrungen. Die gesellschaftl<strong>ich</strong>e Bedingtheit des Selbst ist kein<br />

sek<strong>und</strong>äres Phänomen, sondern muss in allem vorausgesetzt <strong>und</strong> mit bedacht werden. Wie sehr<br />

unser Selbsterleben davon bestimmt ist - sei es in Zustimmung oder im Widerstand dagegen -, was<br />

andere in uns sehen oder von uns erwarten (unsere Eltern, Fre<strong>und</strong>e, Partner/innen, Kinder, Chefs…),<br />

versteht s<strong>ich</strong> von selbst. Hieraus bezieht die Soziologie ihre Theorie der „sozialen Rollen“.<br />

- Das Bewußtsein kommt quasi immer „zu spät“; bevor <strong>ich</strong> mir auffalle, <strong>bin</strong> <strong>ich</strong> – wie im Märchen von<br />

Hase <strong>und</strong> Igel – immer schon da. Religiöse Traditionen deuten das so, dass <strong>ich</strong> mir gegeben <strong>bin</strong> – <strong>und</strong><br />

fragen nach dem Geber. Wie dem auch sei - <strong>ich</strong> finde m<strong>ich</strong> jedenfalls immer schon vor <strong>und</strong> alles<br />

Fragen <strong>und</strong> Wahrnehmen fragt gewissermaßen zurück. <strong>Wer</strong> <strong>ich</strong> <strong>bin</strong>, ist mir in einer Weise evident,<br />

die s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t mehr hinterfragen lässt. Ich kann mir nur als der verständl<strong>ich</strong> werden, der <strong>ich</strong> schon<br />

geworden <strong>bin</strong>. Auch alle Pläne <strong>und</strong> Entwürfe in eine Zukunft hinein wachsen aus diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

heraus. Auch was <strong>ich</strong> will <strong>und</strong> wollen kann, ist nie voraussetzungslos. F<strong>und</strong>amental finde <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> z.B.<br />

körperl<strong>ich</strong> verfasst vor: als Leib, der <strong>ich</strong> „<strong>bin</strong>“- <strong>und</strong> der mir den Lebensraum <strong>und</strong> die Lebenszeit<br />

bemißt; leibl<strong>ich</strong> <strong>bin</strong> <strong>ich</strong> da, bevor <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> als Körper wahrnehmen <strong>und</strong> „haben“ kann. Dass <strong>und</strong> wie<br />

<strong>ich</strong> <strong>bin</strong>, empfinde <strong>ich</strong> zuerst in einer unbestimmten leibl<strong>ich</strong>en Verd<strong>ich</strong>tung. Ich erlebe m<strong>ich</strong> zuerst als<br />

Leib <strong>und</strong> kann m<strong>ich</strong> dann diesem Gegebensein aktiv zuwenden, m<strong>ich</strong> beobachtend, behandelnd: so<br />

werde <strong>ich</strong> mir selbst (als Körper) zum Gegenstand, mit dem <strong>ich</strong> umgehe, den <strong>ich</strong> verändere, trainiere,<br />

traktiere… Aber bevor <strong>ich</strong> etwas will oder spüre, ist der Leib (n<strong>ich</strong>t nur das Gehirn..) schon da. Dies<br />

wird etwa notvoll in psychosomatischen Erkrankungen erlebbar.<br />

So fallen hier Subjektivität <strong>und</strong> Objektivität erstmals auseinander. Wenn <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> bewusst erlebe<br />

oder über m<strong>ich</strong> nachdenke, werde <strong>ich</strong> mir selbst zum Objekt: so erfahre <strong>ich</strong> etwas an mir wie etwas<br />

Fremdes bzw. wie von außen. Jede Außenperspektive, meine eigene, aber gerade auch <strong>und</strong><br />

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