Wirtschaftswoche-Reportage „Betteln und Buhlen“, 34/2010
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Unternehmen&Märkte | SerieDemografie (II) { Ford-Fabrikwerk }<br />
» Projektchefin Sina Hattesol leitet daraus<br />
ab, dass der demografische Wandel<br />
eine Herausforderung für die Führungskräfte<br />
ist: „Führung spielt eine enorme<br />
Rolle. Das Technische liegt uns, aber die<br />
Einbeziehung der Mitarbeiter ist extrem<br />
wichtig.“<br />
Dass sich derEinsatz für alle Beteiligten<br />
lohnt, steht für die Demografiespezialistin<br />
nach einem Jahr Test fest. Die Produktivität<br />
der Mitarbeiter an der umgemodelten<br />
Fertigungslinie stieg, Fehlerquote<br />
<strong>und</strong> Fehlzeiten sanken.„Wirtschaftlichkeit<br />
<strong>und</strong> Ergonomie sind nicht per se<br />
ein Zielkonflikt“, betont sie. „Die Regeln<br />
derProfitabilität werden beachtet.“<br />
BMW setzt die inDingolfing gewonnenen<br />
Einsichten deshalb jetzt schrittweise<br />
um:Inder Lackiererei in Leipzig, dem<br />
Karosseriebau in Regensburg <strong>und</strong> der<br />
Motorenmontage ist schon einiges anders.<br />
Helmut Mauermann, der bei dem<br />
Projekt als Leiter Montage dabeiwar <strong>und</strong><br />
nun zum Leiter Wertschöpfungsorientiertes<br />
Produktionssystem aufgestiegen ist,<br />
weiß, dass esnoch ein langer Weg sein<br />
wird,umüberall beiBMW altersgerechte<br />
Arbeitsplätze einzurichten. „Es gibt zu<br />
wenige Übersetzer, die den Werkern die<br />
wissenschaftlichen Erkenntnisse vermitteln<br />
können“,klagt er.<br />
Irgendwann gehen die Älteren aber<br />
tatsächlich inRente <strong>und</strong> drohen, unwie-<br />
derbringbares Know-how mitzunehmen.<br />
Um diesen Wissensverlust zu verhindern,<br />
hatderAnlagenbauerABB in Mannheim<br />
einen Versuch gestartet, der Teil seines<br />
Demografieprojektes „Generations“ ist.<br />
Zunächst dokumentiert die Personalabteilung<br />
akribisch die Tätigkeiten, die<br />
ein Mitarbeiter verrichtet, sowie seine<br />
Fertigkeiten. Sodann werden die Positionen<br />
mehrere Monate oder sogar über<br />
ein gesamtes Jahr lang doppelt besetzt,<br />
bevorein Mitarbeiteranstrategisch wichtiger<br />
Stelle in den Ruhestand entschwindet.<br />
Die Kosten der Doppelbesetzung<br />
werden aus dem Personalentwicklungstopf<br />
von jährlich r<strong>und</strong> 30Millionen Euro<br />
bestritten.<br />
DOPPEL GEGEN KNOW-HOW-VERLUST<br />
Die ABB-Manager in Mannheim graust<br />
es schon jetzt, wenn sie an die Zukunft<br />
denken: Bis 2026 gehen über50Prozent<br />
der r<strong>und</strong> 10 000-köpfigen Belegschaft<br />
in den Ruhestand, weil der Altersdurchschnitt<br />
gegenwärtig schon bei über 45<br />
Jahren liegt. Der absehbare Know-how-<br />
Verlust droht allen Abteilungen bis zur<br />
Chefetage.<br />
Vorreiter <strong>und</strong> Vorbild des „Generations“-Projekts<br />
bei ABBwar deshalbHeinz-<br />
Peter Pfaffenholz persönlich, der bis Ende<br />
2007Arbeitsdirektor <strong>und</strong> als Vorstandsmitglied<br />
verantwortlich für Automationstech-<br />
Ältere<br />
ProduktivkraftErfahrung<br />
HerbertDeister, 54, beweist, wielernfähig<br />
ältere Beschäftigte sein können. Als 2002<br />
seindamaligerArbeitgeberaufgab, wurde<br />
der Industriemeister Elektrotechnik ausder<br />
westfälischen Kleinstadt Schwalenberg<br />
arbeitslos. Daraufhin sattelte derdamals<br />
47-Jährige eine Schulungzum Mechatroniker<br />
beiPhoenix Contact im benachbartenBlomberg<br />
drauf,dortwoseinSohn gerade eine<br />
Ausbildungzum Konstrukteurabsolvierte.<br />
DenLehrherrn desFilius überzeugte das<br />
Engagement so sehr, dass er 2004 entschied,<br />
denVater fest anzustellen. Seitdemnutzt das<br />
Unternehmen dessenErfahrung. Deister wurde<br />
Ausbilder fürMetallberufe.Nun bringt er<br />
denNachwuchskräftennicht nur unablässig<br />
neue Technikenbei,zum Beispiel die Arbeit<br />
mitder neuen Lasermaschine in derLehrwerkstatt,<br />
sondernmuss denUmgangmit<br />
solchen Anlagenselberlernen –was ihmdank<br />
seinerVorkenntnissestets schnell gelingt.<br />
nik war. Ein Jahr lang trat ermit seinem<br />
Technik-Nachfolger im Gespannauf, bevor<br />
Pfaffenholz seinen Abschied nahm.<br />
Gegenwärtig gibt es mehr als 20 solcher<br />
Duos bei ABB. Eines bilden seit<br />
April 2008 Jürgen Zipp <strong>und</strong> Patrick Berbner.<br />
Gemeinsam sind sie für das Controlling<br />
in derVerwaltungzuständig, schauen<br />
sich dieZahlen <strong>und</strong>Fakten vonStabsfunktionen<br />
wie Recht <strong>und</strong> Steuern an<strong>und</strong> arbeiten<br />
dem Geschäftsbericht zu. Der<br />
58-jährige Zipp startet im November mit<br />
demFreizeitblock seinerAltersteilzeit. Bis<br />
dahinwirdersein gesammeltes Wissenan<br />
seinen 35-jährigen Nachfolger weitergegeben<br />
haben.<br />
Zurzeit sitzen die beiden in Büros mit<br />
einer Verbindungstür <strong>und</strong> arbeiten die<br />
selbst verfasste Übergabe-Checkliste ab.<br />
Da sich jeder von ihnen für Fußball <strong>und</strong><br />
Leichtathletik interessiert <strong>und</strong> sportlich<br />
aktiv ist, fanden sie schnell eine Wellenlänge.<br />
Der Junge <strong>und</strong> derÄltere schaffen<br />
es, „offen einzugestehen, wenn sie etwas<br />
nichtverstehen“, sagt Berbner.<br />
Offenheit, nicht Tabuisierung scheint<br />
dieVoraussetzung zur Lösung derProbleme,die<br />
derdemografischeWandelbringt.<br />
„Ein Teil derUnternehmen isthier auf gutem<br />
Weg“, sagt Berater Berblinger, „die<br />
Mehrheit muss sich aber noch heftig umstellen.“<br />
■<br />
ruth lemmer |unternehmen@wiwo.de<br />
FOTOS: FRANK REINHOLD FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
FOTO: LUDWIG SEIBERT<br />
Arthrose <strong>und</strong>Bypass<br />
Ford sorgtdafür,dassges<strong>und</strong>heitlich angeschlagene<br />
Werker anspruchsvolle Montagearbeiten verrichten können.<br />
SorgsamfährtMario Gisonna, 48,<br />
mitden Fingern über den schwarzen<br />
Farbstreifen, den er an der Fahrerseite<br />
des Ford Focus angebracht<br />
hat. Derkünftige Besitzer des Fahrzeugs<br />
wünscht, dasssichsein Auto vonanderen<br />
abhebt. DerZierstreifen sitzt, <strong>und</strong>Gisonna,<br />
der Franzosemit den italienischen Eltern,<br />
istzufrieden.<br />
Insgesamt 1920 Fahrzeuge der Serien<br />
Focus <strong>und</strong>Kuga werden täglich im Ford-<br />
WerkSaarlouis in drei Schichten gebaut.<br />
Beir<strong>und</strong> 400 Autoshaben Ford-Fans Sonderwünsche:<br />
Spoiler oder Rallye-Streifen,<br />
Anhängerkupplungoder Sicherheitstrennnetze,<br />
Blaulicht oder Taxischilder,<br />
Flüssiggastanks oder Extra-Bremsen für<br />
Fahrschulen. Derteilweisekomplizierte<br />
Einbau würdedie Arbeit am Band verlangsamen<br />
<strong>und</strong> deutlich verteuern.<br />
ÄLTERE UNTER SICH<br />
Deshalb hat das Ford-Management an der<br />
Saar entschieden, gezieltMitarbeiter wie<br />
Gisonna für solche Tätigkeiten abzustellen<br />
<strong>und</strong> sieineiner gesonderten Halle, der<br />
FCSD-Halle, unterzubringen. Dievier<br />
Buchstaben stehen für Ford Customer Service<br />
Division, also für Ford-K<strong>und</strong>endienst-<br />
Abteilung.<br />
UndGisonna stehtfür 104 Kfz-Schlosser<br />
<strong>und</strong>Auto-Elektriker der besonderen<br />
Sorte. Sie allesind erfahreneWerker mit<br />
langerFord-Geschichte –<strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heit-<br />
lichen Malaisen.Gisonna etwaerlitt nach<br />
20 Jahren in der Lackiererei <strong>und</strong> sechs<br />
Jahren als Testfahrer einen Herzinfarkt<br />
<strong>und</strong> mussteeine Bypass-Operation über<br />
sich ergehen lassen. Seitdem muss er bei<br />
der Arbeit etwas langsamer treten. Sein<br />
Kollege Guiseppe Capizze,55, kann nach<br />
mehrerenKnieoperationen <strong>und</strong>bleibender<br />
Arthrose weder lange stehen noch<br />
dauerndsitzen.<br />
Aufsolche ges<strong>und</strong>heitlichangeschlagenen,aber<br />
erfahrenen<br />
<strong>und</strong> fähigen Facharbeiter will Ford<br />
auf keinen Fall verzichten. Um sie<br />
richtig einzusetzen, erließ der<br />
Konzern für dieFCSD-HallebesondereRegeln.<br />
„Wir setzen die<br />
Mitarbeiter so ein,wie siearbeiten<br />
können“,sagt Meister Michael<br />
Zeimet.„Es geht reell zu.“<br />
Daserfordert eineandereArbeitsorganisation<br />
als am Band.Immer zu Schichtbeginn<br />
gleichen dieFührungskräfteinder<br />
Halle dieMontageaufträgemit den anwesenden<br />
Mitarbeiternab: Asthmakranke<br />
dürfennicht an diePlätze, wo siemit Klebstoff<br />
hantieren würden; wergerade einen<br />
Bandscheibenvorfallüberstanden hat,<br />
sollte sichnicht bücken müssen. DieFehlzeitenquote<br />
liegt bei 6,9Prozent, dieindi-<br />
Ford Focus mitSonderausstattung<br />
Ältereübernehmen komplexe Aufgaben<br />
SERIE<br />
Chefsache<br />
Demografie (II)<br />
viduelle Abwesenheitder Mitarbeiter in der<br />
Halle konnte aber um 35 Prozentverringert<br />
werden. Da jeder Werker einzelne<br />
kompletteAufträge erledigt, wird dieGesamtproduktion<br />
zudem dadurch weniger<br />
aufgehalten.<br />
Die Ford-Manager haben keineSozialarbeitgeleistet,<br />
als sie dieFCSD-Halle einrichteten<br />
<strong>und</strong> dieSonderarbeiten 2005 von<br />
externen Firmen zurück ins eigene Werk<br />
holten. Siehaben lediglich genau nachgerechnet.<br />
„Ein Mann, dernur rumsteht, ist<br />
immer noch derteuerste Mitarbeiter“, erklärtSaarlouis-Werkleiter<br />
Karl Anton mit<br />
simpler Logik. „Heute istesnicht mehrdamit<br />
getan, Taktzahleninden Businessplan<br />
zu schreiben, manbetrachtet dasGanze.“<br />
Unddazu gehörtauch, beiknapperem<br />
Arbeitskräfteangebot denwirtschaftlichen<br />
Einsatz eingeschränkter,<br />
aber wertvollerBeschäftigter<br />
erfolgreich zu organisieren.<br />
ROUTINE SCHLÄGT JUGEND<br />
DieAutowerker in der FCSD-Halle<br />
bei Ford in Saarlouis machen mit<br />
ihrem Know-how wett, wassie<br />
beimArbeitstempo vielfachnicht<br />
mehrschaffen.Dabei erinnertihre<br />
Tätigkeit an dieArbeit in einergroßen Kfz-<br />
Werkstatt. Jederholtsichsein Fahrzeug<br />
aufdem Parkplatz ab, montiertoder klebt,<br />
wasder Auftragszettel verlangt, lässtseine<br />
Arbeit kontrollieren <strong>und</strong> bringt den Wagen<br />
zurück.<br />
Kommt ein neues Extraauf den Markt,<br />
erarbeiten eineProzessingenieurin, der<br />
Hallenleiter <strong>und</strong> ihr Meister Zeimet ein Modellfür<br />
den Arbeitsablauf. Die Mitarbeiter<br />
probierendie Prozesse dannaus, <strong>und</strong> die<br />
Zeitstudienabteilungüberprüft, ob alles im<br />
Kostenrahmen liegt <strong>und</strong> wo es Rationalisierungsreserven<br />
gibt. Sind Hilfswerkzeuge<br />
entwickelt <strong>und</strong>die Arbeitsschritte optimiert,<br />
entwickeln dieKalkulatoren schließlich<br />
eineVorgabe, wieviel Zeit dieWerker<br />
für die Arbeit benötigen dürfen.<br />
400 weitereFord-Mitarbeiter haben<br />
sich für Jobs in der FCSD-Halle beworben<br />
–eine lange Liste. Denn natürlichist der<br />
Zeitdruck hier geringer als am Band.Doch<br />
das Privileg mussten sich diegegenwärtigen104<br />
FCSDler mitüberdurchschnittlichen<br />
Fertigkeiten erarbeiten. „Nacheiner<br />
Probezeitvon zwei Wochen haben schon<br />
mancheKollegenden Rückzug angetreten,<br />
weil ihnen dieArbeit handwerklichzu<br />
komplex war“,sagt Hallenleiter Hubert<br />
Bachmann.<br />
ruth lemmer |unternehmen@wiwo.de<br />
54 Nr.<strong>34</strong>I23.8.<strong>2010</strong> IWirtschaftsWoche<br />
WirtschaftsWoche I23.8.<strong>2010</strong> INr. <strong>34</strong> 55<br />
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