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Finn-Ole Heinrich: Du bist ein Wunder Finn-Ole Heinrich: Du bist ein Wunder (Vorschau)

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Kurzgeschichte<br />

<strong>Finn</strong>-<strong>Ole</strong><br />

<strong>H<strong>ein</strong>rich</strong><br />

<strong>Du</strong> <strong>bist</strong> <strong>ein</strong> <strong>Wunder</strong><br />

No. 24


<strong>Finn</strong>-<strong>Ole</strong> <strong>H<strong>ein</strong>rich</strong>, geboren ’82 im<br />

Norden, aufgewachsen an der Küste,<br />

Filmstudium, lebt jetzt als Autor<br />

in Hamburg und im Zug. Schreibt<br />

Geschichten, die sich reiben, dreht<br />

Filme, die sonst k<strong>ein</strong>er dreht. S<strong>ein</strong>e<br />

drei Bücher und zwei CDs sind im<br />

großartigen mairisch Verlag erschienen.www.finnoleh<strong>ein</strong>rich.de<br />

Impressum<br />

1. Auflage 2011<br />

Alle Rechte bei den Autoren<br />

Literatur-Quickie, Probsthayn<br />

Baumkamp 44, 22299 Hamburg, Germany<br />

Satz und Gestaltung: www.heimathafen-hamburg.de<br />

Foto: Dylan E. Thompson<br />

www.literatur-quickie.de


<strong>Du</strong> <strong>bist</strong> <strong>ein</strong> <strong>Wunder</strong><br />

Eine Geschichte von <strong>Finn</strong>-<strong>Ole</strong> <strong>H<strong>ein</strong>rich</strong>


<strong>Du</strong> <strong>bist</strong> <strong>ein</strong> <strong>Wunder</strong><br />

Natürlich fragt Nissa sich jetzt - im Nachhin<strong>ein</strong> - was es wert<br />

war. Alles, alle Einzelheiten, was das alles gezählt hat. Klar<br />

ist, dass alles neu zu bewerten s<strong>ein</strong> wird. Es wird alles verändern,<br />

alles durch<strong>ein</strong>anderwirbeln und zerstrudeln. Da wird<br />

k<strong>ein</strong> St<strong>ein</strong> auf dem anderen bleiben, denkt Nissa, wenn ich nur<br />

auspacke, da bleibt nichts beim Alten. Und sie schüttelt den<br />

Kopf und schnaubt und fühlt, wie ihr schon wieder Tränen in<br />

die Augen schießen. Immerhin Macht, denkt Nissa, immerhin<br />

Macht. Immerhin bringt das Wissen Macht mit sich. Und die<br />

Möglichkeit, zu verhandeln.<br />

Am Morgen noch. Nissa und Kotze rollen sich vor dem Bahnhof<br />

unter dem Baum auf dem Boden, Kotze knurrt dabei und<br />

schnappt nach ihr und Nissa lacht und Micha kommt mit s<strong>ein</strong>em<br />

McDonald’s-Pappbecher in der Hand auf die beiden zu,<br />

klingelt mit den paar Cent darin. Er stellt ihn ab, lacht, grunzt<br />

und schlägt die Arme auf den Boden wie <strong>ein</strong> Affe und fängt an<br />

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zu schreien wie <strong>ein</strong> Schimpanse und stürzt sich auf die beiden.<br />

Kotze übertreibt es dann manchmal, weil er zu aufgedreht ist<br />

oder so, <strong>ein</strong>mal hat er Nissa ins B<strong>ein</strong> gebissen, natürlich im<br />

Spiel, aber es war nunmal <strong>ein</strong> Biss und sie hat geblutet und<br />

Nissa war völlig durch<strong>ein</strong>ander und hat gew<strong>ein</strong>t. Das war ihr<br />

später p<strong>ein</strong>lich, da hat sie sich benommen wie die kl<strong>ein</strong>e Bürgertochter<br />

und sie hatte die ganze Nacht und noch den nächsten<br />

Tag Angst, dass alle sich über sie lustig machen würden deswegen,<br />

dass alle sagen würden, das sei ja nicht anders zu erwarten<br />

gewesen. Abends hatte sie sich dann schon längst gefangen und<br />

als sie nach Hause kam, mit der offenen Bisswunde am B<strong>ein</strong>,<br />

hat es <strong>ein</strong>en großen Streit gegeben, natürlich. Vater Herbert<br />

hat <strong>ein</strong>en Riesenaufstand gemacht, wo sie sich immer rumtreibe<br />

und was dieser ganze jugendliche Rebellionsschwachsinn<br />

überhaupt solle, er könne das ja verstehen, Abgrenzung und<br />

so weiter, aber das alles müsse nun schon Grenzen haben und<br />

im Rahmen der Vernunft bleiben. Er versuchte, Nissa in s<strong>ein</strong>en<br />

Wagen zu zerren, wollte mit ihr zum Notarzt fahren, die<br />

Wunde versorgen lassen. „Denk doch mal nach, Nissa, so <strong>ein</strong><br />

Straßenköter, was der alles an Krankheiten haben kann.“<br />

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Nissa hat sich gewehrt, Vater Herbert ausgelacht und auch die<br />

erschrockene Mutter, die still in der Küche stand. Schade findet<br />

Nissa immer, dass sie hier zu Hause nie <strong>ein</strong>er erlebt, dass Micha<br />

und s<strong>ein</strong>e Leute immer denken: Bürger-Nissa geht wieder nach<br />

Hause, in ihr Einfamilienneubauhaus mit Garage, dass k<strong>ein</strong>er<br />

ihre Kämpfe hier mitbekommt. Ihr seid so verkackte Spießer,<br />

hat Nissa gesagt und ist trotzig und demonstrativ hinkend die<br />

Treppe hochgeschlurft und hat sich den ganzen Tag nicht so<br />

gut gefühlt wie in dem Moment, als sie die Tür mit <strong>ein</strong>em Knall<br />

hinter sich zuschlug und sich auf ihr Bett warf. Da lag sie <strong>ein</strong>en<br />

Moment und war stolz.<br />

Später, auf der Toilette, hat sie die Wunde noch ausgewaschen<br />

und mit Jod desinfiziert. Nicht nur mit Bier, wie Micha das<br />

gemacht hatte.<br />

Nach dem Vögeln dreht sich Micha fast immer auf den Rücken<br />

und guckt irgendwo hin, wartet <strong>ein</strong>en Moment und sagt<br />

dann: „D<strong>ein</strong>en Eltern würd’ ich gern mal so richtig in die Fresse<br />

schlagen, weißte. Einfach so, das sind so Menschen, die sind<br />

so wenig Mensch, zum Kotzen, echt. Dass Vater Herbert mich<br />

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verachtet ist das <strong>ein</strong>zige, was ich an ihm mag, weißte.“ Und<br />

Nissa nickt dann, das macht sie immer so, fast schon automatisch.<br />

Micha ist sechsundzwanzig und er hat vier Piercings im<br />

Mund, zwei in jedem Winkel, oben <strong>ein</strong>en Ring und unten <strong>ein</strong>en,<br />

sieht aus wie Schlangenzähne. Ein Piercing in der Zunge, zwei<br />

an der linken Augenbraue, zwei in der Nase und wer weiß wie<br />

viele an den Ohren, er hat <strong>ein</strong>e Glatze und drei wirklich lange,<br />

unterschiedlich dicke Dreads, die von s<strong>ein</strong>em Nacken bis zum<br />

Arsch baumeln. Micha ist schmierig, hat immer Dreckspuren<br />

im Gesicht und auch sonst am ganzen Körper, <strong>ein</strong> Tattoo vom<br />

Hals über die Brust auf die Hüfte, dafür musste er <strong>ein</strong> Auto<br />

klauen und verkaufen, aber er wollte dieses Tattoo eben unbedingt.<br />

Es ist nicht so, dass Micha k<strong>ein</strong>e Ziele hat. Nissa vögelt<br />

mit ihm seit über <strong>ein</strong>em halben Jahr, Zusammens<strong>ein</strong> kann man<br />

das nicht nennen, darf man das nicht nennen, so ist die Abmachung,<br />

aber es kommt dem wohl sehr nah.<br />

Was Nissa so gefällt, das ist die Ziellosigkeit, das Hin<strong>ein</strong>leben,<br />

das Zeitvertrödeln, das Auf-den-Straßen-S<strong>ein</strong>, der Mittelfinger,<br />

den Micha für jeden übrig hat, der es mit starren Plänen<br />

und Karriere hält. Micha ist immer entspannt, immer locker,<br />

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immer witzig. Er hat k<strong>ein</strong>en Stress, weil es k<strong>ein</strong>en Grund für<br />

Stress gibt. Er sieht das Leben, wie es eben ist, findet Nissa: Es<br />

gibt k<strong>ein</strong>e beschissenen Tage oder alle Tage sind beschissen,<br />

immer machen oder s<strong>ein</strong> lassen, was eben jetzt genau passt.<br />

Micha schlurft durch die Tage und lässt sich nicht anpissen, der<br />

schlurft und nimmt sich und lächelt s<strong>ein</strong> blechern charmantes<br />

Lächeln dazu, dem macht k<strong>ein</strong>er was vor, der bringt sogar noch<br />

s<strong>ein</strong>en Hund Kotze mit durch. Seit <strong>ein</strong> paar Wochen ist Nissa<br />

achtzehn, volljährig, erwachsen, jetzt kann sie selbst entscheiden,<br />

zum Beispiel, dass es Schule im Moment nicht braucht<br />

in ihrem Leben, dass sie für jetzt lieber von Micha lernt. Da<br />

können ihr alle erzählen, dass er <strong>ein</strong> versoffener Punk ist, der<br />

stinkt und asozial ist, Nissa kennt ihn, sieht und erlebt ihn:<br />

Micha ist weise. Von Micha kann Nissa mehr lernen, besser<br />

lernen, wichtigeres lernen. Wie man durch die Tage kommt,<br />

wie man wen anschnorren muss, wo die meisten Pfandflaschen<br />

stehen, in welchen Restaurants die Abfälle <strong>ein</strong> Menü sind und<br />

wie man sich im Supermarkt bedienen kann. Das hat schon<br />

alles mit Leben zu tun.<br />

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Vater Herbert ist k<strong>ein</strong> Unmensch, Nissa weiß das. Aber für<br />

ihn gibt es in s<strong>ein</strong>em ganzen Leben k<strong>ein</strong>e Beweglichkeit mehr,<br />

ist nichts anderes mehr denkbar. Pfandflaschen sammeln und<br />

das billigste Bier schon am Morgen trinken, das hat für Vater<br />

Herbert k<strong>ein</strong>en Wert, so weit kann er s<strong>ein</strong>en Kopf gar nicht<br />

mehr öffnen und sehen, dass man so leben kann, dass das Sinn<br />

ergeben kann. Vater Herbert schüttelt nur immer den Kopf, zu<br />

allem, was Nissa tut, weil er nicht verstehen kann, was man<br />

nicht zählen kann. „Achtzehn“, sagt er, „und noch nicht mal<br />

genervt von der eigenen Pubertät“. Vater Herbert ist sechsundvierzig<br />

und hat schon s<strong>ein</strong>en zweiten Lehrstuhl. Er ist Professor<br />

für Betriebswirtschaftslehre und seit zwei Jahren auch für strategisches<br />

Marketing. Vater Herbert schreibt Bücher und ist <strong>ein</strong><br />

Star in s<strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Welt.<br />

„Das ist komisch“, sagt Vater Herbert, „wahrsch<strong>ein</strong>lich ist das<br />

immer so, dass man das Gegenteil s<strong>ein</strong>er Eltern s<strong>ein</strong> will. Ich<br />

dachte ja immer, du hättest es leichter, weil du das Getue nicht<br />

brauchst, aber inzwischen glaube ich, ich hatte es leichter, m<strong>ein</strong><br />

Vater ist immerhin <strong>ein</strong> Nazi gewesen, da hat das Ganze wenigstens<br />

Sinn gemacht.“ Und Nissas rechte Hand schnellt sofort<br />

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hoch und Vater Herbert vor das Gesicht, ihr ausgestreckter<br />

Mittelfinger ist so nah an s<strong>ein</strong>er Nase, dass Nissa den warmen<br />

Atem fühlt. „<strong>Du</strong> <strong>bist</strong> der neue Nazi, du <strong>bist</strong> noch schlimmer<br />

sogar, weil du nicht mal merkst, was für <strong>ein</strong> Nazi du <strong>bist</strong>.“<br />

Dann plötzlich so <strong>ein</strong> Tag. Sie haben zu dritt im Park geschlafen,<br />

im hohen Gras und sind im Kanal schwimmen gewesen.<br />

Micha hat Kotze die ganze Zeit geärgert, ihn unter Wasser gedrückt<br />

und nassgespritzt. Irgendwie findet der Köter das aber<br />

witzig, jedenfalls kommt er immer und immer wieder angeschwommen,<br />

um sich unter Wasser drücken zu lassen. Ist so<br />

<strong>ein</strong> Spiel. Danach kotzt Kotze manchmal Wasser, wenn er zu<br />

viel geschluckt hat. Sie haben <strong>ein</strong> wenig am Ufer rumgelegen,<br />

sich von der Morgensonne trocknen lassen, dann sind sie in die<br />

Stadt zum Bahnhof. Micha hat geschnorrt, Nissa mit Kotze unter<br />

dem Baum gespielt, sich herumgerollt, Kotze hat geknurrt<br />

und geschnappt. Später kam noch Micha dazu. Grunzend,<br />

quiekend, als Affe.<br />

Und dann ist es passiert. Plötzlich springt Kotze auf und schlägt<br />

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an, hat irgendwo irgendwas entdeckt. Kotze ist k<strong>ein</strong> dummer<br />

Hund und er rennt nicht <strong>ein</strong>fach rum, er ist sicher auf den Straßen.<br />

Aber heute bricht er <strong>ein</strong>fach durch. Nissa fasst ihn noch<br />

am Halsband, kann ihn aber nicht halten, Kotze ist wie von<br />

Sinnen und jagt durch die B<strong>ein</strong>e der Passanten und über die<br />

Straße. Micha schreit noch nach ihm. Aber Kotze ist schon<br />

fast auf der anderen Straßenseite, da hört man <strong>ein</strong> Quietschen,<br />

das Kreischen von Bremsen, <strong>ein</strong>en Knall und das Knacken von<br />

Knochen, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er roter Wagen rast ihm ins Hinterteil. Kotze<br />

wird <strong>ein</strong> paar Meter weit geschleudert, wirbelt durch die<br />

Luft, jault laut auf, als er auf dem Boden aufschlägt und bleibt<br />

wimmernd liegen. Er versucht, den Kopf zu heben, Micha und<br />

Nissa stehen bewegungslos. Leute rufen, Autos halten, sofort<br />

beginnen die ersten zu hupen. Jetzt erst rennen sie rüber, endlich,<br />

durch die stehenden Wagen, drängeln sich durch die Menschen,<br />

Micha schlägt um sich, schuppst Männer und Frauen<br />

beiseite. Er kniet sich neben s<strong>ein</strong>en Hund, gem<strong>ein</strong>sam ziehen<br />

sie ihn vorsichtig von der Straße auf den Gehweg, vorsichtig,<br />

Micha hält Kotzes Kopf. Der Hund hat Wunden, s<strong>ein</strong> kurzes<br />

Fell ist auf der <strong>ein</strong>en Seite fast komplett weggeschürft, er blu-<br />

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tet, winselt leise. „Kotzi, Kotzi“, sagt Micha und drückt s<strong>ein</strong><br />

Gesicht auf s<strong>ein</strong>en Hund, der sich kaum bewegt und so schwer<br />

atmet, dass es fast klingt wie <strong>ein</strong>e Katze, die schnurrt. Und Nissa<br />

denkt, wie dumm das klingt, Kotzi. Sie sind umringt von<br />

Menschen, die Fahrerin des Wagens rennt aufgeregt hin und<br />

her, sie hat die Hände vor dem Mund und ruft: „Oh, m<strong>ein</strong><br />

Gott, oh, m<strong>ein</strong> Gott! Das war nicht m<strong>ein</strong>e Schuld! Wie geht<br />

es ihm?“ Der <strong>ein</strong>e Hinterlauf sieht ziemlich lädiert aus, verbogen<br />

und überstreckt, wie wenn das B<strong>ein</strong> in die entgegengesetzte<br />

Richtung laufen würde, der zerbrochene Knochen guckt durch<br />

die dünne Hundehaut. Nissa befühlt ihn kurz und der Hund<br />

jault auf. „Spinnst du eigentlich?!“, schreit Micha und küsst<br />

den Hund, als würde ihm das jetzt helfen. S<strong>ein</strong> halbes Gesicht<br />

ist beschmiert mit dunklem Hundeblut und Sabber. Warum<br />

macht er gar nichts, denkt Nissa, außer sitzen und glotzen und<br />

streicheln und rumblöken, vielleicht geht es um Minuten. Es<br />

muss alles schnell gehen jetzt. „Der ist mir <strong>ein</strong>fach so davor gelaufen,<br />

da war nichts zu machen!“, schreit die Frau, sie ist ganz<br />

durch<strong>ein</strong>ander und schnauft so laut, dass man sie durch das<br />

ganze Wirrwarr der vielen Leute und das Hupen und den Ver-<br />

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kehr hindurch genau hören kann. Kotze keucht und schmatzt<br />

und keucht wieder und Blut läuft aus s<strong>ein</strong>em Maul, das tropft<br />

auf Michas Hose und durch das Loch auf s<strong>ein</strong>e Leopardenleggins.<br />

„Wir müssen zum Arzt“, sagt Nissa und guckt Micha an,<br />

der reagiert aber gar nicht, der ist damit beschäftigt, nicht zu<br />

w<strong>ein</strong>en, das sieht sie in s<strong>ein</strong>en Augen. Nissa greift in den kl<strong>ein</strong>en<br />

Pappbecher, in den Micha die Schnorre sammelt, aber der<br />

ist leer, siebzig Cent liegen direkt daneben, das ist alles. Was<br />

kostet das wohl, denkt Nissa, <strong>ein</strong> Tierarzt? Eine Operation?<br />

Sie hat k<strong>ein</strong>en Schimmer, sie war noch nie beim Tierarzt. „Also<br />

der Wagen hat nichts abbekommen!“ sagt die Frau. „Schnauze,<br />

fick dich!“, sagt Micha und die Frau sagt: „Also!“ und setzt<br />

sich in ihren Wagen. Nissa sagt: „Micha, wir müssen uns aufteilen!“<br />

Nissa hat für <strong>ein</strong>en Moment Angst, dass Micha gleich<br />

w<strong>ein</strong>t, er hat s<strong>ein</strong>en Hund fest im Arm und sie glaubt nicht,<br />

dass er gerade überlegt, der guckt nur und zittert, sie weiß, dass<br />

sie das hier jetzt in die Hand nehmen muss, sonst verreckt der<br />

Hund und sie sagt: “Bring ihn zum Arzt, schnell, und ich geh<br />

nach Hause und besorg Geld. Wir treffen uns in der Praxis, du<br />

gehst zu diesem Typen am Ende des Südwegs.“ Micha sieht<br />

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sie an, mit <strong>ein</strong>em Blick, der nichts verrät, er zeigt sonst k<strong>ein</strong>e<br />

Regung. „Geh jetzt, beeil dich!“, sagt Nissa, „hast du mich<br />

verstanden?“, und rennt los.<br />

Ihre dicken Lederstiefel klatschen laut auf den St<strong>ein</strong>platten und<br />

Nissa muss Slalom laufen zwischen den Omas, Tussis, Muttis<br />

und Machos, die ihr alle nur im Weg stehen.<br />

Am Abend sitzt Nissa am Tisch ihrer Eltern. Es ist still. Sie<br />

sieht ihren Eltern beim Essen zu. Kann es nicht fassen, wie gut<br />

das alles aussieht, wie glaubwürdig. Fast wie <strong>ein</strong> echtes normales<br />

gutes Leben. Ihr fällt dieser Witz <strong>ein</strong>. Ein Sozialarbeiter<br />

in <strong>ein</strong>er Gruppe von Junkies. Er malt zwei Kreise auf <strong>ein</strong> Blatt,<br />

<strong>ein</strong>en großen, <strong>ein</strong>en kl<strong>ein</strong>en und tippt auf den großen: das ist<br />

euer Hirn vor dem Drogenkonsum, er tippt auf den kl<strong>ein</strong>en,<br />

und das danach. Kopfnicken, Gähnen, Nasebohren. Ein Ex-<br />

Knacki steht auf und tippt auf den kl<strong>ein</strong>en Kreis: das ist euer<br />

Arschloch vorm Knast und das, er tippt auf den großen, danach.<br />

Nissa sagt nichts. Vater Herbert zieht s<strong>ein</strong> Messer durch<br />

das Fleisch, als wäre es Butter. Nissas Mutter ist <strong>ein</strong> <strong>Wunder</strong> in<br />

der Küche. „<strong>Du</strong> <strong>bist</strong> <strong>ein</strong> <strong>Wunder</strong>!“, sagt Vater Herbert. Es gibt<br />

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hauchdünn geschnittenen Braten, der aussieht wie aus der Werbung,<br />

dazu Spargel und <strong>ein</strong>e etwas exotische Joghurtsauce. So<br />

<strong>ein</strong> Wellnessgericht aus <strong>ein</strong>er Frauenzeitschrift. Für <strong>ein</strong> gutes,<br />

ausgeglichenes und abwechslungsreiches Leben.<br />

Das Plirren des Bestecks.<br />

Das Klacken der Zähne.<br />

Der leise Atem ihrer Eltern, wie auf<strong>ein</strong>ander abgestimmt.<br />

Das Scharren der Füße.<br />

Draußen fährt <strong>ein</strong> Auto:<br />

„Wie lange seid ihr jetzt verheiratet?“<br />

„Wie bitte?“, fragt Mama.<br />

Vater Herbert sagt k<strong>ein</strong> Wort, kaut mit spitzen Lippen, schiebt<br />

das Essen im Mund hin und her und nickt anerkennend.<br />

„Einundzwanzig Jahre, fast zweiundzwanzig, aber das weißt<br />

du doch, m<strong>ein</strong> Schatz.“<br />

„Das ist wirklich erbärmlich. Mama, ich ziehe aus.“<br />

Vater Herbert schnaubt, als hätte Nissa <strong>ein</strong>en Witz gemacht.<br />

Nissa äfft ihn nach, mit so viel Verachtung wie in ihr aufzutreiben<br />

ist.<br />

„Jetzt ist aber gut“, sagt Vater Herbert und Mama sagt: „So,<br />

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will noch <strong>ein</strong>er <strong>ein</strong>en Mango-Lassie?“<br />

„N Scheiß is gut, ich zieh aus, hab ich gesagt. Mama, ich will<br />

tausend Euro von euch im Monat, ist das okay?“<br />

„Ich will tausend Euro von euch, ist das okay?“ Vater Herbert<br />

äfft zurück. „Sag mal Vanessa, merkst du noch was?“<br />

„Halts Maul, du Junkie, mit dir redet hier k<strong>ein</strong>er! Mama,<br />

m<strong>ein</strong>st du tausend Euro würden gehen? Ich muss hier raus,<br />

verstehste, das ist nicht auszuhalten hier.“<br />

„Sag mal Vanessa, hast du <strong>ein</strong>en an der Waffel, das ist ja wohl<br />

nicht d<strong>ein</strong> Ernst hier gerade, oder?“<br />

„Was ist denn d<strong>ein</strong> Ernst, du Fixer, ich würds Maul nicht so<br />

aufreißen, kannst du dir nicht erlauben, du nicht.“<br />

„Froll<strong>ein</strong>!“<br />

„Froll<strong>ein</strong>, Froll<strong>ein</strong> schnippst <strong>ein</strong>mal mit den Fingern und du<br />

<strong>bist</strong> alles los, was du hast. Also halt bloß d<strong>ein</strong>e verlogene<br />

Schnauze!“<br />

„So plingpling mitm Finger“, sagt Micha und macht es nach, in<br />

der Luft, schnippst mit dem Mittelfinger gegen <strong>ein</strong>e unsichtbare<br />

Spritze in s<strong>ein</strong>er Hand, „r<strong>ein</strong> und bäm und weg! Hat die Augen<br />

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so verdreht und dann hat er aufgehört zu atmen. Einfach weg<br />

jetzt.“ Micha steht so da, draußen vor dem kl<strong>ein</strong>en, weißen<br />

Haus, „Hat sich ausgekotzt“, sagt er und lacht mit dem Mund<br />

und reibt sich das getrocknete Hundeblut, das noch an s<strong>ein</strong>em<br />

Kinn klebt, aus dem Gesicht. Micha guckt auf s<strong>ein</strong>e Hand, auf<br />

die Hundeblutreste und wischt sie an s<strong>ein</strong>er Jacke ab. Auch da<br />

überall ist das alte Blut. Er reibt sich die Augen und sagt „Lass<br />

ma schnell irgendwohin, wo ich mich richtig zuparken kann!“<br />

„Kl<strong>ein</strong>er Schuss, große Wirkung“, sagt Nissa und lacht zu laut.<br />

Micha steckt die Hände in die Hosentaschen und dreht den<br />

Kopf weg. Sie hält sich selbst den Mund zu.<br />

„Lauf, Forrest, lauf!“ brüllen <strong>ein</strong> paar Jungs, die auf <strong>ein</strong>er Bank<br />

sitzen und Burger essen und Nissa rotzt in ihre Richtung und<br />

schenkt ihnen den Mittelfinger. Die Jungs lachen sich schlapp.<br />

Nissa rennt, sie keucht. Die fetten Schuhe sind nicht zum Laufen,<br />

die fühlen sich an wie Hufe von <strong>ein</strong>em riesigen Tier am<br />

Ende ihrer dünnen Mädchenb<strong>ein</strong>e. Es sind vielleicht fünf Kilometer<br />

bis nach Hause. Scheiße, scheiße, denkt sie, eben haben<br />

wir noch gespielt, eben haben wir noch gebadet, eben haben<br />

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wir noch im Park gelegen. Eben noch, eben noch gabs überhaupt<br />

k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Problem. Sie rennt und überlegt, wie viel<br />

Geld sie finden muss und wo sie es finden kann. Sie rennt und<br />

es brennt in ihrer Brust und als sie endlich zu Hause ist, nimmt<br />

sie zu allererst alles Geld aus der Haushaltskasse, aber das sind<br />

nur knapp vierzig Euro, das reicht niemals. In ihrem Zimmer<br />

hat sie noch zwanzig Euro, das reicht aber auch nicht. Handtasche,<br />

Portemonnaie und so weiter, das haben Vater Herbert<br />

und Mama natürlich mitgenommen. Wo soll sie noch suchen,<br />

wo liegt noch Geld rum? Zur Not, denkt Nissa, nimmt sie irgendwelche<br />

wertvollen Sachen mit und lässt sie als Pfand oder<br />

als Bezahlung in der Praxis. Vielleicht noch an der Garderobe.<br />

Nissa nimmt Jacke für Jacke vom Haken, stößt mit der Hand in<br />

die Taschen, wirft sie zu Boden. Nichts, nichts, wieder nichts,<br />

<strong>ein</strong> Taschentuch, <strong>ein</strong> Kassenbon, <strong>ein</strong> Notizzettel, nichts. Dann<br />

Vater Herberts Jackett, s<strong>ein</strong> Dolce-und-Gabbana-Jackett, s<strong>ein</strong><br />

Lieblingsjackett, in dem er ständig rumläuft, nur heute nicht,<br />

weil heute Nachmittag s<strong>ein</strong> Sportnachmittag ist. Sie knüllt es<br />

zusammen und fühlt was Hartes. In <strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en versteckten<br />

Tasche auf der linken Seite unten im Innenfutter ist <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es<br />

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Etui, wie <strong>ein</strong> Kugelschreiberetui sieht es aus. Sieht edel aus,<br />

findet Nissa und nimmt es, sie atmet noch immer schwer, weil<br />

fünf Kilometer nun mal fünf Kilometer sind und stopft es in<br />

ihre Hosentasche, vielleicht als Pfand, denkt sie und klopft die<br />

übrigen Jacken ab und findet nichts. Im Telefonzimmer sieht<br />

sie den Ipod von Vater Herbert in der Ladestation, greift ihn<br />

und rauscht aus dem Haus.<br />

Im Gehen zieht sie das Etui aus der Tasche und öffnet es. Sie<br />

bleibt stehen. Nissa steht und guckt und fasst es nicht. Sie guckt<br />

auf dieses kl<strong>ein</strong>e Etui und fühlt sich wie angefahren. Knack. Sie<br />

glaubt es nicht. Das kann nicht stimmen, das passt nicht, das<br />

geht nicht, das kann nicht s<strong>ein</strong>. Sie steht vor der Haustür, in<br />

diesem kl<strong>ein</strong>en Vorgarten und es ist nicht so, dass plötzlich die<br />

Geräusche verschwinden oder das Wetter umschlägt. Nur in<br />

ihr drinnen, da knackt es plötzlich, da knackt irgendwas.<br />

Nissa dreht um. Sie geht zurück. Betritt das Haus. Sieht das<br />

Chaos. Glaubt noch immer nicht. Die Jacken auf dem Boden<br />

vor der Garderobe, das ja, <strong>ein</strong>ige Schubladen aufgerissen,<br />

durchwühlt, das ist k<strong>ein</strong>e drei Minuten her. Aber sonst: alles<br />

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stimmt in diesem Haus, alles hat s<strong>ein</strong>en Ort, alles baut auf<strong>ein</strong>ander<br />

auf, gehört zusammen, ist harmonisch und glücklich.<br />

Und <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Etui, das sie nie gefunden hätte, wenn Kotze<br />

heute morgen nicht übergeschnappt und vor <strong>ein</strong> dummes rotes<br />

Auto gerannt wäre, dieses Etui in <strong>ein</strong>er geheimen Tasche im<br />

Lieblingsjackett ihres Vaters bringt alles, allesalles ins Wanken,<br />

macht sich über alles lustig, zieht drei ganze Leben voll und<br />

ganz durch den Kakao. Ein kl<strong>ein</strong>es Etui, aus Wildleder, unsch<strong>ein</strong>bar<br />

und bestimmt wertvoll. Ein kl<strong>ein</strong>es Etui, plingpling<br />

und r<strong>ein</strong> und bäm und weg. Ein kl<strong>ein</strong>es Etui mit <strong>ein</strong>em sehr<br />

edlen Fixerbesteck und <strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Portion weißem Pulver in<br />

<strong>ein</strong>em Plastiktütchen. Heroin oder was man sich sonst ins Blut<br />

drücken kann. Dritter Lehrstuhl für lächerlichen Wahnsinn.<br />

<strong>Du</strong> <strong>bist</strong> <strong>ein</strong> <strong>Wunder</strong>, Vater Herbert.<br />

Nissa setzt sich auf den Boden. Es ist nicht zu fassen. Es ist <strong>ein</strong>fach<br />

nicht zu fassen. Sie sitzt und weiß nicht, wie lange. Alles<br />

muss Grenzen haben und im Rahmen der Vernunft bleiben. So<br />

wenig Mensch. Wo wer sich rumtreibt und die ganzen Krankheiten.<br />

Dann steht sie auf, sieht sich wie von außen alle Unordnung<br />

wieder korrigieren, hängt die Jacken wie sie hingen an<br />

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ihren Platz an der Garderobe, sortiert die Schubladen, schließt<br />

sie, schüttelt den Teppich im Flur aus, richtet ihn gerade aus,<br />

streift mit der flachen Hand die Falten im Jackett glatt. Steckt<br />

das Etui an s<strong>ein</strong>en Platz.<br />

Sie dreht den Schlüssel zwei Mal im Schloss, sieht auf ihre<br />

Finger, die <strong>ein</strong> bisschen zittern und noch rostbraun sind vom<br />

Unfall. Sie muss los. Retten, was zu retten ist. Micha wartet<br />

mit dem angefahrenen Hund beim Tierarzt auf sie. Immerhin<br />

Macht, denkt sie, immerhin etwas.<br />

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