Solidarität
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Artikel und<br />
Aufsätze<br />
<strong>Solidarität</strong><br />
- Gemeinsam trägt es!<br />
Hermann-Josef Grosse Kracht<br />
4020 Linz, Kapuzinerstraße 84<br />
Tel.: ++43(0)732/76 10 DW 3631 oder 3641<br />
E-Mail: mensch-arbeit@dioezese-linz.at<br />
KAB und Betriebsseelsorge OÖ<br />
www.mensch-arbeit.at
<strong>Solidarität</strong><br />
- Was ist das eigentlich?<br />
Hermann-Josef Grosse Kracht<br />
Alle reden gerne von <strong>Solidarität</strong>, aber kaum jemand fragt danach,<br />
woher dieser Begriff stammt und wie er einen so überwältigenden<br />
Eingang in die politisch-soziale Sprache unserer Zeit<br />
finden konnte.<br />
Zwischen moralischer Intuition und empirischer Deskription<br />
2<br />
Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war der Begriff der <strong>Solidarität</strong><br />
praktisch unbekannt. Erst im Kontext der 1848er-Revolution<br />
in Frankreich sollte die solidarité als moralischer Programmbegriff<br />
von sich reden machen. Damals avancierte das neue Wort<br />
bei einem christlichen Sozialisten wie Pierre Leroux (1797-1871)<br />
zu einer emanzipatorischen Leitidee sozialer Umgestaltung.<br />
Denn Leroux wollte die überkommene kirchliche Almosentradition<br />
durch die egalitäre Idee einer solidarité humaine ersetzen.<br />
Die Formel der <strong>Solidarität</strong> wurde in dieser Zeit aber auch von<br />
dem liberalen Publizisten Frédéric Bastiat (1801-1850), einem<br />
mächtigen Wortführer des laisser faire, in Anspruch genommen.<br />
Bastiat sprach von einem durch den freien Markt konstituierten<br />
‚Gesetz der <strong>Solidarität</strong>‘, denn die Marktgesellschaft sei nichts<br />
anderes als ‚ein Netz von verschiedenen, miteinander verbundenen<br />
Manifestationen von <strong>Solidarität</strong>‘ – und diese <strong>Solidarität</strong>en<br />
sorgten in anonymer Weise für eine harmonie économique, für<br />
gesellschaftlichen Wohlstand und individuelle Gerechtigkeit. Die<br />
Vokabel der <strong>Solidarität</strong> beschreibt bei Bastiat also real bestehende<br />
ökonomische Interdependenzen, deren Existenz unabhängig<br />
ist von den moralischen Absichten der beteiligten Wirtschaftssubjekte.<br />
<strong>Solidarität</strong> hat insofern weniger moralisch-ethische als<br />
soziologisch-deskriptive Konnotationen.<br />
In diesem moralfreien Sinne hatte schon Auguste Comte (1798-<br />
1857), der Begründer der modernen Soziologie, die Formel der <strong>Solidarität</strong><br />
als sozialwissenschaftliche Kategorie zur Beschreibung<br />
gesellschaftlicher Komplexität verwendet. Und Emile Durkheim<br />
(1858-1917) sollte dann in den 1890er Jahren die berühmte These<br />
aufstellen, dass arbeitsteilige Gesellschaften ihre Mitglieder<br />
‚zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer‘ machen. In dem<br />
Maße, in dem sich moderne Industrie- und Massengesellschaften<br />
hoch arbeitsteilig organisieren, kommt es für Durkheim nämlich<br />
nicht nur zu einem Anstieg des gesellschaftlichen Wohlstands,
sondern vor allem zur Zunahme sozialer Komplexität. Die funktionale<br />
Differenzierung mache die Gesellschaftsmitglieder einerseits<br />
immer individueller (etwa in den Chancen ihrer Berufswahl<br />
und ihrer Persönlichkeitsentfaltung), zugleich aber auch immer<br />
abhängiger voneinander, immer verstrickter miteinander (etwa<br />
beim Zugang zu Gütern und Arbeitsplätzen etc.).<br />
Demnach schaffen die modernen Prozesse funktionaler Differenzierung<br />
in einem gleichgerichteten Prozess komplexe soziale<br />
Ordnung ebenso wie hohe wechselseitige Dependenzen. Und dies<br />
bedeutet für den Einzelnen zwar immer weniger ökonomische<br />
Unabhängigkeit, zugleich aber auch eine deutlich höhere Chance<br />
zur personalen Selbstverwirklichung, wobei er über diese Chance<br />
allerdings nicht mehr allein und eigenverantwortlich verfügen<br />
kann. Durkheim hatte damit gewissermaßen einen ‚postliberalen‘<br />
sozialen Zusammenhang zur Sprache gebracht, der sich mit den<br />
gewohnten Vorstellungsmustern des politischen Liberalismus,<br />
der Freiheit und Abhängigkeit, individuelle Entfaltungschancen<br />
und soziale Bindungen nur als Gegensätze wahrnehmen kann,<br />
nicht mehr angemessen beschreiben lässt.<br />
3<br />
De facto-<strong>Solidarität</strong>en und universale Verantwortlichkeiten<br />
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass im Frankreich<br />
der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die – heute weithin<br />
vergessene – sozialpolitische Reformbewegung des republikanischen<br />
solidarisme einige Erfolge erzielen konnte. Ihr politischintellektuelles<br />
Haupt, der Jurist Leon Bourgeois (1801-1850),<br />
postulierte auf der Grundlage der zunehmenden de facto-<strong>Solidarität</strong>en<br />
moderner Gesellschaften eine ‚soziale Schuld‘ aller<br />
gegenüber allen. Und diese Schuldpflicht treffe in besonderer<br />
Weise diejenigen, die von den gesellschaftlichen <strong>Solidarität</strong>en<br />
überproportional profitieren, während die gesellschaftlich Benachteiligten<br />
zurecht Hilfs- und Unterstützungsleistungen erwarten<br />
könnten.<br />
Im französischen solidarisme der Jahrhundertwende wurden<br />
also erstmals die modernen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit<br />
mit den veränderten sozialstrukturellen Bedingungen hoch<br />
arbeitsteiliger Gesellschaften und der Notwendigkeit eines zwischen<br />
Arbeit und Kapital, Proletariat und Bourgeoisie vermittelnden<br />
Wohlfahrtsstaates – im Sinne eines Dritten Weges jenseits<br />
von Individualismus und Kollektivismus – zusammen gedacht.<br />
Und genau dieser eher soziologisch als ethisch, eher politisch als<br />
moralisch angelegte Begriff der <strong>Solidarität</strong> liegt auch dem <strong>Solidarität</strong>sprinzip<br />
der Katholischen Soziallehre zugrunde.
Von daher wird verständlich, warum ein Autor wie Oswald von<br />
Nell-Breuning SJ davor warnte, die <strong>Solidarität</strong> nur als einen reinen<br />
Tugendbegriff zu verwenden. Und so wird auch klar, warum<br />
Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika Sollicitudo rei socialis<br />
(1987) erklären konnte, dass <strong>Solidarität</strong> ‚nicht ein Gefühl vagen<br />
Mitleids‘ sei. Wenn ‚die gegenseitige Abhängigkeit in diesem Sinne<br />
erkannt wird‘, sei sie vielmehr ‚die feste und beständige Entschlossenheit,<br />
sich für das Gemeinwohl einzusetzen, weil wir für<br />
alle verantwortlich sind‘.<br />
Artikel von Herrn Prof. Hermann-Josef Grosse Kracht<br />
(E-mail: grossekracht@theol.tu-darmstadt.de) in der Zeitschrift<br />
des Sozialreferates der Diözese Linz „INTERESSE. Soziale<br />
Information“ Nr. 3/2010.<br />
HINWEIS<br />
4<br />
Zitieren aus diesem Artikel ist unter Hinweis auf den Autor und<br />
die Quellenangabe erlaubt, ein Gesamtabdruck des Artikels in<br />
einem öffentlichen Medium (z.B. Treffpunkt-Infoblatt) braucht<br />
die Einholung der Genehmigung des Autors (siehe E-mail oben).<br />
Bildnachweis:<br />
Stephanie Hofschlaeger /<br />
www.pixelio.de