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Oskar Loerke Blauer Abend in Berlin Der Himmel fließt in steinernen ...

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Nichts von der erwarteten Klage oder Anklage! <strong>Der</strong> harte Lebenskampf, das R<strong>in</strong>gen des<br />

modernen Menschen um Raum und Licht, um Möglichkeiten zum Dase<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> den<br />

Relativsatz gedrängt, beiseitegeschoben - so wie der zu Ende gehende Tag mit se<strong>in</strong>er Arbeit<br />

und se<strong>in</strong>em Gedränge, und der <strong>Abend</strong> beg<strong>in</strong>nt für die Menschen mit sachtem Erzählen vom<br />

<strong>Himmel</strong>. Gehört das zum Feierabend, zur Feier des <strong>Abend</strong>s? Oder ist es e<strong>in</strong> besonderer<br />

<strong>Abend</strong>, der blau, also wolkenlos, über der Großstadt liegt? <strong>Der</strong> Titel des Gedichtes me<strong>in</strong>t das<br />

wohl. Und wovon erzählen die da unten, wenn sie vom <strong>Himmel</strong> sprechen? [...]<br />

Aber dieses Tun der Lebewesen lässt doch aufhorchen, und so kreist die zweite Hälfte des<br />

Gedichtes ganz um sie, <strong>in</strong>dem der Dichter nun e<strong>in</strong>e Deutung ihres Dase<strong>in</strong>s und Sose<strong>in</strong>s gibt.<br />

Wie das Enjambement zwischen Strophe 1 und 2 das Weiterwogen der <strong>Himmel</strong>swasser<br />

fühlbar macht, so fließt auch jetzt, vermittelt durch dieselbe Fügung, das konkret-gegenständliche<br />

Ausmalen und Aufzeigen sachte h<strong>in</strong>über <strong>in</strong> e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvoll-gedankliches Me<strong>in</strong>en. In<br />

fe<strong>in</strong>er metaphorischer Form, [...] wird der konkrete Bildbestandteil <strong>Himmel</strong> nun mit blauen<br />

Melodien umschrieben. Damit tut sich für unser dichterisches Bild e<strong>in</strong>e neue Dimension auf,<br />

das Wort des Dichters stößt <strong>in</strong> das „irreal-irrational H<strong>in</strong>tergründige der kosmischen Natur"<br />

vor. [...]<br />

<strong>Der</strong> erste der beiden folgenden Vergleiche macht das noch deutlicher. Dass die auf dem<br />

Boden Lebenden nur Bodensatz und Tand s<strong>in</strong>d, Strandgut, also abgesunken, weggeworfen<br />

von irgendwoher, könnte erschrecken lassen; aber ihr Aufgehobense<strong>in</strong> im willentlichen und<br />

verstandesmäßigen Lenken des Wassers (= <strong>Himmel</strong>) widerspricht dem Gedanken des<br />

Verloren-, Aufgegeben- oder Verdammtse<strong>in</strong>s. Es läßt vielmehr nur den Maßstab solchen<br />

Abwägens zwischen der re<strong>in</strong> menschlichen und kosmischen Sphäre erkennen und weiß mit<br />

solcher „Degradierung" oder demütigen Bescheidung zu versöhnen, weil sie <strong>in</strong> dem<br />

Offenbarwerden der Verb<strong>in</strong>dung gleichzeitig auch die Möglichkeit e<strong>in</strong>es Empor! im Geistigen<br />

bedeutet. [...]<br />

Noch stärker bricht dieses panische Erleben des Alls („Pansmusik" heißt<br />

bezeichnenderweise der spätere Titel der Sammlung von 1929, <strong>in</strong> der sich unser Gedicht<br />

f<strong>in</strong>det!) <strong>in</strong> dem Schlussvergleich auf: Die Menschen s<strong>in</strong>d wie grober bunter Sand / im l<strong>in</strong>den<br />

Spiel der großen Wellenhand. [...]<br />

E<strong>in</strong>es jedenfalls wird aus der Darstellung als Absicht des Dichters klar: Es geht ihm nicht um<br />

e<strong>in</strong> beklagenswertes Verlorense<strong>in</strong> des Menschen, um e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nloses Geworfense<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Nichts,<br />

von dem der Existentialismus ausgeht, sondern um die Erkenntnis, besser: das Gefühl des<br />

E<strong>in</strong>gebettetse<strong>in</strong>s im Universum, im Göttlichen, das freilich nicht als persönliches Wesen,<br />

sondern <strong>in</strong> zufriedener Allvermählung erlebt wird. [...]<br />

Bei aller schw<strong>in</strong>genden Musikalität der breit ausladenden <strong>Loerke</strong>-Verse br<strong>in</strong>gt aber das<br />

Gedicht ke<strong>in</strong> unverb<strong>in</strong>dliches Sich-Auflösen <strong>in</strong> kosmische Weiten, sondern lässt durch Inhalt<br />

und Gestaltung der Verse (straffe Baugesetze des Sonetts!) e<strong>in</strong> Wehen jenes<br />

„Ewigkeitsaroms" verspüren, um das sich das Schaffen unseres Dichters immer wieder<br />

bemüht.<br />

Lehmann: <strong>Blauer</strong> <strong>Abend</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> S. 77-80<br />

2. Interpretation<br />

Im Gegensatz zu den bekannten Großstadtgedichten des Expressionismus ersche<strong>in</strong>t der<br />

städtische Lebensbereich nicht <strong>in</strong> dämonisch verzerrter Un-natur, sondern als<br />

transformiertes, d. h. wieder <strong>in</strong> Natur zurückverwandeltes Dase<strong>in</strong>. Das Gedicht überw<strong>in</strong>det<br />

daher - durch e<strong>in</strong>e noch zu erläuternde Gestaltungsweise - die mit jeder<br />

Großstadtdarstellung lange Zeit verbundene negative Qualität der Entmenschlichung und<br />

erhält von hier aus se<strong>in</strong>e Bedeutung. Auf die Rückverwandlung der Stadt zur Natur vorweist<br />

schon der Titel: „<strong>Blauer</strong> <strong>Abend</strong>" ist hier e<strong>in</strong>e Chiffre für den über Berl<strong>in</strong> here<strong>in</strong>s<strong>in</strong>kenden<br />

<strong>Abend</strong>, der das vielfältige Mit- und Gegene<strong>in</strong>anderse<strong>in</strong> von Mensch und Bewegung <strong>in</strong> der<br />

Großstadt öffnet, entwirrt (vgl. 9. Zeile) und schließlich entspannt. Dieser Dreischritt von<br />

Öffnen, Entwirren und Entspannen des tagsüber verhärteten Großstadtdase<strong>in</strong>s bildet den

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