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Uri Weinblatt - Scham

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erhalten. Je stärker das <strong>Scham</strong>gefühl wird, desto stärker verschanzen sich die Parteien, und<br />

aggressive Verhaltensweisen treten öfter hervor. Dies wiederum fördert eine Spirale der Wut und<br />

<strong>Scham</strong>, aus der das Entrinnen sehr schwer fällt.<br />

In der Vergangenheit wurde das <strong>Scham</strong>gefühl anders betrachtet. Die klassische Autorität geht<br />

davon aus, dass es der Schüler ist, der die größeren <strong>Scham</strong>gefühle entwickeln wird. Wenn er den<br />

Forderungen des Lehrers unmittelbar nachgekommen ist, ersparte dies ihm die Erfahrung der<br />

Blöße. Heute ist die Situation jedoch anders, da das Lehrer-­‐Schüler-­‐Verhältnis gleichberechtigter ist<br />

und die Lehrer sich mehr und mehr mit dem Gefühl der Blöße und des <strong>Scham</strong>s auseinandersetzen<br />

müssen. Schüler haben gelernt, das sie auf unterschiedlichen Wegen just diese Gefühle beim Lehrer<br />

hervorrufen können und diese somit weiter an Autorität verlieren.<br />

Während meiner Arbeit an einer israelischen Schule beschwerte sich eine Englischlehrerin bei mir,<br />

dass sich ein Schüler wegen ihres Akzents über sie lustig macht. Da der Schüler ursprünglich aus<br />

den USA stammte, hatte er eine authentischere Aussprache als die Lehrerin, die aus Israel kommt.<br />

Jedes Mal, wenn sie den englischen Artikel „the“ aussprach, unterbrach er sie und rief ganz laut<br />

„nein“, was die gesamte Klasse zum Lachen brachte. Sie schämte sich so, dass sie diesen Vorfall für<br />

längere Zeit nicht weiter erzählte. Als sie mich dann doch um Rat bat, erkannte ich schnell, dass<br />

diese Erniedrigung unglaubliche, gegen den Jungen gerichtete Wut erzeugte. Also begangen wir im<br />

Laufe der Woche ein „Sit-­‐in“, an dem die Lehrerin, die Schulpädagogin, die Schulleiterin und<br />

natürlich auch der Schüler teilnahmen. Hier möchte ich darauf hindeuten, dass ein Sit-­‐in ein<br />

grundlegendes und gewaltfreies Eingreifinstrument der neuen Autorität ist und eine Form des<br />

Protests oder gar Lehrerpräsenz darstellt. In der Regel sitzen einige Lehrer mit einem Schüler für<br />

eine begrenzte Zeit zusammen. Das Sit-­‐in beginnt, in dem man den Schüler um eine Lösung für sein<br />

Verhalten bittet und so lange stillschweigend wartet, bis er antwortet. In diesen Situationen<br />

durchlaufen Lehrer als auch Schüler einige emotionale Wandlungen, die zu einer neuen<br />

Gefühlsbeziehung zwischen den beiden führen. In meinem Falle sagte die Lehrerin dem Jungen,<br />

dass er sie schon seit längerem im Klassenzimmer verspotte , sie aber wisse, dass er kein schlechter<br />

Mensch sei, sein Hohn sie aber dennoch tief verletze und er nun einen Weg finden solle, dies<br />

abzustellen. Während dieser Intervention gestand der Schüler ein, dass er nicht die Tragweite<br />

seines Humors verstanden hatte. Nach dieser Intervention hörte die Verspottung in der Tat auf.<br />

Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass die <strong>Scham</strong> den größten Schmerz hervorruft. Wir<br />

denken oft, dass Depressionen und Traurigkeit Auslöser von Selbstmordgedanken sind. Aber oft<br />

sind es die durch Erniedrigung und Demütigung ausgelösten <strong>Scham</strong>gefühle, die Menschen in den<br />

©<strong>Uri</strong> <strong>Weinblatt</strong>

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