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Leseprobe als PDF - Der zweite Atem

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Steffen GerzSteffen Gerz / Freitag, 1. Dezember 2006Ich habe in der letzten Woche vieles nach langer Zeit zumhatte. Zwischendrin liege ich wach und denke darüber nach,was das alles bedeuten könnte, aber nicht unbedingt muss.Meine Freundin hat einen leichten Schlaf, ich beichte ihr, wasseit dem Nachmittag mit mir passiert, sie tut das, worauf ichhoffe, sie relativiert meine Panik mit allerlei sinnlosen Erklärungen,allerdings besteht sie darauf, dass ich zu einemArzt gehe.Wir beide sprechen in dieser Nacht nicht aus, was unsererbeider größte Angst ist, sagen uns aber im Nachhinein, dassuns beiden diese Nacht wie unsere letzte auf Erden vorgekommenist.Am Morgen wappne ich mich und gehe einfach blind zum erstenArzt, den ich finden kann, ich bin erst vor einem Monatvon Düsseldorf, wo ich gerade mein Studium abgeschlossenhabe, in diese Stadt gezogen. <strong>Der</strong> erste Arzt, den ich finde,ist eine Ärztin. Sie hält Hof in der schmuddeligsten undkleinsten Praxis, die ich jem<strong>als</strong> gesehen habe und wirkt imGanzen mehr wie ein altes Kräuterweiblein denn eine moderneMedizinerin. Sie hört sich meine Beschwerden an, hörtmeine Brust ab und entscheidet dann, ich solle mich röntgenlassen. Mit unverwechselbarem siebenbürgener Akzentgibt sie mir zu verstehen, dass es viele Ursachen für meineBeschwerden gibt, man aber sichergehen sollte und schicktmich weiter zum Pulmologen.Hier fällt bei der Röntgenuntersuchung der Satz, der denschlimmen Gedanken, den ich bereits gestern nicht zu Endezu denken gewagt habe, noch mehr Substanz verleiht: „Da isteine Auffälligkeit, Herr Gerz.“ Mein letzter Gedanke bevormich die Lungenfachärztin endlich in ihr Sprechzimmer ruftist noch: „Wenn man wirklich was hat, dann lassen Die einendoch nicht zwanzig Minuten hier herumsitzen und warten,bis Sie einem was sagen.“… Frazier scheint in Zeitlupe aus dem Boden zu wachsen,sowieso der wesentlich kleinere Mann der beiden, macht ersich noch kleiner. Von unten kommend setzt er zu einemschulbuchmäßigen linken Haken an. Seine Kraft kommtaus den Füßen, übersetzt sich über die Beine, Hüfte undOberkörper und mündet in dieser mörderischen linkenFaust, die bereits solche Größen wie Jimmy Ellis und GeorgeChuvalo ausgeknockt hat. Ali ist in diesem Moment nichtfähig zu handeln, er sieht den Schlag nicht kommen, vielleichtfühlt er ihn. In diesem Moment, dieser Sekunde, stehendie beiden da, <strong>als</strong> hätte man die Essenz des K.-o.-Schlagesgenommen und in Bronze gegossen: Ali seinem verpasstenSchlag hinterhersinkend, leicht nach vorne gelehnt die RechteHand im Sinken begriffen, ein Kämpfer der mitten imAngriff den Todesstreich erhält, Frazier ein aus den Untiefender Hölle auftauchender Dämon, der ganze Körper gestrecktwie ein von der Bogensehne abgehender Pfeil, der linke Hakenüber Alis sinkenden Arm hinweg unaufhaltsam auf denvollkommen ungeschützten Kiefer zurasend …<strong>Der</strong> Mann mit den absurd riesigen, von seinem Kopf ineinem 45°-Winkel abstehenden Ohren und dem struppigengrauen Bart spricht mit mir, aber wie in einem schlechtenHollywood-Film sehe ich nur, wie sich seine Lippen bewegen,aber höre nicht, was er spricht. Etwas in mir zwingt michdazu, mich auf seine nikotingelben, langen Nasenhaare zukonzentrieren, die beim Atmen leicht zittern.Ich bin in einem Klinikum in der Nähe von Heilbronn. Ichhabe gerade nach insgesamt dreistündigem Warten eineComputertomographie meiner Brust machen lassen und bekommegerade die Ergebnisse mitgeteilt. Etwas fasst meinenArm an, meine Freundin steht da, sie ist ganz blass und siehat Tränen in den Augen.

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