13.07.2015 Aufrufe

Vortrag Dr. Leidinger vom 16.01.2013 - LVR-Klinik Viersen

Vortrag Dr. Leidinger vom 16.01.2013 - LVR-Klinik Viersen

Vortrag Dr. Leidinger vom 16.01.2013 - LVR-Klinik Viersen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Das Schicksal der polnischenPsychiatrie im 2. Weltkrieg unterdeutscher Besatzung -Vom Krankenmord zum Holocaust<strong>Vortrag</strong> im Rahmen des psychiatrischenWeiterbildungskurrikulums<strong>LVR</strong>-<strong>Klinik</strong> <strong>Viersen</strong>, 16. Januar 2013Friedrich <strong>Leidinger</strong>


„Tag für Tag kamen Lastkraftwagen zur Anstalt gefahren. Auf einen wurdenjeweils sechzig Kranke geladen. Es kamen mindestens zwei Fahrzeuge. Sie habensie irgendwo in die Gegend von Jeżewo gebracht und dort im Wald erschossen.(...) Die Liquidation dauerte etwa fünf, sechs Tage. Die übrigen Kranken, es waren350 bis 370, wurden nach Kocborowo transportiert, wo sie auch erschossenwurden. Aus dem Munde eines Deutschen, der ein gutes Verhältnis mit den Polenunterhielt und für ein Gläschen Wodka viel erzählte, habe ich <strong>vom</strong> Verlauf derExekution erfahren, bei der dieser Deutsche anwesend war. Er erzählte, dassjeweils drei Kranke aus dem Fahrzeug geführt und in den Hinterkopf geschossenwurden.Danach wurde mit der Liquidation des Kinderpavillons begonnen. Die Kinderhaben sich gefreut, dass sie mit einem Auto fahren, indessen wurden sieerschossen. Die Kinder wurden auf folgende Weise ermordet. Erst wurden sie alleauf eine Wiese gelassen und anschließend wurde auf sie geschossen wie beimScheibenschießen.“Aussage des Pflegers Aleksander Zielonka über die Ermordung von 1.000 Patienten des psychiatrischenKrankenhauses in Świecie <strong>vom</strong> 10. bis 20. September 1939 durch den Volksdeutschen “Selbstschutz” und SS-Wachsturmbann Kurt Eimann.(Prozess gegen Gauleiter Albert Forster)


September 1939– Erstschlag gegendie psychisch KrankenPsychiatrisches Krankenhaus Świecie• 10.-17. September 1939: “Liquidation”durch SS und “Volksdeutscher Selbstschutz”.• Pflegeheim für deutsche Aussiedleraus der Sowjetunion.KocborowoŚwiecie


Kocborowo - Ein Krankenhauserfährt die „Deutsche Ordnung“5. September 1939:• Neuer Direktor: Waldemar Schimansky“Siemens”• Neuer Name: “Conradstein”• Verbot polnisch zu sprechen• 22. September 1939 bis 21. Januar 1940:Selektion und Exekution von 1.692 Patienten (SS)• Hungersterben• Verkauf von Leichen an Prof. Spanner’sAnatomisches Institut in DanzigŚwiecieKocborowo• Über 7.000 Leichen im Spęgawski Wald


In diesem <strong>Vortrag</strong> erfahren Sie,• dass psychisch Kranke in Polen die ersten Opfer derdeutschen Verbrechen in Europa waren.• dass die Vergasungstechnik des „Holocaust“an polnischen Psychiatriepatienten entwickelt wurde.• dass Erinnerung an die weitgehend ungesühntenVerbrechen von Ärzten, Beamten und Soldaten einwichtiger Anstoß zu ethischer Reflektion undinternationaler Verständigung ist.


Deutschlands Kriegsziel –die endgültige Vernichtung Polens• Polen sind „rassisch Fremde’“, die man „abkapseln“ muss, umdie „Zersetzung deutschen Blutes“ zu verhindern.• Rücksichtslose Unterdrückung jeglicher patriotischerRegung.• Liquidation der Führungsschicht (Beamte, Offizieren,Kleriker, Wissenschaftler, Politiker, Intellektuelle).• „Absondern“ der Polen von deutschen Siedlungsgebieten.• Totale Ausbeutung der Polen für die deutschenökonomischen und militärischen Interessen.• Vernichtung der polnischen Juden.


„Germanisierung“ und „Kolonisierung“Ausrottung des Polentums in„Danzig – Westpreußen”(deutscher Bevölkerungsanteil vor dem Krieg 30%)„Reichsgau Wartheland”(deutscher Bevölkerungsanteil vor dem Krieg 6%)• Erschießungen, „Volksliste”,Vertreibung von Polen und Juden in das GG• Ansiedlung von „Volksdeutsche” aus der Sowjetunion(Baltische Staaten, Wolhynien, Ukraine …)Eine deutsche Kolonie im„Generalgouvernement“• Polen: bedingtes Lebensrecht(nur als Arbeitskräfte).• Juden: kein Lebensrecht(vorläufig in „Ghettos“ zu isolieren und zu töten).


Verlauf des Krieges in Polen1.9.1939 -8.10.1939• Septemberfeldzug;Deutscher Überfall undInvasion• (ab 17.9.1939) sowjetischeInvasion in Ostpolen8.10.1939 • Deutsche Besatzung von-Westpolen22.6.1941 “Reichsgau Danzig-Westpreußen”;‘Wartheland’;Generalgouvernement (GG);• Sowjetische Besatzung vonOstpolen22.6.1941- Frühjahr1944Frühjahr1944 -Frühjahr1945Deutsche Besatzungvon ganz PolenDeutscher Rückzug undBesetzung durch sowjetischeTruppen


Ein Patchwork des TerrorsTerroristischeKriegführungMassenexekutionen“SS-Einsatzgruppen”“Aktion T4” “Intelligenzaktion” StraßenrazzienVernichtungder Juden“Generalplan Ost”“Aktion Reinhard”Ghettos für diejüdischeBevölkerungKonzentrationslager“SS-SonderlaboratoriumHimmlerstadt”


Grundmuster der „Liquidierung”von Krankenhäusern im „Wartheland”• Zentrale Organisation;• „Einsatzgruppen” (SS), unterstütztvon „Volksdeutscher Selbstschutz“;• Selektion und Transport der Patienten zu einemErschießungsort;• Erschießen für Kopfprämie von 10 Reichsmark


Entwicklung einer neuenTötungstechnik• November 1939: Exekution von Patienten ausOwińska/ „Treskau” mit Gas im Bunker desForts VII Poznań/Posen.• Verwendung von Kohlenmonoxidgas (CO) inStahlflaschen, beschafft durch August Becker„T4”-Organisation.• Seit Dezember 1939: „SS-SonderkommandoLange” verfügt über einen umgerüsteten LKWmit der Aufschrift „Kaisers Kaffee Geschäft”,dessen Abgase in den Laderaum geführtwerden.• Ab 1940 wird Owińska/ „Treskau” als SS-Kaserne genutzt.


Die Gaswagen in Aktion• Dziekanka/ „Tiegenhof”– bis Januar 1940: 1.043 Patienten;Juni 1941: 158 Patienten– Einzeltötungen mit Giftinjektionen– Scheinfriedhof und Sterberegister• Kościan/ „Kosten”– 15.-22. Januar 1940: 297 Frauen, 237 Männer– Feldlazarett der Wehrmacht– 2 Pavillons arbeiten weiter als psychiatrischesKrankenhaus– Aufnahme von Tausenden von Patienten ausDeutschlandOwińskaDziekankaKościanWartaSoldauKochanówka


Örtliche Besonderheiten• Kochanówka– 1940 – 1941: Über 2.200 Patienten aus Lodz.– Entlassene Patienten „zur Behandlung“ einbestellt.– teilweise genutzt als Seuchenkrankenhaus undPflegeheim.• Warta/ „Wartha”– 1.-4. April 1940: 499 polnische und jüdischePatienten.– 14.700 RM für die „Evakuierung“ demKrankenhaus in Rechnung gestellt.– Tausende Patienten aus West- undNorddeutschland aufgenommen.– Einführung von EKT– Exzessiv hohe Sterblichkeit• Lager „Soldau”/Działdowo– 1.550 Patienten aus verschiedenen ostpreußischenAnstalten und Heimen.– Streit um die Rechnung über 15.500 RM.OwińskaKościanDziekankaWartaSoldauKochanówka


Ab Dezember 1939:„SS-SonderkommandoLange” operiert mit speziellumgerüsteten „Gaswagen“im „Wartheland”November 1939:Psychisch Kranke mitCO-Gas in Fort VIIPoznan ermordet.August 1939:Beamte und Wissenschaftlerder „T4“-Aktion entscheidensich für Giftgas CO)Von der „Euthanasie”zum „Holocaust”Ab Juni 1941:Einsatz von „Gaswagen“und „Gaskammern“ inBelarusJanuar 1940 bis August 1941:„T4” Aktion in Deutschland;70.000 Psychiatriepatientenwerden in 6 „Vergasungszentren“ermordet.24. August 1941:„Vergasungsstopp“November 1941 - April 1943:“SS-Sonderkommando Lange”betreibt ein Vernichtungslagerin Kulmhof (Chełmno nadNerem)Ab August 1942:„T4”-Personal setzt seineKarrieren in den Lagernder „Aktion Reinhard” -Treblinka, Sobibór, Bełżec,Majdanek – fort.


Das besondere Losder jüdischen Kranken• “Ghetto Litzmannstadt” (Lodz)Arbeitslager für 160.000 Menschen.– Totale Ausbeutung der Humanressourcen– 2.600 Krankenhausbetten(!)– Transport <strong>vom</strong> Krankenhaus zum Vernichtungs-lager “Kulmhof” (Chełmno nad Nerem)• Konzentration der jüdischen Kranken des GG imKrankenhaus „Zofiówka” in Otwock.Erschießung aller noch Lebenden bei der „Liquidierung“des „Ghettos“ Otwock im Sommer 1942.KulmhofOtwock


Deutsche Gesundheitspolitikim „Generalgouvernement”• Lebensmittelexport ins Reich – Hunger im GG• Amtlicher Bericht zur GesundheitsversorgungSeptember 1941:• die meisten Polen haben weniger als 600 Kcal täglich• Mangelernährung der Zivilbevölkerung (Polen)begünstigt Seuchen: Gefahr für die Wehrmacht• Juden sind Überträger gefährlicher Bakterien• Psychisch Kranke sind „unnütze Esser”• Erschießen oder Verhungern lassen?


Psychiatrische Krankenhäuserim GeneralgouvernementChełm Lubelski• 12. Januar 1940 “Liquidation” durch SS– Personal muss heraus– Alle Patienten werden im Hof erschossen(300 Männer, 124 Frauen und 17 Kinder)• Nutzung als SS-Kaserne• Pseudoregister für “T4”-Aktion (Chełm II) Chełm


Kobierzyn• 1940: 501 Hungertote• Transport von 91 jüdischen Patientennach Zofiówka im Sept. 1941• 22. Juni 1942: 535 Patienten in Zug „nach<strong>Dr</strong>ewnica”; 30 in ihren Betten vergiftet.• Herbst 1942: Brief der Reichsbahn trifftim neuen Erholungsheim Kobierzyn der„Hitler-Jugend” ein.Inhalt: Rechnung für den Patiententransportnach Auschwitz-Birkenau.Kobierzyn


Kulparków (Lwów/Lemberg)Sowjet. Besatzung bis 22. Juni 1941• Verhaftung und Ermordung vonDirektor <strong>Dr</strong>. Sochacki durch NKWD• Zuflucht für jüdische Psychiater aus Warschauund KrakauDeutsche Besatzung von 22. Juni 1941bis Mai 1944• August 1943: <strong>Dr</strong>. Rohde aus Galkhausen(Rheinprovinz) wird Direktor• Zahlreiche Zugänge deutscher Patienten2000Patientenzahl821253Jun 41 Mai 42 Jan 43Kulparkow


Lubliniec (Lublinitz; „Loben”)• <strong>Dr</strong>. Ernst Buchalik neuer Direktorab September 1939• November 1941: „Kinderfachabteilung”zusammen mit <strong>Dr</strong>. Elisabeth Hecker• Abteilung A: intensive Diagnostik und Therapie• Abteilung B: „Niederführen” der Kinder;194 von 256 (= 76%) sterben.• Exzessive Sterblichkeit in allen Abteilungen.Lubliniec


Warschau: Krankenhaus der• Psychiatrisches Krankenhausim Herzen der Altstadt• konspirativer WiderstandBarmherzigen Brüder• Nachbarschaft zum “Warschauer Ghetto” (1939 – 1943)• Feldlazarett während des Warschauer Aufstands(August – September 1944)• Völlige Zerstörung durch die SS


• Wilno/Vilnius– Psychiatrie im JüdischenKrankenhaus– Psychiatriepatienten im November1941 zusammen mit denBewohnern des Ghettos vonlitauischen Milizen erschossen.• Choroszcz (Białystok)– bis 1941: Deportation vonPatienten in Sowjetunion– Juni 1941: Liquidation derFamilienpflege– ab Juli 1941:KriegsgefangenenlagerChoroszczWilno / Vilnius


Ethisches Dilemmader Psychiater in Polen:Bei den Patienten ausharren oderdas eigene Leben retten?• Verluste: Mehr als 100 Psychiater(50 % der Polnischen Psychiatrischen Gesellschaft):– Ermordet in „Intelligenzaktion”;– Ermordet zusammen mit Patienten;– Tod nach Deportation in den sowjetischen Gulag oderExekution des NKWD („Katyn”).• Widerstand, bewaffneter Kampf.• Das besondere Schicksal jüdischer Psychiater.


Bilanz• 13.000 - 20.000 psychisch Kranke wurdenermordet.• Dabei sind die Hungertoten nicht mitgezählt.• 6 Millionen Zivilpersonen (1/5 der Bevölkerung)- davon 3 Millionen Juden – wurden ermordet.


Keine vergessenen Opfer in Polen• Sehr frühe Wahrnehmung der Krankenmorde alsbesonderes Verbrechen der deutschen Okkupanten.• Z. Jaroszewski (1945) Poln. Psychiatriekongress• S. Lem (1948): Das Krankenhaus der Verklärung• J. Radzicki, J. Radzicki (1967/1975):Forschung über Meseritz• Z. Jaroszewski (1982): 1. Publikation in Deutschlandüber die Krankenmorde im Osten• Z. Jaroszewski (1993)• T. Nasierowski (2008)


nach demKrieg:Verdrängung, Verleugnung -das Schweigen wird gebrochen.keine Kontakte zwischen polnischen unddeutschen Psychiatern.1985: Internationaler Kongress in Krakau:“Krieg, Okkupation – und Medizin”.(Prof. Józef Bogusz)1987: Studienreise von 27 westdeutschen Psychiatern nachPolen an Schauplätze der „Euthanasie“ im ehemaligenOstdeutschland und besetzten Polen.1. deutsch-polnisches Psychiatrie-Symposium in Krakau.1990: Delegation der DGPPN in Krakau.„Polen haben keine Standards”.


Deutsch-Polnischer Dialogauf dem Gebiet der Psychiatrie• 1990: Gründung der Deutsch-PolnischenGesellschaft für Seelische Gesundheitin Münster• deutsch-polnische Partnerschaften fürKrankenhäuser und andere psychiatrischeEinrichtungen• deutsch-polnisch-israelischer israelischer Dialog• Publikationen und Tagungen• 2000: Deutsch-Polnischer Preis für besondereVerdienste um die deutsch-polnischenBeziehungen.


Ich danke den polnischen Ärzten,die mit ihrer Großherzigkeitdiesen <strong>Vortrag</strong> ermöglicht haben.Józef Bogusz (1904 – 1993)Zdzisław Jaroszewski (1906 – 2000)Stefan Leder (1919 – 2003)Maria Orwid (1930 – 2009)Andrzej Piotrowski (1931 – 2001)Adam Szymusik (1931 – 2000)


Besonderer Dank anTadeusz Nasierowski+ Andrzej CechnickiFriedrich <strong>Leidinger</strong>, <strong>Viersen</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!