Was ist linkshändiges Tantra? - Helmut Poller

Yab-Yum in eine verdichtete, geerdete Form, dadurch das grundlegende Mandala derfünf (Visualisations-) Buddhas widerspiegelnd in Form von Menschen aus Fleisch undBlut, diese fünf Frauen bilden den Ausgangspunkt heute noch existenterÜberlieferungslinien. Er verbringt viele Jahre meditierend auf Leichenstätten, um dasMerkmal der Vergänglichkeit aller Phänomene ständig im Gewahrsein zu halten (einewesentliche Lehre schon des nicht-tantrischen Urbuddhismus). Er übt jede Form vonMagie, die im Indien seiner Zeit bekannt war (später auch von Nepal, Bhutan, Tibet undanderen Ländern), er unterwirft jede Art von schadenbringenden Dämonen und macht siezu Schützern der buddhistischen Lehren. Die Sache mit den fünf Frauen klingt ein wenignach spirituellem Macho, aber es gibt alles umgekehrt. In der Biografie von YesheTsogyal, der tibetischen Gefährtin von Padmasambhava, gibt es sogar eine Stelle, woYeshe Tsogyal Menstruationsblut aus der Yoni einer anderen Yogini saugt, um ihreLebenskraft zu stärken. Viele solche seltsame Stellen gibt es unerwarteterweise in denbuddhistischen Tantras, man müsste sie nur lesen.Viele von den frühen Mahasiddhas (siehe zum Beispiel die Biografien der 84Mahasiddhas) verhalten sich ebenso auf "linkshändige" Weise, ebenso die früherenMeister von Dzogchen. Garab Dorje, der Gründer des Dzogchen, ist das Kind einerNonne (also durch einen schwerwiegenden Tabubruch gezeugt), nach der Geburt wird ervon ihr auf einem Misthaufen (Exkrement!) abgelegt, auf diesem setzt sich das Kind aufund lehrt die Dzogchen-Lehren, den radikal kurzen Weg zur Nondualität. Die Weisheits-Bewusstheitseinweihung (die dritte in einem System von vier Einweihungen derAnuttara-Tantras) ist in der originalen Form ein sexueller Ritus.Das Ganachakra-Ritual, in vieler Hinsicht ähnlich dem ursprünglichen Hexensabbat, istein sexueller Ritus mit etlichen Frauen und Männern, die sich berauschen, singen undtanzen und sich vereinigen (wobei es sich keineswegs um "beliebige" Vereinigungenhandelt, siehe weiter unten).All das sind Merkmale der höchsten Tantra-Klassen, Anuttara-Tantra, Maha-, Anu-, undAti-Yoga, klar beschrieben in den Quelltexten, wohlweislich fast vollständigverschwiegen von den tibetischen Lamas, da geht es immer nur um endloses, niemalsfertig werdendes "Reinigen von den Geistesgiften" - genau den Dingen, die der Vāmācārasinnvoll zu verwenden weiß.In der Mutter-Tantra-Klasse (einer Unterklasse des Anuttara-Tantra) gibt es sogar zehnspezielle Regeln, welche "linkshändiges Verhalten" geradezu fordern (es ist dort wörtlichvon "linkshändig" die Rede). Ähnliches gilt in 25 Zweig-Regeln von Padmasambhava(bilden zusammen mit den drei Wurzel-Regeln von Körper, Rede und Geist 28Verhaltensregeln, die für alle Mandalas von Maha-yoga und Anu-Yoga relevant sind),dort heißt es wörtlich, dass die fünf Geistesgifte Ich-Anhaftung, Hass, Gier, Stolz undNeid nicht unterdrückt werden dürfen - eben weil sie für den Pfad genutzt werdenkönnen.Der orthodoxe, so betrachtet "rechtshändige" Buddhismus war genauso patriarchalischgeprägt wie der orthodoxe Hinduismus. Gerade die Mutter-Tantras setzen hier einlinkshändiges Gegengewicht.Helmut Poller helmutpoller.eu 8