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Tanja Dückers: Der Schokoladenbrunnen Tanja Dückers: Der Schokoladenbrunnen (Vorschau)

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Kurzgeschichte<br />

<strong>Tanja</strong><br />

<strong>Dückers</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>Schokoladenbrunnen</strong><br />

No.9


<strong>Tanja</strong> <strong>Dückers</strong>, *1968 in Berlin, Schriftstellerin<br />

und Publizistin. Zu ihren Veröffentlichungen<br />

zählen die Romane »Spielzone«,<br />

»Himmelskörper«, »<strong>Der</strong> Längste Tag<br />

des Jahres« sowie die Essaybände »Morgen<br />

nach Utopia«, »Über das Erinnern« und der<br />

Lyrikband »Luftpost«. Sie schreibt regelmäßig<br />

für Zeitungen, ist Kolumnistin der<br />

ZEIT (online) für Innen- und Gesellschaftspolitik.<br />

Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin<br />

und isst gern beim Schreiben Schokolade.<br />

www.tanjadueckers.de<br />

Impressum<br />

1. Auflage 2010<br />

Alle Rechte bei den Autoren<br />

Literatur-Quickie, Probsthayn & Gerlach<br />

Baumkamp 44, 22299 Hamburg, Germany<br />

Satz und Gestaltung: Ulrike Köhn, Hamburg<br />

Foto: Elisabeth Gehlen<br />

www.literatur-quickie.de


<strong>Der</strong> <strong>Schokoladenbrunnen</strong><br />

Eine Geschichte von <strong>Tanja</strong> <strong>Dückers</strong>


<strong>Der</strong> <strong>Schokoladenbrunnen</strong><br />

Den <strong>Schokoladenbrunnen</strong> habe ich im letzten Jahr als Hauptpreis<br />

bei einem Preisausschreiben gewonnen. Es ging um Fragen wie: Ab<br />

wie viel Prozent Kakaoanteil bezeichnet man Bittere Schokolade<br />

als Bittere Schokolade? In welchen Ländern liegen die Hauptkakaoanbaugebiete<br />

der Erde? Was bedeutet Conchieren? Was sind<br />

Nibs? – und so weiter. Ich hatte wohl sehr gut abgeschnitten, jedenfalls<br />

stand eines Tages ein Mann in einem vollmilchbraunen Overall<br />

in der Tür und überreichte mir ein nicht eben kleines Paket und<br />

einen Blumenstrauß. Dann fotografierte er mich. In den nächsten<br />

Monaten fand ich mein Foto auf einer Schokoladen-Sonderedition<br />

wieder. Ich regte mich erstaunlich wenig über diese kapitalistische<br />

Verwertungsstrategie auf, denn ich war schlicht und einfach glücklich<br />

über den Hauptpreis: einen <strong>Schokoladenbrunnen</strong>. Bei dem<br />

Riesending, aus Edelmetall, gibt es wie bei einem Fön mehrere<br />

Einstellungsgrade; die Schokoladenmasse kann von majestätischgemächlich<br />

bis quellbachartig-munter-plätschernd-glucksend in die<br />

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untere Auffangschale fließen. Gleichzeitig wird die Schokolade<br />

erwärmt, und es gibt wirklich nichts Köstlicheres als ein mit warmer<br />

Schokolade beträufeltes Stück Banane oder Apfel (oder einen<br />

Keks) zu verspeisen. Man kann natürlich auch einfach seine Finger<br />

unter die verschiedenen Brunnenschalen halten – wie mein vierjähriger<br />

Neffe – und sich das warme braune Nass genussvoll von den<br />

Pfoten lecken (und diese dann – nun ja – an meinem Bücherregal<br />

abwischen).<br />

Nach einigen schönen Nachmittagen und Abenden, an denen ich<br />

ergeben um den <strong>Schokoladenbrunnen</strong> herumgesessen hatte, dämmerte<br />

mir, dass ich kein gewöhnliches Haushaltsgerät gewonnen<br />

hatte, sondern einen Zauberartikel. <strong>Der</strong> Brunnen entfaltete eine<br />

seltsame, magische Wirkung auf diejenigen, die sich um ihn versammelten.<br />

Einmal habe ich mich mit meinem Liebsten über die<br />

Anschaffung eines Sofas gestritten. Wir gaben einander die Schuld,<br />

uns zum Kauf dieses zu großen, farblich nicht passenden und viel<br />

zu leicht zu verschmutzenden Monsters überredet zu haben. Nach<br />

enervierendem Gezanke schlug ich ein „gemütliches Essen zu Hause<br />

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nach diesem ganzen Stress“ vor. Als wir beim Nachtisch angelangt<br />

waren, stellte ich so nebenbei den <strong>Schokoladenbrunnen</strong> an. Nach<br />

nur zehn Minuten friedlichen Tunkens (Stufe 1) kamen wir beide<br />

auf die Idee, das Monster einfach per Ebay zu verkaufen und entschieden<br />

uns einstimmig für ein anderes Sofa, das wir im gleichen<br />

Geschäft gesehen hatten. Ein schokoladenbraunes.<br />

Auch mit meinem Bruder, meiner Mutter, einer penetrant Didgeridoo<br />

übenden Nachbarin, einer abtrünnig gewordenen Freundin<br />

und einer schwierigen Kollegin vertrug ich mich nach ermüdenden<br />

Emailkleinkriegen oder unerfreulichen Endlos-Telefonaten wegen<br />

diesem und jenem Unsinn wieder am Fuße des großen <strong>Schokoladenbrunnen</strong>s.<br />

Eben deshalb habe ich den <strong>Schokoladenbrunnen</strong> bei der Planung<br />

des diesjährigen Weihnachtsfests ins Spiel gebracht. Denn die Weihnachtsvorbereitungen<br />

waren in meiner Familie bisher alles andere als<br />

harmonisch verlaufen. Meine Eltern, mein Bruder und ich konnten<br />

uns wieder einmal nicht einigen, wie Heilig Abend verlaufen sollte.<br />

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Klar war nur, dass ich dieses Jahr nicht mit meinem Liebsten zu<br />

seinen Eltern, sondern zu Hause in Berlin bleiben und mit meiner<br />

Familie feiern würde. Ansonsten gab es nur Streit: Meine Mutter<br />

wollte nicht schon am Heilig Abend, sondern erst am Ersten Weihnachtstag<br />

die Gans essen, denn der Erste Weihnachtstag war in<br />

ihren Augen der „richtige“ Weihnachtstag, Heilig Abend hingegen<br />

eine Art Präludium – das gute Essen sollte man sich, so ihre protestantische<br />

Sichtweise – erst noch durch einen Abend und eine halbe<br />

Nacht Singen und Beten verdienen. Mein Bruder wiederum wollte<br />

nicht mit der Gans auf den Ersten Weihnachtstag warten, weil<br />

er gar nicht vorhatte, diesen mit unseren Eltern zu verbringen. Er<br />

fand, dass nach einem „langen Abend mit Euch allen“ der nächste<br />

Tag familienfrei bleiben müsse – und wollte am Ersten Weihnachtstag<br />

mit Freunden auf ein Konzert gehen. Ich wiederum war als<br />

Vegetarierin und Atheistin eh weder sonderlich scharf auf die Gans<br />

noch auf den Gottesdienst, egal welcher konfessionellen Richtung<br />

und an welchem Abend auch immer. Mein katholischer Vater und<br />

meine protestantische Mutter kriegten sich wieder in die Haare, zu<br />

7


welchem Gottesdienst man gehen sollte. Wie in jedem Jahr argumentierte<br />

mein Vater, dass die katholische Kirche bei uns in der<br />

Nähe doch viel schöner sei, meine Mutter hingegen, dass der Pastor<br />

in der evangelischen Kirche jedoch viel Klügeres von sich geben<br />

würde. In den meisten Jahren hatten sie sich immer abgewechselt<br />

– eine Zeitlang gab es aber auch mal die Variante, dass mein Bruder<br />

(obwohl eigentlich katholisch) mit meiner Mutter in die evangelische<br />

Kirche ging und ich mit meinem Vater in die katholische<br />

(obwohl ich ausgetreten war). Manchmal trafen wir uns alle später<br />

in der mitternächtlichen Christmette, die meinem Vater sehr wichtig<br />

war und die auch ich anrührend fand. In diesem Jahr war alles<br />

noch komplizierter, da das Lieblingsargument meines Vaters für<br />

die katholische Kirche in unserer Nähe – die hinreißende Schönheit<br />

– durch ein hässliches Baugerüst erbarmungslos außer Kraft gesetzt<br />

worden war (natürlich sollten die Renovierungsmaßnahmen vor<br />

Weihnachten abgeschlossen sein, aber es war offensichtlich, dass<br />

das Gerüst nicht innerhalb der nächsten 24 Stunden verschwinden<br />

würde). <strong>Der</strong> Lieblingspastor meiner Mutter war wiederum vor<br />

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wenigen Wochen auf tragische Weise bei einem Fahrradunfall ums<br />

Leben gekommen, und der Neue war weniger intelligent als der<br />

Alte.<br />

„Also gut, treffen wir uns dann nach der ... jeweiligen Kirche ...<br />

um 21.00 Uhr hier wieder bei uns zur Bescherung“, schloss meine<br />

Mutter am Ende einer aufreibenden Diskussion über die Gestaltung<br />

der Weihnachtstage. „Beim <strong>Schokoladenbrunnen</strong>“, ergänzte<br />

ich.<br />

Bisher waren die überraschend harmonischen Begegnungen unter<br />

dem braunen Geplätscher stets Zweiertreffen gewesen. Würde der<br />

Schokobrunnen auch bei solch einem komplexen Netzwerk an<br />

schwierigen Beziehungen an einem herausfordernden Tag wie Heilig<br />

Abend seine Magie entfalten können?<br />

Während meine Mutter mit der Gans kämpfte, mein Vater unter<br />

Fluchen den Christbaum schmückte (aus „ästhetischen Gründen“,<br />

wie er sagte, hing er diesen oder jenen Engel, diesen Stern und<br />

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jenes Lamm immer wieder um, weshalb das Ganze mehrere Stunden<br />

dauerte) und mein Bruder mit seinen Freunden telefonierte,<br />

widmete ich mich dem Aufbau des <strong>Schokoladenbrunnen</strong>s. Denn<br />

einen <strong>Schokoladenbrunnen</strong> in Gang zu setzen, ist keine Sache von<br />

fünf Minuten. Meist stellt man erst mal fest, dass man ihn nach der<br />

letzten Benutzung nicht gründlich genug gereinigt hat, und wird<br />

dann noch mindestens 20 Minuten damit verbringen, ihn auseinanderzuschrauben<br />

und die einzelnen Stäbe, Schalen, Schrauben<br />

und Plättchen von getrockneter Restschokolade zu befreien. Dann<br />

muss man Palm- oder Kokosöl erwärmen, welches den Brunnen<br />

in Gang hält und im Innern der Maschine erhitzt wird – und wiederum<br />

die Schokolade, die man vorher zerkleinert hat, auf angenehmer<br />

Temperatur warm hält. Ein absolut wackelfreier Platz mit<br />

nahe gelegener Steckdose muss gefunden werden, wobei darauf zu<br />

achten ist, dass niemand über das Stromkabel stolpern kann. Die<br />

Folgen mag man sich gar nicht ausmalen. Und schließlich muss<br />

man noch jede Menge Obst in Stückchen schneiden und Kekse in<br />

Schalen füllen.<br />

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Während ich mich voller Hingabe dem <strong>Schokoladenbrunnen</strong> widmete,<br />

hörte ich von draußen Kirchenglocken und Stimmengewirr<br />

auf der Straße. Kinder kreischten, freuten sich oder quengelten,<br />

Erwachsene stöhnten, mahnten oder quengelten ihrerseits. Einmal<br />

raste die Feuerwehr an unserem Haus vorbei, dann zischte eine<br />

einzelne giftgrüne Silvesterrakete vor unserem Fenster in die Höhe,<br />

um sich langsam in Gold und Rot über den Abendhimmel zu ergießen.<br />

Aus der Nachbarwohnung klang klassische Musik, von gegenüber<br />

der Benefizsong „Do they know it’s Christmas time? Feed<br />

the world ...“. „With chocolate“, ergänzte ich im Geist.<br />

Schließlich war mein Vater mit dem Christbaumschmücken fertig<br />

und meine Mutter mit den Essensvorbereitungen in der Küche. Ihre<br />

Wege trennten sich: Mein Vater ging diesmal ohne meinen Bruder,<br />

aber mit einem Cousin, in die katholische Kirche. Meine Mutter<br />

ging mit einer Freundin in die evangelische Kirche. Mein Bruder<br />

telefonierte jetzt mit seiner neuen Freundin und zündete dabei<br />

mit ans Ohr geklemmtem Hörer Kerzen an, ich war immer noch<br />

mit dem Obstschneiden für den <strong>Schokoladenbrunnen</strong> beschäftigt –<br />

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und mit dem ausgiebigen Vorkosten von Weihnachtsplätzchen.<br />

Zwei Stunden später trudelten meine Eltern kurz nacheinander<br />

wieder ein.<br />

„Letztes Jahr bin ich bei dir mit in die Kirche, Helga, ich bin wirklich<br />

davon ausgegangen, dass wir dieses Mal den Gottesdienst<br />

dann nach meinem Wunsch ...“, fing mein Vater an. Sie hatten sich<br />

also keineswegs im Guten getrennt.<br />

„Also ich mag dieses zwanghafte Aufzählen, wer wann was gemacht<br />

hat, nicht. Ich bin hier seit drei Tagen mit dem Weihnachtsessen<br />

beschäftigt! Ich möchte dann wenigstens zu einem Gottesdienst gehen,<br />

der mir etwas gibt und nicht zu so einem alten, verknöcherten,<br />

sowieso immer nur das Gleiche herunterleiernde ...“<br />

„Helga, hör mal, Pfarrer Pfahlbusch ist wirklich ...“<br />

„Katastrophalbusch“, ließ sich mein Bruder sofort vernehmen. Er<br />

nannte Pfarrer Pfahlbusch konsequent Katastrophalbusch und korrigierte<br />

jeden streng, der sich nicht seiner Wortschöpfung bediente.<br />

Ich bog mich vor Lachen – aber die Züge meines Vaters vereisten.<br />

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<strong>Der</strong> Abend entwickelte sich ja prächtig.<br />

„Essen wir jetzt? Das Christkind ist am Verhungern!“, mein Bruder<br />

deutete mit Leidensmiene auf seinen Bauch.<br />

„Felix – wir singen wenigstens vorher drei Lieder – einfach nur<br />

‚Hoppla, wo bleibt das Essen?‘, das passt mir nicht, es ist schließlich<br />

Weihnachten, und: Ich bin keine Dienstmagd.“<br />

„Aaalso gut, singen wir ...“, Felix verdrehte die Augen.<br />

Dieses Augenverdrehen gab meiner Mutter den Rest. Sie schmiss<br />

ihren Mantel auf den Boden und schrie: „Deine materialistische<br />

Art finde ich einfach widerlich! Fressen und Geschenke! Und du<br />

spielst dich als Globalisierungskritiker, als Attac-und-sonst-was-<br />

Unterstützer auf, Felix! Ist dir bestimmt zu uncool, einmal im Jahr<br />

mit deinen Eltern drei Lieder zu singen, nicht wahr?“<br />

„Warum geht es Weihnachten verdammt nochmal immer nur nach<br />

deiner Nase? Warum müssen alle dein Programm machen? Und<br />

warum definierst nur du, was materialistisch ist, warum glaubst du<br />

eigentlich immer, moralisch im Recht zu sein?“<br />

Mein Bruder stand mit verschränkten Armen und ebenfalls kalk-<br />

13


weißem Gesicht vor unserer Mutter. Auch wenn sie noch so unterschiedliche<br />

Ansichten vertraten: Wenn sie wütend waren, sahen<br />

sich meine Familienmitglieder ziemlich ähnlich.<br />

„Das ist keine Atmosphäre, um gemeinsam zu singen“, flüsterte<br />

mein Vater und setzte sich zitternd auf seinen Platz an den Tisch.<br />

Meine Mutter blickte ihn enttäuscht an.<br />

„Wir holen das Singen nachher in der Christmette nach“, tröstete<br />

er, was wiederum auch nicht ohne Perfidie war – diese Andeutung,<br />

dass sie dieses Jahr Weihnachten zu ihrem geliebten Singen nur in<br />

seiner hochheiligen katholischen Christmette kommen würde.<br />

„Vera, hilf mir! Ich kann nicht alles allein hereintragen!“, brüllte<br />

meine Mutter plötzlich. Es war klar, ihre Nerven lagen blank.<br />

Während des Essens hoben meine Eltern ihre Blicke nicht von den<br />

Tellern. Dann lasen sie sich leise Weihnachtspost vor. Ich fragte<br />

meinen Bruder ein bisschen über seine neue Freundin aus und erzählte<br />

ihm weitschweifig von einem Theaterstück, an dem ich arbeitete.<br />

Sicherlich war es nicht sehr spannend, mir zuzuhören, wie<br />

ich stockend lange Dialoge wiedergab. Felix konzentrierte sich<br />

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sichtbar auf sein Essen.<br />

Als mein Vater schließlich die Teller abräumte, sah ich meine Stunde<br />

gekommen.<br />

„Jetzt können wir ja langsam zum Nachtisch übergehen!“<br />

Ein kleines Lächeln glitt über die matten, bleichen Gesichter. Es<br />

war klar, eigentlich war jeder stocksauer, man wollte den Abend<br />

nur noch irgendwie rumkriegen.<br />

Schwerfällig erhoben wir uns und gruppierten uns um den <strong>Schokoladenbrunnen</strong>,<br />

der in der Zimmermitte thronte.<br />

„So, dann löse ich jetzt mal die Schokolade auf ... jetzt wird das<br />

schön warm ...“, ich beschrieb jede meiner Handlungen als würde<br />

ich Blinden erklären, was ich tat – nur, damit es nicht ganz<br />

so still war, damit ich das ständige Geseufze von meinem Vater,<br />

das genervte Rotzhochziehen von meinem Bruder und das nervöse<br />

Herumzupfen meiner Mutter am Weihnachtsschmuck nicht hören<br />

musste.<br />

Bald hielten wir Apfel-, Bananen- und Apfelsinenstückchen unter<br />

die sanft plätschernden Brunnenschalen.<br />

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„Sehr gesund ist das ja nicht“, meinte meine Mutter spitz.<br />

„Hmm, guuut“, machte mein Bruder daraufhin.<br />

„Da muss man ja aufpassen!“, mein Vater wischte an einem Klecks<br />

auf seinem Hemdärmel herum. <strong>Der</strong> geübte <strong>Schokoladenbrunnen</strong>benutzer<br />

weiß natürlich, dass man seine Hände nicht zu tief unter<br />

die Schalen halten darf.<br />

Die Schokolade, unser Gespräch, der ganze Abend hätte in etwa so<br />

weiterplätschern können, wenn nicht mein Bruder plötzlich gefragt<br />

hätte: „Was’n das für’n Knopf?“<br />

„Ach, damit kann man so verschiedene Stufen einstellen“, gab ich<br />

zurück.<br />

„Wie, verschiedene Stufen?“<br />

„Na, der Brunnen kann die Schokolade halt unterschiedlich schnell<br />

herunterrinnen lassen. Wir haben jetzt Level 1, du kannst aber auch<br />

ein bisschen aufdrehen, dann gluckst das richtig...“<br />

„So einen Firlefanz brauch ich nicht“, rief meine Mutter. Doch<br />

mein Vater widersprach sofort: „Ich finde, es sieht nicht sehr ästhetisch<br />

aus, wie die Schokolade da so von oben in die Schalen<br />

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einkleckert. Vielleicht sähe es doch schöner aus, wenn sie richtig<br />

herunterfließen würde. Wir könnten doch mal Stufe 2 ausprobieren.“<br />

Felix streckte seine Hand aus – und was dann genau passierte, weiß<br />

ich auch nicht, weiß niemand und wird niemand mehr rekonstruieren<br />

können.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Schokoladenbrunnen</strong> machte ein Geräusch, als wäre er ein<br />

Rennwagen, der von 0 auf 300 aufdreht, dann hoben sich die Schalen<br />

wie bei einem Igel, der alle Stacheln gleichzeitig aufstellt, und<br />

die ganze Schokoladenmasse flog mit einem lauten, pfeifenden Ton<br />

um uns herum. Sie flog in drei horizontalen Bahnen – entsprechend<br />

der Höhe der obersten Schale, der mittleren und der untersten –<br />

quer durch das Wohnzimmer, über unsere Gesichter (Haaransatz,<br />

Nase, Kinn), über die Tapete, über die wertvollen Gemälde an den<br />

Wänden, über die Seidenvorhänge, über die geöffnete Vitrine mit<br />

dem Porzellan für Festessen, über das Klavier, über die Türen, über<br />

die Fenster, über den Fernseher, die Stereo-Anlage, die Stehlampe –<br />

einmal 360 Grad rund um das ganze Zimmer.<br />

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„Vera! Stell das Ding ab, mach das Ding aus, Vera! Vera! Ogottogott,<br />

Hilfe!“<br />

Die Schokolade flog nicht nur weiterhin quer durchs Zimmer, sie<br />

hatte sich auch mittlerweile überhitzt, heiße Streifen schlugen in<br />

unsere Gesichter, es tat richtig weh.<br />

Mein Bruder zog schließlich den Stecker. Auf diese schlichte Idee<br />

war ich in meiner Schreckstarre nicht gekommen. <strong>Der</strong> <strong>Schokoladenbrunnen</strong><br />

machte einen pfeifenden Ton wie ein Luftballon, aus<br />

dem man die Luft herauslässt. Langsam senkten sich seine Schalen,<br />

dann gab es ein Geräusch, wie man es von Nordseeurlauben kennt,<br />

wenn man mit einem Gummistiefel im Wattenmeer versinkt: Ein<br />

tiefes unheimliches Blupp drang aus den unergründlichen Tiefen<br />

des Schokoladenvulkans, aus dem heißen Schlick der dunklen Hölle.<br />

Wir saßen eine Weile lang nur still da, mit unseren besudelten Gesichtern.<br />

„Vera ... wie konnte das passieren?“, fragte meine Mutter mit dünner<br />

Stimme.<br />

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Dabei wischte sie sich mit ihrer Serviette Schokoladenstreifen vom<br />

Gesicht.<br />

Mein Vater nahm ihr die Serviette aus der Hand und tupfte ihr<br />

Gesicht sanft ab.<br />

„Die war ganz heiß, die Schokolade“, wimmerte meine Mutter.<br />

Und mein Vater streichelte ihre Stirn – dort, wo sich ein langer<br />

roter Streifen abzeichnete.<br />

Ich zuckte kraftlos die Schultern. „Technisches Versagen. <strong>Der</strong> war<br />

vorher immer vollkommen o. k. Keine Ahnung ...“<br />

Mein Vater starrte immer noch fassungslos auf den vor sich hinblubbernden<br />

und -spuckenden Schokoladenvulkan. Dann wischte<br />

meine Mutter ihm die braunen Striemen vom Gesicht.<br />

„Tolles Werbegeschenk“, meinte Felix verächtlich - und ich ärgerte<br />

mich über ihn, schließlich hatten wir beide einmal einen sehr schönen<br />

Abend am Fuße dieses Bergs verbracht und uns gütlich über<br />

eine dumme Geldgeschichte geeinigt.<br />

Anstatt etwas Schnippisches zu antworten, nahm ich nur seine<br />

Serviette und tupfte ihn ab. Danach wurde ich abgetupft. Jede<br />

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Berührung der Haut tat weh.<br />

„Ja, also – dann ... dann fangen wir mal an“, sagte meine Mutter<br />

schließlich. Mit roten Streifen im Gesicht.<br />

„Ja, am besten fangen wir ... mal ... an“, meinte mein Vater, dem am<br />

Kinn noch Schokolade klebte, die meine Mutter übersehen hatte.<br />

„Ich würde sagen, wir ... fangen jetzt mal langsam an“, murmelte<br />

ich. Ich spürte, während ich sprach, wie an verschiedenen Stellen<br />

in meinem Gesicht Schokoladenreste auf meiner Haut zu trocknen<br />

begannen. Überall spannte es.<br />

„Am besten ... wir legen jetzt einfach los“, rief auch Felix schließlich,<br />

in dessen flachsblondem langen Haar ein dunkler Schokoladenkrater<br />

klaffte. Meine Mutter stand auf und kam mit vier bunten<br />

Schwämmen aus dem Badezimmer zurück. Rosa, Gelb, Hellblau,<br />

Quietschgrün. Gegen all das Braun.<br />

„Wir müssten jetzt eigentlich zur Christmette, wenn ihr da hinwollt“,<br />

meinte sie plötzlich und blickte zweifelnd auf ihr Schwämmchen.<br />

„Ach, die hören wir diesmal im Radio“, gab mein Vater mit einer<br />

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wegwerfenden Geste zurück und schritt durch unser Wohnzimmer<br />

zu unserem uralten Radio, das er noch aus Studentenzeiten hatte<br />

und von dem er sich nicht trennen konnte. Gleich darauf ertönte<br />

knisternd Orgelmusik.<br />

Wir alle standen noch etwas hilflos in dem von weihnachtlichen<br />

Klängen erfüllten Wohnzimmer, das, wohin man auch blickte,<br />

überall von den drei braunen Streifenspritzerspuren durchzogen<br />

war. „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit<br />

...“ knisterte im Hintergrund. Schweigend machten wir uns an die<br />

Arbeit. Ab und zu hörte man ein quietschendes Schrubben oder ein<br />

leises Seufzen. Während wir so vor uns hin wischten, strichen und<br />

tupften, auswuschen und abtrockneten, begann mein Vater plötzlich<br />

vom Weihnachtsfest im Jahr 1945 zu erzählen, dem ersten<br />

Weihnachten nach dem Krieg. Alles, was seine Familie hatte, war<br />

eine Kerze. Gebäck, einen Christbaum, Geschenke gab es nicht.<br />

Sie aßen Kartoffeln und Steckrüben. Wie in all den Wochen davor.<br />

Nie hatte mein Vater bisher von diesem Weihnachten gesprochen.<br />

Wir wussten nur, dass seine Familie ausgebombt worden war und<br />

21


sie eine Weile lang zu sechst in einer Garage leben mussten. Nachts<br />

hielten sie sich mit Ziegelsteinen warm, die sie bei einem Nachbarn<br />

vorher auf den Ofen legten. Später erzählte meine Mutter von einem<br />

„Anti-Weihnachtsfest“, das sie im Jahr ’68 mit Kommilitonen gefeiert<br />

hatte. Ihre Kumpanen und sie hatten einen Weihnachtsbaum<br />

komplett mit weißer Farbe eingesprayt (denn Weiß war die Farbe<br />

des von ihnen damals hoch verehrten „Nichts“, übertroffen nur<br />

von unsichtbaren „Gar nichts“) und saßen mit Gasmasken – aus<br />

Solidarität mit den Vietcong – im Schneidersitz auf dem Boden vor<br />

Reis mit Mandeln und Sojasauce mit Kokosflocken. Nicht nichts,<br />

aber immerhin weiß. Und nicht deutsche Küche. Meiner Mutter<br />

fielen immer mehr kuriose Details über dieses Anti-Weihnachten<br />

ein. Dann erzählte mein Bruder einen Traum, den er kürzlich gehabt<br />

hatte. Es ging um ein Konzert mit schlechter Luft und um ein<br />

Nilpferd mit Schal um den Hals, dann um seine neue Freundin,<br />

eine Reise in die Alpen und eine Skifahrt, die sie beide nackt, aber<br />

mit Schal um den Hals (ein langer Schal, der sie miteinander verband,<br />

so dass sie nicht allein fuhren) gemacht hatten ... Es tauch-<br />

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ten noch ein Tierpfleger mit Pfeife, ein keifender Skispringer, eine<br />

keuchende Elfe und ein hustender Polizist auf. Bald übertönten<br />

wir mit unseren jeweiligen Interpretationsideen das knisternde „O<br />

Tannenbaum“ aus dem alten Radio. Wahlweise war mein Bruder<br />

in unseren jeweiligen Deutungsschemata „eigentlich“ das Nilpferd,<br />

die Elfe oder der Polizist – am Ende war jedenfalls klar, dass mein<br />

Bruder im neuen Jahr noch einmal versuchen würde, mit dem Rauchen<br />

aufzuhören.<br />

Während Felix nicht ohne Pathos und mit lautem Orgelgeknister<br />

im Hintergrund seinen Plan vom neuerlichen Anlauf zum nikotinfreien<br />

Leben in großen Zügen vor uns entwarf, ertappte ich ihn<br />

dabei, wie er während einer Kunstpause an einem Bild leckte. Er<br />

wollte uns gerade erklären, wie er, nachdem er von 15 auf 14 Zigaretten<br />

täglich, von 14 auf 13, von 13 auf 12 Zigaretten und so<br />

weiter gekommen war, den wichtigen Schritt von einer zu keiner<br />

schaffen würde. Er legte eine bedeutsame Pause ein und dachte<br />

wohl, er könne sie kurz nutzen ... um sich bei den fein gebauschten<br />

Baumkronen auf einem Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert<br />

23


lieber mit seiner Zunge als mit dem Schwämmchen zu versuchen.<br />

Ich kicherte vor mich hin, mein Bruder errötete. Bei mir war es<br />

dann eine Radierung von einem jungen aufstrebenden Schweizer<br />

Künstler, den mein Vater für genial hielt. Obwohl die schlanken<br />

braunen präzise gesetzten Schokoladenspritzer durchaus gut zu<br />

dem wilden Bleistiftstrich zu passen schienen und dem Bild eine<br />

besondere Dynamik, den letzten Schliff gaben, befreite ich es von<br />

den in neuartiger Pollockscher Drip-Sprinkle-Technik heute spontan<br />

hinzugefügten Spuren.<br />

Fortan trafen sich unsere Blicke genau in den Momenten, in denen<br />

wir beide mit unseren Zungen noch halbwarme Schokolade von<br />

verschiedenen Bildern ableckten – immer darauf bedacht, dabei<br />

nicht von unseren Eltern gesehen zu werden. Aber die kämpften<br />

seit einer Weile mit dem Seidenvorhang.<br />

Überhaupt fand ich es zum ersten Mal gemütlich in dem für gewöhnlich<br />

etwas aseptisch wirkenden Wohnzimmer meiner Eltern,<br />

das Felix und ich als Kinder nie betreten durften, aus Angst, die<br />

Kleinen könnten wertvolle Gemälde und Möbel beschädigen. Das<br />

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lange Zeit verbotene Zimmer. Aber wenn man so mit der Zunge<br />

über die Heiligtümer fuhr, konnte man eine andere, neue Beziehung<br />

zu ihm aufnehmen. Dieses Zimmer, dessen Einrichtung sich<br />

meine Eltern vom Munde abgespart hatten – ich berührte es jetzt<br />

mit meinen Lippen.<br />

Wo man auch hinguckte, es fanden sich immer noch neue Schokoladenspritzer,<br />

doch nachdem sich mein Vater zwei Stunden lang mit<br />

dem Seidenvorhang beschäftigt hatte – meine Mutter hatte irgendwann<br />

kapituliert und sich einfachen Dingen wie dem Fernseher und<br />

der Stereoanlage zugewandt –, rief er erschöpft: „Hört mal, wir<br />

müssen mal langsam einen Punkt machen! Ein bisschen Schokolade<br />

hier und da, das verträgt das Wohnzimmer schon. Und der Geruch,<br />

na ja, der wird schon irgendwann verfliegen. Ich bin todmüde.“<br />

Es war, als hätte mein Vater das Kinderverbot von damals rückwirkend<br />

aufgehoben.<br />

Wir wischten alle noch die für heute letzten Schokotupfer weg und<br />

legten dann die mittlerweile dunkelbraunen Schwämmchen aus der<br />

Hand.<br />

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Felix und ich ließen uns auf das nächste Sofa plumpsen; es war<br />

sagenhaft spät. Unsere Nachbarn schienen alle seit Stunden zu<br />

schlafen.<br />

„Wollt ihr nicht heute Nacht hier bleiben, es dämmert ja schon“,<br />

bot mein Vater an, meine Mutter hatte sich mit halb geschlossenen<br />

Augen an ihn geschmiegt. Felix und ich nickten simultan. Wir beide<br />

hatten seit unserem Auszug nicht mehr hier geschlafen. Schon<br />

gar nicht mitten im heiligen Wohnzimmer, aber es war klar, dass<br />

es keine andere Möglichkeit gab; unsere Kinderzimmer waren von<br />

unseren Eltern längst zu Büro- und Archivräumen umgestaltet<br />

worden. Wir grinsten uns an.<br />

Unsere Mutter kam mit dem Bettzeug, und mir entging nicht, dass<br />

ihr versonnener Blick nicht nur Felix und mir galt, sondern auch<br />

dem riesigen, dunklen, von heruntergebrannten bläulich flackernden<br />

Kerzen immer noch majestätisch beleuchteten, defekten <strong>Schokoladenbrunnen</strong>.<br />

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» Können Lyriker Prosa schreiben?<br />

Nein, sagt das Vorurteil.<br />

Ja, beweist Ulrike Almut Sandig.«<br />

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Christoph Schröder, Spiegel Online<br />

Geschichten<br />

176 Seiten. Leinen<br />

€ 17,90 / [A] € 18,40 / SFR 31,50<br />

ISBN 978-3-89561-185-8<br />

Ulrike Almut<br />

Sandig<br />

Flamingos<br />

www.schoeffling.de<br />

Geschichten<br />

Schöffling & Co.<br />

Schöffling & Co.<br />

Photo: Nils Kinder


<strong>Tanja</strong> <strong>Dückers</strong> – <strong>Der</strong> <strong>Schokoladenbrunnen</strong><br />

Schokolade kann zu Sex führen. Schokolade steigert die Sozialkompetenz<br />

in Gruppen, speziell in Familien. Schokolade kann so<br />

ziemlich alles mit einem tun. So auch in dieser höchst amüsanten<br />

zartbitteren Geschichte aus Vollmilchschokolade von <strong>Tanja</strong><br />

<strong>Dückers</strong>, wo Friede und Fehde einer Familie ihren Anfang am<br />

Fuße eines <strong>Schokoladenbrunnen</strong> nehmen.<br />

Juli Zeh<br />

Feindliches Grün<br />

Sven<br />

Amtsberg<br />

Franz<br />

Kafka<br />

Auf der Galerie<br />

Meine Tage als<br />

Schriftsteller<br />

No. 6<br />

No.7<br />

No.10<br />

No. 6<br />

Juli Zeh<br />

No. 7<br />

Sven Amtsberg<br />

No. 10<br />

Franz Kafka<br />

Die besten Autoren Deutschlands<br />

ISBN 978-3-942212-05-2<br />

mit ihren besten Kurzgeschichten!<br />

USt-IdNr.: DE267634140<br />

www.literatur-quickie.de<br />

€ (D) 3,00<br />

€ (A) 3,10

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