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Serres’ durchaus idealisierendes Pamphlet beschäftigt sich nicht mit der Kehrseite der digitalen Vernetzung. Es ist vor Bekanntwerden der NSA-Überwachungsskandale verfasst und stellt sich auch nur indirekt dem sogenannten kognitiven Kapitalismus. Die Schrift hat das Ziel, in der medialen Revolution Möglichkeiten ahierarchischer, auf Austausch zielender Wissenszirkulation aufzuzeigen und die einer solchen Verstreuung entsprechenden Strukturen auf allen Gebieten zu fordern; sie gehen bei Serres bis hin zur Re-Form und Re-Organisation sämtlicher Anstalten und Institutionen, die Wissen anwenden und produzieren. Als Beispiel sei die Herkunft des Campus genannten Disziplinarzusammenhangs erwähnt; dass ein solcher räumlich zentrierter Verbund in Vernetzungszeiten nicht länger angemessen ist, erklärt sich aus der historischen Genese des Konzepts aus dem römischen Castrum. Castrum hieß die Organisationsform eines römischen Militärlagers, entsprechend ist die Ordnung hierarchisch, übersichtlich, kontrollierbar. Personifizierte und zentralisierte Wissensdichte steht ahnungsloser Peripherie gegenüber. Serres macht Unterschiede innerhalb seiner Überblicksdarlegung, die alle Felder der menschlichen Existenz streift. Seine Differenzierungen sind meist feiner sprachlicher Natur, wenn er zum Beispiel einen zuträglichen Einsatz von Wissen postuliert und diese Zuträglichkeit abhebt von einer einträglichen Wissensverwendung. In der Zuträglichkeit verbindet sich das metaphorische Feld mit Ökologie, Arbeitersolidarität und humanitären Zielen, in der Einträglichkeit kommt die schiere ökonomische Dimension von Verwertbarkeit zum Ausdruck: Glück – Gewinn – Glück – Gewinn. Für unseren Ort des Nachdenkens, eine Kunsthochschule mit ihren zwei Hauptarten von Praktiken (und deren Mischung), der bildnerischen und der theoretischen Praxis, scheinen mir zwei von Serres’ Überlegun- gen besonders diskussionswürdig: sein Zweifel an der Notwendigkeit, weitere abstrakte Begriffe in den Raum zu stellen, und sein Plädoyer für nicht-disziplinäre, nicht in Studienschwerpunkten konzentrierte Auseinandersetzungen: »Wir haben keinen zwingenden Begriffsbedarf. Wir können so lange wie nötig bei den Erzählungen, bei den Beispielen und Singularitäten, bei den Sachen selbst verweilen. Praktisch wie theoretisch ist diese Neuerung die Ehrenrettung derjenigen Weisen des Wissens, die der Beschreibung und dem Individuellen verpflichtet sind. Gleichzeitig lässt das Wissen den Modalitäten des Möglichen und des Kontingenten, des Singulären ihre Würde.« 6 Und es heißt auch provokativ: »Die erfinderische Intelligenz bemisst sich an der Distanz zum Wissen.« 7 Sowie: »Raum der Zirkulation, des Umherlaufens, diffuser Oralität, Bewegungsfreiheit, Ende der klassifizierenden Klassen, disparate Verteilung, Serendipität der Erfindung, Geschwindigkeit des Lichts, Neuartigkeit der Subjekte wie der Objekte, Suche nach einer anderen Vernunft … […].« 8 Herausgegriffen sei die Oralität, die das Regime des Schriftseitenformats stürzt und Sprechen von oben herab in einen Anspruch von unten transformiert. Bewegen wir uns jedoch nicht auf der wissenstheoretischen und wissenschaftspolitischen Ebene, so gilt es mit Serres, »bei den Beispielen und Singularitäten, bei den Sachen selbst [zu] verweilen« 9 (Bruno Latour, Serres’ berühmtester Schüler, hat in einem wichtigen Aufsatz die Ab- 6 Serres, Liebeserklärung, 44. 7 Serres, Liebeserklärung, 34. 8 Serres, Liebeserklärung, 45. 9 Serres, Liebeserklärung, 44. 26 BUT TODAY WE COLLECT LINKS 27 HANNE LORECK