SONNENGARTEN POST
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über dem Gotthardmassiv aufgetürmt hatten<br />
und die wie ein dunkles Heer langsam näherkamen.<br />
Ich ging zurück ins Hotel.<br />
Marko kam gegen sieben Uhr. Mit einem<br />
Schirm und bis zu den Knien nass.<br />
«Und?», sagte ich mit einem Augenzwinkern.<br />
«Willst du immer noch an die Rütli-Feier morgen?»<br />
Marko lachte, schüttelte den Schirm über mir<br />
aus und meinte: «Die Freiheit kennt kein<br />
schlechtes Wetter!»<br />
«O Gott», seufzte ich. Wir umarmten uns.<br />
«Du bist immer noch Italiener», sagte er.<br />
«Aber mit Schweizer Pass!», gab ich zu bedenken.<br />
«Ja, das auch. Aber in erster Linie bist du Italiener.»<br />
«Vielleicht.» Ich zuckte mit den Schultern.<br />
«Wenn ich einmal einen Schweizer Pass habe»,<br />
sagte Marko, «dann bin ich Schweizer. In erster<br />
und in zweiter Linie.» Er machte ein ernstes<br />
Gesicht, stand stramm und mimte einen militärischen<br />
Gruss.<br />
«Marko Stankovic, Schweizer!», witzelte ich.<br />
«Warum nicht? Was ist daran so lustig?»<br />
«Nichts. War nicht ernst gemeint. Sorry, Marko.»<br />
Der junge Bosnier hielt inne. Und für eine<br />
Sekunde sah ich in seinen Augen die Traurigkeit<br />
aller Heimatlosen. Der schamvolle Blick, der<br />
nach innen geht, weil einem das Mitmachen<br />
verwehrt, das Dabeisein nicht möglich ist.<br />
«Türkiylmaz ist auch Schweizer», gab ich zum<br />
Besten. «Und Martina Hinggis kommt auch<br />
nicht aus Altdorf.» Ich versuchte ein Lachen.<br />
«Sie heisst eigentlich Hingisová, wusstest du<br />
das?»<br />
«Nein, woher auch?» Ich wusste, dass fünfundfünfzig<br />
Millionen Italiener froh wären, wenn<br />
Andriy Shevchenko in der Squadra spielen<br />
würde. Mit Maldini, Totti und Vieri. «Wen<br />
kümmern schon Namen», sagte ich.<br />
«Im Sport vielleicht nicht, Luca. Aber hier<br />
schon. Ich habe manchmal das Gefühl, die<br />
Leute hängen den Zimmerschlüssel nicht ans<br />
Brett, weil sie meinen, ich stehle mich in ihr<br />
Zimmer und klaue ihnen die Wanderschuhe.»<br />
«Unsinn. Die vergessens einfach – nehmen den<br />
Schlüssel mit, weil sie zu doof sind. Oder<br />
vielleicht meinen sie auch, wir schliessen, wenn<br />
es dunkel wird.»<br />
«Meinst du?»<br />
«Klar.»<br />
Nachdem mir Marko grosszügigerweise den<br />
Schirm überlassen hatte, verabschiedeten wir<br />
uns. Ich schaffte es bis an die Bar von Timo<br />
Konietzka, trank ein grosses Glas Sangria und<br />
wünschte, es wäre ein Grog. Später kamen<br />
noch Giancarlo und Salvatore. Sie trösteten<br />
mich wegen der zwei Gegentore, die ich im<br />
Spiel gegen Lauerz letzten Samstag erhalten<br />
hatte. Wir machten uns gegenseitig Mut,<br />
dass es im Rückspiel besser laufen und Salvatore<br />
endlich wieder einmal ein Tor schiessen<br />
würde.<br />
Der nächste Morgen war grau, zu grau für<br />
einen Nationalfeiertag, fand ich. Auf meinem<br />
kurzen Weg ins Hotel fiel mir auf, wie kalt es<br />
geworden war. Die Schweizerfahnen, die man<br />
hier und dort schon am Vorabend auf Fenstersimsen<br />
und Balkonen angebracht hatte, hingen<br />
freudlos ins Trübe. Es war kurz nach halb acht.<br />
Ein erster Pulk Leute wartete am Schiffssteg;<br />
mit Proviantsäcken, Regenjacken und rustikalem<br />
Schuhwerk. Ich gähnte.<br />
«Ich gehe trotzdem», rief mir Marko schon von<br />
weitem zu und lachte.<br />
«Ja, ja», murmelte ich. «Aber der erste bist du<br />
nicht.»<br />
«Ich weiss.» Marko nahm den Rucksack, der<br />
bereits zugeschnürt neben ihm gelegen hatte,<br />
und streckte die Hand aus.<br />
Ich stutzte.<br />
«Der Ausweis», sagte er schmunzelnd.<br />
«Du brauchst keinen Ausweis für aufs Rütli.»<br />
Ich lachte.<br />
«Trotzdem – du hast es versprochen.»<br />
«Dann sag mir wenigstens weshalb …» Ich griff<br />
nach meinem Portemonnaie. «Ich meine …<br />
nicht dass du damit etwas anstellst.»<br />
«Nein, Ehrenwort! Du bekommst ihn heute<br />
Abend wieder zurück.»<br />
«Das hoffe ich …» Zwischen Mastercard und<br />
Führerschein zog ich das kleine Ding aus dem<br />
Lederetui. Links oben das Schweizerkreuz,<br />
daneben stand in den vier Landessprachen<br />
(und Englisch): Confederazione Svizzera. «Ist<br />
es eine Wette? Komm, sag es mir …»<br />
Marko nahm den Plastikfetzen, sah ihn sich<br />
lange an und sagte: «Weisst du was, Luca? Wir<br />
sehen ziemlich ähnlich aus, finde ich.»<br />
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