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Kurzgeschichte<br />
<strong>Stefan</strong><br />
<strong>Beuse</strong><br />
<strong>Der</strong> <strong>Wal</strong><br />
No. 8
<strong>Stefan</strong> <strong>Beuse</strong>, 1967 in Münster<br />
geboren, lebt in Hamburg. Er<br />
schreibt Romane, Drehbücher,<br />
Artikel und bekommt manchmal<br />
Preise dafür. Zuletzt erschienen<br />
seine »Gebrauchsanweisung für<br />
Hamburg« und sein Roman<br />
»Alles was du siehst«.<br />
www.stefanbeuse.de<br />
Impressum<br />
1. Auflage 2010<br />
Alle Rechte bei den Autoren<br />
Literatur-Quickie, Probsthayn<br />
Baumkamp 44, 22299 Hamburg, Germany<br />
Satz und Gestaltung: Ulrike Köhn, Hamburg<br />
Foto: Diana Fabbricatore<br />
www.literatur-quickie.de
<strong>Der</strong> <strong>Wal</strong><br />
Eine Geschichte von<br />
<strong>Stefan</strong> <strong>Beuse</strong>
<strong>Der</strong> <strong>Wal</strong><br />
I.<br />
„Ich versteh dich nicht“, sagte er. „Es ist so laut bei euch.“<br />
„Es - ist - doch - noch - gar - nichts - da!“, diktierte sie, als<br />
käme er aus einem anderen Land.<br />
„Das kann man so oder so sehen“, sagte er, und sie sagte irgendwas,<br />
in dem das Wort Zellhaufen vorkam.<br />
„Ist das Daddy?“, hörte er Laura im Hintergrund.<br />
Catrin reagierte nicht.<br />
„Ist das Daddy, ist das Daddy?“<br />
„Ich wollte es auch nur noch mal sagen“, sagte er.<br />
„Was?“<br />
„Dass ich mir nicht mehr so sicher bin.“<br />
„Das fällt dir aber früh ein.“<br />
Er stellte sie sich vor, wie sie mit ihrem Martiniglas dasaß, die<br />
Beine übereinandergeschlagen, und genervt den Rauch am<br />
Handy vorbei in die Nacht blies.<br />
„Gibst du sie mir mal?“<br />
4
„Wen?“<br />
„Laura.“<br />
Es rauschte ein bisschen. Wahrscheinlich hielt sie die Hand vor<br />
das Mikrofon.<br />
„Daddy?“<br />
Seit einiger Zeit nannte sie ihn Daddy, er hätte gern gewusst,<br />
woher sie das hatte.<br />
„Wie geht’s meiner Prinzessin?“<br />
„Gut geht’s mir. Wir haben heute einen Delfin gesehen, ganz<br />
nah!“<br />
„Einen <strong>Wal</strong>“, hörte er Catrins Stimme im Hintergrund.<br />
„Ja, einen <strong>Wal</strong>, direkt bei uns am Strand!“<br />
„Was? Und wie ist der da hingekommen?“<br />
„Die Männer haben versucht, ihn wegzukriegen, aber er war zu<br />
schwer, da haben sie Wasser über ihn geschüttet.“<br />
„Und jetzt?“, fragte er. „Liegt er noch da?“<br />
„Weiß nicht“, sagte sie, „wann kommst du?“<br />
„Sobald es geht, mein Engel. Daddy muss hier noch was erledigen,<br />
aber dann komm ich zu euch.“<br />
„Jetzt!“<br />
5
„Jetzt nicht. In den nächsten Tagen. Was ist das für Musik bei<br />
euch?“<br />
„Weiß nicht. Die ham da ne Leinwand aufgebaut, darüber läuft<br />
Schrift, und die Leute sollen sich davorstellen und singen, aber<br />
das hat noch keiner gemacht außer dem Dickmops aus dem<br />
Zimmer neben uns.“<br />
Sie kicherte. Catrin zischte ihr etwas zu, das er nicht verstand.<br />
„Gibst du mir Mama noch mal, mein Engel?“<br />
„Nein.“ Sie kicherte wieder.<br />
„Bitte.“<br />
„Nur, wenn du jetzt kommst.“<br />
„Ich kann nicht. Ich hab doch gesagt, ich versprech dir, dass ich<br />
so bald wie möglich ...“<br />
„Hallo?“<br />
„Hallo.“<br />
„Ich bin‘s wieder. Hör zu, wir haben doch darüber geredet. Ich<br />
war heute beim Arzt. Ich hab das Zeug gekriegt. Alles wie geplant.<br />
<strong>Der</strong> Arzt sagt, es ist noch ganz klein. Kaum zu erkennen.<br />
In zwei Tagen ist alles vorbei, dann krieg ich die zweite Dosis,<br />
und dann ...“<br />
6
„Ist Laura noch bei dir?“<br />
„Nein, warum?“<br />
„Ich will nicht, dass sie das hört.“<br />
„Sie steht an der Bühne.“<br />
„Was macht sie?“<br />
„Keine Ahnung. Guckt sich was an. Hör mal, das Gespräch<br />
wird teuer, und wir ...“<br />
„Steht sie vor der Leinwand?“<br />
„Herrgott, David, warum willst du denn das wissen?“<br />
„Liest sie den Text? Steht sie vor der Leinwand und liest den<br />
Text?“<br />
„Ich glaube ... ja. Weißt ja, wie sie ist. Sie kann noch nicht so<br />
schnell lesen.“<br />
„<strong>Der</strong> Text geht schneller weiter, als sie ihn lesen kann, ja?“<br />
„Ja. David, ist wirklich alles okay?“<br />
„Ich denke schon.“<br />
„Wirklich?“<br />
„Ja.“<br />
„Ich mein nur, weil du vorhin ...“<br />
„War nur so‘n Gefühl.“<br />
7
„So‘n Gefühl?“<br />
„Dass ich mir kurz nicht mehr so sicher war.“<br />
„Ich dachte, wir hätten diese Entscheidung gemeinsam getroffen.“<br />
„Sind deine Eltern bei dir?“<br />
„Wie kommst du denn darauf?“<br />
„Weiß nicht. Dachte nur, es säße vielleicht jemand bei euch am<br />
Tisch.“<br />
„Nein. Hier sind nur Laura und ich.“<br />
„Du hast gesagt, sie ist nicht mehr ...“<br />
„Das ist sie auch nicht. Sie steht immer noch vor der Bühne und<br />
liest den Text.“<br />
Er stellte sie sich vor, wie sie vor der Leinwand stand und einen<br />
Text las, der viel zu schnell für sie war.<br />
Ein neues Lied fing an. Er brauchte ein bisschen, um es zu erkennen,<br />
weil die Musik ohne Gesang war.<br />
„Das ist Twinkle, Twinkle, Little Star, richtig?“<br />
„Ja. Herrgott nochmal.“<br />
„Klingt komisch ohne Gesang, findest du nicht?“<br />
„David, was zum Teufel willst du eigentlich?“<br />
8
„... wie Suppe, die darauf wartet, dass die Zutaten endlich<br />
kommen, oder? Aber dann kommen sie nicht, und die Suppe<br />
ist einfach nur ...“<br />
„Okay. Die Verbindung wird schlecht. Lass uns morgen telefonieren,<br />
ja?“<br />
„Okay.“<br />
Plötzlich fiel ihm etwas ein. „Dieses Lied ... das ist in Englisch,<br />
oder? Twinkle, Twinkle, Little Star ist ein englisches Lied, hab<br />
ich Recht?“<br />
Sie seufzte wie jemand, der es aufgegeben hatte, jemand anderen<br />
bekehren zu wollen. „Kann sein ... ja. Vermutlich hast du<br />
Recht.“<br />
David fing an zu lachen. Er wusste nicht wieso, aber er musste<br />
plötzlich lachen. „Sie kann’s gar nicht lesen“, sagte er, und ein<br />
Gefühl schoss in ihm hoch wie ein großer, heißer Baum. „Sie<br />
steht vor den Wörtern und kann sie nicht lesen!“<br />
„David?“<br />
Er wusste genau, was kam.<br />
„Ich leg jetzt auf.“<br />
„Was sagt Daddy?“, hörte er Laura im Hintergrund. Ihre Stimme<br />
9
klang, als käme sie vom anderen Ende der Welt. „Kommt er?“<br />
Die Verbindung wurde getrennt.<br />
David ging in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank.<br />
Er versuchte, den Kronkorken an der Kante der Spüle<br />
abzuschlagen, und diesmal klappte es. Er hatte das mal gesehen<br />
und fand, dass es gut ausgesehen hatte. Manchmal, wenn Catrin<br />
nicht im Haus war, probierte er es aus, aber es hatte noch<br />
nie geklappt. Das hier war das erste Mal.<br />
Er nahm einen Schluck und kickte den Kronkorken über die<br />
Fliesen. <strong>Der</strong> Verschluss machte ein silbriges Geräusch, bevor er<br />
mit einem leichten Scheppern gegen die Fußleiste prallte.<br />
David trank noch einen Schluck Bier und ging dann ins Wohnzimmer.<br />
Catrin hätte es nicht gemocht, ihm dabei zuzusehen,<br />
wie er sein Bier an der Spüle aufschlug und den Kronkorken<br />
durch die Küche kickte. Wir sind hier doch nicht bei den Wilden,<br />
hätte sie gesagt.<br />
David setzte sich in seinen Sessel und starrte auf den Fernseher.<br />
Plötzlich fiel ihm der <strong>Wal</strong> wieder ein.<br />
Sie können ihn nicht einfach da liegen lassen, dachte er. Sie<br />
müssen doch versuchen, ihn wieder ins Meer zu kriegen.<br />
10
Vielleicht hatten sie versucht, Taue an ihm zu befestigen. Ihn<br />
mit einem Schlepper ins Wasser zu ziehen. Vielleicht hatten sie<br />
mit Hunderten von Helfern versucht, ihn vom Strand wegzubekommen.<br />
David hatte mal gelesen, dass ein gestrandeter <strong>Wal</strong> ganz langsam<br />
von seinem eigenen Gewicht erdrückt wird. Dass der Verwesungsprozess<br />
bereits einsetzt, während er noch lebt.<br />
Er schaltete den Fernseher ein, um etwas über den <strong>Wal</strong> zu erfahren.<br />
Er drückte alle Programme durch, aber kein Sender<br />
brachte was darüber.<br />
Er ging zum Telefon und drückte auf Wahlwiederholung.<br />
Es dauerte eine Zeit, bis sie ranging.<br />
„Was denn noch“, sagte sie.<br />
Er hockte sich auf den Boden und stellte die Bierflasche neben<br />
sich.<br />
„Ich hab mich gefragt, was du davon hältst, wenn ich heute<br />
schon komme“, sagte er.<br />
Im Hintergrund lief jetzt Mary had a little Lamb. Er sah auf die<br />
Uhr. Halb sieben. Das Kinderprogramm musste bald vorbei sein.<br />
„Was? Heute?“ Er fragte sich, was er erwartet hatte. Ob er<br />
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erwartet hatte, dass sie sich freuen würde. „Du meinst jetzt?“<br />
Er hörte, wie ein Glas abgesetzt wurde. „Ich dachte, du musst<br />
arbeiten!“<br />
David nahm die Bierflasche und fing an, das Etikett abzuziehen.<br />
„War nur so‘ne Idee.“<br />
„Warte mal.“ Er hörte, wie sie ihr Feuerzeug aufklappte und<br />
zweimal kurz hintereinander Rauch ausstieß. „Ich meine, bist<br />
du denn sicher, dass das gehen würde?“<br />
Das Etikett löste sich sofort. Die Flasche war irgendwie feucht,<br />
er konnte das Etikett richtig darauf rumschieben.<br />
„Sonst hätte ich‘s nicht gesagt“, sagte er. „Wie gesagt, war nur<br />
so‘ne Idee.“<br />
Sie stieß noch mal Rauch aus.<br />
Du solltest aufhören zu rauchen, dachte er, auch wenn das absurd<br />
war.<br />
„Tja, du musst das natürlich wissen. Wenn das wirklich geht ...“<br />
Etwas klimperte in ihrem Glas.<br />
„Kann ich Laura noch mal sprechen?“<br />
„Also ... wenn du jetzt losfährst, dann bist du ja garantiert<br />
nicht vor ...“<br />
12
„Ich muss nicht kommen, verstehst du? Mir war einfach danach,<br />
euch zu sehen. Das ist alles.“<br />
„Doch, natürlich, ich meine ...“<br />
Er stellte sich vor, wie sie sich mit der Hand durch die Haare<br />
fuhr.<br />
„Ist wirklich niemand bei euch?“<br />
Es hatte ganz beiläufig klingen sollen. Seine Finger waren glitschig<br />
von der Mischung aus dem Kleber vom Etikett und der<br />
Feuchtigkeit an der Flasche; er wischte sie an der Hose ab und<br />
knüllte das Etikett zusammen.<br />
„Herrgott, wer soll denn bitte bei uns sein?“<br />
Er spürte genau, wie erleichtert sie war, dass er das Thema gewechselt<br />
hatte. Er nahm die Bierflasche und trank sie leer; er<br />
versuchte, möglichst laute Geräusche dabei zu machen, aber sie<br />
reagierte nicht darauf.<br />
„Gut“, sagte er. „Ich fahr dann jetzt los.“<br />
„Vielleicht schlafen wir schon, wenn du kommst“, sagte sie.<br />
„Ja“, sagte er.<br />
Dann legten sie auf.<br />
13
II.<br />
Als er eine halbe Stunde später ins Auto stieg, hatte es zu regnen<br />
begonnen. Er nahm die Landstraße und drehte die Scheibenwischer<br />
von der niedrigsten Stufe auf die mittlere. Die Intensität<br />
des Regens lag irgendwo dazwischen; es nervte ihn, dass er immer<br />
hin und her schalten musste.<br />
Er dachte daran, was der Arzt gesagt hatte. Dass es noch ganz<br />
klein war.<br />
Er sah die erste Aufnahme von Laura vor sich. Wie ein winziger<br />
Schneemann hatte sie ausgesehen. Ein Schneemann, der in<br />
einen Eissturm geraten war.<br />
Bis zu ihrer Geburt hatte er das Bild in seinem Portemonnaie<br />
behalten. Dann war es irgendwann zwischen Quittungen und<br />
Rabattkarten verschwunden. Für alles kriegte man heute Rabattkarten.<br />
David stellte Musik an und drehte sie wieder aus. In fünf<br />
Prozent aller Fälle wirkt die erste Stufe nicht, hatte der Arzt<br />
erklärt. Und ob sie wirklich sicher seien, hatte er gefragt und<br />
dann auf Catrins Wunsch hin eine Überweisung für die Klinik<br />
14
an der Küste geschrieben, in der Nähe des Ortes, in dem sie<br />
groß geworden war.<br />
Es passte zu ihr, dass sie ihren Eltern nicht Bescheid gesagt hatte,<br />
sondern mit Laura lieber in ein Clubhotel gegangen war. Es<br />
passte zu ihrer Idee von Unabhängigkeit.<br />
<strong>Der</strong> Regen war stärker geworden. David ließ den Regler auf<br />
Stufe II.<br />
Irgendwann fuhr er an eine Tankstelle, um sich ein Eis zu kaufen.<br />
Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen.<br />
David warf drei Münzen in den Kuscheltiergreifautomaten, bis<br />
er einen rosa Plüschelefanten zu fassen bekam. Er würde ihn<br />
Laura mitbringen.<br />
Fünf Prozent, dachte er, als er die Küste entlang fuhr, obwohl<br />
er es nicht denken wollte. Aber der Zeitpunkt war ungünstig,<br />
da hatte Catrin schon Recht. Laura war gerade in einer schwierigen<br />
Phase. Catrins nächster Karriereschritt stand bevor. Und<br />
irgendwann musste man auch mal an sich denken. Da hatte<br />
Catrin schon Recht.<br />
Die Straße war nicht mehr beleuchtet. Er war die Strecke sonst<br />
immer nur bei Tag gefahren, jedes Jahr um die Weihnachtsfeier-<br />
15
tage herum. Sieben Jahre mit Laura, vierzehn mit Catrin.<br />
Vierzehn Jahre, dachte David und schaltete das Fernlicht ein.<br />
Fünf Prozent. Das entsprach einer Chance von eins zu zwanzig.<br />
Er hätte gern „Zellhaufen“ gedacht. Aber er konnte nicht.<br />
David stellte das Radio an. Vielleicht brachten sie was über den<br />
<strong>Wal</strong>.<br />
III.<br />
Catrin schlief schon, als er ins Zimmer kam. Laura lag neben<br />
ihr, im Doppelbett. Ein Beistellbett gab es nicht. Alles sah aus,<br />
als hätte niemand mit seiner Ankunft gerechnet.<br />
Er stellte die Reisetasche ab und ging ins Bad, schloss vorsichtig<br />
die Tür hinter sich und machte dann erst Licht. Er sah sich im<br />
Spiegel an, so lange, bis sein Gesicht ihm fremd vorkam. Dann<br />
zog er sich aus und legte sich zwischen sie.<br />
Er hörte Lauras Atem. Strich über ihren Kopf, küsste ihre Stirn.<br />
Dann drehte er sich zu Catrin und legte seine Hand auf ihren<br />
Bauch, knapp unterhalb des Nabels. Kurz kam es ihm vor, als<br />
fühlte sich ihr Bauch anders an, aber das musste er sich einbilden.<br />
16
Egal, auf welche Matratze er sich legte, er rutschte immer wieder<br />
zur Mitte hin, in den Spalt zwischen den Hälften.<br />
Er stieg aus dem Bett, zog seine Sachen wieder an und ging runter<br />
zur Rezeption. Er klingelte zweimal, dann klopfte er an die<br />
Tür zum Hinterzimmer, aus dem laute Fernsehgeräusche kamen.<br />
Durch die Strukturglasscheibe in der Tür sah er wechselndes<br />
blaues Licht. Als wieder niemand kam, öffnete er die Tür.<br />
Das Mädchen zog sich höher in ihren Sessel und murmelte eine<br />
Entschuldigung. David wartete darauf, dass sie aufstand oder<br />
zumindest den Fernseher leiser stellte, aber sie blieb einfach sitzen<br />
und sah ihn an.<br />
„Entschuldigung“, sagte er. „Ich habe von dem <strong>Wal</strong> gehört.“<br />
Sie legte eine Hand hinters Ohr. „Bitte? Ich verstehe Sie nicht,<br />
Sie müssen etwas näher kommen.“<br />
David kam näher. Ihre Stimme war ihm schon bei seiner Ankunft<br />
aufgefallen, weil sie überhaupt nicht zu ihrer Erscheinung<br />
passte. Das Mädchen war sehr blass, aber ihre Stimme war<br />
kraftvoll und klar.<br />
„Ich habe von dem <strong>Wal</strong> gehört, der hier gestrandet sein soll“,<br />
sagte er, lauter, um gegen die Fernsehgeräusche anzukommen.<br />
17
Er stand etwa zwei Schritte vor ihrem Sessel. Es lief eine Sendung,<br />
in der Leute etwas gewinnen konnten. Das Publikum<br />
klatschte.<br />
„Ich dachte, vielleicht können Sie mir sagen, wo ich ihn finde.“<br />
Sie starrte noch eine Weile auf den Bildschirm, dann drückte sie<br />
einen Knopf an der Fernbedienung. <strong>Der</strong> Ton wurde leiser.<br />
„Sie wollen zu dem <strong>Wal</strong>?“, fragte sie und sah auf die Uhr.<br />
„Wissen Sie, ob er noch lebt?“<br />
Sie zuckte mit den Schultern und sah ihn an, auf eine sonderbare,<br />
interessierte Art. Langsam erhob sie sich aus ihrem Sessel.<br />
„Wie ist er hierher gekommen?“, fragte er. „Weiß man etwas<br />
darüber? Hat er sich verirrt?“<br />
Sie unterdrückte ein Gähnen und schlurfte an ihm vorbei zum<br />
Tresen. „Hat Ihnen Ihre Frau davon erzählt?“<br />
„Meine Tochter.“<br />
„Hübsches Kind“, sagte sie und zog einen kleinen Stoß Blätter<br />
hervor, auf denen eine grobe Skizze des Ortes kopiert war.<br />
„Passiert das hier öfter?“, fragte er. „Dass ein <strong>Wal</strong> einfach von<br />
seinem Weg abkommt?“<br />
„Nein“, sagte sie und fuhr langsam mit einem Kugelschreiber<br />
18
die Küstenlinie entlang, ohne ihn auf das Blatt zu setzen. „Nicht<br />
sehr oft.“ Eine schwarze Strähne fiel ihr ins Gesicht. Sie hatte<br />
dunkle Augen und leichte Sommersprossen. „Jedenfalls hab ich<br />
das noch nie erlebt.“<br />
Er glaubte nicht, dass sie einen Scherz machen wollte, also wartete<br />
er einfach, bis sie die Stelle markiert hatte, nahm den Zettel<br />
entgegen und bedankte sich.<br />
„Erzählen Sie’s mir, wenn Sie’s rausgefunden haben?“ rief sie<br />
ihm hinterher.<br />
„Was?“<br />
„Ob er noch lebt.“ Sie war jetzt schon wieder halb im Fernsehzimmer.<br />
„Ich sitze die ganze Nacht hier.“<br />
David sah, wie sich die Tür hinter ihr schloss. Dann ging er<br />
nach draußen.<br />
Es war immer noch warm, und der Regen hatte fast aufgehört.<br />
David zog die Schuhe aus, spürte die Wärme der Steinplatten<br />
unter seinen Füßen. Die Luft roch frisch, und über den türkis<br />
leuchtenden Pool hinweg hörte er die Bässe und das Klatschen<br />
von der Karaokeveranstaltung.<br />
David setzte sich an den Rand des Pools, zog den Zettel aus sei-<br />
19
ner Hose und versuchte sich zu orientieren. Wenn er die Karte<br />
richtig deutete, musste er einfach runter zum Meer gehen und<br />
dann einen halben Kilometer Richtung Osten. Sie hatte die Stelle<br />
mit einem Kreuz markiert. Die Wasseroberfläche des Pools<br />
warf zuckende Lichter über das Blatt. Neben dem Kreuz stand<br />
das Wort „Wahl“. Sie hatte es falsch geschrieben.<br />
IV.<br />
Er spürte das Meer an seinen Beinen. David hatte die Hose bis<br />
an die Oberschenkel gekrempelt; bei jeder neuen Welle stieg ihm<br />
das Wasser zu den Knien; es roch nach Salz und nach Tang, und<br />
der anschließende Sog spülte ihm den Sand unter den Füßen<br />
weg, entriss ihm so kraftvoll den Grund, dass er sich bemühte,<br />
nicht zu lang stehenzubleiben, um den Halt nicht zu verlieren.<br />
Mit ihr im Behandlungszimmer habe eine junge Frau gesessen,<br />
die sich pausenlos entschuldigt habe, hatte Catrin gesagt. Man<br />
habe eine Operation machen müssen, weil die Schwangerschaft<br />
bei ihr für einen medikamentösen Abbruch schon zu weit fortgeschritten<br />
gewesen war. Sie sei ganz verzweifelt gewesen und<br />
20
habe nicht aufhören können, sich zu entschuldigen. Sie entschuldigte<br />
sich dafür, dass sie solche Umstände mache. Dass<br />
sich so viele Menschen um sie kümmern müssten. Selbst, als<br />
sie mit Catrin allein im Raum saß, hörte sie nicht mit den Entschuldigungen<br />
auf, und erst da habe sie begriffen, dass sie sich<br />
gar nicht bei den Leuten entschuldigen wollte. Ihre Entschuldigungen<br />
hätten jemand ganz anderem gegolten.<br />
Sie solle sich das doch noch mal durch den Kopf gehen lassen,<br />
hatte Catrin zu ihr gesagt. Sie sei ja ganz unglücklich. Aber<br />
die Frau habe plötzlich in einer anderen Sprache geredet. Sie<br />
habe immer wieder denselben Satz wiederholt, der aus nur vier<br />
Worten bestand. Es hatte wie ein seltsames Gebet geklungen,<br />
und als die Frau schließlich aus dem Raum gebracht worden<br />
sei, habe sie die Worte vermisst, die wie ein tröstender Teppich<br />
gewesen seien.<br />
V.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Wal</strong> sah von weitem viel kleiner aus, als er gedacht hatte.<br />
Er lag reglos da, eingeschlossen zwischen Himmel, Erde und<br />
21
Meer, über ihm Sternbilder, von denen David die meisten nicht<br />
kannte, hinter ihm das silbrige Licht des Mondes, das Heerscharen<br />
kleiner Wellenkämme vom Horizont her in winzigen<br />
Portionen zu ihm trugen; unter ihm harter, nasser Sand, der ihn<br />
langsam zerdrückte.<br />
David kam näher. Bei dem <strong>Wal</strong> stand ein Mann, der wie ein Fischer<br />
aussah. David hatte ihn bisher nicht gesehen, weil er sich<br />
erst jetzt vom Körper des <strong>Wal</strong>es löste. Er musste die ganze Zeit<br />
bei ihm gewesen sein.<br />
<strong>Der</strong> Mann war in Leinen gehüllt, und aus seinem Gesicht wuchs<br />
ein grauer Bart. Seine Haare sahen im Mondlicht fast weiß aus.<br />
Kleine Wellen schlappten gegen den <strong>Wal</strong> wie ein seltsames Glockenspiel.<br />
„Ist er tot?“ fragte David.<br />
„Er stirbt“, sagte der Mann.<br />
David legte eine Hand an den Körper des <strong>Wal</strong>s. Seine Haut war<br />
glitschig und kalt.<br />
„Was geschieht mit ihm, wenn er tot ist?“<br />
„Wir ziehen ihn weiter den Strand hoch. An einen Ort, an dem<br />
er niemanden stört.“<br />
22
Die Stimme des alten Mannes war rau, und kurz kam es David<br />
vor, als hätte er die ganze Zeit auf ihn gewartet. Als hätte er die<br />
ganze Zeit hier gestanden und Wache gehalten, bis David kam,<br />
um ihn abzulösen.<br />
„Und dann?“, fragte er.<br />
„Dann zerlegen wir ihn und hoffen, dass er möglichst schnell<br />
versandet. Ein verwesender <strong>Wal</strong> stinkt schrecklich. Es ist ein<br />
Geruch, den niemand lange erträgt.“<br />
„Und das Skelett?“, fragte David.<br />
<strong>Der</strong> Mann zuckte mit den Schultern. „Bleibt da liegen. Es sei<br />
denn, es findet sich ein Museum. <strong>Wal</strong>knochen zu präparieren<br />
ist ziemlich teuer.“<br />
David sah auf den <strong>Wal</strong> und versuchte zu erkennen, ob er sich<br />
noch bewegte.<br />
„Ich gehe jetzt“, sagte der Mann. „Aber Sie sind ja da und<br />
passen auf.“<br />
David sah dem Mann nach, wie er sich langsam über den Strand<br />
entfernte.<br />
„Aufpassen“, sagte er, als er hinter den Dünen verschwunden<br />
war. „Worauf denn aufpassen?“<br />
23
Er setzte sich in den Sand. Legte eine Hand an den <strong>Wal</strong> und<br />
versuchte, ein Auge zu erkennen. Er fing er an zu reden. David<br />
redete, bis ihm nichts mehr einfiel. Dann lehnte er seinen<br />
Rücken gegen den <strong>Wal</strong> und schloss die Augen. Seine Lippen<br />
formten Worte. David hatte einen metallenen Geschmack im<br />
Mund. Er öffnete die Augen und sah zu den Sternen. Dann<br />
stand er auf und ging.<br />
VI.<br />
Auf der Bühne stand ein etwa zwölf Jahre alter Junge. Nur<br />
noch eine Handvoll Gäste saß an den Tischen und nippte an<br />
fast leeren Gläsern. Auf der Leinwand liefen Farben ineinander<br />
wie in einem Traum. Zeichentrickfiguren kamen dazu und tanzten,<br />
glückliche Kinder mit Regenschirmen, die fliegen konnten.<br />
Darunter lief der Text zu Row, row, row your boat, und der<br />
Junge stand davor, hielt sich an seinem Mikrofon fest und sagte<br />
nichts. Er stand stocksteif vor der Leinwand und brachte keinen<br />
Ton heraus. Nur das Echo des Hintergrundchores kam aus<br />
den Boxen wie die traurige Erinnerung an eine lange zurücklie-<br />
24
gende Vergangenheit.<br />
David starrte noch eine Weile auf die Bilder, zu denen niemand<br />
einen Text sang, dann ging er zur Rezeption.<br />
Er nahm ein paar Prospekte aus den Ständern und blätterte<br />
darin. Hinter der Strukturglasscheibe sah er das blaue Licht aus<br />
dem Fernseher.<br />
Er legte die Hand an die Tür. Wenn er geklopft hatte, dann so<br />
zaghaft, dass sie ihn nicht hatte hören können.<br />
Sie saß aufrecht im Sessel. <strong>Der</strong> Ton war aus. Sie drehte ihm den<br />
Kopf zu. Ihr Gesicht sah aus wie das von jemandem, der versucht,<br />
möglichst gelangweilt auszusehen.<br />
„Und?“, fragte sie.<br />
Er zog sich einen Stuhl heran und setze sich.<br />
„Er ist tot, oder?“<br />
David sah auf den Fernseher. Ein Ehepaar hatte gerade hunderttausend<br />
Euro gewonnen. Sie fielen sich um den Hals, umklammerten<br />
die Moderatorin und sprangen dann zu dritt in<br />
die Höhe, wobei sie sich gegenseitig die Ellenbogen ins Gesicht<br />
stießen, weil sie nie gemeinsam hüpften.<br />
„Ich hab ihn nicht gefunden“, sagte er.<br />
25
Sie sah ihn an, aus dunklen Augen, in denen sich die Bilder vom<br />
Fernseher spiegelten.<br />
„Vielleicht hat er es geschafft“, sagte er. „Vielleicht haben sie<br />
ihn wieder ins Meer gekriegt, und jetzt schwimmt er hier weg<br />
und sucht seine Familie.“<br />
Sie nahm die Fernbedienung in die Hand und rutschte ein Stück<br />
näher.<br />
„Ja“, sagte sie. „Vielleicht.“<br />
Dann stellte sie den Ton wieder an und ließ die Hand neben<br />
seine sinken.<br />
26
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„‚Alles was du siehst‘<br />
ist ein Roman, von<br />
dem man alles erwarten<br />
kann, nur nicht Gewissheit<br />
darüber, wie<br />
die Welt beschaffen<br />
ist und wo die Grenzen<br />
zwischen Traum und<br />
Wirklichkeit verlaufen.“<br />
Angela Wittmann, Brigitte<br />
<strong>Stefan</strong> <strong>Beuse</strong>, Alles was du siehst. Roman.<br />
176 Seiten. Gebunden ISBN 978-3-406-58244-8<br />
C.H.BECK<br />
www.chbeck.de
<strong>Stefan</strong> <strong>Beuse</strong> – <strong>Der</strong> <strong>Wal</strong><br />
Sie können ihn nicht einfach da liegen lassen, dachte er. Sie müssen<br />
doch versuchen, ihn wieder ins Meer zu kriegen. David hatte mal<br />
gelesen, dass ein gestrandeter <strong>Wal</strong> ganz langsam von seinem eigenen<br />
Gewicht erdrückt wird. Dass der Verwesungsprozess bereits<br />
einsetzt, während er noch lebt. Eine leise Geschichte über den Abschied,<br />
die laut und eindringlich im Leser nachhallen wird.<br />
Juli Zeh<br />
Feindliches Grün<br />
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