Monique Schwitter: Wendel wartet Monique Schwitter: Wendel wartet (Vorschau)

Monique
Schwitter
Wendel wartet
No.3

Monique Schwitter, in Zürich geboren,
lebt als Schriftstellerin und Schauspielerin
in Hamburg. Für ihren Erzählband
»Wenn’s schneit beim Krokodil« (2005 im
Droschl-Verlag) erhielt sie unter anderem
den Robert-Walser-Preis. 2008 erschien
der Roman »Ohren haben keine Lider«
im Residenzverlag. Im Mai 2009 kam ihr
Sohn Lou Aurel zur Welt.
Impressum
2. Auflage 2010
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des
Droschl-Verlag, Graz, Österreich;
Copyright für diese Geschichte beim Droschl-Verlag
Literatur-Quickie, Probsthayn & Gerlach
Baumkamp 44, 22299 Hamburg, Germany
Satz und Gestaltung: Ulrike Köhn, Hamburg
Foto: Florian Thiele
www.literatur-quickie.de
www.bar439.de

Wendel
wartet
Eine Geschichte von Monique Schwitter

Wendel wartet
Wendel wartet. Das hat er immer getan, seit er denken kann.
Eines Tages hat Wendel seinen Bruder in der Großstadt besucht und
ist dageblieben.
Er bezog die Abstellkammer und wartete.
Nach einer Weile schrieb er sich an der Uni ein, im selben Fach wie
der Bruder und sein Mitbewohner, um Geld von seinen Eltern zu
bekommen.
Wendel studiert gerade soviel, daß er keine Unannehmlichkeiten mit
seinen Eltern und den Studiengesetzen bekommt.
Wendel gibt sein Geld im Wirtshaus aus. Das Geld muß im Umlauf
bleiben, sagt er, das ist wichtig für eine gesunde Wirtschaft.
Er geht jeden Abend spät weg und trinkt Bier. Wenn er länger bleibt,
trinkt er Bier und Schnaps.
Nach dem Aufstehen trinkt er zwei Gläser Wasser mit Vitaminen,
Magnesium und Kalzium.
Man kann nie wissen, sagt er. Wendel raucht einen halben Beutel
schwarzen Krauser am Tag.
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Als sein Bruder nach dem Studium die Stadt verließ, zog Wendel von
der Abstellkammer in sein Zimmer um.
Er konnte den Mitbewohner nicht leiden, noch nie. Er hatte Angst
vor ihm.
Der Mitbewohner magerte ab und begann, Selbstgespräche zu führen.
Manchmal schrie er jemanden an, der nicht da war. Wendel
kaufte sich Ohropax.
Wendel hat Geduld, und alles, was er hat und erlebt hat, ist zu ihm
und über ihn gekommen. Wendel hat keinen Grund, das Warten aufzugeben.
Nacheinander gingen die Durchlauferhitzer in der Küche und im Bad
kaputt. Es gab kein Warmwasser mehr in der Wohnung. Wendel gewöhnte
sich an die kalte Dusche und war mit sich zufrieden. Er fing
an, andere Männer als Warmduscher und Weicheier zu beschimpfen.
Die Öfen im Flur, im Bad und in der Küche fielen aus. Wendel verließ
sein warmes Zimmer winters kaum noch, im Sommer ging er
manchmal ins Bad und rasierte sorgfältig die kümmerlichen Haare
vom Kopf. Dann rieb er sich den kahlen Schädel mit Vaseline ein.
Als der Rasierapparat nicht mehr funktionieren wollte, benutzte er
hin und wieder eine Klinge des Mitbewohners.
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In der Küche oder im Flur, wo das Telefon stand, hielt er sich hingegen
niemals länger als unbedingt nötig auf. Das Risiko, dem Mitbewohner
zu begegnen, war zu groß.
Die sonntäglichen Anrufe seiner Mutter hielt er von Woche zu Woche
knapper. Mit der Zeit wußte er schon, daß sie pünktlich um halb
zwölf nach ihrem Kirchgang anrief.
Er stellte den Wecker und lauerte hinter seiner Zimmertür aufs Klingeln.
Mit ein paar schnellen Bewegungen war er am Apparat und
sagte, ohne die Begrüßung oder eine Frage abzuwarten: Guten Tag,
Mutter.
Er verlor kein Wort zuviel: Ja, alles in Ordnung hier … nein, hab
keinen Grund zu klagen … ja, schönen Sonntag, und legte auf, um
in sein Zimmer zurückzukommen.
In der Küche hatte er ohnedies nicht viel zu schaffen. Dienstags
kochte er sich eine riesige Reispfanne mit Hähnchenfleisch, während
der Mitbewohner bei irgendeiner Behandlung war, von der Wendel
niemals Grund und Wesen erfuhr.
Von der Reispfanne zehrte er eine Woche.
Er wärmte sich jeden Tag eine Portion auf, immer nachmittags. Er
klapperte laut mit Töpfen und Geschirr, seit er herausgefunden hatte,
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daß der Mitbewohner eine Abscheu vor Essen hatte. Das Geklapper
war das Signal: Achtung, hier wird gleich gegessen. Unter Garantie
ließ der Mitbewohner sich nicht blicken.
Irgendwann gab auch der Gasherd den Geist auf und das Telefon
wurde gesperrt, weil die Rechnungen nicht bezahlt wurden. Wendel
war viele Sorgen los.
Wendel trägt die Kleider seines Vaters. Alle drei Monate bringt der
Postbote ein Paket.
Wendel läßt den Boten jedesmal in den vierten Stock hochkommen.
Er wird dafür bezahlt, sagt er, und Laufen ist gesund.
Er öffnet die Kleiderpakete immer sofort. Ohne Hast oder Neugierde.
Stück für Stück zieht er die Kleider aus dem Karton, faltet sie
sorgfältig auf dem Bett und legt sie in den Kleiderschrank, den sein
Bruder zurückließ. Jacken und Mäntel hängt er auf Bügel und bürstet
sie, bevor er sie in den Schrank hängt.
Bevor Wendel abends ins Wirtshaus geht, öffnet er in Unterhemd
und -hose den Schrank und hebt vorsichtig Kleidungsstücke heraus,
die er dann anzieht. Er nimmt immer die Stücke heraus, die zuoberst
auf den ordentlichen Stapeln liegen. Er nimmt das oberste Hemd
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vom Hemdenstapel, den obersten Pullunder vom Pullunderstapel,
die oberste Hose vom Hosenstapel, und zieht sich an. Die Socken
sind im Sockenfach, die Schuhe stehen aufgereiht auf dem Schrankboden.
In Mantel und Hut steht er dann vor dem Spiegel im Flur und
betrachtet sich. Er betrachtet die Kleider. Er betrachtet sich in den
Kleidern seines Vaters.
Wendel hat kein Bild von seinem Vater im Kopf.
Wenn er aber in den Kleidern seines Vaters vor dem Spiegel steht,
sieht er ihn.
Er verwechselt sich nicht mit seinem Vater, er sieht die Kleider, er
spürt die Kleider, er sieht sich ins Gesicht und sieht das Gesicht seines
Vaters.
Wendel haßt seinen Vater. Immer schon.
Er wartet darauf, daß sein Vater stirbt.
Wenn Wendel an seinen Vater denkt, sieht er die Vorzimmerdame
vor sich.
Als Kind mußte Wendel seinen Vater jeden Mittag pünktlich im Büro
abholen.
Er betrat das Vorzimmer und sagte: Guten Tag, Frau Schneider, ich
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komme meinen Vater zum Mittagessen abholen. Frau Schneider nickte.
Setz dich, sagte sie dann. Jeden Tag sagte sie setz dich und schob
ihr Kinn in Richtung des Stuhles, der ihrem Schreibtisch gegenüber
stand. Jeden Mittag saß Wendel auf diesem Stuhl und wartete, daß die
Bürotür seines Vaters sich öffnete und sein Vater mit der Aktentasche
herauskam. Oft saß Wendel lange auf dem Stuhl und wartete.
Frau Schneider sprach niemals mit ihm. Alles, was er aus ihrem Mund
je gehört hat, ist: Setz dich. Tausendfach. Frau Schneider schrieb immer
mit einem Kugelschreiber in ein Buch, während Wendel sie anstarrte.
Ihr Gesicht, die Nase, die groben Poren ihrer Wangen, die Härchen an
ihrem Kinn, die dicken Wimpern. Wendel wußte, daß sie solange nicht
aufblicken würde, bis sein Vater herauskam. Er starrte sie unverwandt
und schamlos an. Kein anderes Frauengesicht hat Wendel so oft, so
genau und so lange betrachtet wie das von Frau Schneider.
Wenn die Bürotür aufging, hob Frau Schneider den Kopf und machte
das Ja-bitte-was-gibt-es-Chef-Gesicht, das sein Vater jedesmal ignorierte,
um unverzüglich zum Stuhl zu schreiten, auf dem sein Sohn
saß. Je nach Jahreszeit trug sein Vater einen der Mäntel und Hüte,
die Wendel nun trägt. Sein Vater sagte: Grüß Gott, nahm Wendel bei
der Hand und führte ihn schweigend nach Hause.
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Wasch dir die Hände, sagte er dann und ließ ihn los.
Eines Tages klopfte jemand an Wendels Zimmertür. Wendel wußte,
daß außer ihm und dem Mitbewohner niemand in der Wohnung
war. Trotzdem erschrak er. Er hatte den Mitbewohner seit Wochen
nicht gesprochen oder gesehen.
Ja, wollte er knurren. Um zu signalisieren, daß er gestört wurde.
Ja, flüsterte er ängstlich, räusperte sich, weil er sein Ja selber kaum
gehört hatte, zählte auf drei, um sich Mut zu machen, und sagte sehr
ernsthaft: Ja.
Ich zieh aus, hörte er die Stimme des Mitbewohners durch die Tür
sagen.
Okay, sagte Wendel.
Ein paar Wochen später hörte er in der Wohnung dumpfen Lärm.
Wendel wollte unbedingt vermeiden, zum Kistenschleppen eingespannt
zu werden, und harrte in seinem Zimmer aus, bis er fast ohnmächtig
wurde vor Harndrang. Er hatte Bauch- und Blasenkrämpfe.
Er öffnete vorsichtig die Tür wie eine mißtrauische Rentnerin und
lugte hinaus. Da sah er ihn. Von hinten, wie er einen Gegenstand
durch die Wohnungstür in den Hausflur schob. Wendel war zu erstarrt,
um zurückzuschrecken. Vom Mitbewohner waren nur noch
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Haut und Knochen übrig. Wendel starrte auf den Hintern, den Rücken,
die Kniekehlen des Mitbewohners, bis er ihn im Treppenhaus
nicht mehr sehen konnte. Wendel wartete kurz und hastete ins Bad.
Um Zeit zu sparen, pinkelte er ins Waschbecken. Zurück in seinem
Zimmer, schloß er die Tür ab. Er setzte sich auf seinen Holzsessel am
Schreibtisch und machte sich unsichtbar.
Als der Mitbewohner später seinen Namen rief, stellte er sich tot.
Die beiden sahen sich nie wieder.
Wendel ist 37. Bereits mit 18 lichteten sich seine Haare. Er hatte
eigentlich nichts dagegen und gewöhnte sich schnell daran. Mit 24
war sein Haar so schütter wie das seines Vaters. Damals begann er,
genau wie sein Vater, sich den Kopf gänzlich kahl zu rasieren.
Wendel studiert, seit sein Haar so schütter wie das seines Vaters ist.
Obwohl er sich immer bemüht hat, bestehende Verhältnisse nicht
zu ändern, nähert er sich unweigerlich dem Studienabschluß. Wendel
weiß das. Er macht sich keine Sorgen darüber, Wendel macht
sich niemals Sorgen. Aber er empfindet großes Unwohlsein, wenn
er daran denkt. Ein Unwohlsein, das viel größer ist als das Unwohlsein
nach dem Aufstehen am Morgen, und wesentlich größer als das
Unwohlsein, das ihn täglich begleitet, bis er das erste Bier getrunken
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hat. Am wohlsten ist Wendel im Wirtshaus und in den abendlichen
Momenten vor dem Spiegel, wenn er sich in den Kleidern des Vaters
beschaut.
Eines Tages kam die Liebe zur Tür herein.
Sie sagte: Ich hab gehört, hier ist ein Zimmer frei.
Wendel starrte sie an. Aha, sagte er.
Sie sah sich in der Wohnung um.
Der Ofen in deinem, also in dem Zimmer, der tut’s noch, sagte Wendel
und hatte Lust, sie in die feuchtglänzende Unterlippe zu beißen.
Sie legte eine Monatsmiete auf den Küchentisch und verschwand.
Zwei Wochen wartete Wendel darauf, daß sie wiederkam. Er stand
am Fenster und bemerkte die grünende Kastanie im Hinterhof. Er
räumte sein Zimmer auf. Er fand ein altes Zeitungsfoto von Stan
und Ollie, das er ihr schenken wollte, wenn sie wiederkäme. Er hörte
sich eine frühe Platte von Frank Zappa an. Er fand sich über einem
Gedichtband von Rilke wieder und rief sich zur Vernunft.
Als sie wiederkam, war sie in Begleitung eines Herrn, der sich als
Wendels Nachbar herausstellte. Sie hatte ihn gerade im Treppenhaus
kennengelernt.
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Der Nachbar stellte seinen Werkzeugkoffer im Bad ab und machte
sich am Ofen zu schaffen.
Gibt es Kaffee, fragte sie.
Der Herd geht nicht, sagte Wendel.
Sie verschwand im Bad.
Sie kam mit dem Nachbarn wieder heraus. Tschüss, sagte der Nachbar
zu Wendel und ging.
Im Lauf der Woche kam er täglich wieder, schleppte Geräte in die Wohnung
und aus der Wohnung, reparierte, installierte und schwitzte.
Sie schlief die erste Nacht auf dem Boden, ging am andern Morgen
los und kam abends mit zwei Kerlen zurück, die ein Bett in ihr Zimmer
trugen.
Jeden Morgen verließ sie die Wohnung und kam abends mit Möbeln,
Kisten, Koffern und Kerlen wieder.
Wendel wartete in seinem Zimmer auf ein Ende der Betriebsamkeit
und eine Möglichkeit, einmal mit ihr zu reden.
Am Ende der Woche war Ruhe. Sie stand plötzlich in seinem Zimmer
und sagte: Schau dich um. Wendel ging hinter ihr her und schnupperte
an ihren Haaren. Sie führte ihn durch die Wohnung, die nicht
mehr seine war. Er fühlte Unbehagen und Glück.
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Warm, warm, alles warm, sagte sie, drehte an den Wasserhähnen
und Öfen und küßte ihn auf die Wange. Ja, sagte Wendel, ja, warm.
Sie umarmten sich.
Wendel klebte das Foto von Stan und Ollie an die Kacheln über dem
neuen Herd.
Er kaufte ein Kochbuch, das er beim täglichen Stuhlgang auswendig
lernte.
Er kaufte ein und kochte für sie. Sie hatte einen guten Appetit und
lobte seine Kochkünste.
Er duschte weiterhin kalt und empfahl ihr, aus Gründen der Gesundheit
und Sparsamkeit dasselbe zu tun. Sie lachte ihn aus.
Abends ging sie aus. Früher als Wendel, und ohne zu sagen, wohin.
Wenn er vom Wirtshaus nach Hause kam, war sie meist noch nicht
zurück. Oft kam sie gar nicht. Wendel lag dann in seinem Bett und
wartete auf sie. Falls sie irgendwann nach Hause kam, überlegte er
bis zum Morgengrauen, ob er sich in ihr Zimmer schleichen und zu
ihr legen sollte.
Niemand weiß, warum Wendel Wendel heißt. Wendel selber hat
längst aufgehört, darüber nachzudenken. Er hat diesen Namen, der
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nicht einmal im Klang an den Namen in seinem Ausweis erinnert,
seit er denken kann. Den Namen, der in seinem Ausweis steht, kann
er nicht leiden. Es ist der Name seines Vaters. Wenn er auf einem
Amt seinen Ausweis vorlegt, denkt er manchmal darüber nach, warum
seine Eltern ihm, dem Zweitgeborenen, den Namen des Vaters
gegeben haben. Dann überlegt er, wie es wohl wäre, den Namen
seines Bruders bekommen zu haben. Und zuletzt findet er es ganz in
Ordnung, wie es ist. Meistens enden Wendels Gedankengänge damit.
Daß es ganz in Ordnung ist, wie es ist.
Seine Liebe nannte Wendel Lavendel. Er erlaubte es ihr.
Sie klopfte niemals an. Sie rief immer gleichzeitig Lavendel und riß
seine Zimmertür auf. Dann sagte sie: Stör ich.
Wendel sagte nie was und schüttelte immer den Kopf. Natürlich
störte sie.
Sie störte seinen Schlaf und sein ausgeglichenes Unwohlsein. Sie störte
sein gleichmäßiges Warten. Sie brachte alles durcheinander. Es war
laut, wenn sie da war, und zu still, wenn nicht. Er war aufgeregt, wenn
sie da war, und unruhig, wenn nicht. Er fing an, Pläne zu machen.
Gemeinsame Pläne. Angefangen bei den Menüplänen für die Mahlzeiten,
die er ihr kochte, bis hin zu Kinobesuchen, die nie stattfanden.
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Er plante wochenlang, ihr Blumen zu schenken, sie ins Wirtshaus
mitzunehmen, mit ihr einen Spaziergang zu machen. Und natürlich,
sich nachts in ihr Zimmer zu schleichen und zu ihr zu legen. Niemals
hatte Wendel Pläne gehabt, gemacht, gehegt. Niemals. Er hatte keine.
Keine Pläne, keine Ziele, keine Absichten. Er wartete.
Eines Winternachts fand Wendel sein Zimmer beim Heimkommen eiskalt
vor. Er war zu lang geblieben, er hatte zu viele Biere und Schnäpse
getrunken, die Kohle in seinem Ofen war verglüht. Sein Laken war
klamm, er war besoffen. Er entschied sich nicht. Sein Körper erhob
sich von seinem Bett und ging der Wärme nach. Sein Körper suchte
die Wärme ihres Körpers. Er lag neben ihr. Er bemerkte plötzlich,
wie er tatsächlich neben ihr lag. Er wagte sich nicht zu bewegen. Sie
schlief. Er versuchte, lautlos zu atmen. Es war dunkel in ihrem Zimmer,
er hatte sich unterwegs an etwas, ihrem verdammten Schaukelstuhl
wahrscheinlich, gestoßen. Er konnte kaum etwas von ihr sehen.
Sein Knie schmerzte. Seine rechte Hand suchte ihre Hüfte, seine linke
das schmerzende Knie. Sie atmete gleichmäßig. Er spürte ihre warme
Haut und warf sich auf sie. Er grub sein Gesicht in ihre Haare und
umklammerte ihren Leib. Sie wachte auf. Sie erschrak. Geh in dein
Bett, Lavendel, sagte sie. Er verharrte reglos. Sie wälzte sich unter
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ihm, um ihn abzuwerfen. Er lag wieder neben ihr, immer reglos. Sie
kniete sich hin. Lavendel, sagte sie, geh in dein Bett. Er sagte nichts.
Sie schob ihn von der Matratze, ihre Füße gegen die Wand gepreßt,
mit beiden Händen. Wortlos, aber ächzend vor Anstrengung. Wendel
fiel zu Boden. Er rappelte sich auf und ging. Wortlos, lautlos. Er legte
sich auf den Boden vor sein Bett und schlief sofort ein.
Wendel weiß nicht genau, in welcher Reihenfolge die Dinge geschahen.
Sie sind passiert, gleichzeitig oder nacheinander oder einfach
so. Sie zog aus. Seine Liebe ließ nach. Sein Mitbewohner von damals
starb. Ob es hier einen Zusammenhang gibt, einen anderen als den
zeitlichen, weiß er nicht.
Sagte sie, sie ziehe aus, bevor seine Liebe nachließ;
ließ seine Liebe nach, bevor der Mitbewohner starb;
starb der Mitbewohner, bevor sie beschloß, auszuziehen; Wendel
weiß es nicht.
Aber er denkt manchmal darüber nach.
Er erinnert sich, daß die Polizei vor der Tür stand. Ihr, äh, Freund,
oder Partner, wurde aufgefunden, sagte der Polizist. Der Mitbewohner
hatte keine Familie, keine Verwandten, er hatte nur Wendel, mit
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dem er laut Ausweis seit Jahren zusammenlebte. In seinem Ausweis
stand noch die alte Adresse. Die Polizei hielt die beiden für ein Paar,
Wendel und den Mitbewohner.
Der Mitbewohner wurde in seinem Klappbett in einem Schrebergartenhäuschen
gefunden. Seine Leiche wog 38 Kilo. Er war verhungert.
Wendel beerbte den Mitbewohner. Er räumte das Klappbett und
Bettzeug, einen Kleiderkoffer, eine Kompakt-CD-Anlage, ein Fahrrad,
eine Bücherkiste, eine Schachtel CDs, einen Stuhl, zwei Holzböcke
und eine Kiste mit Kleinteilen aus dem Gartenhaus, fuhr alles mit
einem Taxi zu sich, schleppte es in den vierten Stock und stellte es in
dem Zimmer ab, aus dem sie ausgezogen war. Das Zimmer, aus dem
der Mitbewohner ausgezogen war.
Die Anstrengung hatte Wendel erschöpft. Er war froh, als alles verräumt
war.
So. Drin, sagte er und machte die Tür zu. Er wollte zur Ruhe kommen.
Er schwor sich, die Wohnung nicht so bald wieder zu verlassen.
Nicht vor dem späten Abend. Um sich ins Wirtshaus zu begeben.
Nicht so bald je wieder vor einem späteren Abend.
Er setzte sich auf den Holzsessel an seinem Schreibtisch und wartete.
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Monique Schwitter
Wenn’s schneit beim Krokodil
Diese Geschichten sind geschrieben mit
einem unerbittlichen Auge für Situationen,
in denen alles offen ist und aus denen noch
alles werden kann, und mit dem scharfen
Gehör für die Sätze, die Menschen im
Offenen miteinander wechseln
«Sehr starke Frauenfiguren... Monique
Schwitter hat eine spannende, harte und
eindringliche Art zu schreiben.» (DRS)
«Schwitter versetzt ihre Figuren mitten hinein in
tragische oder komische, verstörende oder ganz
alltägliche Situationen. Und was dort mit ihnen
passiert, ist nicht nur für den Leser überraschend.
Denn wie Schauspieler schlüpfen sie plötzlich in
Rollen, die nicht die ihren sind und werden von
den Ereignissen mitgerissen.» (Brigitte)
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Monique Schwitter – Wendel wartet
Während Wendel wartet, geht allerlei Seltsames in seiner Wohnung
vor. Das Heißwasser bleibt kalt, der Herd ist defekt, der Mitbewohner
stirbt, die Heizung geht nicht mehr, bis die Liebe ungefragt
bei ihm einzieht und sein Warten verändert.
Selten wird Warten mit Worten so gekonnt beschrieben wie von
Monique Schwitter.
Katrin
Seddig
Von der Anstrengung
des Lebens
Michael
Weins
Das Loch
Gustav
Meyrink
Die Pflanzen des
Dr. Cinderella
No. 1
No.4
No. 5
No. 1
Katrin Seddig
No. 4
Michael Weins
No.5
Gustav Meyrink
Die besten Autoren Deutschlands
ISBN 978-3-942212-02-1
mit ihren besten Kurzgeschichten!
USt-IdNr.: DE267634140
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