Buchstabendelirien
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10<br />
konzentrierter Sorge, plötzlich anwesend bei aller Abwesenheit, ich sehe<br />
ihn vor mir, vorsichtig die Schritte setzend, Du über diese und über ihn<br />
wachend, ihn stützend, Arm und Arm, Mütterchen steht am Herd, in der<br />
Küche ist es nicht mehr kalt. Auch er stand am Herd, Ernst, wie oft, sah<br />
sein Auge leuchten, über neue Verse von Dir gebeugt, höre ihn noch sprechen,<br />
sein unvergeßlicher Ton, der Stimm- und Poesie-Akrobat, zu mir,<br />
jedoch nicht über sich, nicht über das Eigene, wie es Hölderlin meint, auch<br />
nicht über das Fremde als das Eigene einmal von Außen gesehen, wie es<br />
Max Frisch erfahren hat, sondern berauscht von Deinen sprachlichen Erfindungen,<br />
in denen Bewußtseinsfunken der Welt die Nacht des Vergessens<br />
so strahlend erhellen. Ich muß das aufsagen, möchte es von ihm rezitiert<br />
hören, dem Unnachahmlichen:<br />
es windet<br />
weisz, der<br />
Vogel<br />
knarrt im<br />
Wald –<br />
umhalsend<br />
zarte Fremdheit wenn<br />
die Knospe<br />
welkt<br />
Walter Hinderer<br />
Du hast es ja selbst auf den Begriff gebracht, was oft so begrifflos als Erinnerungsbild<br />
aufstrahlt: „Die Welt-Splitter werden konserviert und während<br />
der Arbeit homogenisierend eingebracht“ – wie künstliche Lebewesen,<br />
könntest Du sagen, hast Du gesagt. Ich denke dabei an Deinen Dreizeiler<br />
vom 21.2.1978:<br />
es sprieszen immerfort die sanften<br />
Toten aus Blume Baum Gebüsch und Wald / bald<br />
meinen Schatten wirft ein Fliederbaum<br />
Diese Zeile „mütterchen steht nicht am herd“ beschäftigte auch mich, wie<br />
sie Euch beschäftigt hat. Sie drückt wirklich „die verdammenswürdige, die<br />
entwürdigende Vergänglichkeit und Endlichkeit unseres Lebens aus, mütterchen<br />
steht nicht am herd – wohin ist sie gegangen“.<br />
Wie lassen sich die unnennbaren Tage zurückholen, die Erinnerungszeichen<br />
beleben und zur Gegenwart machen? Hatte er nicht diese sprachlichen