Fakten und Hintergründe
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Fakten und Hintergründe
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Foto: Barbara Stühlmeyer<br />
Seite 20 Karfunkel 100<br />
Der Quaternionenadler mit den Reichsständen als Symbol des Reiches (nach einem Holzschnitt<br />
von Hans Burgkmair d. Ä., 1510)<br />
Ein Reich zieht um:<br />
Die Vorgeschichte<br />
Es vergingen mehrere Jahrh<strong>und</strong>erte, bis<br />
das HRRDN jenen Namen erhielt,<br />
unter dem es heute bekannt ist. Seine<br />
Geschichte beginnt lange vor dem<br />
Datum, das man heute als Eckpunkt für<br />
seine Entstehung ansieht, der Kaiserkrönung<br />
Ottos I. am 2. Februar 962 in<br />
Rom. Gr<strong>und</strong>lage für die Entstehung des<br />
späteren Herrschaftsgebietes ist die<br />
Krönung des Frankenkönigs Karls des<br />
Großen zum Kaiser durch Papst Leo im<br />
Jahr 800. Kaiser zu sein bedeutete für<br />
Karl, sich in eine Traditionslinie mit<br />
den römischen Caesaren zu stellen.<br />
Damit dies gelingen <strong>und</strong> seinem Reich<br />
dauerhafter Bestand zugesprochen werden<br />
konnte, bedurfte es eines gedanklichen<br />
Konstrukts, um jene Kontinuität<br />
herzustellen, die politisch um 800<br />
höchst umstritten war.<br />
Denn Karl der Große war keineswegs<br />
der Einzige, der sein Reich als in<br />
der Nachfolge des Imperium Romanum<br />
stehend begriff. Dies taten neben <strong>und</strong><br />
gegen ihn auch die oströmischen Herrscher,<br />
die sich selbst in ebenjener Nachfolge<br />
sahen <strong>und</strong> ihre Hauptstadt Byzanz<br />
<strong>Fakten</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Hintergründe</strong><br />
In unserer Jubiläumsausgabe<br />
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Natürlich wissen die meisten<br />
von Euch sehr gut über<br />
das Heilige Römische Reich<br />
Deutscher Nation Bescheid.<br />
Weil es zu diesem Thema<br />
aber ganz besonders viel zu<br />
erzählen <strong>und</strong> zu entdecken<br />
gibt, fassen wir an dieser<br />
Stelle die wichtigsten <strong>Fakten</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Hintergründe</strong> noch<br />
einmal zusammen.<br />
als neues Rom bezeichneten.<br />
Karl hatte jedoch neben dem<br />
ehrenvollen Rückbezug auf<br />
die römische Herrschaftstradition noch<br />
einen weiteren Gr<strong>und</strong>, die Translatio<br />
Imperii, die „Übertragung des Römischen<br />
Reiches“ auf sein Herrschaftsgebiet<br />
zu präferieren. Der findige Gedanke<br />
von der Übertragung des Reiches<br />
von Rom nach Franken suggerierte<br />
nämlich, dass das Römische Reich niemals<br />
untergegangen, sein eigenes folglich<br />
kein neues Reich war. Auf diese<br />
Weise umging er die fatale Prophezeiung<br />
des Propheten Daniels, der nach<br />
dem Ende des vierten Weltreiches die<br />
Apokalypse, den Weltuntergang vorhergesagt<br />
hatte.
Karfunkel 100 Seite 21<br />
Ein Name mit einer langen Geschichte<br />
Ursprünglich hieß das HRRDN also<br />
einfach weiterhin „Römisches Reich“.<br />
Das, was wir heute unter dem Begriff<br />
verstehen, bildete sich während des<br />
10. Jahrh<strong>und</strong>erts unter der Herrschaft<br />
der ottonischen Kaiser aus dem zuvor<br />
karolingischen Ostfrankenreich. „Heiliges<br />
Reich“ oder Sacrum Imperium ist<br />
ein Ausdruck, der ab der Mitte des<br />
12. Jahrh<strong>und</strong>erts auf das Herrschaftsgebiet<br />
angewendet wurde. Der erste<br />
Quellenbeleg für den Begriff Sacrum<br />
Imperium findet sich 1157 in der Kanzlei<br />
Kaiser Friedrichs I., der einen guten<br />
Gr<strong>und</strong> für die Inanspruchnahme der<br />
Heiligkeit für sein Reich hatte. Er wollte<br />
mit dem Adjektiv nämlich seine Unabhängigkeit<br />
vom Papst betonen.<br />
Aus dem Jahr 1254 datiert der<br />
erste urk<strong>und</strong>liche Quellenbeleg für<br />
die Verwendung des Namens Sacrum<br />
Romanum Imperium, also „Heiliges<br />
Römisches Reich“, <strong>und</strong> erst im späten<br />
15. Jahrh<strong>und</strong>ert wurde Nationis<br />
germanicae, also „Deutscher Nation“<br />
hinzugefügt. Um Verwechslungen<br />
des HRRDN mit dem 1871 gegründeten<br />
Deutschen Reich zu vermei-<br />
den, nannte man Ersteres in der<br />
zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
auch das „Alte Reich“.<br />
Wer gehört dazu?<br />
Die Fläche <strong>und</strong> die Anzahl der Menschen,<br />
die im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte<br />
zum HRRDN gehörten, waren starken<br />
Schwankungen unterworfen. Waren es<br />
um 1000 circa 470000 Quadratkilometer,<br />
die zum Reichsgebiet gehörten –<br />
darunter das Ostfrankenreich, das<br />
Langobardenreich, Nord- <strong>und</strong> Mittelitalien<br />
sowie Burg<strong>und</strong> –, hatte sich<br />
diese Zahl in der Mitte des 11. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
bereits verdoppelt. Die Zahl der<br />
Bewohner wird mit 8–10 Millionen<br />
Menschen angegeben <strong>und</strong> wuchs bis<br />
zum Ende des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts auf 12–<br />
14 Millionen an. Deren Zusammensetzung<br />
war multikulturell, denn deutschsprachige<br />
Bevölkerungsgruppen, die<br />
verschiedene nieder-, mittel- <strong>und</strong> oberdeutsche<br />
Dialekte sprachen <strong>und</strong> je nach<br />
Region germanisch, keltisch oder römisch<br />
sozialisiert waren, gehörten<br />
ebenso dazu wie slawisch <strong>und</strong> romanisch<br />
sprechende Ethnien, aus deren<br />
Sprachen sich<br />
Französisch<br />
<strong>und</strong> Italienisch<br />
entwickelten.<br />
Im Osten gab es<br />
umgekehrt Regionen,<br />
die ursprünglich<br />
überwiegend<br />
baltisch besiedelt<br />
waren <strong>und</strong><br />
infolge der Ostsiedlung<br />
auch<br />
germanische<br />
<strong>und</strong> slawische<br />
Bevölkerungs -<br />
an teile erhielten.<br />
Die Königswahl Karls V. durch die sieben<br />
Kurfürsten (Stich von 1520)<br />
Die Grenzen des HRRDN waren im<br />
Mittelalter keineswegs h<strong>und</strong>ertprozentig<br />
klar definiert. An den Rändern des<br />
Reiches gab es deshalb mehr oder weniger<br />
breite Grauzonen, in denen umstritten<br />
war, welcher Herrscher das letzte<br />
Wort hatte. Und auch wenn ab dem<br />
16. Jahrh<strong>und</strong>ert die Grenzen des<br />
HRRDN ebenso wie diejenigen der anderen<br />
europäischen Staaten klarer umrissen<br />
waren, blieben einige Bereiche in<br />
loserer Verbindung mit dem Reich, weil<br />
sie zwar als zugehörig galten, sich aber<br />
nicht an politischen Prozessen beteiligten<br />
oder ihre lehnsrechtlichen Verbindlichkeiten<br />
ihnen andere hoheitliche Präferenzen<br />
nahelegten.<br />
Und wo verlaufen die Grenzen?<br />
Wie schwer die Festlegung der Grenzen<br />
fiel, zeigt ein Spaziergang über die<br />
Landkarte. Leicht fällt die Beantwortung<br />
Die Königswahl durch die Kurfürsten ist schon im Sachsenspiegel<br />
(um 1300) festgeschrieben. Oben: Die drei geistlichen Fürsten<br />
zeigen auf den König. Mitte: Der Pfalzgraf bei Rhein überreicht<br />
als Truchsess eine goldene Schüssel, dahinter der Herzog von<br />
Sachsen mit dem Marschallsstab <strong>und</strong> der Markgraf von Brandenburg,<br />
der als Kämmerer eine Schüssel mit Wasser bringt. Der<br />
König von Böhmen wird im Sachsenspiegel ausdrücklich nicht zu<br />
den Kurfürsten gezählt, weil er „nicht Deutsch spricht“.
Seite 22 Karfunkel 100<br />
der Frage nach der Grenze dort, wo sie<br />
durch geographische Gegebenheiten<br />
markiert ist, wie an der Nordseeküste<br />
<strong>und</strong> entlang der Eider, die das zum<br />
Reich gehörende Herzogtum Holstein<br />
vom Dänischen Lehen Schleswig<br />
trennt. Ebenso eindeutig ist die Lage im<br />
Südosten, wo Österreich unter der<br />
Enns, die Steiermark, Krain, Tirol <strong>und</strong><br />
das Hochstift Trient als habsburgische<br />
Erblande die Grenzziehung erleichtern,<br />
oder im Nordosten, wo Pommern <strong>und</strong><br />
Brandenburg dazuzählten. Auch Böhmen<br />
galt aufgr<strong>und</strong> der Tatsache, dass es<br />
kaiserliches Lehnsgebiet war, als<br />
Reichsteil, wenngleich die vorwiegend<br />
Tschechisch sprechende Bevölkerung<br />
sich dem Reich kaum verb<strong>und</strong>en fühlte.<br />
Strittig ist dagegen<br />
unter Historikern die<br />
Zugehörigkeit der<br />
Deutschordensgebiete.<br />
Das haben die Vertreter<br />
des HRRDN<br />
aber wohl anders gesehen,<br />
denn das Gebiet<br />
des Deutschen<br />
Ordens wurde bereits<br />
vor dessen Gründung<br />
in der Goldbulle von<br />
Rimini als Lehen des<br />
Kaisers angesehen –<br />
was sinnlos gewesen<br />
wäre, wenn es nicht<br />
zum Reich gehört<br />
hätte. Ebenfalls gegen<br />
diese Ansicht spricht<br />
der Beschluss des<br />
Augsburger Reichstages<br />
von 1530, der Livland<br />
in die Mitgliederliste<br />
aufnahm, sowie<br />
der anhaltende Wi der -<br />
stand des Reichstages<br />
gegen die Umwandlung<br />
des preußischen<br />
Or dens gebietes in ein<br />
polnisches Le hens -<br />
herzog tum.<br />
Ein Bei spiel für eine<br />
schlei chende Entfernung<br />
aus der Zugehörigkeit<br />
zum Reich sind<br />
die habsburgischen<br />
Niederlande auf den<br />
Gebieten des heutigen Belgien <strong>und</strong> der<br />
Niederlande, die zunächst Teil des<br />
HRRDN waren, mit dem Burg<strong>und</strong>i-<br />
schen Vertrag von 1548 bei bleibender<br />
Reichszugehörigkeit aber aus dessen<br />
Gerichtshoheit entlassen wurden. 100<br />
Jahre später, nach dem Dreißigjährigen<br />
Krieg, betrachteten sich die 13 nördlichen<br />
niederländischen Provinzen als<br />
nicht mehr zugehörig, ohne dass sich<br />
dagegen Widerspruch erhob.<br />
Auch im Südwesten gab es Gebiete<br />
mit wechselnden Zugehörigkeiten, wie<br />
die Hochstifte Metz, Toul <strong>und</strong> Verdun,<br />
die ab dem 16. Jahrh<strong>und</strong>ert unter Frankreichs<br />
Einfluss gerieten. Mitunter, wie<br />
im Falle Straßburgs, erhob sich Widerstand<br />
gegen die Annexion, der jedoch<br />
ergebnislos verlief, weil die ausgehobenen<br />
Truppen nach Wien umgeleitet wurden,<br />
um dort die Türken abzuwehren.<br />
Die Stände des Hl. Römischen Reiches (colorierter Kupferstich, 1606)<br />
Die Schweizer Eidgenossenschaft<br />
hatte sich seit dem Frieden von Basel<br />
1499 schrittweise aus der aktiven Reichs-<br />
politik zurückgezogen, so dass das Ausscheiden<br />
aus dem Verband 1648 nur mehr<br />
einen längst vollzogenen Prozess rechtlich<br />
bestätigte. Dass die Lösung der Verbindung<br />
keine Frage der geographischen<br />
Lage war, zeigt die rechtliche Anbindung<br />
des südlich der Schweiz gelegenen Herzogtums<br />
Savoyen bis ins Jahr 1801.<br />
Am schwierigsten erwies sich die<br />
Durchsetzung der Lehnshoheit des Kaisers<br />
in Reichsitalien. Die dortigen Gebiete,<br />
wie das Großherzogtum Toskana<br />
sowie die Herzogtümer Mailand, Mantua,<br />
Modena, Parma <strong>und</strong> Mirandola, waren<br />
nicht nur räumlich, sondern auch im Hinblick<br />
auf ihre Mentalität weit entfernt,<br />
was sich schon im 12. Jh. in dem letztlich<br />
ergebnislosen Bemühen Barbarossas um<br />
die Durchsetzung seiner Ansprüche<br />
in Italien zeigt.<br />
Zwischen allen Stühlen oder:<br />
Der notwendige Konsens<br />
Als Lehnsreich <strong>und</strong> Personenverbandsstaat<br />
war das<br />
HRRDN immer wieder von<br />
Spannungen zwischen den jeweils<br />
regierenden Königen<br />
<strong>und</strong> Kaisern, den Kurfürsten,<br />
den Herzögen <strong>und</strong> den anderen<br />
im Reichstag vertretenen<br />
Personen <strong>und</strong> Gruppen geprägt.<br />
Samuel Pufendorf, ein<br />
kritischer Historiker des<br />
17.Jh., bezeichnete es in seiner<br />
unter Pseudonym veröffentlichten<br />
Schrift „De statu imperii“<br />
nicht ganz zu Unrecht als<br />
irreguläres Monstrum eigener<br />
Art, zeigte es doch sowohl die<br />
Merkmale einer Monarchie als<br />
auch diejenigen einer Aristokratie,<br />
ohne sich einer der beiden<br />
Herrschaftsformen gänzlich<br />
zuordnen zu lassen.<br />
Die Herausforderung<br />
für die Aus übung einer erfolgreichen<br />
Herrschaft bestand,<br />
da die meisten Bürger keine<br />
direkten Untertanen des Kaisers<br />
waren, sondern sich in erster<br />
Linie dem ihnen näherstehenden<br />
Landesherren oder<br />
Magistrat verpflichtet fühlten, in der Herstellung<br />
eines Konsenses. Das Reich fungierte<br />
gewissermaßen als übergeordnete
Karfunkel 100 Seite 23<br />
Organisationsform,<br />
die einen<br />
ideellen Zusammenhaltbewirken<br />
<strong>und</strong> den<br />
mit den Kurfürsten<br />
<strong>und</strong> dem<br />
Reichstag vereinbartenGesetzen<br />
<strong>und</strong> Beschlüssen<br />
zur<br />
Durchsetzung<br />
verhelfen sollte.<br />
Die Kurfürsten<br />
<strong>und</strong> die im<br />
Reichstag vertretenenPersonenverbändeversuchtenihrerseits,<br />
eine möglichst<br />
große Unabhängigkeit<br />
zu<br />
erhalten <strong>und</strong> ihre Interessen bestmöglichst<br />
zu vertreten. Dabei hatte nicht jede Stimme<br />
dasselbe Gewicht. Wer wann warum<br />
wie viel zu sagen hatte, hing von seiner<br />
oder ihrer Stellung im hochdifferenzierten<br />
Geflecht der Reichsstände ab.<br />
Die Reichsstände<br />
Die Reichsstände entwickelten sich vom<br />
Mittelalter bis zum Beginn der Frühen<br />
Neuzeit, in der sie ihren endgültigen<br />
Umfang erreicht hatten. Zu ihnen gehörten<br />
geistliche <strong>und</strong> weltliche Personen<br />
<strong>und</strong> Korporationen, deren gemeinsames<br />
Merkmal war, dass sie keinem Landesherrn,<br />
sondern dem Kaiser direkt untertan<br />
waren <strong>und</strong> ihre Steuern an das Reich<br />
entrichteten. Sie alle hatten Sitz <strong>und</strong><br />
Stimme im Reichstag. Die geistlichen<br />
Fürsten nahmen insofern eine Sonderstellung<br />
ein, als sie eine Doppelrolle als<br />
Bischöfe <strong>und</strong> Landesfürsten spielten,<br />
was vor allem im Investiturstreit zu<br />
Konflikten zwischen Kaiser <strong>und</strong> Papst<br />
führte, weil jeder das Recht der Auswahl<br />
seiner engsten Mitarbeiter aus gutem<br />
Gr<strong>und</strong> für sich beanspruchte.<br />
Die Kurfürsten<br />
Die Kurfürsten leiteten ihren Namen<br />
von der Bedeutung des Wortes Kur =<br />
Wahl ab. Sie waren eine Gruppe von<br />
Das Reichskammergericht (1750)<br />
Foto: Barbara Stühlmeyer<br />
Reichsfürsten,<br />
die sich im<br />
Spätmittelalter<br />
herausgebildet<br />
<strong>und</strong> das Recht<br />
hatten, den<br />
Kaiser zu wählen,<br />
was ihnen<br />
eine Schlüsselstellungverlieh.<br />
In der<br />
Goldenen<br />
Bulle Karls IV.<br />
von 1356<br />
wurde drei<br />
geistlichen <strong>und</strong><br />
vier weltlichen<br />
Fürsten dieses<br />
Amt zugesprochen.<br />
Zu diesem<br />
erlauchten<br />
Kreis der Erz-<br />
bischöfe von Mainz, Köln <strong>und</strong> Trier<br />
sowie des Königs von Böhmen, des<br />
Markgrafen von Brandenburg, des<br />
Pfalzgrafen bei Rhein <strong>und</strong> des Herzogs<br />
von Sachsen zu gehören, strebten<br />
selbstredend auch andere Mächtige<br />
an, deren einem oder anderen im<br />
Laufe der Zeit auch gelang, seine Ansprüche<br />
geltend zu machen.<br />
Bis in die 1630er-Jahre nahmen die<br />
Kurfürsten, die ihre mitunter durchaus<br />
divergierenden politischen Vorstellungen<br />
auf regelmäßig stattfindendenKurfürstentagenbesprachen,<br />
eine beherrschende<br />
Stellung in<br />
der Reichspolitik<br />
ein. In<br />
den Jahrzehnten danach<br />
verstärkten sich<br />
die Bestrebungen<br />
der anderen Reichsstände,<br />
an der Macht<br />
teilzuhaben, dergestalt,<br />
dass die<br />
Reichstage aufgewertet<br />
<strong>und</strong> das Kurfürstenkolleg<br />
als<br />
gleichwohl weiterhin<br />
entscheidende<br />
Gruppe in diesen integriert<br />
wurde.<br />
Die Reichsfürsten<br />
Die Reichsfürsten waren der zweitmächtigste<br />
Stand, der sich aus all jenen Fürsten<br />
zusammensetzte, die ihr Lehen direkt<br />
vom König bzw. Kaiser erhalten<br />
hatten – ein Status, den man als „lehnsrechtliche<br />
Reichsunmittelbarkeit“ bezeichnet.<br />
Ebenso wie die Gruppe der<br />
Kurfürsten wurde auch die der Reichsfürsten<br />
von Personen geistlichen <strong>und</strong><br />
weltlichen Standes gebildet, einfache<br />
Adelige konnten durch Standeserhebungen<br />
in den Kreis der Reichsfürsten aufgenommen<br />
werden. Der Status des<br />
Reichsfürsten wurde in der Regel vererbt<br />
bzw. an den jeweiligen Amtsnachfolger<br />
weitergegeben. Dennoch zeigte<br />
sich in diesem Stand Regelungsbedarf,<br />
so dass der Augsburger Reichstag von<br />
1582 die Erhöhung der Anzahl der<br />
Reichsfürsten einschränkte, indem er<br />
beispielsweise verfügte, dass bei Erbteilung<br />
die Reichsstandschaft von den<br />
Erben gemeinsam ausgeübt werden<br />
musste <strong>und</strong> bei Erlöschen der Dynastie<br />
der neue Territorialherr die Reichsstandschaft<br />
übernahm.<br />
Wie die Kurfürsten bildeten auf den<br />
Reichstagen auch die Reichsfürsten eine<br />
Gruppe, den Reichsfürstenrat, der auch<br />
„Fürstenbank“ genannt wurde <strong>und</strong> sich<br />
in eine weltliche <strong>und</strong> eine geistliche<br />
Bank teilte. Wie differenziert das<br />
Gleichgewicht der Macht verteilt<br />
war, zeigt die Tatsache, dass eini-<br />
Landeskennzeichen<br />
„HRRDN“<br />
Das Heilige Römische Reich Deutscher<br />
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Foto: wikimedia commons (bast)<br />
Seite 24 Karfunkel 100<br />
ge weltliche Reichsfürsten aufgr<strong>und</strong><br />
der Größe der von ihnen beherrschten<br />
Territorien wesentlich mehr Einfluss<br />
entfalten konnten als die geistlichen<br />
Kurfürsten.<br />
Reichsprälaten <strong>und</strong> -grafen<br />
Der Stand der Reichsprälaten wurde<br />
von den Vorstehern der reichsunmittelbaren<br />
Kapitel sowie den Pröpsten,<br />
Äbten <strong>und</strong> Äbtissinnen der reichsunmittelbaren<br />
Klöster gebildet. Auch die<br />
Angehörigen dieser Gruppe bemühten<br />
sich, ihre Interessen gemeinsam zu<br />
vertreten, <strong>und</strong> bildeten das Schwäbische<br />
<strong>und</strong> das Rheinische Reichsprälatenkollegium,<br />
die auf den Reichstagen<br />
je eine Kuriatsstimme besaßen, die<br />
der Stimme eines Reichsfürsten<br />
gleichgestellt war. Die Reichsgrafen<br />
rekrutierten sich aus der großen Gruppe<br />
derjenigen, die über kleine, reichsunmittelbare<br />
Territorien herrschten<br />
oder als ehemalige Verwalter von<br />
Reichseigentum oder Stellvertreter<br />
des Königs zu kleinen Landesherren<br />
aufgestiegen wa ren. In der Frühen<br />
Neuzeit wurde ihre durch das Erlöschen<br />
einiger Adelsgeschlechter dezi-<br />
mierte Zahl<br />
durch NeuerhebungverdienterPersönlichkeiten<br />
in den<br />
Reichsgrafenstandvermehrt.<br />
Die<br />
Reichsstädte<br />
<strong>und</strong> -dörfer<br />
Die Reichsstädte<br />
<strong>und</strong> -<br />
dörfer verdanken<br />
ihre<br />
Sonderstellungebenfalls<br />
ihrer<br />
Reichs -<br />
unmittelbarkeit.<br />
Sie hatten<br />
keinen<br />
anderen<br />
Herrn als den Kaiser, auf dessen<br />
Gründung sie oft zurückgehen, weshalb<br />
sie juristisch den anderen Reichsterritorien<br />
gleichgestellt waren, deshalb<br />
aber nicht automatisch Sitz <strong>und</strong><br />
Stimme im Reichstag hatten. Ein<br />
Viertel der in der Reichsmatrikel von<br />
1521 erwähnten 86 Reichsstädte kam<br />
nicht in den Genuss der Mitgliedschaft.<br />
Hamburg beispielsweise erhielt<br />
erst 1770 Sitz <strong>und</strong> Stimme in<br />
dem erlauchten Kollegium.<br />
Von den Reichsstädten zunächst<br />
unterschieden waren die Freien Städte,<br />
die sich im Laufe des Mittelalters<br />
von ihren geistlichen Landesherren<br />
befreit hatten <strong>und</strong> dem Kaiser weder<br />
Steuern zahlten noch Heerfolge leisteten.<br />
Die heutige Verbindung beider<br />
Begriffe zum Terminus „Freie<br />
Reichsstadt“ geht auf die Bildung des<br />
Reichsstädtekollegiums im Jahr 1489<br />
zurück. Seine Stimme hatte im<br />
Reichstag allerdings nur ein geringes<br />
Gewicht <strong>und</strong> musste bei sogenannten<br />
„Reichsfürstlichen Angelegenheiten“<br />
gar nicht gehört werden.<br />
Foto: wikimedia commons (bast)
Karfunkel 100 Seite 25<br />
Die Reichsdörfer gehen auf<br />
die im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert aufgelösten<br />
Reichsvogteien zurück,<br />
durften sich selbst verwalten,<br />
verfügten über die niedere,<br />
teilweise sogar über die höhere<br />
Gerichtsbarkeit <strong>und</strong> wa ren<br />
allein dem Kaiser un terstellt.<br />
Der Reichstag<br />
Der Reichstag war die höchste<br />
Rechts- <strong>und</strong> Verfassungsinstitution<br />
des HRRDN <strong>und</strong><br />
trug als Gremium der Konsensfindung<br />
<strong>und</strong> Gesetzgebung<br />
maßgeblich zum Erhalt<br />
des Reiches bei. Seine Einsetzung<br />
gilt als Folge der Reformen<br />
des 15. <strong>und</strong> späten<br />
16. Jahrh<strong>und</strong>erts. Dass es auch<br />
bei dieser Institution vorrangig<br />
um das Gleichgewicht der<br />
Kräfte ging, wird aus der Änderung<br />
der Einberufungsmodalitäten<br />
deutlich: Ursprünglich lag es<br />
allein in der Macht des Kaisers, den<br />
Reichstag einzuberufen; ab 1519 war er<br />
jedoch verpflichtet, die Kurfürsten zuvor<br />
von seiner Absicht in seinem „Ausschreiben“<br />
genannten Einladungsschreiben<br />
in Kenntnis zu setzen <strong>und</strong> ihre Zustimmung<br />
zur Einberufung zu erbitten.<br />
Zunächst eine wandernde Institution,<br />
die sich in verschiedenen Reichsstädten<br />
versammeln konnte, wurde der Reichstag<br />
ab 1663 zu einer immerwährenden<br />
Versammlung in Regensburg. Dem lag<br />
allerdings kein bewusster Entscheid zugr<strong>und</strong>e;<br />
es war einfach so, dass die sich<br />
auch sonst über Wochen <strong>und</strong> Monate<br />
hinziehenden Verhandlungen nicht mehr<br />
aufhörten <strong>und</strong> die Verhandlungsführung<br />
nun schrittweise in die Hände von professionellen<br />
Vertretern übergeben wurde<br />
– eine Vorform der Berufspolitiker. Die<br />
Entscheidungsfindung blieb aufgr<strong>und</strong><br />
der einander oft widersprechenden Interessenlagen<br />
aber schwierig. Es war daher<br />
eine große Herausforderung, die gefassten<br />
Beschlüsse auch durchzusetzen,<br />
zumal das Konsensprinzip galt <strong>und</strong> einzelne<br />
Reichsstände sich der Durchsetzung<br />
eines Beschlusses in ihrem Gebiet<br />
durch vorzeitige Abreise entziehen<br />
konnten. Hatten sie nämlich nicht zugestimmt,<br />
mussten sie dem Beschluss auch<br />
nicht folgen. Die Durchsetzung der<br />
Reichs tagsbeschlüsse gegen mächtige<br />
Reichstagsmitglieder blieb also kompliziert,<br />
vor allem in Religionsfragen, die<br />
nach der Reformation zeitweise die Diskussionen<br />
dominierten.<br />
Recht <strong>und</strong> Frieden<br />
Eine weitere Folge der Reformen des<br />
15. <strong>und</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>erts war die Einrichtung<br />
der Reichskreise, deren vorrangige<br />
Aufgabe die Aufrechterhaltung<br />
von Recht <strong>und</strong> Ordnung auf mittlerer<br />
Ebene war. Sie sollten den Ewigen<br />
Landfrieden, der 1495 in Worms verkündet<br />
worden war, durchsetzen helfen,<br />
Konflikte niederschwellig lösen <strong>und</strong><br />
Störer des Landfriedens richten. Auch<br />
die Verkündigung <strong>und</strong> Durchsetzung<br />
der Reichsgesetze wurde den Reichskreisen<br />
übertragen, deren erste sechs<br />
auf dem Reichstag von Augsburg im<br />
Jahr 1500 eingerichtet wurden. Zwölf<br />
Jahre später wurden die zunächst ausgesparten<br />
Kurfürstentümer <strong>und</strong> die österreichischen<br />
Erblande ebenfalls in<br />
diese Regelung einbezogen. Sie bildeten<br />
nun weitere vier Reichskreise. Einige<br />
Reichsteile, wie das Kurfürstentum<br />
<strong>und</strong> Königreich Böhmen, die Schwei-<br />
zerische Eidgenossenschaft oder einzelne<br />
Herrschaften wie z.B. Jever blieben<br />
von dieser Regelung ausgenommen.<br />
Das Reichskammergericht<br />
Das Reichskammergericht wurde parallel<br />
zur Verkündigung des Ewigen Landfriedens<br />
im Jahr 1495 eingerichtet <strong>und</strong> war<br />
von da an bis zum Ende des HRRDN im<br />
Jahr 1806 neben dem Reichshofrat das<br />
oberste Gericht des Reiches. Zu seinen<br />
Aufgabengebieten zählte die Durchführung<br />
geregelter juristischer Verfahren, die<br />
nach <strong>und</strong> nach die nachbarschaftlichen<br />
Fehden <strong>und</strong> Kriege ersetzen sollten. Ein<br />
geradezu demokratisches Element war<br />
die Funktion des Reichskammergerichtes<br />
als Appellationsgericht, an dem die<br />
Untertanen auch Prozesse gegen ihre jeweiligen<br />
Landesherren führen konnten.<br />
Der Sitz des Reichskammergerichtes war<br />
Frankfurt a.M. bast<br />
Literaturhinweise:<br />
Axel Gotthard: Das Alte Reich 1495–1806, Darmstadt 2003<br />
Peter Claus Hartmann: Das Heilige Römische Reich deutscher<br />
Nation in der Neuzeit 1486–1806, Stuttgart 2005<br />
Klaus Herbers, Helmut Neuhaus: Das Heilige Römische Reich<br />
– Schauplätze einer tausendjährigen Geschichte (843–1806),<br />
Köln-Weimar 2005<br />
Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurther: Heilig, Römisch,<br />
Deutsch. Das Reich im mittelalterlichen Europa, Dresden 2006<br />
Barbara Stollberg Rillinger: Das Heilige Römische Reich<br />
Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806,<br />
München 2006<br />
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