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11.2013<br />
Elektronische Lebensaspekte<br />
Musik, Medien, Kultur & Selbstbeherrschung<br />
#freshdeepsupersounds<br />
Jonsson & Alter, Omar<br />
Souleyman, Gesaffelstein, M.I.A.<br />
Netzkritik<br />
Warum das Internet<br />
lieber doch anbleiben soll<br />
Das Breakbeat-Revival<br />
Nostalgie mit Amen-Break: Om Unit,<br />
Special Request, Tessela, Pangaea<br />
<strong>177</strong><br />
D 4,- €<br />
AUT 4,- €<br />
CH 8,20 SFR<br />
B 4,40 €<br />
LUX 4,40 €<br />
E 5,10 €<br />
P (CONT) 5,10 €<br />
COVER: christian werner<br />
bring<br />
the<br />
toys!<br />
Spielzeug wird lebendig
ild casey richardson<br />
<strong>177</strong> — bug1<br />
LIEBE USERINNEN,<br />
LIEBE USER,<br />
in diesem Herbst haben wir gespielt. Ohne Pause, die<br />
ganze Zeit. Zwischendurch blickten wir auf, brüllten<br />
ein lautes "Uugah" mit Gesaffelstein. Oder folgten den<br />
steinalten Fährten der Drums. Wie immer eigentlich.<br />
Nur einer fragte sich: Was soll der ganze Scheiß eigentlich!?<br />
<strong>De</strong>r Kampf gegen die Hochkultur, das Nachdenken,<br />
die ewige Reflexion, die Suche nach dem tieferen Sinn<br />
und die verrückte Idee dem Contemporary auch heute<br />
wieder einen Schritt voraus zu sein. Die selbstausgebeutete<br />
Putzkolonne richtet nun einen mehr als zehn Jahre<br />
ver- und belebten Redaktionsschreibtisch neu her. Das<br />
Personalkarussell dreht sich und Thaddeus Herrmann<br />
sucht nach 88.873 Reviews und vielen tollen Texten das<br />
bessere Morgen an anderer Stelle. Wir verneigen uns<br />
und sagen Ahoi.<br />
Die Welt ist eine Scheibe,<br />
die Redaktion<br />
cargocollective.com/caseyrichardson 3
<strong>177</strong> — index<br />
Spielzeug<br />
10<br />
Spielen ist totale Freiheit. Das Playhard/Work-hard-Diktum<br />
haben wir<br />
beiseite geschoben, um klare Sicht<br />
auf das Spielzeug der Zukunft zu<br />
haben. Zwischen Konsole, Theorie<br />
und Gadget-News daddeln wir uns<br />
den Weg frei.<br />
28 Jonsson<br />
/Alter:<br />
Weitsicht,<br />
die zweite<br />
30 Omar<br />
Souleyman:<br />
syrien auf acid<br />
26 Computer<br />
Chess:<br />
check mate,<br />
du schaltkreis!<br />
Die Schweden haben endlich den Nachfolger zu ihrem<br />
fantastischen ersten Album fertig. Im Portrait geben<br />
Jonsson/Alter klarsichtige Statements zur Authentizitätsfalle<br />
in der elektronischen Musik.<br />
<strong>De</strong>r syrische Volkssänger als Hipster-Posterboy der<br />
Revolution? No way. Anlässlich Souleymans neuer Platte,<br />
die vom Engländer Four Tet produziert wurde, erzählen<br />
wir seine Geschichte.<br />
Kriegsschauplatz Schachbrett: Ein außergewöhnlicher<br />
Dokumentarfilm über den Kampf zwischen<br />
Mensch und Maschine. Nebenbei eine Charakterstudie<br />
des Nerds an sich.<br />
4
<strong>177</strong><br />
index<br />
STARTUP<br />
03 − <strong>Bug</strong> One: Editorial<br />
KRITIK<br />
08 − Zoff um Morozov: Mal wieder die Netzkritik<br />
SPIELZEUG<br />
12 − Claus Richter: "Supertoys"<br />
14 − Zwischen den Welten: Runter vom iPad!<br />
16 − Science-Fiction des Spielzeugs: Zukunft ohne Lego<br />
20 − Spielzeugsammlung: Gadget-Grabbel<br />
24 − Die neuen Konsolen: PS4 vs Xbox One<br />
FILM<br />
26 − Computer Chess: David Levy gegen CDC Cyber-176<br />
32 Re:BREAK<br />
Drums sind eine Urkraft der Menschheit. Grund genug 2013 das Breakbeat Revival<br />
Revue passieren zu lassen. Mit Om Unit, Special Request, Tessela, Pangaea und<br />
Zomby stellen wir wichtige Protagonisten vor und drehen Footwork, Trap, Jungle,<br />
Drum and Bass, HipHop, Dub, Step und <strong>De</strong>troit Techno durch die Zeitschleife.<br />
»Morozov spielt<br />
sich als der einzige<br />
Weise des Internets<br />
auf. Als ein<br />
Erleuchteter, der<br />
einem endlich erklÄrt,<br />
warum alle<br />
anderen unrecht<br />
haben.«<br />
Sascha Kösch, Seite 8<br />
RE:BREAK<br />
32 − Breakbeat Revival: Nostalgische <strong>De</strong>konstruktion<br />
36 − Special Request: Paul Woolford im Breakbeat-Kontinuum<br />
40 − Om Unit: Drums sind Nahrung<br />
MUSIK<br />
28 − Jonsson/Alter: Heimbesuch<br />
30 − Omar Souleyman: Das syrische Phantom<br />
42 − Kommentar: Gesaffelstein & M.I.A.<br />
68 − Mooryc: Kontrolliertes Fallen<br />
70 − Clara Moto: Melancholische Distanz<br />
80 − Musikhören mit: Múm<br />
BUCH<br />
44 − Jürgen Teipel: Techno-O-Ton<br />
45 − Literatur-Lizenzen: Fan-Fiction & Vampire<br />
58 − Berlinbücher: Sven Regener, Bettina Uzler und Ju Innerhofer waren dabei<br />
MODE<br />
46 − Digitaldruck: Inkjet ist der neue Standard<br />
48 − Modestrecke: Play Hard<br />
WARENKORB<br />
54 − Läuft: Nike Fuelband & Onitsuka<br />
56 − DVD & Buch: I Dream Of Wires, Dietmar Dath & Swantje Karich<br />
57 − Keyboard & Lautsprecher: Microsoft Sculpt, Jawone Mini Jambox<br />
MUSIKTECHNIK<br />
60 − NI Maschine Studio: Hardware neu, Software neu<br />
62 − Tracktion 4: Einsteiger-DAW frisch aufgelegt<br />
63 − Touchable 2: Neuer Controller-Standard auf dem iPad<br />
64 − Traktor S4 MK2: NIs endgültiger DJ-Controller-Wahnsinn<br />
SERVICE & REVIEWS<br />
68 − Reviews: Neue Alben und 12“s<br />
78 − Abo, Vorschau, Impressum<br />
79 − DE:BUG präsentiert: Die besten Events im November<br />
82 − A Better Tomorrow: Echtzeitverblödung ist der neue Normalfall<br />
5
6<br />
<strong>177</strong> — stream
<strong>177</strong><br />
Consollection / Digitalzocker-Porno<br />
Das sind 140 Spielkonsolen. Von prähistorisch bis neulich erst, akribisch zusammengefasst.<br />
Allerdings ist dieses Poster, die Essenz eines Bildbandes von 2010, aktuell ausverkauft. Aus gutem Grund.<br />
<strong>De</strong>r Fotograf Patrick Molnar und Sammler Phil (einfach nur Phil) arbeiten an einer neuen Version dieser<br />
"Consollection". Mit noch mehr Gear-Porno: Knöpfe, Schalter, Träume. Anfang 2014 kommt das Poster<br />
2.0 in den Handel. Und der Wälzer für den Coffee Table wird auch neu aufgelegt.<br />
www.consollection.de<br />
7
<strong>177</strong> — Netzkritik<br />
Text Sascha Kösch<br />
Befreit uns<br />
von Morozov<br />
Netzkritik 2013<br />
Evgeny Morozov hat sich in den letzten Jahre<br />
den Titel Netzchefkritiker in den deutschen<br />
Feuilletons erspielt. Kaum ein Internet-<br />
Erklärbär, der von ihm nicht ordentlich<br />
in der Zeit, der FAZ, der Süddeutschen<br />
abgewatscht werden darf (Ausnahme: Morozov-Fan Schirrmacher). Da bleibt kein Technik-<br />
Gigant verschont, keine miese Praxis der Silicon-Valley-Verbrecher unaufgedeckt. Und<br />
Morozov hat Fans. Kulturpessimisten sind dabei ebenso herzlich willkommen wie Ludditen<br />
aller Couleur. Und nicht selten muss man sich von einem neugeborenen Morozov-Fan Dinge<br />
anhören wie: Endlich traut sich mal einer was gegen die da oben im Technotopia zu sagen.<br />
Diesen Monat erscheint nun sein Buch "To Save Everything, Click Here: Technology,<br />
Solutionism, and the Urge to Fix Problems that Don't Exist" auf <strong>De</strong>utsch unter dem wuschig<br />
paraphrasierenden Titel "Smarte neue Welt: Digitale Technik und die Freiheit des Menschen".<br />
Mit dem Buch schwappt eine Welle von Interviews mit dem "Netz-Vordenker" über die<br />
Feuilletons. Aber wir lesen lieber Bücher, also ran an den Schinken.<br />
Nach circa 25 Seiten "Smarte neue Welt" denkt man sich: Gut, ich habe jetzt wirklich<br />
verstanden, worum es dir geht. Komm zur Sache, Evgeny! In Kürze: Laut Morozov werde<br />
dem Internet ständig unterstellt, dass es eine Essenz habe, eine wesentliche Eigenschaft.<br />
Diese gedachte Essenz (Freiheit, Gleichheit etc.) führe dazu, dass man mit dem Internet<br />
die Probleme der Welt lösen will (solutionism), und behauptet, es wäre unveränderlich.<br />
Diesen Gedanken sollten wir in bold setzen, er steht auch nach 50 Seiten im Zentrum des<br />
Buches und wird von Morozov mit immer neuen Beispielen und Variationen erklärt. An<br />
immer noch depperteren Aussagen von Leuten wie Carr oder Halbsätzen von Eric Schmidt<br />
nimmt Mozorov genüsslich eine gefährliche Ideologie "auseinander", man sollte eher sagen:<br />
Er zerrupft sie willenlos. Nach hundert Seiten denkt man sich: Gehirnwäsche?<br />
Keine Netzkritik<br />
Morovoz betreibt vielmehr eine Art uferlose Kritik an jedem, der etwas Gutes am Netz findet.<br />
Langatmig vielleicht, sicherlich legitim. Trotzdem überkommt einen nach einer ziellosen<br />
Litanei des Niedermachens irgendwann das Gefühl (nein, kaum ein Zitat wird mal mit einer<br />
Fußnote für die Herkunft bedacht), Morozov dreht auch Leuten, die man selbst noch nie<br />
leiden konnte, vielleicht das Wort im Mund herum.<br />
Die schwierige Aufgabe, an der Morozov scheitern muss, ist die Kritik an einem<br />
Gegenstand (das Internet), das kein Wesen haben darf. Morozovs Gegenstand sind<br />
also in Wirklichkeit die Leute, die das kritisieren, was ihm zufolge unkritisierbar ist. Eine<br />
leichtere Aufgabe wäre gewesen, Diskursanalyse zu betreiben, etwa anhand der vielen<br />
widersprüchlichen Aussagen zum Internet in Zeitraum X, Beobachtung globaler Tendenzen<br />
und Ideologien, die Rolle des Netzes als Machtinstrument, also eine Bestandaufnahme<br />
der dominanten Diskursströme, und wie man gegen sie vorgehen könnte. Stattdessen:<br />
Witze über die Befreiung durch Katzenbildchen und nahezu keinerlei konkrete Erwähnung<br />
anderer Aussagen über das Netz als diejenigen, die sein Gegenargument stützen. Das<br />
Buch ist ein Essay, der die Verve auf endlosen Seiten des Widerkäuens gnadenlos verliert.<br />
Wenn das alles wäre, man würde das Buch einfach irgendwann erschöpft beiseite legen.<br />
Aber man spürt hinter all dem irgendwie mehr. Morozov spielt sich als der einzige Weise<br />
<strong>De</strong>r Tod des Internets ist für Chef-Netzkritiker Evgeny Morozov<br />
beschlossene Sache. Je früher, desto besser.<br />
DE:BUG-Chef-Netzkritiker Sascha Kösch sieht das anders und<br />
hat sich auf die Suche nach Halbwahrheiten<br />
in Morozovs aktuellem Buch "Smarte neue Welt" gemacht.<br />
des Internets auf. Als jemand, der einem<br />
endlich erklärt, warum alle anderen<br />
Unrecht haben. Diese "alle anderen"<br />
existieren aber erstens nicht, zweitens sind<br />
die Aussagen von Morozov alles andere als<br />
neu. Wir blicken kurz zurück in die Geschichte der Netzkritik: 1996 kam mit "The Californian<br />
Ideology" der erste große Schwung an Kritik an den Utopisten, den Yuppie-Grundlagen,<br />
dem Neoliberalismus, der Idee, das Internet würde alle unsere Probleme lösen können und<br />
eine Welle der Befreiung und <strong>De</strong>mokratisierung durch die Welt schicken. Es bildeten sich<br />
Mailinglisten, die den kritischen Diskurs des Netzes sehr stark beeinflussten. Eine davon<br />
war Nettime, deren Protagonisten endlose Konferenzen gefüllt haben. Die Internet-Kritik,<br />
Netzkritik, war geboren; Gingrich, Wired mitsamt seiner Long-Boom-Idee etc. standen da<br />
schon auf der intellektuellen Abschussliste.<br />
Science and Technology Studies, Actor Network Theory, die Medien-Theoretiker und<br />
Klassiker der Postmoderne wurden zu komplexeren Theorien des Netzes herbeigezogen.<br />
Theorien, die längst das Soziale, das Politische, das Netzwerk Internet und die in diesem<br />
komplexen Amalgam handelnden Akteure (selbst jenseits klassischer Handlungstheorien)<br />
unter die Lupe nahmen. Gleichzeitig entwickelte sich eine endlose Reihe semiwissenschaftlicher<br />
Abhandlungen über Potentiale und Gefahren des Digitalen. Die<br />
Sekundärliteratur zum Internet füllt (gefühlt) mittlerweile ganze Bibliotheken.<br />
Solution gegen Solutionism<br />
Eine der Hauptthesen des Buches von Morozov - das gibt er an einer der wenigen Stellen en<br />
passant mal zu - ist, dass das Netz nicht essentialistisch zu betrachten ist, kein Wesen hat.<br />
Diese These stammt aus Lawrence Lessigs Buch "Code Is Law" von 1999, der diesem Thema<br />
damals ein ganzes Kapitel widmete. Lessig führte damals schon zum gleichen Schluss: "If<br />
there is any place that is constructed, cyberspace is it... the rhetoric of 'essence' hides this<br />
constructedness. It misleads our intuitions in dangerous ways." Nur machte Lessig damals<br />
nicht den Fehler, sämtlichen Diskurs über das Netz unter diesem Teilaspekt zu subsumieren,<br />
nur um eine größere Angriffsfläche zu haben.<br />
Dass man sich nicht leicht von beherrschenden diskursiven Grundzügen lösen kann,<br />
würde man gerne als Rechtfertigung des Morozov-Rundumschlags anführen. <strong>De</strong>r kämpft<br />
halt so lange gegen die Windmühlen, bis einem so schwindlig ist, dass das Argument zu<br />
Brain-Body-Memory geworden ist. Lassen wir einmal beiseite, dass es möglicherweise<br />
Episteme nach Foucault'scher <strong>De</strong>finition geben könnte, aus denen man sich eh nicht<br />
herausbewegen könne. Dann würde man zumindest von Morozov erwarten, dass er sich<br />
von diesem verfluchten Essentialismus selber reingewaschen hat. Mitnichten.<br />
Geht Morozov nun eigentlich wenigstens den Auswirkungen dieser einen These im<br />
<strong>De</strong>tail nach? Es ist jedenfalls keine Entwicklung einer Begrifflichkeit zu entdecken, die<br />
zum Beispiel die unterschiedlichen Facetten von "solutionism" (auch das ein geborgtes<br />
Konzept) fassbar macht oder erklären würde. Es gibt auch keine Untersuchung (jenseits<br />
von endlosen Anekdoten), die einem die Wirkungsweise dieser Ideologie auf Bereiche der<br />
Politik, der Lobbyarbeit, technologischer Entwicklung etc. näher erklären würde, geschweige<br />
denn eine Struktur sichtbar machen würde, die eine Solution gegen Solutionism erahnen<br />
8
<strong>177</strong><br />
lassen könnte. Auch wenn Morozov dafür<br />
natürlich eine Lösung parat hat. Doch einen<br />
Schritt zurück. Es gibt in philosophischen<br />
Archiven meterweise Bände über Teleologie<br />
(das letztlich beschreibt die Haltung von<br />
Solutionism), das Verhältnis von Teleologie<br />
zu den Wissenschaften, zur Technik, zum<br />
Diskurs, zur Aporie, Apokalypse, etc. Nein,<br />
wie erwartet tauchen die nicht auf bei<br />
Morozov. Es ist nahezu ein Grundcharakter<br />
des Buches, für nichts eine Basis,<br />
Vorgänger, wissenschaftliche Grundlagen<br />
oder ähnliches zu bieten. Bodenlose<br />
Schwammigkeit als Unterstützung der<br />
eigenen These ist hier Programm.<br />
Zukunft? Unklar.<br />
Sehr deutlich wird das zum Beispiel<br />
beim gerne seitenweise ausgebreiteten<br />
Topos "Gibt es ein Nach-dem-Internet?"<br />
<strong>De</strong>njenigen, die Dinge sagen wie "Das<br />
Internet wird bleiben" wird nahezu<br />
Hirnlosigkeit vorgeworfen. Da es aber<br />
keinerlei <strong>De</strong>finition des Internets gibt, auf<br />
die sich diese oft eher vermutete Ewigkeit<br />
des Netzes stützen könnte, wird die Kritik<br />
zum Scheindiskurs. Weder Morozov noch<br />
die von ihm Kritisierten sagen eigentlich<br />
genau, was sie damit meinen. Wird es auch in Zukunft ein Netzwerk geben, auf dem Daten<br />
verbreitet werden? Unwahrscheinlich ist das nicht, aber wir wissen ja nicht einmal, von<br />
welchem Zeitraum wir da reden, geschweige denn von welcher Welt.<br />
Zur Unterfütterung für die Hirnlosigkeit der vermeintlichen These der Ewigkeit des<br />
Netzes (die sich manchmal in sicherlich quietschigen, oft auch substanzlosen Reden vom<br />
neuem Zeitalter etc. ausdrückt) begeht Morozov dann, wie an anderen Stellen auch gerne,<br />
den Kardinalfehler: Er stellt das Internet in eine Reihe von Medien und schreibt damit dem<br />
Internet trotz vermeintlicher Essenzlosigkeit ganz natürlich die Essenz eines Mediums zu,<br />
statt es zum Beispiel mit dem Strom- oder Gasnetz zu vergleichen. In aller Banalität geht<br />
das Argument wirklich so: Man hätte sich damals auch nicht vorstellen können, dass das<br />
Radio abgelöst werden könnte, also müsste man es beim Internet eigentlich besser wissen.<br />
Und wer das nicht so sieht, ist schon verblendet von der Internet-Ideologie. <strong>De</strong>r Tod des<br />
Internets (das er aus Ekel vor dem Begriff durchgängig in Anführungszeichen setzt) ist für<br />
Morozov eigentlich beschlossene Sache. Wer das nicht sehen kann, gehört dem Club der<br />
Internet-Zentristen an. <strong>De</strong>ren perfide Agenda sei laut Morozov die Unveränderbarkeit und<br />
Unantastbarkeit des Netzes, das an sich für die Essentialisten ja befreiend ist, so dass<br />
Welche Lösung schlägt Morozov für das<br />
Problem der Totalverblödung, wenn nicht gar<br />
der Versklavung der Menschheit durch die<br />
Internet-Halbgötter vor? <strong>Bug</strong>s.<br />
jeder Eingriff ein Eingriff in die Freiheit der<br />
Menschheit und letztendlich die Lösung all<br />
unserer Probleme wäre. Dass das Gespür<br />
für die ständige Veränderung des Netzes<br />
geradezu ein Einstellungskriterium für<br />
Tech-Firmen ist, beziehungsweise die<br />
oberheiligste Aufgabe eines CEOs, der<br />
seine Firma länger als eine Welle bis zum<br />
nächsten Dotcom-Crash melken will,<br />
entgeht ihm dabei vermutlich nicht einmal.<br />
Er lässt es einfach unter den Tisch fallen,<br />
weil es - wie so viele andere - nicht in sein<br />
Argumentationsschema passt.<br />
Future-Shock-Starre<br />
Welche Lösung schlägt Morozov<br />
nun für dieses dämliche Problem<br />
der Totalverblödung, wenn nicht gar<br />
Versklavung der Menschheit durch<br />
die Internet-Halbgötter vor? <strong>Bug</strong>s.<br />
Konsequente Fehler in Technik, die Technik<br />
immer wieder mit Brüchen versieht,<br />
an deren Aufscheinen den Menschen<br />
bewusst wird, dass sie Bürger sind, denen<br />
Gesellschaftspolitik wichtiger ist, als das<br />
neuste Gadget, die Totaldurchleuchtung<br />
jeder noch so minimalen menschlichen<br />
Ausdrucks- oder Handlungsweise. Und<br />
wenn <strong>Bug</strong>s nicht helfen, dann Technik, die die Bösheit von Technologie vermittelt. All das<br />
übrigens ein in Netart-Kreisen absolut beliebtes Thema seit nun fast zwei Jahrzehnten.<br />
Nur jetzt ganz neu. Weil: Morozov.<br />
Gefährlich an Morozov ist - solange man glauben mag, dass ein Feuilleton-Hype<br />
gefährlich sein kann - aber genau das: Viele Dinge im Netz sind das reine Grauen, für all<br />
diese Dinge gibt es komplexe Lösungen, teils im Netz, teils von "außen" (wenn man das<br />
Netz wirklich mal provisorisch zur Vereinfachung auf einen Raum beschränken will, der es<br />
eigentlich längst nicht mehr ist). Nach der Lektüre von "Smarte neue Welt" ist man aber<br />
entweder so einäugig voll des Hasses auf die Internet-Verbrecher, oder so ermüdet von<br />
den Argumenten, schlimmstenfalls so plattgeredet von deren Eindimensionalität, dass<br />
man sich die Mühe schon gar nicht mehr machen möchte, nach ernsthafter Netzkritik zu<br />
suchen. Geschweige denn, sie selbst zu entwickeln, ihre Notwendigkeit in den Momenten<br />
zu erkennen, in denen man vielleicht wieder ein Mal vom Netz manipuliert wird - und dort,<br />
wo man es nicht wird, nicht gleich in Future-Shock-Starre zu hyperventilieren.<br />
Evgeny Morozov,<br />
Smarte neue Welt - Digitale Technik<br />
und die Freiheit des Menschen,<br />
ist im Karl Blessing Verlag erschienen.<br />
9
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
Special<br />
Spielzeugtheorie von Claus<br />
Richter, rasende Roboter, klobige<br />
Konsolen, ganz viel Science-<br />
Fiction und der Kampf zwischen<br />
Mensch und Maschine am<br />
Schachbrett<br />
10
text & bild claus richter <strong>177</strong><br />
Super<br />
-Toys<br />
spIElzeug<br />
dER zukunft<br />
"Es gibt kaum einen<br />
köstlicheren Freiraum als das<br />
Spielen. Wer spielt, tritt aus<br />
der konsensuellen Realität<br />
heraus und erschafft für sich<br />
eine Welt voller Möglichkeitsformen.<br />
In einer Spielwelt<br />
kann erst einmal Alles mit<br />
Allem kombiniert werden<br />
und, noch besser."<br />
Alles kann Alles.<br />
11
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
w<br />
Wie oft fragt man sich in Anbetracht eines neuen<br />
Geräts: "Was kann das denn?" Im Spiel stellt sich<br />
diese Frage nicht. Steine können sprechen, Häuser<br />
können fliegen, ein Stock ist ein Löwe und kann unter<br />
Wasser atmen solange er will. Kein Problem. Alles<br />
geht im freien Spiel ohne feste Regeln. Das sind die<br />
Basics. Man braucht dafür nicht einmal eine PS3-3D-<br />
Holodeck-Supercloud-Konsole und muss auch nicht<br />
zum Toys"R"Us. Diese ursprüngliche Form des Spiels<br />
kann man immer und überall betreiben. Sie lässt sich<br />
zudem nur schwer verbieten und regulieren. <strong>De</strong>nn<br />
zumindest gedanklich kann man auch dann spielen,<br />
wenn man eigentlich so aussehen sollte als bearbeite<br />
man eine unheimlich erwachsene Excel-Datei.<br />
Kinder haben es leichter mit dem Spielen. J.M. Barrie<br />
schreibt in "Peter Pan", dass mit dem beginnenden Wissen<br />
über die Zwangsläufigkeit des Erwachsen-werden-Müssens<br />
ab dem zweiten Lebensjahr das Leben mehr oder minder<br />
fix den Bach runter geht. "You always know after you are<br />
two. Two is the beginning of the end", heißt es dort. Da ist<br />
was dran. Kinder haben eine andere Wahrnehmung als<br />
Erwachsene. Sie erleben wahnsinnig viel zum ersten Mal,<br />
sind ziemlich egozentrisch und empfinden die Welt als<br />
grundlegend beseelt. Ein Kindergehirn lebt in einem bedeutend<br />
intensiveren Gegenwartsfenster als das von uns<br />
Erwachsenen. Kinder sind ständig im "Jetzt". Ziemlich toll<br />
sowas. Und so können Kinder wirklich gut im Spiel versinken,<br />
"Polarisation der Aufmerksamkeit" nannte die legendäre<br />
Pädagogin Maria Montessori das.<br />
Bis die Pizza kommt<br />
Wer seine Kindheit nicht in der Hölle verbracht hat, wird<br />
sich vage und wahrscheinlich nostalgisch verklärt an diese<br />
seltsam magische Dauergegenwart voller belebter Dinge<br />
erinnern können. Als ich ein Kind war, war mein größter<br />
Traum, einen Roboter zum Freund zu haben. Die 1970er<br />
waren voll von Raumschiffen und Robotern, in jeder zweiten<br />
Kindersendung gab es einen freundlichen Roboter, nur<br />
nicht in meinem Kinderzimmer. Seit die Mikroelektronik und<br />
Claus Richter (*1971) lebt und<br />
arbeitet in Köln. Als Künstler und Autor<br />
beschäftigt er sich mit Fluchtwelten,<br />
Kulissen, Themeparks und den köstlichen<br />
Versprechungen der Konsumkultur.<br />
Seine umfangreiche Spielzeugsammlung<br />
ist vom 31.10.2013 bis zum 19.1.2014 in<br />
der Ausstellung "Forever Young" in der<br />
Kunsthalle Nürnberg zu sehen.<br />
12
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
Spielzeughersteller und Entwickler<br />
versuchen die "Willing<br />
Suspension of Disbelieve" unnötig<br />
werden zu lassen. Das Spielzeug<br />
soll nun endlich lebendig<br />
werden.<br />
Elektromechanik Einzug in die Spielzeugproduktion gefunden<br />
hat, hat sich einiges getan. Mark Tilden von Wowwee<br />
brachte beispielsweise mit dem Robosapien und seinen unzähligen<br />
Varianten in den frühen 2000ern einen Roboter in<br />
die Kinderzimmer, der auf den ersten Blick ein bisschen mehr<br />
kann als die Anstoß-Wendeautomatik-Roboterchen meiner<br />
Kindheit. Schade nur, dass Wowwee unter "Persönlichkeit"<br />
hauptsächlich eine unangenehm übergriffige Mischung<br />
aus Castingshow-Tanzvorführung und Sprücheklopfer-<br />
Idiotie versteht. Rülps, Furz, Schlapplach. Caleb Chung, der<br />
uns schon die herrlich nervigen Furbys brachte, entwickelte<br />
2007 für Ugobe das elektromechanische Dinosaurierbaby<br />
"Pleo", voll mit Sensoren und Servos, doch der recht steile<br />
Preis und der weiterhin begrenzte Aktionsradius des kleinen<br />
Dinos ließ Pleo floppen. Tomy, ein Hersteller der schon<br />
in den 1980er-Jahren mit seiner Linie von Omnibot-Robotern<br />
futuristische Spielzeugträume in die Kinderzimmer brachte,<br />
entwickelte ebenfalls 2007 mit dem "I Sobot" einen winzigen<br />
aber fast vollprogrammierbaren Roboter, der dieses Jahr<br />
mit dem "I Sodog" einen Sonys "Aibo" nicht unähnlichen<br />
Hund als Kollegen bekommt. Doch all diese Roboter sind<br />
empfindliche, fragile Kunstwerke, man kann mit ihnen nicht<br />
durch Wälder streifen, in Pfützen spielen oder Plätzchen backen.<br />
Ein Roboterspielzeug, dass mir gefiele, wäre "Teddy"<br />
aus Steven Spielbergs "A.I.": voller Güte, leicht naiv und immer<br />
für einen da. Ein real existierender imaginärer Freund.<br />
Wird es das jemals geben? Braucht es eine K.I.? Wie viele<br />
Servos und Algorithmen braucht ein Roboter-Teddy um lebendig<br />
zu werden? Wie viel Rechenpower und Fotorealismus<br />
braucht ein Videospiel, um über die übliche Immersion hinaus<br />
wirklich real zu werden? Spielen findet immer in einem<br />
unsichtbaren Zwischenraum statt, den der Psychoanalytiker<br />
Donald Winnicott als "Intermediären Raum" bezeichnete.<br />
Wie aber könnte man all die Dinge, die dort geschehen in die<br />
Welt treten lassen? Es ist der alte und wundervolle Traum,<br />
die Fiktion in die Realität zu holen. Samuel Taylor Coleridge<br />
schrieb schon 1817 von der "Willing suspension of disbelief"<br />
um zu erklären, wie wir Menschen das machen, dieses<br />
Abtauchen in die fiktive Welt der Prosa, der Poesie, des<br />
Theaters, des Films, des Spielens. Man lässt sich ein, begibt<br />
sich in eine Zwischenwelt, in der man willentlich jeden<br />
Zweifel am Fantastischen ausblendet. Klingelt es an der Tür,<br />
ist der Film zu Ende, man verlässt diesen flirrenden Zustand<br />
und nimmt doch immer etwas daraus mit. Manchmal ist es<br />
auch der eigene Körper, der einem die Grenzen der Welten<br />
deutlich macht. Wer jemals stundenlang in einem Videospiel<br />
abtauchte, merkt spätestens wenn der Magen knurrt, dass<br />
es Zeit ist, wenigstens für zehn Minuten "auszusteigen"<br />
und den Pizzadienst zu rufen. Was Spielzeughersteller und<br />
Entwickler nun seit einiger Zeit versuchen, ist diese "Willing<br />
Suspension of Disbelieve" unnötig werden zu lassen. Das<br />
Spielzeug soll nun endlich lebendig werden.<br />
Lebendige Toys<br />
Wenn eine Spielwelt wirklich die Grenze übertreten soll,<br />
müssen die Charaktere ein eigenes, autonomes Leben<br />
haben, sie müssen in unserer komplett irren Welt überleben<br />
können. Und das ist schwer. Siehe "Pinocchio", siehe<br />
auch "David" in Spielbergs "A.I.". In Neal Stephensons<br />
Buch "Diamond Age" wird die elektronische "illustrierte<br />
Fibel für die junge Dame" daher auch trotz vorherrschender<br />
Nanotechnologie von einem ganzen ausgelagerten<br />
Team aus Erzählern, Pädagogen und Fachleuten gesteuert.<br />
Nur so ist es möglich, ein wirklich kommunizierendes<br />
Buch zu erschaffen, dem es dann sogar gelingt die kleine<br />
unterprivilegierte Nell, der diese Fibel in die Hände fällt, zu<br />
einer selbstbestimmten jungen Frau werden zu lassen. Und<br />
doch sagt meine eigene Spielerfahrung mir, dass so etwas<br />
auch mit einem "normalen" Buch geht, dass jemand, der<br />
ganz im Spiel mit einem geliebten Stofftier versinkt, durch<br />
sein eigenes Zutun eine lebendigere Figur erschafft als jedes<br />
noch so advancte Spielzeug und Videogame es heute<br />
beherrscht. Ich spreche viel mit Stofftieren, ich weiß in diesem<br />
Fall wirklich, wovon ich rede.<br />
Aber die Entwicklung ist und bleibt spannend.<br />
Spielzeuge sind wundervolle Dinge, und Spielen vielleicht<br />
der schönste Freiraum im Leben. Ich bin nun fast<br />
100 Jahre alt, habe von Bauklötzen, Lego, Playmobil, YPS-<br />
Gimmicks, absurden Brettspielen, dem ersten mit Datasette<br />
hochgeladenen "Frogger" auf dem ZX 81 über all die gerippten<br />
C64-Spiele, die langen Atari-Pitfall-Tage mit Chips<br />
und Cola bei Doerings im Keller und die sehnsüchtig in<br />
der Spielzeugladenvitrine begafften Game&Watch-Spiele<br />
den Aufbruch des elektronischen Spielzeugs tatsächlich<br />
und leibhaftig als Kind erlebt. Und immer noch sehne ich<br />
mich nach einem kleinen freundlichen Roboter, der mit mir<br />
durch Wälder streift und in Pfützen springt. Also bitte: Go,<br />
Spielzeugindustrie, Go!<br />
13
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
Zwischen<br />
den Welten<br />
14
Text Sascha Kösch <strong>177</strong><br />
d<br />
Die Videospiele entgleiten ihren<br />
Behältern. Sie kriechen in die Realtwelt<br />
hinein, beseelen totes Spielzeug<br />
und lösen Versprechen ein, die kein<br />
Heimautomations-Kühlschrank bisher<br />
zu erfüllen vermochte: die vom entgrenzten<br />
Zusammenspiel. Ich gegen<br />
den Computer gegen die Welt.<br />
Minicomputer. Das Spiel dabei ist so offen<br />
wie nur möglich. Egal ob einem Sphero einfach<br />
nur hinterherläuft, Lichtspiele mit einem<br />
veranstaltet, Bowling oder Bürogolf amüsanter<br />
macht, oder auf dem Screen in virtuelle<br />
Spiele eingebettet wird: <strong>De</strong>r Bildschirm ist<br />
nur noch ein Teil der digitalen Realität. Wir<br />
haben sie in die reale Welt entlassen.<br />
Anki machte das auf der iOS-Präsentation<br />
noch klarer: Eine Art Carrerabahn mit Freilauf,<br />
auf der nicht nur das iPad im Hintergrund<br />
mitdenkt, sondern auch die Autos selber,<br />
die mit Sensoren für Unfallvermeidung und<br />
Positionsbestimmung, Kameras und so weiter<br />
ausgestattet sind. Das sind Videogames<br />
in der realen Welt. Nicht nur mit überlagerten<br />
Screens, sondern mit nichtmenschlichen<br />
Mitspielern, Gegenständen, die eigenständig<br />
ins Spiel eingebunden werden können.<br />
Am Ende ist für Anki eine neumodische<br />
Spielzeug-Rennbahn herausgekommen, bei<br />
der man eben auch gegen autonome Autos<br />
spielen und unsichtbare Waffen einsetzen<br />
kann, die in der realen Welt Auswirkungen<br />
haben. Wer hätte gedacht, dass sich eine<br />
AI- und Robotics-Firma irgendwann als der<br />
hippste Scheiß unter dem Weihnachtsbaum<br />
als ausgerechnet Autorennen entpuppt?<br />
Die Ansätze dafür sind noch<br />
älter. Sie folgen alle einer klaren Leerstelle<br />
in der Spieleindustrie: Videogame- und<br />
Filmemarken überfluten mit Merchandise<br />
schon lange den Spielzeugmarkt. Allein die<br />
"Star Wars"-Lizenzen füllen mit unzähligen<br />
Branding-Produkten ganze Regale. Aber dieses<br />
Spielzeug ist dumm wie 'ne Socke. Ihnen<br />
entgegen stehen Spielzeug-Electronics,<br />
die im schlimmsten Fall Lerncomputer<br />
mit Grusel-LEDs sind, im besten Fall Lego<br />
Mindstorm. Nicht selten landen solche Spiele<br />
nach einer Woche Begeisterung über die<br />
erfüllten Markenwünsche dann irgendwo<br />
in der Ecke, weil die Versprechen (z.B.<br />
Laserschwert-Kämpfe wie im Film) nicht<br />
eingelöst werden.<br />
Die Verschmelzung von Mobiles und realen<br />
Dingen aus der Spielzeug-Welt ist hingegen<br />
noch sehr neu und dürfte diese beiden<br />
Märkte - Mobiles & Toys - dennoch in Kürze<br />
unter sich begraben. Nicht, weil Videogames<br />
eh längst der größte Entertainment-Faktor<br />
unter der Sonne sind, oder Kids alle zu digitalen<br />
Junkies geworden sind. Sondern weil<br />
dieses Zusammenwachsen in den Köpfen<br />
der Kinder eh längst als Fantasie stattgefunden<br />
hat und an dieser Fantasie sich<br />
die Industrie wird messen müssen. Viele<br />
Produkte dieser Umbruchsgeneration sind<br />
banal. Bestseller Angry Bird hat die Zeichen<br />
der Zeit schnell erkannt und für seine "Star<br />
Wars 2"-Edition Telepods eingeführt. Das<br />
sind reale Spielfiguren, die man - denkbar<br />
mono-interaktiv eigentlich - ins Spiel teleportieren<br />
kann. Das stärkt natürlich die AddOn-<br />
Verkäufe, auch wenn es dem Spiel nichts<br />
wesentliches hinzuzufügen hat, ist aber über<br />
die Beamen-Metapher ganz gut integriert.<br />
Die Richtung ist klar:<br />
weg von der Simulation<br />
von Spielen auf iPads,<br />
weg von exotischen<br />
Game-Controllern für<br />
Tablets, hin zur umfassenden<br />
Integration der<br />
Sensoren, mit denen<br />
ein mobiles Gerät<br />
vollgepfropft ist.<br />
Lego hatte mit "Life Of George" auch schon<br />
sehr früh eine einfache Kombination von<br />
Tablet und Real-Life im Portfolio, bei der die<br />
App aber eher instruktives Begleitmaterial<br />
und Gamification-Kontrolle war. Zunächst<br />
für Ältere gedacht, musste Lego das aber<br />
dennoch schnell für Kids umbranden.<br />
Natürlich wird es noch eine Weile dauern,<br />
bis wir Konzepte wie BotSee von Wowwee<br />
überwinden. Das Spiel als Tablet-Dock, das<br />
in einen putzigen Roboter integriert wird<br />
und mit kleinen Klötzen interagiert, die auf<br />
dem Screen irgendwelche Aktionen auslösen.<br />
Oder GameChanger Board-Games<br />
mit Tablet-Dock in der Mitte. Aber die<br />
Richtung ist klar: weg von der Simulation<br />
von Spielen auf iPads, weg von exotischen<br />
Game-Controllern für Tablets, weg von dem<br />
Screen als Zusatz und Bonusanimation<br />
für Spiele hin zu einer tiefen Integration<br />
der Sensoren, mit denen ein Mobile heutzutage<br />
vollgepfropft ist. Also genau den<br />
Sensoren, über die intelligentes Spielzeug<br />
in eine Interaktion treten können, bei denen<br />
die Welt da draußen nicht mehr länger der<br />
dumpfe Gegenpart ursprünglicher Haptik<br />
ist, sondern ebenso "intelligent" auf die<br />
Geheimnisse hinter dem Screen antwortet.<br />
Und nicht ohne Grund sind die letzten<br />
Projekte des Massachusetts Institute of<br />
Technology (MIT) zur Entwicklung modularer<br />
Roboter kleine Würfelchen, die aussehen,<br />
als wären sie Spielzeug. Sie in die<br />
gleiche, neue Richtung: weg vom Roboter<br />
in seinen diversen anthropomorphen oder<br />
tierischen Fantasien, hin zu den "building<br />
blocks" von Spielen. Intelligente Dinge für<br />
Kids werden wohl längst Alltag sein, wenn<br />
irgendwelche intelligente Kühlschränke<br />
sich heimautomatisiert im Internet Brause<br />
kaufen gehen.<br />
Wer sich noch an die Vorstellung von iOS 7<br />
erinnert, genauer an die <strong>De</strong>monstration von<br />
Anki mit ferngesteuerten Autos, der hat einen<br />
Eindruck davon, wohin die Verschmelzung<br />
von Tablets mit Spielzeug führt. Robotics,<br />
Artificial Intelligence, Tablet-Kollaboration<br />
von Hardware und Software.<br />
Doch einen Schritt zurück. Wir hören<br />
schon lange, dass Tablets etablierte Hardware<br />
verdrängen wird. Die PC-Verkäufe schlummern<br />
langsam ein, Tablets und Steve Jobs<br />
Post-PC-Generation haben übernommen.<br />
Doch warum sollte man einen kleineren<br />
Screen gegen einen größeren mit obendrein<br />
freierer Software und halb so knebelndem<br />
Ökosystem eintauschen wollen? Die<br />
Antwort, fürchten wir, ist komplex - und da<br />
kommen endlich auch die Spiele ins Spiel.<br />
Die Grenze zwischen dem Screen und<br />
der Realität droht nicht nur für Unkenrufer<br />
aus dem digitalen Kulturpessimismus zu<br />
verschwinden, oder den nie ganz aus dem<br />
Sonderling-Status herauswachsenden AR-<br />
Welten, sondern ganz banal bei den Kids.<br />
Die sehen nämlich konzeptionell erst mal keinen<br />
Unterschied zwischen einem normalen<br />
Spielzeug und einem iPad. Die Konzentration<br />
liegt auf dem Spiel. Nicht auf der Gadget-<br />
Gattung. Und Aufgabe der intelligenten Spiele<br />
in diesem Zwischenraum wird vor allem sein,<br />
diese Grenzen verschwimmen zu lassen.<br />
Eines der ersten Produkte dieser<br />
Generation ist dabei so enigmatisch wie<br />
es aussieht: Sphero, ein kleiner Ball, durch<br />
ein Smartphone oder Tablet ferngesteuert.<br />
Ein kleiner Roboter ist das Teil obendrein.<br />
Leuchtend, perfekt um Katzen zu<br />
ärgern, ein erster, runder Ausblick auf die<br />
Steuerung der Welt durch die selbst zum intelligenten<br />
Controller gewordenen tragbaren 15
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
Text Felix Knoke<br />
bild b flickr.com/dinkydivas, lord_dane<br />
d<br />
Das Spielzeug der Zukunft, wie es derzeit auf<br />
Messen und Konferenzen vorgeführt wird, besteht<br />
aus exotischen Materialien, ist programmierbar oder<br />
verbindet mediale Ebenen. Was hingegen fehlt, sind<br />
echte Visionen, wie wir in 20, 30 Jahren, geschweige<br />
denn in 5.000 spielen werden. Aber wie könnte so<br />
eine Science-Fiction des Spielzeugs aussehen - und<br />
warum gibt es sie nicht längst? Wir sprachen mit dem<br />
Scifi-Experten Bernd Flessner.<br />
Spiel ist das Gegenteil von Arbeit, Spielzeug das Gegenteil<br />
von Werkzeug. Waffen jedoch sind Zwischenwesen. Sie erfüllen<br />
einen Zweck, aber den mit einer geradezu naturalistischen<br />
Vehemenz. Sie sind ein mörderischer, spielerischer<br />
Ausdruck der natürlichen Grundlage des Menschseins.<br />
Waffentechnik spielt in den Zukunftsentwürfen der<br />
Science-Fiction-Literatur eine wichtige Rolle. Sie ist eine<br />
Technik, die ganz einfach in die Zukunft extrapoliert werden<br />
kann, immerhin steht ihr Zweck ja fest: Vernichtung, möglichst<br />
effektiv und effektvoll. Spielzeug ist in der Science-<br />
Fiction hingegen reichlich unterrepräsentiert. Dabei müssten<br />
sich diese "Grundlagen eines Spiels" doch wie auch<br />
Waffentechnik hervorragend weiterspinnen lassen. Wenn<br />
Spielzeug in der Science-Fiction auftaucht, dann als Trope.<br />
Sie sind nicht Selbstzweck, sondern sollen "Freizeit"<br />
signalisieren: Hier lässt es sich gerade jemand gutgehen;<br />
ein Protagonist existiert nicht nur als Funktion ("Captain<br />
Picard"), sondern auch als Privatperson ("Jean-Luc").<br />
Dass aber Spiele und Spielzeug eine eigene Rolle spielen,<br />
dass an dieser Hardware die Zukunft entwickelt wird,<br />
ist reichlich selten. Ian Banks schrieb mit "The Player of<br />
Games" zwar einen ganzen Roman über einen intergalaktischen<br />
Zocker, der in einem aufwändigen Brettspiel zwei<br />
Gesellschaftssysteme kollidieren lässt. Das Spiel an sich<br />
und sein Spielzeug, die Figuren und Spielfelder aber, sind<br />
reichlich analog. "Risiko" in riesig.<br />
Beliebt ist auch eine Gesellschaftskritik anhand<br />
von "Lebensspielen", bei denen Kandidaten<br />
ihr Leben vor Kameras in einem Wettkampf auf dem<br />
Spielplatz Welt auf's Spiel setzen. "Battle Royal",<br />
"The Hunger Games" oder "Das Millionenspiel" machen<br />
damit nichts anderes, als aktuelle Normen der<br />
Gesellschaft in Spielregeln zu übersetzen und diese<br />
16<br />
dort quasi als Idealtypus vorzuführen. Einer der spannenderen<br />
Ansätze ist da noch Hannu Rajaniemis<br />
"The Quantum Thief", in dem sich eine Gesellschaft<br />
selbst als Spiel gebiert. Gamification-Blödsinn als<br />
Gesellschaftsgrundlage.<br />
Lego der Zukunft? Fehlanzeige!<br />
Aber Spielzeug, die Essenz von Spiel, das Zusammenfallen<br />
von Regelsystem und Werkzeug? Da sieht es düster aus.<br />
Es gibt animierte Kuscheltiere, beseelte Puppen und<br />
Zukunftsversionen von Druckern, die Lebewesen und<br />
Gegenstände "backen" können. Es gibt Waffen, unendlich<br />
viele Scifi-Waffen und passende Schutzsysteme, es<br />
gibt Unsichtbarkeits-Gadgets und seltsame Hyperräume.<br />
Und es gibt Sexspielzeug, das Konventionen umwirft, unterläuft<br />
oder ersetzt. Aber was es nicht gibt, ist das Lego,<br />
der Kreisel, der Stock der Zukunft. Und die Frage ist natürlich,<br />
ob es das überhaupt geben könnte.<br />
Die Zukunft des Spiels passiert derzeit im<br />
Computerspiel. Die Vorstellung ist, dass im Computer<br />
Dinge jenseits dieser Welt entstehen können und - quasi<br />
durch Bildschirm und Controller übersetzt - manipuliert<br />
und also auch gespielt werden können. Aber das<br />
Computerspiel an sich ist kein Spielzeug, und erst recht<br />
nicht eine Spielkonsole oder Computer. Mithilfe des<br />
Computers können Spielzeuge erschaffen werden, die<br />
aber nur innerhalb des Computers mit Computermitteln<br />
benutzt werden können. Das Computerspiel wiederum<br />
ist so ein System, ein Meta-Spielzeug, innerhalb dessen<br />
"virtuelle" Spielzeuge benutzt werden können.<br />
Solche Beschreibung sind freilich unbefriedigend. Aber<br />
sie machen klar, warum eine theoretische Entwicklung von<br />
Spielzeugen der Zukunft so schwierig ist: Was ein Spielzeug<br />
ist, ist einfach schwer zu fassen. Wichtige Kennzeichen<br />
sind Reduktion und Abstraktion. Eine Puppe ist ein<br />
reduzierter, abstrahierter Mensch. Alle Gegenstände<br />
können ein Spielzeug werden, wenn man ihnen eine<br />
reduzierte, abstrahierte Funktion gibt: Aus einem Stock<br />
wird ein Schwert oder ein Pferd, aus einem Stein ein<br />
Berg oder Teil eines Musters. Spielzeuge entstehen durch<br />
diese Funktionszuweisung und spiegeln damit - in ihrer<br />
Verwendung, nicht in sich! - immer gesellschaftliche<br />
Zustände wieder. Eine Waffe kann ein Spielzeug sein, eine<br />
Gesellschaft kann ein Spielzeug sein. Mit Spielzeug kann<br />
man Spiele spielen, also Regelsysteme ausspielen - aber<br />
sie funktionieren auch nach viel einfacheren Mustern: als<br />
Balanceakt, als Hindernis, als Stellvertreter. Dieses Prinzip<br />
nun in die Zukunft zu holen, ist nicht sonderlich spannend<br />
Roboter sind in der Science-<br />
Fiction ein Universalspielzeug,<br />
das alle anderen ersetzt, ein finales<br />
Spielzeug. Soziale Prothese und<br />
Spielzeug in einem. Ein Trend, der<br />
längst auch in der Gegenwart zu<br />
beobachten ist.<br />
- es zu erkennen sogar schwer, erklärt der Erlanger<br />
Science-Fiction-Experte Bernd Flessner: "Die Zukunft ist<br />
von verschiedenen Konvergenzen geprägt, etwa der von<br />
Mensch und Maschine. Spielzeug ist in der Science-Fiction<br />
kaum oder gar nicht von anderen sozialen/kulturellen<br />
Errungenschaften zu unterscheiden. Auch die Übergänge<br />
zwischen Kinder- und Erwachsenenspielzeug sind ausgesprochen<br />
fließend. Man könnte auch sagen, das Spielzeug<br />
emanzipiert sich in der Science-Fiction von seiner klassischen<br />
Funktion, ähnlich, wie sich die Kindheit emanzipiert."<br />
Diese These kann Flessner mit einer der spannendsten und<br />
ältesten Science-Fiction-Figuren untermauern: Pinocchio,<br />
dem Spielzeug, das keines mehr sein will. Die moderne<br />
Fassung des Pinocchios ist der Enterprise-Androide Data:<br />
"Data ist Spielzeug, Spieler, Puppe und Offizier in einem<br />
und definiert so das Spielzeug neu" - irgendwo zwischen<br />
Mensch, Spielzeug und Werkzeug, eine Parabel auf den<br />
modernen Menschen. Klar ist: was Spielzeug, was Kreatur<br />
ist, bestimmt der Mensch, Data/Pinocchio bleibt nur die<br />
Strategie des Sich-möglichst-menschlich-Gebens - und<br />
so Verdächtig-Bleibens.<br />
Für Zukunftsforscher Flessner zählt der Roboter zu den<br />
beliebtesten Spielzeugen für Kinder und Erwachsene in<br />
der Science-Fiction - ein Spielzeug, das mehr ist, wie Ray<br />
Bradbury in "Ich singe den Leib, den elektrischen" eine<br />
Roboter-Oma bewerben lässt. "Das trifft den Nagel auf den<br />
Kopf," sagt Flessner, "denn auch in unzähligen Science-<br />
Fiction-Storys sind Roboter und Androiden nichts anderes<br />
als humanoide Kinder- und Erwachsenenspielzeuge.<br />
Roboter sind gewissermaßen das Universalspielzeug, das<br />
alle anderen ersetzt, also ein finales Spielzeug. In fast allen<br />
Storys sind Roboter soziale Prothesen und Spielzeug<br />
in einem. Ein Trend, der längst auch in der Gegenwart zu<br />
beobachten ist."
<strong>177</strong><br />
Zukunft<br />
ohne Spielzeug<br />
17
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
Das Computerspiel an sich ist<br />
kein Spielzeug. Spielkonsolen und<br />
Computer können jedoch Spielzeuge<br />
erschaffen, die aber nur innerhalb<br />
des Computers mit Computermitteln<br />
benutzt werden können.<br />
Das Computerspiel wiederum ist<br />
so ein System, ein Meta-Spielzeug,<br />
innerhalb dessen "virtuelle" Spielzeuge<br />
benutzt werden können.<br />
Fremde Planeten, alte Bekannte<br />
In der Gegenwart heißt der Roboter noch Computer: eine<br />
Hülle, die mit Geist gefüllt werden kann, oder zumindest<br />
mit Sinn. Dieser Sinn kann auch einfach ein Mensch<br />
sein - die Hülle heißt dann Cyberspace, Virtual Reality,<br />
Holodeck. "Die erste Schilderung so eines Holodecks findet<br />
sich in dem Roman 'Ich lebte im Jahr 3000', den Werner<br />
Wehr (Heinz Gartmann) 1959 veröffentlichte. Dort heißt es<br />
'Cinerama', ähnliche Einrichtungen gibt es auch bei Lem<br />
('Transfer') und anderen Autoren; meist werden in ihnen<br />
Rollenspieler aller Art in realistischer Umgebung veranstaltet";<br />
bei Crichton in Form eines magischen Erlebnisparks<br />
voller Dinosaurier. "Die umfassendste Form dieses Spiels<br />
und eines der größten Spielzeuge der Science-Fiction ist der<br />
Synchronstrahl aus dem Roman '<strong>De</strong>r Orchideenkäfig' von<br />
Herbert W. Franke", sagt Flessner. "Mit Hilfe dieses Strahls<br />
können sich die Teilnehmer des Spiels als Avatare auf andere<br />
Planeten versetzen lassen. <strong>De</strong>r fremde Planet mit der<br />
dortigen Zivilisation wird so zum Riesenspielzeug. Ein anderes<br />
Interesse an fremden Kulturen haben die Menschen<br />
18<br />
dieser Zukunft übrigens nicht. Sie forschen also nicht oder<br />
suchen den Kontakt. Sie wollen nur spielen, die fremden<br />
Kulturen sind nur Schauplatz und Kulisse. Gewissermaßen<br />
die reale Variante des Computerspiels."<br />
Aber Spielzeug im herkömmlichen Sinne? Magische<br />
Gegenstände? Davon hat auch der Experte nur selten gelesen.<br />
"Entweder ist das Spielzeug ein weitgehend bedeutungsloses<br />
Accessoire - oder es hat eine bestimmte<br />
Aufgabe. Zum Beispiel in Philip K. Dicks 'Zur Zeit der<br />
Perky Pat'. Ferne Zukunft, zerstörte Erde. Es gibt nur noch<br />
einige unterirdische Siedlungen. Doch statt sich mit wirklich<br />
relevanten Dingen und Zielen zu befassen, spielen die<br />
Menschen mit einer Art Barbie-Puppe, der Perky Pat. Die<br />
verschiedenen Siedlungen wetteifern untereinander, wer<br />
die beste Puppe und die beste dazugehörige Puppenstube<br />
hat. Für diesen Wettbewerb opfern sie fast alles und setzen<br />
ihr Leben aufs Spiel. Zwar versuchen intelligente<br />
Marsianer, den Menschen zu helfen, aber bei dieser <strong>De</strong>nke<br />
der Menschen haben sie keine Chance."<br />
Sich die Zukunft verdaddeln, für solche Dystopien<br />
braucht es keine Marsianer. Spielen ist immer auch die<br />
Abwesenheit von Arbeit, "gamifizierte" Arbeit noch immer<br />
Arbeit. In einer Zeit aber, in der die Arbeit knapp wird, wird<br />
sich das Spielen verbreiten. In der Zukunft wird man sich<br />
noch ordentlich die Zeit vertreiben müssen, hoffentlich<br />
nicht nur mit nach Selbstoptimierungsnormen gestrickter<br />
Spiel-Pädagogik. Dann wird auch die Pinocchio-<br />
Fantasie des Computerspiel-<strong>De</strong>signers Peter Molyneux<br />
aus DE:BUG 79 nicht mehr fern sein: "Ich wage die kühne<br />
Behauptung – und dabei müssen Sie berücksichtigen,<br />
dass ich der Geek der Geeks bin, ich liebe Computerspiele<br />
über alles –, dass mein bester Freund ein KI-Charakter sein<br />
wird, den ich in einem Spiel treffe. Dieser beste Freund<br />
wird wissen, was ich mag, wir werden gemeinsame<br />
Interessen haben. Ich werde mit ihm reden können, er wird<br />
von meinem Leben fasziniert sein. Wenn wir ein paar Jahre<br />
in die Zukunft blicken, dann sollte man in der Lage sein,<br />
einen persönlichen Freund innerhalb des Computerspiels<br />
zu haben. Er wird etwas ganz Besonderes sein, ein Freund,<br />
der einen durch viele Spiele begleiten wird." Doch je weiter<br />
so eine künstliche Intelligenz reift, desto mehr wird sie die<br />
Eigenschaften eines Spielzeugs abstreifen und sich so fast<br />
zwangsläufig emanzipieren. Das Spielzeug könnte sich gegen<br />
den Spieler stellen, verrückt werden, krank sein - und<br />
dem Spieler eine Entscheidung aufdrängen: Will ich spielen,<br />
oder erwachsen werden? In so einer Zukunft wird es<br />
keine Spielzeuge der Zukunft geben. Das Spielzeug wäre<br />
die Vergangenheit, eine Erinnerung an eine un-smarte<br />
Zeit, in der die Funktion eines Gegenstandes nur von dem<br />
Benutzer, dem Spieler festgelegt wurde.
FACEBOOK.COM/PHILIPSSOUND<br />
TWITTER.COM/YNTHT_DE<br />
PLAY.SPOTIFY.COM/USER/YNTHT<br />
MACHT SCHÖN ...<br />
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<strong>177</strong> — spielzeug<br />
<strong>De</strong>r Geist und<br />
die Maschine<br />
Smarte Würfel: Für sich<br />
allein sind sie bessere<br />
Pokemons, bringt man sie<br />
zusammen, entwickeln sie<br />
ein Eigenleben.<br />
sifteo.com<br />
Es gibt eine neue Art von Spielzeug: programmierbare<br />
Roboter & Drag-'n'-Drop-Bots. Die Idee ist ganz<br />
einfach: Das Spielzeug ist eine leere Hülle, ein Haufen<br />
Sensoren, eine Schublade voller Aktore.<br />
Wie die zusammenarbeiten, aufeinander und auf die<br />
Welt reagieren, das bestimmen die Spieler durch etwas<br />
Programmierarbeit. Das Spiel ist das Basteln mit diesen<br />
Regeln - und der Moment, wenn man die Kreatur auf die<br />
Welt oder andere Roboter loslässt. "Wenn du vor dir Licht<br />
siehst, dreh dich nach links" lauten solche Regeln. Oder:<br />
"Fahr im Zufallsmuster durch's Zimmer, bis du an ein<br />
Hindernis stößt. Dann rufe um Hilfe." Oder: "Wenn du einen<br />
Hilferuf eines anderen Roboters hörst, fahre dem Ruf<br />
hinterher."<br />
Dieser Ansatz ist natürlich nicht neu. Mit den Tit-for-<br />
Tat-Experimenten der frühen Spieltheorie, Conways Game<br />
of Life, den "AI Challenge"-Programmierspielen und den<br />
Konfliktsimulationen im Kalten Krieg hat die Akademia<br />
schon lange mit einfachen Regeln komplexes Verhalten<br />
simuliert. Doch als Spielzeug steht ihm nun eine neue<br />
Zukunft bevor. Einfache Regeln beherrschen auch Kinder.<br />
Durch ihre Kombination entstehen "emergente" Muster,<br />
so etwas wie Leben. Mit einfacher Drag-'n'-Drop-Arbeit<br />
kann blechernen Hüllen ein Geist eingehaucht werden,<br />
die Puppe erwacht. Kinder sollen programmieren lernen,<br />
das kann man so gelten lassen. Tatsächlich dürften viele<br />
Aspekte der zukünftigen Welt wohl durch verschleierte<br />
Kommandozeilen ("Siri") gesteuert werden, also durch<br />
Aneinanderreihung und Verknüpfung von Befehlen,<br />
Auslösern und Bedingungen. Für so einen Umgang mit der<br />
kybernetischen Welt soll das Spiel mit den Regeln ausbilden.<br />
Aber es funktioniert eben auch einfach als Spiel - weil<br />
solche Roboter viel mehr mit herkömmlichem Spielzeug gemein<br />
haben, als etwa mit Computerspielen. Die Spieler weisen<br />
einem Gegenstand eine abstrakte, reduzierte Funktion<br />
zu und machen es so erst zum Spielzeug. Und so, wie ein<br />
Stück Plastik in der Fantasie zum Raumschiff wird, wird ein<br />
Stück Schaltkreis mit Rädern durch Code zur Puppe. Die<br />
Zuschreibung "das lebt, das reagiert", entsteht im Kopf der<br />
Spieler. <strong>De</strong>r Geist in der Maschine ist in einem wie im anderen<br />
Fall die kreative Schöpfung jenseits der Vorgaben des<br />
Spielzeugs. Das Spiel entsteht im Geist - und durch Geist.<br />
Kinetisches Spielzeug mit Modul-Funktion:<br />
Die Apparate von Yuichiro Katsumoto loten<br />
die Grenze zwischen einfach und komplex,<br />
intelligent und primitiv.haptisch aus.<br />
yuichirock.com<br />
20
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
Klassiker der Heimrobotik: Lego-Mindstorms<br />
zur Verteidigung des Kinderzimmers<br />
mindstorms.lego.com<br />
Plug & Play aus dem Elektro-Baukasten.<br />
Vom Putzroboter bis zum Erdbebenlausche ist<br />
damit all das denkbar, was auf Sensoren und<br />
Aktoren angewiesen ist.<br />
atoms-express.com<br />
Diese Gelenke haben ein kinetisches<br />
Gedächtnis und sind programmierbar.<br />
Sie zeichen Bewegungen auf und führen<br />
sie danach immer wieder aus.<br />
topobo.com<br />
Zwischen Spielzeug und Musikinstrument<br />
schweben viele Projekte von Yuri Suzuki, hier<br />
beim Töne zum Auf-den-Tisch-Malen.<br />
yurisuzuki.com/works/looks-like-music<br />
21
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
Tablet & Spielbrett, die neuste Form von<br />
transmedialem Spielzeug<br />
hasbrozapped.de<br />
2013 kehrte mit der Oculus-Rift-Datenbrille<br />
das VR-Versprechen zurück.<br />
oculusvr.com<br />
Game-Controller zum Selberbasteln<br />
arduino.cc/en/Main/ArduinoBoardEsplora<br />
Alte Formen und neue Inhalte: Elektrifiziertes<br />
Holzspielzeug reizt ganz clever Anachronismusund<br />
Ökotrigger gegeneinander aus.<br />
hikaruimamura.sakura.ne.jp/watashi/novel-toys-2<br />
22
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
Dieses Schaltkreis-Puzzle ist nur eine der<br />
vielen tollen Ideen von Yuri Suzuki.<br />
yurisuzuki.com/works/denki-puzzle<br />
Erst basteln, dann<br />
Spielen mit dem Open-<br />
Source-Baukasten<br />
littlebits.com<br />
Mini-Trend Custom-Spielzeug: Makies sind<br />
Wunschpuppen aus dem Internet-Baukasten.<br />
makie.me<br />
23
<strong>177</strong> — spielzeug<br />
Text Florian Brauer<br />
Battle unterm<br />
WeihnachTsbaum<br />
Die neuen Spielmaschinen<br />
m<br />
Microsoft und Sony aktualisieren Ende November<br />
ihre Spielkonsolen Xbox und PlayStation. Wer am<br />
ersten Verkaufstag eine ergattern will, wird vorm<br />
Elektrosupermarkt Schlange stehen müssen - die<br />
Vorbestellungskontingente sind längst ausverkauft.<br />
Aber muss das überhaupt sein, Xbox One oder<br />
PlayStation 4?<br />
24<br />
<strong>De</strong>r Begriff Spielkonsole trifft die Sache ja längst nicht<br />
mehr: Wer sich zwischen Xbox und PlayStation entscheidet,<br />
entscheidet sich für ein ganzes Ökosystem mit<br />
Entertainment-Kanälen, Community, Video-Streaming,<br />
Musik, einem Bezahl- und Belohnungssystem, Basis- und<br />
Exklusivangeboten und nicht zuletzt den "perfektesten<br />
Videogames", die es "je zu spielen gab".<br />
Man muss hervorheben, dass für Sony und Microsoft<br />
einiges auf den Spiel steht, denn der geneigte Konsument<br />
entscheidet sich zunächst nur für ein Gerät und damit sind<br />
die Anteile des Kuchens vorerst klar verteilt. Fehltritte im heiß<br />
umkämpften Marktsegment der Videospielkonsolen und den<br />
inzwischen zugehörigen Anteilen der digitalen Unterhaltung<br />
hätten für beide Konzerne schwerwiegende Folgen.<br />
Selbst bei Nintendo, wo man sich bisher immer eindeutig<br />
als Spielzeughersteller definiert hat, ist man mit der Wii<br />
U, die seit etwa einem Jahr auf dem Markt ist, mit verbesserten<br />
Grafikprozessoren und einer Öffnung für Spiele von<br />
Dritthersteller einen weiteren Schritt in Richtung Konsolen-<br />
Mainstream gegangen. Hier verhält man sich aber antizyklisch<br />
und hofft, im richtigen Moment mit einem genialen<br />
Coup die Branche umzukrempeln, wie damals, mit der<br />
Wii und den inzwischen überall standardmäßig zugehörigen<br />
Motion Controllern.<br />
Im Vorfeld des fast gleichzeitigen Launch von Xbox One<br />
und PS4 analysierte die Games-Szene jede Pressemitteilung<br />
kritisch, um herauszufinden, auf welches Pferd man<br />
setzen sollte. Einige Ankündigungen Microsofts zu strengerem<br />
DRM von gebrauchten Spielen und die Diskussion<br />
um den Online-Zwang der Xbox One sind inzwischen vom<br />
Tisch, wohl auch, weil diese Themen bei Sony ganz ähnlich<br />
gehandhabt werden. Auch in Fragen der monatlich gebührenpflichtigen<br />
Mitgliedschaft im Playstation-Plus-Netzwerk,<br />
beziehungsweise bei Xbox Live Gold, verfolgen beide die<br />
gleiche Preis-Leistungs-Politik. Überhaupt ist es schwierig,<br />
grundsätzliche Unterscheidungen der beiden Konsolen herauszustellen.<br />
Beide nutzen gleiche Prozessoren, haben die<br />
selben Festplatten und auch sonst bezüglich der Leistung<br />
und unterstützten Formate keine endgültig überzeugenden<br />
Kaufargumente.
<strong>177</strong><br />
ElEctronic BEats<br />
FEstival<br />
Xbox und Playstation nutzen gleiche Prozessoren, haben die selben Festplatten<br />
und auch sonst bezüglich der Leistung und unterstützten Formate<br />
keine endgültig überzeugenden Alleinstellungsmerkmale. Das Ökosystem<br />
und dessen Flair entscheidet - und der Preis.<br />
Das Ökosystem entscheidet<br />
Community vorgestellt werden. Diese Möglichkeit der<br />
Und der Preis: Die PS4 wird 400 Euro kosten, die Xbox Teilhabe anderer am eigenen Spiel könnte vor allem<br />
Trends wie Machinimas, Alternative-Gaming und<br />
One hundert Euro mehr. Dafür ist bei Microsoft der Kinect-<br />
Sensor enthalten, die technisch beeindruckende Gesten- Challenge Runs verstärken und Wege aufzeigen, auf<br />
und Sprachsteuerung, mit der sich viele Funktionen der welche Arten sich die Grenzen von Spielwelten ausloten<br />
lassen und wie mit User Generated Content die<br />
Konsole bedienen lassen und in die man bei Microsoft<br />
große Hoffnungen setzt. Außer Tanz- und Sportspielen Spiele-Communities lebendig bleiben. Für den wichtigen<br />
Impuls frischer und innovativer Spielkonzepte soll<br />
sind aber innovative Konzepte für Kinect wegen spürbarer<br />
Latenz immer noch rar gesät. Das Sony-Äquivalent, das die von allen Konsolenherstellern betonte Öffnung für<br />
Playstation Eye, kann separat erworben werden.<br />
unabhängige Entwickler sein. Wie genau aber eine solche<br />
Implementierung in die ansonsten hermetisch abge-<br />
Neue Horizonte in Hinsicht auf Hardware eröffnen<br />
vor allem die Möglichkeiten des Cross Plattform Gaming schlossenen Systeme vonstatten gehen soll und welche<br />
und der "Companion-Apps". Auch das hat sich in der Werkzeuge unabhängigen Entwicklern an die Hand gegeben<br />
werden, darüber ist noch nichts bekannt.<br />
Vergangenheit mit der PS Vita und Nintendos Tablet-<br />
Controller, wo man von asynchronem Gameplay spricht,<br />
Welche Konsole soll es also sein? Auch die<br />
schon angedeutet. Die Spiele und Anwendungen verlassen<br />
die Konsole als stationäres Games-Center und Entscheidungshilfe. Weiß man doch schon länger, dass<br />
Exklusivtitel zum Launch geben hier keine eindeutige<br />
können jetzt mitgenommen werden. Vor allem verspricht<br />
Microsofts Smart-Glass-Applikation für mobile Entwickler die gegebenen Möglichkeiten besser nut-<br />
sich die Qualität einer neuen Konsole erst zeigt, wenn<br />
Geräte interessante Erweiterungen der Spielperspektiven zen können. Zwar gibt es die altbekannten Namen, wie<br />
und Bedienmöglichkeiten. Ein gutes Beispiel für eine<br />
Companion-App liefert der Überwachungs-Thriller One, aber die echten Gewinner im Battle der Konsolen<br />
Killzone bei Sony und auch eine neues Halo für die Xbox<br />
Watchdogs, bei dem Mitspieler von außen über ihr sind erstmal die großen Publisher Ubisoft, Activision oder<br />
Tablet mit der zugehörigen App ins Spiel von Freunden EA, die entweder mit Exklusivverträgen oder sowieso<br />
eingreifen können und beispielsweise Kameras und plattformübergreifend ihre Dauerbrenner FIFA, Call of<br />
Hubschrauber ansteuern. Ein anderes Beispiel sieht man Duty, oder Assassins Creed herausbringen.<br />
bei Sony in der plattformübergreifenden Marke Invizimals,<br />
Für mich klingt das trotzdem nach einem vielversprechenden<br />
Konsolen-Zyklus. Wahrscheinlich macht<br />
einer sammel- und erweiterbaren Figurenwelt, die sowohl<br />
im Kinderzimmer, als auch auf Handheld, Konsole und man mit keiner der beiden Konsolen irgendwas falsch.<br />
über eine Fernsehserie transmedial miteinander verknüpft Es bietet sich aber gerade ein Wechsel des Ökosystems<br />
wird.<br />
an, um das Gefühl der freien Entscheidung genießen zu<br />
Aufgrund größerer Leistung und verbesserter Online- können. Auch wenn man auf seiner bisherigen Konsole<br />
Funktionalitäten werden die Spielwelten komplexer und schon Community- und Spielerfolge gesammelt hat, bietet<br />
sich nun eine Gelegenheit die Konkurrenz anzutesten,<br />
noch mehr auf Multiplayer ausgerichtet sein. Die sogenannten<br />
Massive Multiplayer Online Games (MMOG), um dann beim nächsten Mal sagen zu können, wo es einem<br />
besser gefallen hat.<br />
die bisher hauptsächlich über PC gespielt wurden, finden<br />
ihren Platz nun auf den Konsolen und entwickeln<br />
da ein Eigenleben, auch wenn man selbst gerade nicht<br />
mitspielt. Viele dieser Welten sind free to play, also erstmal<br />
umsonst, bis man tiefer einsteigen will. Mit dem<br />
Trend der nachhaltigeren Spielwelten werden wir wohl<br />
Xbox One erscheint am 22. November,<br />
auch das bereits prophezeite Verschwinden des physischen<br />
Datenträgers erleben. Zukünftig werden Spiele ge-<br />
für ca 500 respektive 400 Euro.<br />
PlayStation 4 am 29. November<br />
streamt, in der Cloud gespielt und mit ständigen Updates<br />
erweitert.<br />
Ein sehr positiv aufgenommenes Feature der neuen<br />
Konsolen betrifft das Gameplay-Recording. Interessante<br />
Spielszenen können jetzt aufgezeichnet und in der 25<br />
DrEsDEn<br />
Alter<br />
SChlAChthof<br />
10.11.2013<br />
WooDkiD<br />
Mount KiMbie<br />
sizarr<br />
ElEctronicBEats.nEt
<strong>177</strong> — film<br />
bild b flickr.com/jdhancock<br />
Computer<br />
Chess<br />
Die Welt ist kein<br />
Schachbrett<br />
26
text Christian Blumberg <strong>177</strong><br />
i<br />
Indie-Filmemacher Andrew Bujalski<br />
beobachtet Nerds, die in den frühen<br />
Achtzigerjahren ein Schachcomputer-Turnier<br />
ausrichten. "Computer Chess" stellt in erster<br />
Linie die eigenen technischen Parameter aus,<br />
erzählt deshalb aber umso subtiler von ganz<br />
menschlichen Angelegenheiten.<br />
1979 übertrug das ZDF eine Schachpartie zwischen dem<br />
schottischen Meister David Levy und dem Großrechner<br />
CDC Cyber-176. Die Partie endete unentschieden. Levy<br />
e rneuerte danach ein Wette um einen mittleren Geldbetrag:<br />
Für zehn weitere Jahren erklärte er sich im Duell gegen einen<br />
Computer für unschlagbar. Die Wette ging selbstverständlich<br />
verloren, wenn auch nur knapp: Erst 1988 unterlag<br />
Levy einer Software.<br />
Ein ähnlicher Wettabschluss steht am Beginn von<br />
Andrew Bujalskis "Computer Chess". Das Ausmessen<br />
der Kräfteverhältnisse zwischen Mensch und Maschine<br />
soll im Film der Höhepunkt einer Konferenz werden, die<br />
in erster Linie aus einem Turnier besteht, auf dem zuvor<br />
der beste Schachcomputer der USA ausgespielt wird.<br />
Programmierer, Experimentalpsychologen, Nerds sowie<br />
das universitäre Informatik-Team des MIT haben deshalb<br />
unförmige Rechner in ein Hotel verfrachtet, es ist ungefähr<br />
1980. Eine der partizipierenden Crews tritt mit dem neuesten<br />
Modell aus Compaqs PDP-11-Reihe an. Stolz verweist<br />
man auf die Portabilität des Geräts: bei ebenerdigen<br />
Verhältnissen lässt es sich auf einem Rolltisch von nur zwei<br />
Personen herumschieben.<br />
Die Abdrücke, die ein solcher Transport im flauschigen<br />
70er-Jahre-Teppich der Mittelklasse-Hotelanlage<br />
hinterlässt, kann man nur erahnen.<br />
<strong>De</strong>nn Bujalski nimmt seinen Retro-<br />
Auftrag überaus ernst. Waren seine<br />
bisherigen Filme auf 16mm gedreht,<br />
der Kamera des amerikanischen<br />
Underground-Kinos, hat er<br />
für "Computer Chess" alte, analoge<br />
Videokameras benutzt. <strong>De</strong>ren<br />
schwarzweiße Bilder sind nicht<br />
bloß kontrastarm, sondern von<br />
einer regelrechten flatness. <strong>De</strong>r<br />
Einsatz von Video birgt im Kino<br />
gewisse Gefahren, bleibt doch ein<br />
Versprechen der Leinwand unerfüllt,<br />
die <strong>De</strong>tailfülle. Bujalkis Film<br />
bedient sich daher eines einfachen<br />
Kniffs: Er macht die Videokamera<br />
zu einem seiner Hauptdarsteller.<br />
Sie bekommt eine eigene Einführungsszene, und die von ihr<br />
produzierten Bildfehler – das Einbrennen heller Bildpunkte,<br />
durchlaufende Störstreifen etc. – sind die optischen<br />
Attraktionen von "Computer Chess". Visuelles Rauschen<br />
soll im Kino meistens einen ästhetischen Bruch herbei -<br />
führen. Bei Bujalski hingegen ist der Einsatz von Video keine<br />
bloße Retrostrategie, sondern die mediale Beglaubigung<br />
des historischen Kosmos. Seit Videokassetten o utmodet<br />
sind, wirkt die feh lende Taktilität ihrer Bilder ein wenig unheimlich.<br />
Es ist ganz s icher kein Zufall, dass gerade der<br />
fantastische Film oft auf VHS zurückgriff, wenn er vom<br />
Auftauchen geisterhafter Existenzen erzählte. Von den<br />
Gesichtern der Protagonisten in "Computer Chess" bleiben<br />
oft nur Schemen, weshalb sie mitunter eben auch ganz<br />
geisterhaft anmuten. Vielleicht so, wie Programmierer vor<br />
mehr als 30 Jahren wohl auch auf Teile ihrer Mitmenschen<br />
gewirkt haben müssen.<br />
Als Nerds noch Nerds waren<br />
Oder wie Aliens mit naturwissenschaftlichem Diplom, einer<br />
geheimen Sprache und Gadgets aus der Zukunft. Bujalskis<br />
period piece versteht sich in erster Linie als ver gnügliches<br />
Stück Zeitgeschichte, wobei das Vergnügen anfangs aus<br />
Stereotypen gezogen wird: ein sa me Typen mit schweren<br />
Hornbrillen und äußerst ungelenkem Auftreten bei der<br />
Partnersuche, diskutieren über die Grenzen der künstlichen<br />
Intelligenz und vermuten hinter dem Versagen eines<br />
Schachcomputers mindestens das Pentagon, beziehungsweise<br />
den "militärisch-industriellen Komplex".<br />
Bipolare Welt, Binärcodes, Schachbretter: Zunächst inszeniert<br />
Bujalski dies unter Zuhilfenahme authentischer<br />
Strategien, etwa solchen der Mockumentary und des<br />
Von den Gesichtern der<br />
Protagonisten bleiben oft<br />
nur Schemen. Fast geisterhaft<br />
muten sie an. So wie<br />
Programmierer vor<br />
30 Jahren auf ihre<br />
Mitmenschen wirkten.<br />
Cinéma Vérité – die Bilder des<br />
Films werden i mmer an die diegetische<br />
Anwesenheit dokumentierender<br />
Kameramänner zurückgebunden.<br />
Nun verfügt Bujalski<br />
2013 über einen Blick der technologischen<br />
Überlegenheit. Doch<br />
dankenswerterweise, sonst wäre<br />
Computer Chess wohl recht<br />
stumpfe Comedy geworden, spielt<br />
er diese Position nicht gegen seine<br />
Figuren aus. Stattdessen kippt<br />
der Film nicht nur formal in einen<br />
zunehmend erzählenden<br />
Modus, fortlaufend werden kleine<br />
Nebenschauplätze eröffnet:<br />
Eine Gruppe Esoteriker trifft sich<br />
zu einer Art Erkenntnistherapie<br />
im Hotel. Von den Programmierern werden sie zunächst<br />
argwöhnisch begutachtet, die Unterschiede scheinen zumindest<br />
in Fragen von Ideologie und Gebaren (sie wühlen<br />
ihre Hände in Weißbrotlaiben und stöhnen vor Wonne) unüberwindbar.<br />
Später checkt, noch myste riöser!, eine Horde<br />
Katzen ein. Und natürlich entwickelt einer der Computer ein<br />
widerspenstiges Eigenleben. Es verwundert kaum, dass<br />
das Mensch-Maschine-Duell, auf das hier doch alles hinauslaufen<br />
sollte, weder den Erwartungen der Figuren,<br />
noch denen des Zuschauers entsprechen wird. "Computer<br />
Chess" ist kein Film über Nerds und ihre Computer, eher<br />
einer über Kommunikationsprobleme. Über das Handeln<br />
und Nichthandeln in Situationen, in denen die eigenen<br />
Strategien nicht weiterhelfen. Die Welt ist kein Schachbrett<br />
– wäre dies allein Bujalskis menschelnde Lektion, die beleidigte<br />
Zuschauerintelligenz würde ihm eine kleben wollen.<br />
Sein zeit- und ideengeschichtliches Spiel aber ist zu<br />
kontrastarm und zu klug zum Moralisieren, auch zu leise.<br />
Es wird derzeit viel von einer Renaissance des USamerikanischen<br />
Indie-Kinos gesprochen. "Computer<br />
Chess" darf als weiterer Zeuge dafür gelten. Auch weil den<br />
Film eine Aura des Glaubhaften umgibt, was weniger mit<br />
dem Videomaterial als mit der Tatsache zu tun hat, dass<br />
Bujalski beispielsweise einen Informatikprofessor einfach<br />
von einem Informatikprofessor spielen lässt. So schön und<br />
einfach ist es.<br />
COMPUTER CHESS (USA, 2013)<br />
Regie: Andrew Bujalski<br />
Kinostart: 07.11.2013<br />
Verleih: Rapid Eye Movies<br />
piano+ konzerte<br />
27.–29.II. täglich ab 20 uhr<br />
27.ll.—30.ll. 20l3<br />
festival elektronischer musik<br />
www.zkm.de/musik<br />
giga-hertz-preis für<br />
– elektronische musik<br />
– sound art<br />
preisverleihung mit konzerten<br />
30.II. ab 19 uhr 30<br />
kooperationspartner von giga-hertz-preis:<br />
medienpartner:
Text Thaddeus Herrmann<br />
Jonsson<br />
/Alter<br />
"Das Echte liegt in der<br />
Zukunft und nicht im Kauf<br />
einer überteuerten Drum<br />
Machine von 1982"<br />
Die beste HiHat der Welt klingt exakt wie<br />
das Schnarren einer Fahrradkette, die an der<br />
Abdeckung schleift, meinen Jonsson/Alter.<br />
Zum lang erwarteten zweiten Album stellen<br />
wir mit den Schweden die dringlichen Fragen<br />
nach der Authentizität.<br />
Bei Joel Alter brummt es. Laut und ausdauernd. Die<br />
Gegensprechanlage bespielt das frühabendliche Chaos<br />
in Berlin-Neukölln; die Eckfrequenz ist deep. Sanft blendet<br />
sich der Wahnsinn aus. Wir steigen hinauf gen nicht-ausgebautes<br />
Dachgeschoss; hinter der Wohnungstür ist sein<br />
Studio im Auto-Modus. Dort, wo andere Mieter ihre Mäntel<br />
aufhängen würden, in der Diele ganz rechts, ist das spärliche<br />
Equipment verkabelt. Alter schaltet um, beugt sich<br />
über die Plattenkiste, greift blind hinein, legt auf und drückt<br />
auf Play. Es duftet nach Abendessen, Henrik Jonsson positioniert<br />
die Weingläser, gießt ein. Alter nimmt Platz, steht<br />
sofort wieder auf und holt ein paar Pflanzen vom Balkon<br />
ins Warme: jetzt aber.<br />
"Das neue Album ist ein pulsierendes Rechteck", sagt<br />
Jonsson. So hätte ihm ein Bekannter "2" beschrieben, nachdem<br />
er ihm es vorgespielt habe, und da habe er dann doch<br />
die Basecap abnehmen und sich am Kopf kratzen müssen.<br />
Aber, erläuterte der Bekannte weiter, rechteckig im Sinne<br />
von klar strukturiert und sehr funktional. Und innerhalb der<br />
definierten Fläche, da vibriere es. Wir stoßen an. Auf den<br />
g efundenen Dancefloor. <strong>De</strong>nn ihr gemeinsames <strong>De</strong>büt,<br />
"Mod" von 2011, beschrieb eine Graswurzel-Tanzfläche, die<br />
verteidigt werden will, die genau das behandelt, worum es<br />
in der Dancemusic immer ging: um die dire kte und kompromisslose<br />
Konfrontation von Maschinen und den Händen,<br />
die sie bedienen. Es war aber auch eine LP, die vor allem<br />
zu Hause die Diskokugel anknippste, die jenen Rumms<br />
feierte und perfektionierte, den kaum jemand mehr wagt<br />
aufzulegen. Von dem man träumt, der aber vielleicht doch<br />
zu persönlich und ursprünglich spröde daherkommt. "2"<br />
klingt anders. Ist direkter. Steigt schneller ein. Und stellt<br />
die Kickdrum auf einen Thron, den man bei Jonsson/Alter<br />
zwar immer erahnte, den die beiden Berliner Schweden so<br />
aber noch nie in Tracks gegossen haben. "Live natürlich<br />
schon", sagt Alter. "Aber die Produktion der neuen Platte<br />
28<br />
lief anders ab. Wir haben mehr Zeit damit verbracht, in die<br />
Tracks hineinzuhören, versucht, die Essenz auszumachen.<br />
Was ist die beste Richtung, die die Skizze nehmen könnte?"<br />
"Shaking out the kicks!", sagt Jonsson und lacht. "Ist das<br />
Drumprogramming der wichtigste Faktor in diesem Track?<br />
Dann haben wir daran gefeilt. Und wenn es eher die Chords<br />
und Flächen waren, die die Grundidee ausmachten, dann<br />
haben wir uns darauf konzentriert", fährt Alter fort. "Dadurch<br />
sind die Stücke für sich genommen besser ausbalanciert<br />
und haben einen schärferen Fokus."<br />
Synth. Kick. HiHat. Fertig.<br />
Es ist immer noch ein sanftes Herantasten aneinander.<br />
Irgendwann sind Jonsson und Alter in Berlin übereinander<br />
gestolpert. Alter der DJ und Produzent, Jonsson der,<br />
der vor allem mit seinen Releases als Porn Sword Tobacco<br />
Eindruck hinterlassen hat, einem Projekt, das eine Art<br />
Ventil bildete, um mehr als zehn Jahre erfolgreiche Arbeit<br />
in der Techno-Welt abzustreifen. "Ich hatte wirklich vergessen,<br />
welche Dynamiken den Club bestimmen. Was wie<br />
funktioniert und was eben auch nicht. Als wir dann nach<br />
der ersten LP anfingen, live zu spielen, kam das schrittweise<br />
zurück. So bin ich auch die Produktion von '2' angegangen.<br />
Raus mit dem ganzen Ballast, dem Rauschen,<br />
das ja auch auf der ersten LP ein tragender Bestandteil war.<br />
Komplette Reduktion. Synth. Kick. HiHat. Fertig."<br />
Die beste HiHat der Welt klingt laut Jonsson dann<br />
auch nicht einfach wie eine HiHat, sondern eher wie das<br />
Schnarren einer Fahrradkette, die an der Abdeckung schleift.<br />
Auf "Tribunen", einem darken Einton-Monster der neuen<br />
LP, kann man das exakt nachhören. Dabei ist die Platte<br />
überhaupt alles andere als eine berechenbare und exakte<br />
Wissenschaft, ein kalkulierter Kontrapunkt zum frei schwebenden<br />
und doch dringlichen Erstling. <strong>De</strong>nn "2" verbindet<br />
zwei Welten, die heute selten, viel zu selten auf Produktionen<br />
zusammen gedacht werden. Da ist das klar definierte, anschlussfähige<br />
Beat-Skelett, das überdeckt wird von einem so<br />
noch nie umgesetzten kompositorischen Feingefühl. Arsch<br />
auf Eimer? Eher Rose in der perfekten Vase.<br />
"Ich empfinde die Arbeit an unserem Projekt eher als<br />
Songwriting und nicht als Produktion von Tracks", sagt<br />
Alter. "Und es ist doch ein großes Missverständnis, dass<br />
Songs sich über Vocals definieren. Eine kleine Melodie<br />
kann das Persönliche, das Wiedererkennbare genau so<br />
gut widerspiegeln, wie Gesang. So entstehen in der Regel<br />
auch die Stücke. Wir sprechen miteinander. Über Bücher,<br />
Filme, Erinnerungen, die wir beide an Schweden haben
»<br />
Jonsson/Alter,<br />
das ist etwas sehr<br />
persönliches. Ich brauche<br />
keine komplexen<br />
Beat-Arrangements,<br />
um anders<br />
zu sein. Ich bin<br />
einfach ich.<br />
«<br />
und dann fängt einer von uns beiden einfach an. Jonsson/<br />
Alter, das ist etwas sehr Persönliches. Ich brauche keine<br />
komplexen Beat-Arrangements, um anders zu sein. Ich bin<br />
einfach ich." "Das entwickelt sich auch stetig weiter", sagt<br />
Jonsson, "der Prozess ist noch längst nicht beendet."<br />
Ne touche pas mon 808<br />
Ganz ohne Vocals kommt "2" dann aber doch nicht aus.<br />
"Brevet Hem" ist mit der japanischen Sängerin Kazumi entstanden,<br />
die sich nur alle paar Jahre wirklich dazu überreden<br />
lässt, ihren einzigartigen Gesang aus erfundenen Lauten<br />
und Versatzstücken gleich mehrerer Sprachen freizugeben.<br />
Ein Track, pardon, Song, der auch von Trevor Horn stammen<br />
könnte. Mit fokussiertem Slap Bass wie aus einem 12"-<br />
Mix von Art Of Noise, weichen Chords und "diesem gewissen<br />
Extra an Emotion, was ich in Musik immer suche", sagt<br />
Jonsson. "Das ist natürlich vermessen, so etwas über ein<br />
eigenes Stück zu sagen, aber es sticht heraus". "Wir haben<br />
sogar einen Radio Edit davon gemacht. Mein erster überhaupt",<br />
sagt Alter. "<strong>De</strong>r erscheint<br />
als 7." Haben Radiosender heute<br />
überhaupt noch Plattenspieler?<br />
Heutzutage ist sowieso<br />
alles anders. In den Clubs haben<br />
Jonsson/Alter bislang eher<br />
indirekt Spuren hinterlassen.<br />
"Mod" ist eine der wichtigsten<br />
Inspirationsquellen der letzten<br />
zwei Jahre. Ideen und Sounds<br />
dieser Platte wurden von vielen<br />
Produzenten aufgegriffen und in<br />
ihren eigenen Tracks verarbeitet.<br />
Ein unbeachteter Ritterschlag in<br />
einem Business, "in dem immer<br />
weniger gewagt wird. So empfinde<br />
ich das jedenfalls", sagt Alter.<br />
Und plötzlich sind wir mittendrin<br />
in der alten Diskussion über<br />
oldschool und newschool, Laptop<br />
vs. Hardware, die überrissenen<br />
Preise für Rolands alte Maschinen-<br />
Garde und der auch 2013 noch<br />
dringlichen Frage nach Authentizität. "Die liegt doch in der<br />
Zukunft und nicht im Kauf einer überteuerten Drum Machine<br />
von 1982", sagt Alter. "Ich muss meine 808 jetzt wirklich in<br />
Schutz nehmen", sagt Jonsson. "Die kann nämlich rein<br />
gar nichts für die Gebrauchtmarktpreise." "Es geht doch<br />
auch darum, so viel unterschiedliche Einflüsse in sich<br />
aufzusaugen wie möglich, wenn man selber Musik macht",<br />
setzt Alter fort. "<strong>De</strong>shalb finde ich es auch überhaupt nicht<br />
schlimm, wenn Produzenten unsere Idee weiterentwickeln.<br />
Ich lebe jetzt schon eine ganze Weile in Berlin. Hier gibt es<br />
eine ganze Generation, die ausschließlich mit Techno und<br />
House aufgewachsen ist. Ich finde das problematisch, zu<br />
eingleisig. Aber es ist möglich, weil es die Clubszene gibt. In<br />
Schweden wäre das vollkommen undenkbar. Die paar Partys<br />
am Wochenende, die nimmt man zwar dankbar auf und mit.<br />
Man ist aber immer auch mit anderer Musik konfrontiert, die<br />
dann auch eine Rolle spielt. Je mehr Musik man hört, desto<br />
besser und einzigartiger wird man selbst. Wie man das dann<br />
produziert, ist vollkommen egal."<br />
"2" erzählt genau diese Geschichte in den schillernsten<br />
Farben.<br />
Jonsson/Alter, 2,<br />
ist auf Kontra-Musik Records/<br />
Clone erschienen.<br />
<strong>177</strong> — musik<br />
29<br />
NILS PETTER MOLVAER<br />
MORITZ VON OSWALD<br />
1/1<br />
Nils Petter Molvaer - trumpet<br />
Moritz von Oswald - electronics<br />
„Fantastisch unkonventionell“<br />
DIE ZEIT<br />
„Hier haben sich zwei Künstler gefunden“<br />
JAZZPODIUM<br />
„Diese Musik hat Kraftwerk genauso viel zu<br />
verdanken wie Miles Davis“<br />
FAZ<br />
„Molvaer als lyrisches Element und von Oswald<br />
als Architekt synthetisch-dissonanter Stimmungen<br />
addieren sich zu einem überzeugenden Ganzen“<br />
NEWS.CH<br />
Emarcy 06025 3743670<br />
Auch als Download<br />
und Doppel-Vinyl<br />
www.nils-petter-molvaer.de<br />
www.jazzecho.de<br />
www.facebook.com/jazzecho
Text Jan Wehn<br />
Syrischer Volksheld, Hochzeits-<br />
Sänger in traditioneller Kutte!<br />
Hipper Gegenentwurf zum<br />
verwestlichten Ethno-Pop?<br />
Wir fragen uns: Wie sollen wir<br />
eigentlich den hiesigen Hype um<br />
jemanden werten, dem Michael<br />
Jackson und die Beatles angeblich<br />
unbekannt sind und dessen neue<br />
Platte von Four Tet produziert<br />
wurde? Was steckt hinter Omar<br />
Souleyman?<br />
Durchsucht man das Internet nach Videos<br />
von Omar Souleymans Auftritten, sieht<br />
man zweierlei. Einmal sind es Aufnahmen<br />
vom Glastonbury Festival aus dem Jahr<br />
2011. <strong>De</strong>r Sänger schreitet von links nach<br />
rechts und wieder zurück über die Bühne,<br />
auf der Oberlippe einen Schnurrbart,<br />
auf der Nase eine Sonnenbrille wie sie<br />
Kampfpiloten tragen und auf dem Kopf eine<br />
mit Kordeln fixierte Kufiya, die traditionelle<br />
arabisch e Kopfbedeckung. Die Besucher<br />
kreischen frenetisch und versuchen sich<br />
im Ausdruckstanz. Die anderen Bilder sind<br />
verwackelte Aufnahmen von Hobbyfilmern.<br />
Sie zeigen prunkvoll geschmückte Räume,<br />
in denen Hochzeitsgesellschaften<br />
Kreistänze vollführen. In ihrer Mitte: Omar<br />
Souleyman, der andächtig umherschreitet<br />
und zur Melodie der hypnotisch hin- und<br />
herhüpfenden Zithern klagend ins Mikrofon<br />
singt. Zwischen den Aufnahmen liegen nur<br />
ein paar Wochen.<br />
Kassetten-Shop<br />
Wenn man das Phänomen Omar<br />
Souleyman verstehen will, muss man sich<br />
zuerst mit Mark Gergis beschäftigten. Unter<br />
dem Namen Porest ist der Amerikaner<br />
eine multimedial werkelnde Ein-Mann-<br />
Armee, als hyperaktiver Collagist der<br />
Popkultur und als Mitgründer des Labels<br />
Sublime Frequencies. Hier sammelt und<br />
veröffentlicht er - genau wie bei seiner<br />
eigenen kleinen Plattenfirma Sham Palace<br />
- Musik, Film und Field Recordings, die<br />
er auf ausgedehnten Reisen durch Asien<br />
und den Nahen Osten entdeckte. "Choubi<br />
Choubi! Folk & Pop Songs from Iraq" oder<br />
"Shadow Music from Thailand" sind nur<br />
einige von Gergis zahlreichen Compilations<br />
und Reissues.<br />
Während der stundenlangen Autofahrten<br />
auf seiner ersten Reise nach Syrien im Jahr<br />
1997 lauschte Gergis ständig der gleichen,<br />
treibenden traditionellen syrischen Musik,<br />
die immer wieder in Richtung Elektronika<br />
ausschritt. Auf Nachfrage verwiesen die<br />
Syrer ihm zufolge stets auf das Werk<br />
von Omar Souleyman: einem 1966 in der<br />
nordsyrischen Stadt Ra's al-'Ayn geborenen<br />
30<br />
Sänger, der mit seiner Musik in seinem<br />
Heimatland und der gesamten arabischen<br />
Welt Heldenstatus erlangte - angeblich.<br />
Für Souleymans Ruhm gibt es im Netz<br />
nur wenige Beweise, aber so geht nun mal<br />
die Geschichte, die Mark Gergis erzählt:<br />
Er kaufte so viele Kassetten und CDs von<br />
Souleyman zusammen wie er nur konnte.<br />
Wieder daheim reifte mit seinem Label-<br />
Partner Alan Bishop die Idee, dem syrischen<br />
Superstar auch in Amerika und Europa ein<br />
Outlet zu bieten. 2006 fand der Sublime-<br />
Frequencies-Gesandte in einem Kassetten-<br />
Shop in der Stadt Aleppo endlich jemanden,<br />
der die Nummer von jemandem besaß,<br />
der wiederum die Nummer von Omar<br />
Souleyman hatte.<br />
Fremdartiger Kitsch<br />
Nach einem Treffen unterbreitete Gergis<br />
Souleyman das Angebot, seine Musik zu<br />
veröffentlichten. Trotz der vergleichsweise<br />
bescheidenen Reichweite eines auf<br />
Nischenmusik spezialisierten Labels machte<br />
das erste Release "Highway To Hassake"<br />
bald die Runde. Es folgte "I Remember<br />
Syria", die Videos griffen ordentlich YouTube-<br />
Klicks ab, Björk listete zwei Songs von<br />
Souleyman in ihrer NPR-Playlist für das<br />
Jahr 2012, orderte Remixe für ihre Serie<br />
von "Crystaline"-Neuinterpretationen und<br />
die Kollaboration mit Blur verpasste laut<br />
Frontmann Damon Albarn nur knapp eine<br />
Platzierung auf deren Album "Plastic Beach".<br />
<strong>De</strong>r Hype kommt nicht von ungefähr.<br />
Mit seinen rumpelnden und rauschenden<br />
Lo-Fi-Aufnahmen, den flimmernden<br />
Konzertmitschnitten von syrischen<br />
Hochzeiten und seinem Kleidungsstil<br />
fernab vom Urban-Outfitters-Diktum<br />
passt Souleyman, der Orient und Okzident<br />
mithilfe von arabisch interpretierter New-<br />
Wave-Musik einander näher bringt, ganz<br />
wunderbar ins Bild der Weltmusik-Jünger<br />
zwischen Leipzig und London - liefert er<br />
mit ungekannter Theatralik, fremdartigem<br />
Kitsch und einer Affinität zum "westlichen"<br />
Rhythmus doch eine willkommene<br />
Alternative zum inflationären Aufkommen<br />
von Mottoparty-tauglich getrimmten<br />
Ethnomusik-Trends wie Gipsy Jazz, Klezmer<br />
Pop oder Balkanbeats.<br />
Das minutenlange Scheppern<br />
<strong>De</strong>nn es ist doch leider nun mal so: Egal,<br />
ob es sich um die Bhangra-Blödeleien von<br />
Panjabi MC oder die Tamil-Tigers-Koketterie<br />
einer M.I.A handelt: Jede Abweichung<br />
(die gerade genau richtig eben auch nicht<br />
abweicht) von der Mainstream-Norm<br />
wird als eierlegende Wollmilchsau durchs<br />
Dorf getrieben. Freilich hat Souleyman<br />
Mit seinen rumpelnden und<br />
rauschenden Lo-Fi-Aufnahmen,<br />
den flimmernden Konzertmitschnitten<br />
von syrischen Hochzeiten und<br />
seinem Kleidungsstil fernab vom<br />
Urban-Outfitters-Diktum passt<br />
Souleyman ganz wunderbar ins Bild<br />
der Weltmusik-Jünger zwischen<br />
Leipzig und London.<br />
in den letzten Jahren erfolgreich die<br />
großen Hipster-Symposien von SXSW<br />
bis Glastonbury abgeklappert. Aber<br />
Souleymans Siegeszug wurde auch<br />
kritisch beäugt, ist er doch weit mehr als<br />
jemand, der mit unkundigen Folklorezitaten<br />
herumhantiert.<br />
Die Musik, die er gemeinsam mit<br />
seinem Keyboarder Rizan Sa’id macht,<br />
ist die Begleitung zu dem orientalischen<br />
Reihentanz Dabke, der auf Hochzeiten und<br />
Festen im arabischen Raum getanzt wird.<br />
<strong>De</strong>r Sound von Souleyman lebt von der<br />
Präzision ebenso wie von sympathischen<br />
Schlampereien. Das minutenlange<br />
Scheppern von akzentuierten Flöten und<br />
gezupften Saiten verquirlt sich mit der<br />
Schmerzenslyrik Souleymans zu einem<br />
hypnotischen Strudel futuristischer<br />
Folkmusik.<br />
<strong>De</strong>n treibenden Tanzrhythmus versieht<br />
Souleyman mit Texten über gebrochene<br />
Herzen, Liebeserklärungen an die eigene<br />
Mutter und Zwangsehen. Die zum<br />
konkreten Verständnis von der Plattenfirma<br />
ausgehändigten Übersetzungen kann man<br />
getrost beiseite legen. Souleymans Stimme,<br />
die mal voller Schmerz, mal beinahe in<br />
flachsender MC-Manier daherkommt,<br />
sagt mit ihrem schwülstig-opulenten<br />
Subtext immer genau das Richtige. Zu<br />
der Andersartigkeit gesellt sich auch eine<br />
Einzigartigkeit: Omar Souleyman hat nie von<br />
einem Michael Jackson gehört, die Beatles<br />
oder Elvis Presley sind ihm ebenso fremd,<br />
hat Mark Gergis einmal in einem Interview<br />
erzählt. Und als er Souleyman die Musik<br />
von Porest vorspielte, brach der Sänger in<br />
schallendes Gelächter aus, erinnerte sie<br />
ihn doch an die Geräusche von Insekten.<br />
Dann aber kommt Produzent Four Tet.<br />
Gemeinsam mit dem Folktronic-Vielwerker<br />
hat Souleyman in einer gemeinsamen, nur<br />
vierstündigen Session in Brooklyn sein<br />
erstes Studioalbum aufgenommen. Es heißt<br />
"Wenu Wenu", was so viel wie "Wo ist sie?"<br />
bedeutet. Schön: Four Tet hat in keinem<br />
Moment auch nur daran gedacht, in das<br />
Souleyman’sche Handwerk einzugreifen. Es<br />
gibt keine durch den Kompressor gejagte<br />
Kickdrum, keine zurechtgesampleten<br />
Library-Music-Extrakte. Natürlich klingt<br />
alles etwas klarer, ausproduzierter.<br />
Ansonsten ist jedoch alles wie immer:<br />
untenherum schnurgerade Vierviertel-<br />
Didaktik, nur von ein paar Trommeln<br />
unterbrochen, obenrum Trance evozierende<br />
Freidreher aus rhythmisch gezupften Lauten<br />
und geflöteten Kapriolen. Es liegt nahe,<br />
die Musik eines syrischen Musikers mit<br />
Monopol auf dem westlichen Markt als<br />
rebellischen Report aus krisengeschüttelten<br />
Gebieten, als eine Art hochkulturelle<br />
Kriegsaufbereitung zu deuten. Souleyman<br />
hat in Interviews aber immer wieder betont,<br />
kein politischer Musiker zu sein. Wenngleich<br />
er mit seiner Familie mittlerweile im<br />
türkischen Şanlıurfa lebt, sind weder seine<br />
blümeranten Texte als codierte Botschaften<br />
aus dem Epizentrum des Konfliktes zu<br />
verstehen, noch machen die ungelenken<br />
Versuche mancher Journalisten Sinn,<br />
Souleymans Band als multiethnisches und<br />
–religiöses Konglomerat und somit eine<br />
gelungene Form der Völkerverständigung<br />
und Forschungsprojekt für langfristige<br />
Konfliktlösungen im nahen Osten zu<br />
interpretieren.<br />
Tausende bejubeln den syrischen<br />
Sänger bei seinen Konzerten, die<br />
arabischen Communities hüben wie drüben<br />
freuen sich über hiesige Auftritte ihres<br />
Helden. All das hat nichts mit Politik zu<br />
tun. Oder anders und ganz platt gesagt:<br />
Omar Souleyman unterscheidet sich rein<br />
äußerlich nicht groß von Yassir Arafat oder<br />
Saddam Hussein. Man muss so dumm<br />
denken, um im Umkehrschluss festhalten<br />
zu können: Dass Omar Souleyman mit<br />
Hilfe von Mark Gergis die syrische und<br />
arabische Kultur und ihre Erscheinung in<br />
der sogenannten westlichen Welt in ein<br />
gutes Licht rückt, ist viel wert.
<strong>177</strong> — musik<br />
Omar<br />
sOuleyman<br />
Hochzeit in Syrien<br />
Omar Souleyman & Four Tet, Wenu Wenu,<br />
ist auf Domino/Good To Go erschienen. 31
<strong>177</strong> — breakbeat revival<br />
re:<br />
break<br />
Nostalgische<br />
<strong>De</strong>konstruktionen<br />
32<br />
"Hast du jemals<br />
zwischen Stroboskop-<br />
Strahlen und dichtem<br />
orangefarbenen Dunst<br />
gestanden, auf einer<br />
endlosen Welle von<br />
Musik dahintreibend?<br />
Auf der es für einen<br />
kurzen Moment ganz<br />
egal ist, wer du bist,<br />
was du machst oder<br />
wie du aussiehst?"
Text Philipp Rhensius <strong>177</strong><br />
Tessela<br />
A<br />
Die Sehnsucht nach einer vergangenen<br />
Clubmusik-Ära, die im Soundcloud-<br />
Auftritt des Produzentenkollektivs R-Zone<br />
anklingt, erzählt von einer neuen Tendenz<br />
in der aktuellen Dancemusic: dem Trend,<br />
beziehungsweise weniger hochstapelnd,<br />
dem Comeback des Breakbeats. Eine<br />
Renaissance von Samples aus dem<br />
Archiv des britischen Hardcore und<br />
Jungle: retrofuturistische Alarmsirenen,<br />
schrille Klangfarben, hochgepitchte<br />
Vocals, 808-Sounds und immer wieder der<br />
Amen-Break. Klänge und Beats, die in den<br />
90ern einst die Körper hunderttausender<br />
Clubgänger umprogrammierten.<br />
Während die akustischen Referenzen<br />
von Künstlern wie R-Zone ("Romijn<br />
Ravine"), Special Request ("Lockjaw"),<br />
Pangaea ("Hex") oder Tessela ("Helter<br />
Skelter") sehr direkt sind, werden sie bei<br />
Om Unit ("Governer's Bay"), dem Bristoler<br />
Kollektiv Livity Sound oder in der jüngst<br />
erschienenen "Test Pressings"-Reihe von<br />
<strong>De</strong>mdike Stare eher subtil eingesetzt.<br />
Besonders populär ist dabei der Amen- <strong>De</strong>r neue Breakbeat-Sound ist mal<br />
Break, der sich als sechssekündiges Drum-<br />
Sample aus dem Song "Amen, Brother" der<br />
ideologiefreies Recycling zur Erschaffung<br />
Soulband The Winstons von 1969 zunächst einer Retro-Atmosphäre, mal kulturkritische<br />
über amerikanischen HipHop und dann<br />
durch den britischen Jungle ins kollektive Spiegelung einer Utopie-losen Gegenwart,<br />
Hörbewusstsein einprägte. Heute ist der<br />
Amen-Break das akustische Totem einer<br />
mal das Füllen einer kreativen Leerstelle.<br />
gealterten Subkultur, das zersetzend auf die<br />
ohnehin brüchig gewordenen Stilgrenzen<br />
wirkt. Während es bei Special Request oder<br />
Tessela im Zentrum der Komposition steht,<br />
unterwirft Andy Stott es in "Up The Box"<br />
einer radikalen Zeitraffung und entzieht<br />
ihm damit jegliche Energie.<br />
Tessela - dessen in britischen Clubs hoch<br />
gehandelter Hit "Hackney Parrot" mit<br />
seinen überdrehten Diven-Vocals und dem<br />
gecutteten Amen-Break klingt wie eine<br />
verhalf. Zwei Jahre später setzte Zomby<br />
mit dem Album "Where were you in<br />
1992?" einen Meilenstein auf dem Gebiet<br />
der retrospektiven Aneignung eines<br />
Dass bestimmte Klänge zu Track-gewordene Verdichtung der frühen zwanzig Jahre alten Lebensgefühls.<br />
unterschiedlichen Zeiten neu aufgegriffen<br />
werden, ist eine Konstante der<br />
Musikgeschichte. So wurde das aus der<br />
Barockmusik stam mende Seufzermotiv<br />
besonders in der Klassik neu entdeckt, um<br />
etwa Trauer darzustellen. Was sich heute<br />
jedoch grundlegend geändert hat, sind,<br />
neben dem hohen Tempo, in dem sich neue<br />
Ideen verbreiten, die Aneignungsstrategien.<br />
So scheint der neue Breakbeat-Sound<br />
zwischen verschiedenen Modi zu<br />
changieren: dem ideologiefreien Recycling<br />
zur Erschaffung einer Retro-Atmosphäre,<br />
der kulturkritischen Spiegelung einer<br />
Utopie-losen Gegenwart oder schlicht dem<br />
Füllen einer kreativen Leerstelle, die heute<br />
aufgrund der unendlichen Möglichkeiten<br />
der digitalen Musikproduktion besteht.<br />
britischen Clubmusikgeschichte - geht es<br />
vor allem darum, ein verloren geglaubtes<br />
Gefühl zu konservieren: "Nostalgie hin oder<br />
her: Wenn ich mir die Dokumentationen aus<br />
der Rave-Zeit anschaue, vermisse ich diese<br />
Zeit", erzählt er im Interview mit Resident<br />
Advisor, bevor der nächste Satz alles auf<br />
den Kopf stellt: "Auch wenn ich damals erst<br />
ein oder zwei Jahre alt war." Eine Tatsache,<br />
die er mit vielen Protagonisten der Post-<br />
Jungle-Welle teilt und die man bereits aus<br />
dem legendären Gespräch zwischen dem<br />
Musikjournalisten Martin Clark und Burial<br />
kennt, in dem letzterer von den alten Jungle-<br />
Tapes des älteren Bruders schwärmt, die er<br />
im Londoner Kinderzimmer hörte.<br />
Burial war es dann auch, der 2006 dem<br />
Mythos Jungle zur neuen Salonfähigkeit<br />
Doch der wahre Ursprung der heutigen<br />
Breakbeat-Renaissance liegt im London<br />
der frühen 2000er-Jahre, als Drum and<br />
Bass längst zu einer Testosteron-geladenen<br />
Karikatur seiner selbst und UK Garage zum<br />
Soundtrack für Champagner trinkende<br />
Wohlstands-Clubber verkam. Mit Dubstep<br />
entstand ein Stil, der dem Bedürfnis nach<br />
rhythmischer Komplexität und kathartischen<br />
Subbässen vorausging und sich mit seiner<br />
radikalen Entschleunigung bei einer maximal<br />
reduzierten Ereignisdichte als akustische<br />
Opposition gegen eine übersättigte<br />
33
<strong>177</strong> — breakbeat revival<br />
und daueraffirmative Popmusik<br />
positionierte. Kurz danach folgten UK Funky,<br />
die technoideren Dubstep-Hybride der<br />
Bristol-Berlin-Achse und nicht zuletzt das<br />
aus den USA importierte Footwork. So war<br />
Dubstep wie ein transzendentales sonisches<br />
Tor in die Vergangenheit, durch das junge<br />
Produzenten und Clubgänger retrospektiv<br />
die Ursprünge des Stils kennenlernten<br />
und neue Labels gründeten, wie etwa<br />
Pearson Sound, Pangaea und Ben UFO<br />
mit ihrem Label Hessle Audio. Aktuell sind<br />
das 2012 gestartete Houndstooth (Special<br />
Request, Akkord), aber auch das Drumand-Bass-Flaggschiff<br />
Metalheadz wichtige<br />
Petrischalen eines neuen Breakbeat-<br />
Verständnisses, indem sie einen hybriden<br />
Sound zwischen Techno, Jungle und frühem<br />
Dubstep prägen.<br />
Als zentrale Kompositionspraxis<br />
hat sich das Prinzip der Gleichzeitigkeit<br />
verschiedener Geschwindigkeiten innerhalb<br />
eines Tracks durchgesetzt, die durch einen<br />
im halben Tempo stehenden Backbeat<br />
(Bassdrum und Snare) und in doppelter<br />
Geschwindigkeit stehende Percussion<br />
erzeugt werden. Die Dubstep-typischen<br />
70 beziehungsweise 140 Bpm haben<br />
sich inzwischen bei 80 beziehungsweise<br />
160 eingependelt, wobei Künstler wie<br />
Pangaea, Akkord und Tessela mit Tracks<br />
rund um 130 Bpm die Anschlussfähigkeit<br />
an House- oder Technosets bewahren und<br />
so ein größeres Publikum erreichen. Die<br />
wichtigste Eigenschaft dieses Slowfast-<br />
Prinzips besteht in der Wirkung auf den<br />
Körper. Durch die Parallelität zweier<br />
rhythmischer Muster, also der Betonung<br />
auf der zweiten und vierten Zählzeit und<br />
des darüber liegenden, doppelt oder sogar<br />
viermal so schnellen Beats, entsteht eine<br />
Spannung, die, mithilfe der von reduzierten<br />
Klangereignisse erzeugten Leerstellen, zum<br />
körperlichen Mitvollzug geradezu auffordert.<br />
Die neuen Breakbeat-Vertreter liefern<br />
also keine Kopien, sondern zeitgemäße<br />
Updates aus der Vergangenheit. Letztere<br />
bleibt dennoch relevant. Während es Tessela<br />
oder Special Request auch um die, durch<br />
nostalgische Flashbacks erzeugte Euphorie<br />
geht, betreiben Andy Stott oder <strong>De</strong>mdike<br />
Stare eine akustische <strong>De</strong>konstruktion<br />
von Jungle, indem sie die kathartische<br />
Düsterheit und Entfremdung, die der Musik<br />
seit jeher innewohnt, priorisieren.<br />
Neben einer gestiegenen Akzeptanz<br />
für eine größere rhythmische Vielfalt auf<br />
den Tanzflächen dieser Welt geht es also<br />
auch um die Faszination für eine Ära, in der<br />
die Zukunft noch mit der Hoffnung auf eine<br />
bessere Welt verbunden war. Ob man<br />
sich 1992 auf einer mit Kunstnebel verhangenen<br />
Tanzfläche, im Kinderzimmer oder<br />
gar im Mutterbauch befand, scheint dabei<br />
egal zu sein. In einer Zeit, in der die Zukunft<br />
nur noch eine "optimierte Gegenwart" ist,<br />
wie es der Philosoph Byung-Chul Han beschreibt,<br />
geht auch der Vergangenheit ihre<br />
einstige Lebendigkeit verloren.<br />
Doch die neuen Breakbeats sind<br />
das perfekte Gegenmittel für so einen<br />
Kulturpessimismus. <strong>De</strong>nn nichts könnte<br />
dem Jetzt-und-Hier stärker zu einer<br />
unmittelbaren Präsenz verhelfen als die<br />
durch Amen-Breaks und grelle Alarmsirenen<br />
erzeugte akustische Überwältigung. So<br />
lassen nostalgische<br />
Samples die<br />
Utopie einer durch<br />
Clubkultur emanzipierten<br />
Gesellschaft<br />
wiederauferstehen,<br />
nicht ohne gleichzeitig<br />
Soundtrack<br />
der Gegenwart<br />
zu sein. Es ist<br />
kein Geheimniss,<br />
dass die stetige<br />
Innovation, ob mit<br />
"neuen" oder alten<br />
Mitteln, kaum<br />
aufzuhalten ist. So<br />
beantwortete der<br />
Clubmusik-Avantgardist Zomby die Frage,<br />
ob ihn Nostalgie antreibe: "I don’t want to<br />
end up in an antique shop for music. We<br />
should try to keep it moving forward.”<br />
Die neuen Breakbeats sind das perfekte Gegenmittel<br />
für den Kulturpessimismus. Nichts könnte dem Jetztund-Hier<br />
stärker zu einer unmittelbaren Präsenz verhelfen<br />
als die durch Amen-Breaks und grelle Alarmsirenen<br />
erzeugte akustische Überwältigung.<br />
Pangaea<br />
34
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<strong>177</strong> — breakbeat revival<br />
36
Text Sebastian Eberhard <strong>177</strong><br />
'Ardcore<br />
Special<br />
Request<br />
Paul Woolford wühlt als Special Request Dancefloors und Musikverständnisse<br />
auf: So hörte sich Breakbeat also neulich an, kein Wunder: alles wie<br />
von vorn, noch elegantere Ambosse. Unser Autor hat sich mit Woolford<br />
verabredet, um über Hier und Jetzt von Breakbeat zu reden: Ist das die<br />
Musik der Krise oder der Besinnung?<br />
Herbst 2012. Gerade hatte Lana <strong>De</strong>l Ray<br />
noch für eine große Modekette anklagend<br />
von den Werbeflächen der Stadt geblickt.<br />
Dann hatte irgendwer wieder mal Vocals<br />
von ihr benutzt. Benutzt, um damit diesen<br />
einen Jungle-Breakbeat-Track zu bauen.<br />
Neuartig, und doch mit allem, was<br />
früher schon dazu gehört hatte. Ein halbes<br />
Dutzend trocken und flott gechoppte<br />
Breaks, eine tiefer gelegte Reese Bassline,<br />
Gunshots, und dann geloopt und dann<br />
wieder geradeaus Lana, gesamplet darüber<br />
gelegt, unverkennbar leicht nörgelnd<br />
singend, ein Mal, zwei Mal: "Big dreams,<br />
Gangster, said you had to leave to start<br />
your life over." BOW. So schön kann Pop<br />
manchmal sein, wenn er ohne Emphase<br />
gemacht wird. Zusammen genommen eine<br />
kleine <strong>De</strong>tonation und umwerfend, weil<br />
es jemanden mit dem Track gelungen war,<br />
Breakbeat in einer neuen Art und Weise<br />
zurück an die eigenen Wurzeln zu führen.<br />
<strong>De</strong>m Weg des immer weiter und schneller<br />
der Breaks, dem zu oft gewählten, auswegslosen<br />
Heavy-Metal-Subkontext von<br />
Drum and Bass einen Haken zu schlagen,<br />
das Tempo runter oder auch zurück auf die<br />
leicht erhöhte House-Geschwindigkeit der<br />
Anfänge zu ziehen, und trotzdem mit den<br />
Beats und Sounds pure Magie eleganter<br />
Tanzmusik zu offenbaren. <strong>De</strong>r posthumane<br />
Drummer, er lebt.<br />
Ride V.I.P.<br />
"Ride", der Remix des Stücks von Lana <strong>De</strong>l<br />
Ray, der im letzten Herbst seine Runden<br />
zog, befand sich auf einer 12" mit Aufdruck<br />
"Special Request". Zwei Vinyl-Vorgänger<br />
hatte es schon gegeben, und so, als ob jemand<br />
die Gemeinde der Four-to-the-Floor-<br />
Fraktion auf dem Dancefloor gemächlich<br />
und historisch korrekt an das Thema Rave,<br />
Breakbeat und Jungle, oder vielleicht besser<br />
einfach HARDCORE heranführen wollte,<br />
hatte sich ihr Produzent auf ihnen mit<br />
vielen atemberaubenden Akzenten noch<br />
mehr an der technoiden Seite der britischen<br />
Tradition abgearbeitet. Schnell<br />
war zu erfahren, dass hinter dieser Serie<br />
Paul Woolford stand. Erstaunlich eigentlich.<br />
Woolford: einer der großen Techno-<br />
DJs Britanniens, Headliner riesiger Raves,<br />
Resident auf Ibiza und Gewinner zahlreicher<br />
britischer DJ-Leserpolls. Einer, der mit seinem<br />
Alias Bobby Peru als Producer sehr<br />
erfolgreich und als Remixer so gefragt war,<br />
dass er noch Amy Winehouse auf Elektronik<br />
trimmen durfte. <strong>De</strong>r seinen Adelsschlag<br />
spätestens vom Techno-Don Carl Craig bekam,<br />
der auf Planet E veröffentlichen konnte<br />
und gemeinsam anlässlich des zwanzigjährigen<br />
Jubiläums mit eben jener Posse durch<br />
die Staaten tourte. <strong>De</strong>r aber offensichtlich<br />
immer auch seinen eigenen musikalischen<br />
Plan verfolgte, danach zwei weitere 12"s<br />
"Soul Music" ist eine Art Best-Of aus<br />
über 70 Tracks. Woolford schmiss das Album<br />
zwei Mal komplett über den Haufen, bevor<br />
er zufrieden war.<br />
der "Special Request"-Serie veröffentlichte,<br />
um auf ihnen wieder die ganz eigene<br />
Verbindung zwischen heute und den<br />
Stilmitteln britischer Breakbeatmusic der<br />
ersten Hälfte der Neunzigerjahre zu knüpfen.<br />
Woolford, der nun mit "Soul Music"<br />
seine moderne Vision von basslastiger<br />
Dancemusic mit ihren zahleichen Verweisen<br />
zwischen Techno, UK Hardcore und Jungle<br />
auf Albumlänge veröffentlicht.<br />
Ein lang gehegter Plan<br />
Auf die Frage, wie es überhaupt zu seinem<br />
"Special Request"-Projekt kam, erfahren<br />
wir, dass er diese Idee schon ziemlich lange<br />
mit sich herumgetragen hatte und dann<br />
vor ein paar Jahren anfing, die ersten Tracks<br />
im Studio zusammen zu bauen. Zunächst<br />
habe er ein wenig Zeit gebraucht, um die<br />
passende Sound-Ästhetik zu finden, aber<br />
dann hätten sich die Tracks fast wie von<br />
selbst ergeben. Für ihn wären das einige<br />
sehr große Momente gewesen, Momente<br />
der künstlerischen Freiheit, weil er ohne<br />
lange zu überlegen, fast unbewusst und<br />
beinahe instinktiv seine Tracks machen<br />
konnte. Zwei Mal hatte er vorher schon ein<br />
ganzes Album zusammengestellt, um diese<br />
Versionen doch wieder zu verwerfen.<br />
So kommt es, dass er mittlerweile ungefähr<br />
70 Tracks auf Tasche hat, einen komfortablen<br />
Materialberg, aus dem er unbeschwert<br />
die passenden Tracks für "Soul<br />
Music" auswählen konnte. Trotzdem bleibt<br />
bei uns etwas Verwunderung darüber, wie<br />
es dazu kommen konnte, dass ein arrivierter<br />
Techno-DJ ein so umfassendes, so viele<br />
Einflüsse bündelndes Album veröffentlicht.<br />
Nein, entgegnet Woolford, die Musik<br />
37
<strong>177</strong> — breakbeat revival<br />
sei genau die, die er gerade machen<br />
möchte, es wäre immer nur ein Problem<br />
der Medien, die einen in eine bestimmte<br />
Ecke stellen und mit einem bestimmten<br />
Label abstempeln. Es wäre deswegen für<br />
Künstler oft schwer zu zeigen, gerade wenn<br />
sie davon leben möchten, woher sie wirklich<br />
kommen und was sie gerade bewegt.<br />
Und daher wäre es umso wichtiger, hartnäckig<br />
an der eigenen Vision festzuhalten<br />
und die Dinge klarzustellen. Für ihn, der in<br />
Leeds im Norden Englands groß geworden<br />
ist, dort seine DJ- Karriere gestartet<br />
hat und dort auch immer noch lebt, waren<br />
die damaligen lokalen Piratensender Ende<br />
der Achtziger, Anfang der Neunziger der eine<br />
große, vieles bestimmende Einfluss auf<br />
sein Kunstschaffen. "Schon als Teenager<br />
habe ich die hiesigen Piratensender gehört,<br />
auf denen ich Musik von Labels wie<br />
NuGroove, Network, R&S, Bonesbreaks,<br />
DFC und hunderten von White Labels gehört<br />
habe. Musik, die so neu und verboten<br />
klang, dass sie mich für den Rest meines<br />
Lebens inspiriert."<br />
Forget back in the days<br />
Wir fragen daraufhin, ob er denn, wenn die<br />
Zeiten der Piratenstationen für ihn und auch<br />
das Album so einschneidend gewesen ist,<br />
gerne etwas an der heutigen Situation der<br />
Musikszene ändern möchte. "Überhaupt<br />
nichts", sagt Woolford, "ich möchte nichts<br />
ändern. Leute, die sich der Idee verschrieben<br />
haben, irgendwas wäre früher besser<br />
gewesen, führen sich doch selbst an der<br />
Nase herum. Die Zeit schreitet voran, wir<br />
existieren im Hier und Jetzt." Sein Album<br />
habe deswegen auch absolut nichts mit<br />
einem Hang zur Vergangenheit zu tun:<br />
"Vergiss das Gerede von den alten Zeiten.<br />
Die Jungle-Produzenten wie Dillinja, Photek,<br />
Goldie, Source Direct, 4 Hero, Doc Scott<br />
oder Bizzy B. sind immer noch meine absoluten<br />
All-Time-Favoriten. Genauso wie Shep<br />
Pettibone, Teddy Riley, Carl Craig, Trevor<br />
Horn, <strong>De</strong>rrick May, Anthony Shakir, Matt<br />
Cogger, Baby Ford - es ist eine niemals endende<br />
Liste." Und damit wird die simple aber<br />
großartige Idee hinter dem Album deutlich,<br />
auf dem sich zusätzlich auch gleich eine<br />
Handvoll großartiger Remixe von Kassem<br />
»Dillinja, Photek, Goldie, Source Direct, Doc<br />
Scott und Bizzy B: Das sind noch immer<br />
meine Helden.«<br />
Mosse, Anthony Shakir oder Hieroglyphic<br />
Being finden. Für Woolford geht es einfach<br />
um die Musik, um die, die man selber spürt:<br />
"Es gibt diesen Moment, in dem man versteht,<br />
dass bestimmte Sounds in einem<br />
viel größeren Kontext stehen als im zyklischen<br />
Wesen der Kultur. Sich genau das<br />
klarzumachen ist für jeden Künstler sehr<br />
wichtig. Wichtiger ist aber noch, dass man<br />
wirklich macht, was man fühlt."<br />
Culture reflects the times<br />
Einer der ausschlaggebenden Gründe<br />
für die einmalige Entwicklung britischer<br />
Ravemusic in ihrer Verschmelzung von<br />
jamaikanischen und anderen kulturellen<br />
Einflüssen war sicherlich die offene britische<br />
Immigrationspolitik. Ein anderer der düstere<br />
Humor und der Gemeinschaftsgedanke,<br />
mit dem sich die Szene in ihren Ursprüngen<br />
und vielleicht bis Mitte der 90er-Jahre gegen<br />
die unerbittlichen Härten der unsäglichen,<br />
bis heute nicht wieder reparierten,<br />
neoliberalen Politik Thatchers zu Wehr<br />
setzte. Musikalisch reagierte man auf die<br />
damals von der Politik so bewusst in Kauf<br />
genommenen Kollateralschäden mit überspitzter,<br />
abstrakter Härte und düsteren,<br />
spukhaften Jungletracks mit der nächsten<br />
beeindruckenden Bassline. Auch beim<br />
Hören von "Soul Music" trifft man an einigen<br />
Stellen auf kompromisslose Härte, die<br />
vielleicht zum Teil auf die Anlehnung der<br />
Tracks an die frühere Ravemusic zurückzuführen<br />
ist, aber auch auf eine sehr saubere<br />
Produktionsästhetik. <strong>De</strong>n besonderen Kniff<br />
machen aber auch die – ohne wuchtig zu<br />
klingen - in ihrer Geschwindigkeit zurückgenommenen<br />
Drumbreaks, die dadurch eine<br />
fast schon geisterhafte Wirkung erzielen,<br />
die so vielleicht auch den Ausnahmestatus<br />
von "Soul Music" erzielen. Auf den Eindruck<br />
einer ziemlich düsteren Atmosphäre angesprochen<br />
und die Frage, ob der Sound<br />
auch eine Antwort auf krisengeschüttelte<br />
Zeiten in England und Europa sind, antwortet<br />
Woolford: "Mach keinen Fehler:<br />
Wir leben in düsteren Zeiten. Schnapp<br />
dir eine Zeitung und lese zwischen den<br />
Zeilen. Analysiere den Subtext von dem,<br />
was uns jeden Tag erklärt wird. Kultur<br />
reflektiert die Zeit."<br />
Special Request, Soul Music,<br />
ist auf Houndstooth erschienen.<br />
38
istock<br />
fotocontest<br />
Zeige uns den Herbst vor <strong>De</strong>iner Tür<br />
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Wie sieht dein persönlicher Herbst aus? Ob bunte Blätter<br />
sammeln, Herbstfeuer anzünden, Drachen steigen lassen<br />
oder sich zu Helloween so richtig gruseln – wir suchen lebendige,<br />
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Zauber dieser Jahreszeit ausmacht.<br />
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Die Jury des iSTOCk-FOTOwettbewerbs<br />
Mike Owen (European Professional Marketing<br />
Manager, Professional Imaging Group, Canon<br />
Europe), Adam Pretty (Professional sports photographer,<br />
Getty Images), Oliver Clausen (Editorial<br />
Content Specialist, Getty Images), Tom Hind<br />
(Director Creative Content, Getty Images), Nico<br />
Damm (Redakteur, Pictures Magazin), Hagen<br />
Klie (Geschäftsführer Photopresse), Dr. Stefan<br />
Hartmann (Chefredakteur Pictorial), Timo Feldhaus<br />
(Mode- und Lifestyle Redakteur DE:BUG)<br />
Ablauf<br />
Pre-Registration: 21.10. bis 25.10.<br />
Wettbewerb: 28.10. bis 28.11<br />
Jury-Entscheidung: 1. <strong>De</strong>zemberwoche<br />
Ausstellung der Gewinnerarbeiten im Januar
Text Wenzel Burmeier<br />
Om<br />
Unit<br />
Trommeln ist<br />
wie Essen<br />
"Slow on the bottom, fast on the top." <strong>De</strong>r 33-jährige Jim Coles ist ein Kind<br />
des Breakbeat-Kontinuums. Mit seinem <strong>De</strong>bütalbum als Om Unit gelingt<br />
ihm eine Synthese aus schleppenden, Bass-schwangeren Backbeats<br />
und hyperaktiver Percussion. Umhüllt von düsteren Synth-Flächen, die<br />
retrofuturistisch den Visionen des Drum and Bass früher Tage frönen.<br />
Hardcore und Jungle liegen während seiner<br />
Jugend auf den Plattentellern, die<br />
mit Anbruch der 2000er plötzlich dem<br />
Turntablism dienen. Im Handumdrehen<br />
werden die Breaks entschleunigt und Coles<br />
produziert drei ganze HipHop-Platten unter<br />
dem Pseudonym 2Tall. Bis 2010 die spirituelle<br />
Sinneswandlung einsetzt: Aus 2Tall<br />
wird Om Unit, langsame und schnelle Breaks<br />
verlaufen ab sofort parallel zueinander. Als<br />
"slow-fast" bezeichnet Coles seine Musik:<br />
Damit ist aber kein Genre gemeint, mehr<br />
ein Produktionsstil. Kategorien strich Jim<br />
eh längst aus seinem Regelwerk. Seine<br />
Releases auf Metalheadz, Exit Records,<br />
All City, Planet Mu und dem eigenen Label<br />
Cosmic Bridge bewegen sich spielerisch<br />
zwischen HipHop, Jungle und Dubstep. Mit<br />
seinem Philip-D.-Kick-Alias und der anschließenden<br />
Machinedrum-Kollaboration<br />
Dream Continuum löste er vor zwei Jahren<br />
schließlich auch die Grenzen zwischen<br />
Jungle und Footwork auf. "Threads", das<br />
neue Album, fasst diese Entwicklung kongenial<br />
zusammen.<br />
Du hast als 2Tall HipHop produziert und<br />
früher auch Jungle aufgelegt. Diese beiden<br />
Phänomene, die man auch auf deinem<br />
Album wiederfindet, haben den gleichen<br />
Ursprung, nämlich Breaks von Funk-<br />
Platten. Trotzdem sind sie in UK eher parallel<br />
zueinander verlaufen. Es gab da nie<br />
wirklich viel Berührungen, oder?<br />
Nicht wirklich. Es stimmt schon, dass die<br />
Wurzeln die selben sind, gerade wenn wir<br />
40<br />
über die Produktionen sprechen. Es wurden<br />
ja bei Jungle die gleichen Breaks benutzt,<br />
nur enorm beschleunigt. Und mit Sicherheit<br />
haben die ersten Jungle-Produzenten<br />
früher auch Rap gehört. HipHop war Ende<br />
der 80er schließlich auch in England<br />
ziemlich erfolgreich. Hey, es gab sogar<br />
Breakdance-Battles auf dem Leicester<br />
Square! Allerdings muss man in England<br />
dann den direkten Einfluss von westindischer<br />
und karibischer Kultur berücksichtigen.<br />
Rap in den USA war natürlich auch<br />
beeinflusst von DJs, die auf Dancehall-<br />
Partys getostet haben. Aber in England<br />
gab es eine Generation, die den direkten<br />
Einfluss von Reggae und Ragga mitgebracht<br />
hat. Das war also bei uns noch viel näher<br />
an der karibischen Kultur als in Amerika.<br />
Und Jungle hat sich schließlich auch als<br />
Ausdruck einer britischen Identität entwickelt,<br />
das konnte HipHop in England so<br />
nicht erfüllen, weil das schon immer ein<br />
amerikanisches Ding war.<br />
Es ging um eine britische Identität?<br />
Jungle wird oft als "London Thing"<br />
beschrieben, aber da wäre ich vorsichtig.<br />
Es gab ja auch Anfang der Neunziger schon<br />
Leute in Leeds, zum Beispiel DJ SS und<br />
Formation Records. Aber ja, es ging damals<br />
definitiv um eine britische Identität ... (denkt<br />
nach) ..., die natürlich total hybrid war. Die ersten<br />
Produzenten waren offensichtlich beeinflusst<br />
von ihrem familiären Background, der<br />
karibischen Kultur, gleichzeitig reagierten sie<br />
aber auch auf das, was um sie herum passierte.<br />
<strong>De</strong>troit-Techno spielt da eine große<br />
Rolle, das hört man in vielen frühen Jungle-<br />
Tracks. Von Ragga bis Techno hat Jungle also<br />
diese ganzen verschiedenen Einflüsse in<br />
einem Entwurf von britischer Kultur vereint.
<strong>177</strong> — breakbeat revival<br />
Om Unit, Threads,<br />
ist auf Civil Music erschienen.<br />
Gibt es ein Breakbeat-Kontinuum?<br />
Meinst du im Reynold'schen Sinne, so<br />
wie das Hardcore-Kontinuum? <strong>De</strong>finitiv.<br />
Breakbeats sind natürlich ein wesentlicher<br />
Bestandteil dessen. Aber ich glaube,<br />
das geht auch noch viel weiter zurück<br />
in der Geschichte. Die Idee von Breakbeats<br />
beruht ja letztlich auf Drums. Und Drums<br />
sind eine Urkraft der Menschheit - die erste<br />
Musik überhaupt basierte mit Sicherheit auf<br />
Drums. Rhythmus ist ein Grundbedürfnis<br />
des Menschen, so wie Essen.<br />
Siehst du denn gerade so etwas wie ein<br />
Breakbeat-Comeback?<br />
Jungle und Drum and Bass waren für<br />
mich immer präsent. Das ist doch genauso<br />
»Drum and Bass, Footwork, HipHop, Dub,<br />
Ambient, Breakbeats, Dubstep, <strong>De</strong>troit<br />
Techno. Aus diesen Einflüssen fädele ich<br />
meine persönliche Story zusammen.«<br />
wie mit Dubstep. Als das neu war, haben<br />
alle davon geredet und plötzlich kommt der<br />
big money sound auf. Dann wird es schnell<br />
langweilig und das große Geld zieht weiter<br />
- heute liegt es bei Trap, Jersey-Club-Musik<br />
oder sonst wo. Aber dieser Entwicklung liegen<br />
großteils mediale Trends zugrunde. Die<br />
eigentlichen musikalischen Bewegungen<br />
waren immer schon da und das sind sie<br />
auch heute noch. Sie sind nur nicht mehr<br />
so eine Geldmaschine. Als Comeback kann<br />
man es heute bezeichnen, weil Künstler auf<br />
Jungle und Drum and Bass zurückblicken<br />
und die Musik als Einfluss in ihrem eigenen<br />
Sound aufgreifen. Da hat mit Sicherheit<br />
auch Footwork zu beigetragen. Ich glaube,<br />
dass Footwork eine neue Sensibilisierung<br />
für komplexere Rhythmik geschaffen hat.<br />
Apropos Footwork: Als Phillip D. Kick<br />
hast du britische Jungle-Klassiker in<br />
Chicago'scher Footwork-Ästhetik geremixt.<br />
Wie kam es dazu?<br />
Ich habe Footwork durch Mike Paradinas<br />
von Planet Mu entdeckt und war total fasziniert<br />
von dieser Polyrhythmik. Das ist<br />
fast schon ein "tribal thing", unglaublich<br />
raw. Außerdem wurde die 808 zum ersten<br />
Mal ganz anders programmiert als im<br />
gewohnten 4/4-Schema, das war völlig irre.<br />
Dieses Drum-Programming hat sich ja<br />
auch in der ganzen UK-Bass-Musik - oder<br />
wie man die nennen möchte - niedergeschlagen.<br />
Da braucht man sich nur einmal<br />
ein paar Night-Slugs-Releases anhören.<br />
Mein Phillip-D.-Kick-Projekt ist eigentlich<br />
durchs Auflegen entstanden. Tempo<br />
und Kadenz von Footwork erinnern stark<br />
an Jungle, also habe ich in einem Set damit<br />
experimentiert und bin bei diesen Edits<br />
von Jungle- und Drum-and-Bass-Klassikern<br />
gelandet. Als DJ-Tool scheint das für viele<br />
funktioniert zu haben, ich kriege jedenfalls<br />
heute noch Anfragen für Phillip-D.-<br />
Kick-Remixe. Dabei war das wirklich als<br />
einmaliges Experiment gedacht, ich habe<br />
die Tracks ja am Anfang auch nur anonym<br />
und als kostenlosen Download hochgeladen.<br />
Sprechen wir also lieber über dein aktuelles<br />
Projekt: "Threads" ist dein<br />
Albumdebüt als Om Unit.<br />
"Threads" ist quasi das Follow-up zu<br />
meinen EPs auf Civil Music. Eine Sammlung<br />
von Tracks, die als Reise funktionieren sollen.<br />
Eine Reise durch meine bisherigen<br />
HipHop-Produktionen als 2Tall, durch<br />
Veröffentlichungen auf meinem Label<br />
Cosmic Bridge und jede Menge Musik,<br />
die mich persönlich interessiert: Drum and<br />
Bass, Footwork, HipHop, Dub, Ambient<br />
Synthies, Breakbeats, Dubstep, <strong>De</strong>troit<br />
Techno und so weiter. Ich versuche aus<br />
diesen verschiedenen Einflüssen meine<br />
persönliche Story zusammen zu fädeln.<br />
Daher auch der Albumtitel. I'm weaving<br />
threads together.<br />
Womit wir wieder bei Jungle wären, oder?<br />
Ganz genau. Letztlich ist doch eh alle<br />
originelle Musik eine Synthese verschiedener<br />
Einflüsse. Das zeigt sich bei Jungle<br />
eben ziemlich deutlich. Und in dem Sinne<br />
spiegelt das Album auch diesen offensichtlich<br />
hybriden Charakter von Jungle wider.<br />
Zum Ende des Albums wird es ziemlich<br />
düster. Da baut sich meh rere Tracks lang<br />
eine dystopische Stimmung auf, die im<br />
letzten Titel, "The Road", ihren Höhepunkt<br />
erreicht, einer Kollaboration mit dem<br />
Blacktronica-Veranstalter Charlie Dark.<br />
Ich musste an Science-Fiction denken.<br />
Ich lebe im Süden von London, in der<br />
Nähe von Brixton, da hat man die Dystopie<br />
direkt vor sich, jeden Tag. Science-Fiction<br />
braucht man da kaum noch, um auf dystopische<br />
Gedanken zu kommen. Das spiegelt<br />
sich auch auf dem Album wider. Was natürlich<br />
wieder Assoziationen zu Drum and<br />
Bass weckt, wo Science-Fiction ja ein zentrales<br />
Motiv ist. Vielleicht liegt diese düstere<br />
Stimmung aber auch generell in elektronischer<br />
Musik. Vieles wird schließlich im<br />
Alleingang produziert und die Musik scheint<br />
dadurch oft so einen einsamen, introspektiven<br />
Charakter zu haben. Ich würde "Threads"<br />
jedenfalls nicht als politische Platte bezeichnen.<br />
Mit Sicherheit hat sie aber einen soziologischen<br />
Aspekt.<br />
41
<strong>177</strong> — Kommentar — Christian Blumberg<br />
Gesaffelstein<br />
Schwarz ist das neue<br />
sChwarz<br />
Fick dich, Skrillex, Gesaffelstein ist viel geiler. Komprimiertes<br />
Testosteron mit einer gigantischen lila Moschuswolke muss man eben<br />
wollen.<br />
"Ich finde es zugleich scheiße und toll, es ist wie eine richtig gute Werbung für Männerparfum, das<br />
mag man an dem Gesaffelstein." So sucht Kollege Timo Feldhaus der glamourösen Entdeckung<br />
beizukommen. Gesaffelstein, das klingt so schön teutonisch, nach einer Burg im Rheinischen oder<br />
wenigstens nach deutschem Bier. Ist aber der Künstlername des jungen französischen Produzenten<br />
Mike Levy. Fun Fact: Gesaffelstein ist eine Wortschöpfung aus Gesamtkunstwerk und Einstein.<br />
Fact: <strong>De</strong>r Mann hat an Kanye Wests Album mitgeschraubt und noch populärer als seine Maxis<br />
auf Tigas Turbo-Label sind seine Remixe für Lana <strong>De</strong>l Rey oder Moby. Gesaffelstein ist ein elektronischer<br />
Lebensaspekt. Oder er wird jetzt zumindest einer, vorgenommen hat er sich das wohl,<br />
sonst würde er sein Album ja kaum "Aleph" nennen. Wo anfangen? Bei den Bildern natürlich.<br />
Im Video zu "Pursuit" morphen Rokoko-Schlösser zu Hangars, in denen Wissenschaftler an<br />
einem in der Luft hängenden, schwarz glänzenden Kampfjet bauen. Asiatische Paramilitärs<br />
laufen auf, anämische Kinder tragen Hemden, so weiß wie ihre Gesichter. Wie ein gefrorener<br />
Meteoritenregen schwebt eine Wolke aus Maschinenpistolen vorbei. Irgendwann fährt die<br />
Kamera durch den Innenraum eines Jaguars, ein aufgebrachtes Model läuft in den Bildausschnitt,<br />
der Kamera hinterher, sie spuckt in ihre (also in unsere) Richtung. Die Kamera ist das gesamte<br />
Video über in einer steten Rückfahrt, als sei sie auf dem Rückzug. Das ist eine verwirrende<br />
Bewegung, schließlich läuft dazu gewaltige Musik, angereichert mit seltsam martialischem<br />
Kriegsgebrüll. Man kann die Musik gar nicht anders als mit diesem militärischen Techno-<br />
Vokabular beschreiben: Die Beats marschieren, alles will "nach vorne". Killertracks und so fort.<br />
"Aleph" ist nur bedingt die Fortführung des fröhlich eklektischen Ed-Banger/New-Rave-<br />
Kosmos, der vor ein paar Jahren auch Indie-Floors in hedonistisches Neon tauchte. Die Tanzfläche,<br />
für die "Aleph" geschaffen scheint, ist eher eine filmische: <strong>De</strong>nk an Clubszenen aus 90er-Jahre-<br />
Blockbustern, riesige Technohallen, die sich US-Regisseure ausdachten, als es in den USA eigentlich<br />
nur HipHop gab; wo sich Goth-Kids mit Stachelfrisuren in industriellen Anlagen zu ebenso<br />
industriellen Rhythmen in Trance tanzten. So einen Club müsste man dem Gesaffelstein eigentlich<br />
errichten, einen dunklen Großraum mit monolithischem DJ-Pult und Pyrotechnik.<br />
Gesaffelsteins Album ist selbst ein Blockbuster: Jeden Sound auf "Aleph" hat man schon gehört.<br />
Auf Platten aus den Achtzigern, auf Platten aus den mittleren 00ern, in irgendwelchen Sound-<br />
Librarys. Aber eben noch nicht so. Hier knallt immer auch eine gewisse Eleganz, selbst noch<br />
aus den Laptop-Speakern. Aber Gesaffelstein ist auch ein Freund des Stumpfen: Er betitelt einen<br />
Track "Hellifornia" und erklärt, es ginge in seiner Musik um die "schwarze Seite des Daseins".<br />
Er sagt dann Sachen wie: "Erst ist es schwarz. Und dann wird es noch schwärzer." Seine Musik<br />
nennt er "Dance Metal". Aua. Er sagt aber auch, er mache Electronic Body Music. Das brutalistisch-monotone<br />
von DAF oder Nitzer Ebb, das in diesem Album tatsächlich drinsteckt – aber nur<br />
als Soundsignatur, als "Zeichen eines Zeichens" – das wird bei Gesaffelstein in etwas technoides,<br />
zugleich super-poppiges kanalisiert. Da funktioniert er mehr wie Skrillex: von EBM zu EDM.<br />
Gesaffelsteins hochglänzende Brachialität tut weder weh noch ist sie ungestüm. "Aleph" ist<br />
geil kalkulierte Pubertätsrockmusik mit unerhört viel Feinschliff und Gesaffelstein so eine Art Trent<br />
Reznor für 2013. Auf den stilisierten Pressefotos schaut er aus traurigen, lidschattierten Augen.<br />
Bei Reznor war das Androgyne immer nur ein Bild, nur ein Teil einer Pose, musikalisch blieben die<br />
Nine Inch Nails hetero-hetero. Das ist bei Gesaffelstein genauso, seine Sounds sind komprimiertes<br />
Testosteron. Reznor schrie "Kill Me!", meinte aber das Gegenteil: Reznor wollte lieber selbst killen.<br />
Dafür ist Gesaffelstein viel zu fein. Sein düster eingefärbter Überwältigungssound adressiert nichts<br />
Existentielles, dafür dunstet über jeder Spur eine lila Moschuswolke.<br />
42<br />
Gesaffelstein, Aleph,<br />
ist auf Warner erschienen.
<strong>177</strong> — Kommentar — Bianca Heuser<br />
M.I.A.<br />
und die Terroristen<br />
Am fünften November erscheint M.I.A.s viertes Studioalbum<br />
"Matangi". Die Künstlerin hat derweil ganz andere Probleme.<br />
"You need to darken it up a bit." Und wie die Rapperin weiter paraphrasiert: "We just built<br />
you up as the Public Enemy No. 1, and now you’re coming out with all this positive stuff." Das<br />
klingt erst absurd und dann nach Kalkül. Besonders im Zusammenhang mit Interscopes<br />
Umgang mit dem Dokumentarfilm, an dem M.I.A. mit dem Regisseur Steve Loveridge arbeitet:<br />
In dem Film, der "Maganti" begleiten sollte, geht es um sie als Künstlerin, ihr politisches<br />
Engagement, den Bürgerkrieg in Sri Lanka, die Rolle ihres Vaters darin als Mitglied<br />
der Rebellengruppe Tamil Tigers und die Auswirkungen auf das Familienleben. <strong>De</strong>n<br />
Trailer leakte der Regisseur aus Frustration über den lahmen Verlauf der Produktion und<br />
Veröffentlichung. Das Plattenlabel zog ihn umgehend mit einem Copyright-Claim wieder zurück.<br />
In dem Film soll es vor allem auch um Zensur und M.I.A.s Verhältnis zu den Medien gehen.<br />
Im Trailer sagt sie: "Wo ist die Meinungsfreiheit? Wo ist die <strong>De</strong>mokratie? Wenn es die gibt,<br />
will ich das sehen. Bei mir angefangen." In der Vergangenheit weigerte sich MTV ihr Video zu<br />
"Sunshowers" zu zeigen, solang es die Textzeile "You wanna go? You wanna win a war? Like<br />
the PLO, I don’t surrender" enthielt (2004). <strong>De</strong>r Sender editierte außerdem die Gewehrschüsse<br />
aus dem Refrain ihres Charterfolgs "Paper Planes" (2007); YouTube sperrte Romain Gavras<br />
Video zu "Born Free" vom letzten Album der Sängerin (2010). Seit ihrem Auftritt mit Madonna<br />
und Nicki Minaj in der Halbzeitpause des Superbowl 2012 hat die Sängerin außerdem eine<br />
1,5-Millionen-Dollar-Klage der NFL am Hals wegen ihres unerwünschten Mittelfingers.<br />
So wie ihr Dasein als Künstlerin und Privatperson engst verknüpft sind, bewegen sich M.I.A.s<br />
Tiraden, ob es um die NFL oder Sri Lanka geht, vom Politischen ins Private und wieder zurück.<br />
Um Neutralität bemüht sich die Britin dabei nicht: "Ich möchte keine Politikerin sein. Ich<br />
möchte die Leute ermutigen, sie selbst zu sein und Dinge in Frage zu stellen", erklärt sie im<br />
Trailer des aufgeschobenen Films. Obwohl drastische Formulierungen - wie die Geschehnisse<br />
in Sri Lanka einen Genozid zu nennen - mit Sicherheit Aufmerksamkeit erregen und polarisieren<br />
(und damit ihr Ziel ja schon halbwegs erreichen), macht ihre Rhetorik M.I.A. angreifbar. Ihr<br />
ehemaliger Freund und Produzent Diplo warf ihr vor, auf dem Album "Maya" den Terrorismus<br />
zu verherrlichen. Die Journalistin Lynn Hirschberg machte in ihrem extensiven Portrait im<br />
New York Times Magazine 2010 klar, für wie fake sie den Popstar hielt. Zu dieser Kritik an der<br />
Glaubwürdigkeit des Popstars trägt ihr mit der Zeit erworbener Wohlstand genauso bei wie ihr<br />
ausgeprägtes Modebewusstsein. Laut Hirschberg nutzt die Britin ihren ethnischen Hintergrund<br />
für ihren Erfolg aus und steckt sich den sogenannten Radical Chic an wie eine Feder an den Hut.<br />
So unproduktiv und banal diese Kritik ist, adressiert sie doch die Bildsprache, derer sich M.I.A.<br />
beständig bedient. Das Video ihrer aktuellen Single "Bring The Noize" adaptiert in einer einzigen<br />
Clubszene den Trend Seapunk lässiger als der durchschnittliche Tumblr-User, durchsprenkelt mit<br />
hinduistischen Symbolen: Das Aum-Symbol leuchtet an der Wand, eine Kuh stolpert auf die Party.<br />
<strong>De</strong>ren Besucher tragen ausschließlich strahlendes Weiß im Schwarzlicht und vollziehen ihre rituelle<br />
Reinigung über Diskonebel. Das sieht alles recht kultisch aus und ist damit auch typisch M.I.A.:<br />
Seit Beginn ihrer Karriere weiß sie die Coolness von Subversion für sich zu nutzen. Subversion ist<br />
sexy, verkauft sich und Provokation garantiert maximale Aufmerksamkeit. Ihre Glaubwürdigkeit<br />
scheint der Sängerin dabei erst mal Schnuppe zu sein. Um des Pops Willen. Zum Glück. Im eingangs<br />
erwähnten Trailer bringt sie es wie gewohnt nonchalant auf den Punkt: "I could be a genius.<br />
I could be a cheat. It’s a thin line, and I’m fucking with it."<br />
M.I.A., Matangi,<br />
ist auf Universal erschienen.<br />
43
<strong>177</strong> — buch<br />
Text Lea Becker<br />
Lasst uns<br />
Über Parties<br />
reden<br />
Techno-Geschichte<br />
im O-Ton<br />
bild b flickr.com/seeminglee, scragz, pagedooley<br />
Jürgen Teipel, Autor von "Verschwende deine Jugend", hat ein<br />
neues Buch geschrieben. In "Mehr als laut" plaudern Techno-Größen<br />
aus dem Nähkästchen. Das ist mitunter sehr lustig, muss am Ende aber<br />
scheitern.<br />
<strong>De</strong>utschland, Mitte der Achtzigerjahre: In<br />
Mannheim, Köln und München richten die<br />
Clubs, die damals noch Discos heißen, die<br />
ersten kleinen Slots für elektronische Musik<br />
ein, vornehmlich Italo-Disco. Hier beginnen<br />
nicht nur die Karrieren von Michael Mayer,<br />
DJ Hell und dem Party-Veranstalter Dirk<br />
Mantei, hier beginnt auch Jürgen Teipels<br />
neues Buch "Mehr als laut".<br />
Formell knüpft Teipel damit an seinen<br />
vor zwölf Jahren erschienenen Oral-History-<br />
Klassiker "Verschwende deine Jugend" an.<br />
Zitate der einzelnen Protagonisten werden<br />
hintereinander montiert, um so ein<br />
Gesamtbild zu erzeugen. Bei "Verschwende<br />
deine Jugend" war das die Geschichte von<br />
Punk in <strong>De</strong>utschland. In "Mehr als laut"<br />
nimmt sich Teipel nun den Techno vor. Es<br />
sei diesmal, so schreibt er im Vorwort, nicht<br />
sein Anspruch gewesen, die Geschichte einer<br />
Generation zu erzählen. <strong>De</strong>nnoch sei<br />
diese "zumindest im Ansatz und wie nebenbei"<br />
entstanden.<br />
Neben Mayer, Hell und Mantei erinnern<br />
sich im ersten Kapitel auch Inga Humpe,<br />
Hans Nieswandt, Acid Maria und Kristian<br />
Beyer an ihre ersten Begegnungen mit elektronischer<br />
Musik und Clubkultur. "Es war<br />
einfach nur laut, massiv, Nebel, Strobo. Und<br />
alle voll oberkörperfrei und am Tanzen. Nach<br />
einer Stunde habe ich gedacht: 'Vergiss die<br />
andere Musik! Die ist scheiße!' Mir war klar,<br />
dass ich alle meine Indie-Platten verkaufe<br />
und ich das nicht mehr hören will", erinnert<br />
sich Kristian Beyer an seinen ersten<br />
Besuch im Mannheimer Club milk!.<br />
Milk!-Besitzer Dirk Mantei beschreibt<br />
seine Stammkundschaft Anfang der<br />
Neunziger: "Ein Typ zum Beispiel kam immer<br />
in gelbem Ölzeug – auf allen Vieren. <strong>De</strong>r ist<br />
44<br />
auf allen Vieren die Treppe runter und die<br />
ganze Nacht auf allen Vieren gegangen. Ein<br />
anderer Typ ist fast nackig, Kung-Fu-mäßig,<br />
in die Auslage der Kaufhaus-Passage oben<br />
gesprungen. Einfach durch die Scheibe.<br />
Und stand da blutend im Schaufenster drin.<br />
Neben den Schaufensterpuppen. Nur in<br />
der Unterhose. Und total so: 'Hach! Geil!'"<br />
Geschichte einer Generation?<br />
So beginnt das Buch als unterhaltsame<br />
Anekdotensammlung aus der deutschen<br />
Techno-Vorzeit. Dabei bleibt es allerdings<br />
nicht. Die Gespräche, aus denen "Mehr als<br />
laut" zusammengesetzt ist, führte Teipel<br />
zur Vorbereitung für seinen DJ-Roman<br />
"Ich weiß nicht". Über zwei Jahre hinweg<br />
traf er dafür auch internationale Größen<br />
wie DJ Koze, Richie Hawtin, Miss Kittin,<br />
Lawrence, Andi Teichmann, Corvin Dalek<br />
und Mark Reeder. Da er letztlich jedoch nur<br />
einen Bruchteil dieser Gespräche in seinen<br />
Roman einfließen ließ, entschloss er sich,<br />
sie gesondert als Buch zu veröffentlichen.<br />
Dass diese Idee erst nachträglich<br />
entstand und die Interviews lediglich<br />
Abfallprodukte einer gänzlich anders<br />
motivierten Recherche sind, merkt man<br />
dem Buch deutlich an. Nach dem kurzen<br />
Abriss über die Frühphase von Techno in der<br />
BRD geht es vor allem um den DJ-Alltag zur<br />
Jahrtausendwende. Auch hier gibt es einige<br />
lesenswerte Anekdoten und aufschlussreiche<br />
Einblicke. Häufig jedoch werden die<br />
Interviewten allzu persönlich, erzählen von<br />
Trennungsschmerz, Beziehungsalltag und<br />
Partnerschaftsidealen. Auch Leben und Tod<br />
werden abgehandelt, neben Plattenläden,<br />
Geschlechterrollen, Drogen, Jetset-Leben,<br />
Utopien, Parties in der Panoramabar und<br />
in Mexiko. Das mag zur Recherche für einen<br />
Roman durchaus dienlich sein, lässt<br />
die Lektüre jedoch mit der Zeit immer zäher<br />
werden. Alle paar Seiten drängt sich die<br />
Frage auf, was Teipel da eigentlich wissen<br />
will – und warum.<br />
Dass "Mehr als laut" mehr sein will<br />
als ein Geschichtsbuch, dass der Versuch<br />
unternommen wird, das Phänomen Techno,<br />
die Musik und die vornehmlich physischen<br />
Erfahrungen mit dieser zu verbalisieren,<br />
lässt das Buch notwendigerweise scheitern.<br />
Im Gegensatz zu "Verschwende deine<br />
Jugend" vermag "Mehr als laut" es nicht,<br />
»Es war einfach nur<br />
laut, massiv, Nebel,<br />
Strobo. Und alle voll<br />
oberkörperfrei und<br />
am Tanzen. Nach<br />
einer Stunde habe<br />
ich gedacht: 'Vergiss<br />
die andere Musik!<br />
Die ist scheiße!'«<br />
ein stimmiges Gesamtbild zu erzeugen,<br />
das über die bloße Aneinanderreihung von<br />
Anekdoten hinausgeht. Die Geschichte<br />
einer Generation lässt sich eben nicht bloß<br />
im Ansatz erzählen. Und schon gar nicht<br />
nebenbei.<br />
Jürgen Teipel, Mehr als laut,<br />
ist bei Suhrkamp erschienen.
Text Sascha Kösch <strong>177</strong><br />
Fan-Fiction<br />
Ich schreib' mir die Welt<br />
so wie sie mir gefällt<br />
In der Musikwelt gelten Remixe als oft teuer bezahlte Prestige-<br />
Projekte, in der Literatur übernehmen die Fans den Job gleich selbst.<br />
E-Books machen es möglich. Und Amazon und Co. lassen alle daran<br />
mitverdienen.<br />
Bei Büchern denkt man zunächst mal an statische<br />
Klötze von Text. Das letzte Bollwerk<br />
gegen den Wahn des schnellen Slogans,<br />
gegen die Welt im digitalen Remix-Tsunami<br />
von Memes und Viralem. Egal wie sehr die<br />
Branche auch im Umbruch steckt und wie<br />
oft man sich selbst auf der Buchmesse<br />
über die neuen Businessmodelle, die<br />
Disruption, die Zukunft der Distribution und<br />
des Schreibens unterhält, am Ende geht es<br />
immer um Text, Autoren, Werke. Die werden<br />
lizenziert, raubkopiert, kompiliert, in DRM-<br />
Distributionskanäle von E-Book-Readern<br />
gepfropft. Aber das Produkt am Ende, bei<br />
allem Krampf zwischen den Zeilen, bleibt<br />
gleich: die Story. Daran ändern auch Kindle<br />
Singles nichts.<br />
Amazon - ein<br />
Monster, aber alles<br />
andere als blöd.<br />
Welten ihrer Bücher, Filme und so weiter und<br />
machen aus den Charakteren die Storys, die<br />
sie immer schon lesen wollten. Sie beleben<br />
die Stars mit eigenen Geschichten, trennen<br />
säuberlich die Fiktion der Fiktion von dem<br />
Skelett einer ihrer Strukturen und patchen<br />
sich so eine Frankensteinstory zusammen.<br />
Amazon - ein Monster, aber alles andere<br />
als blöd - hat diesen Wildwuchs losgelöster<br />
Plots als erstes begriffen und fängt<br />
den Strom der "freien" Kreativität von Fans<br />
in neuen Lizenzmodellen auf. Kindle Worlds<br />
heißt das Kind und lässt Fans jetzt nicht<br />
nur neue Episoden der CW-Serien (Pretty<br />
Little Liars, Vampire Diaries, Gossip Girl etc.)<br />
schreiben und (Win-Win statt Fair-Use) sowohl<br />
die Fan-Fiction-SchreiberInnen als<br />
auch die AutorInnen (vermutlich eher die<br />
Verlage) der Ur-Welten daran mitverdienen.<br />
Und natürlich sind auch Comics im<br />
Boot (Valiant mit Bloodshot, Shadowmen,<br />
etc.) aber auch Sci-Fi-Autoren (Stephenson,<br />
Bear mit ihrer Foreworld-Saga) und folgerichtig<br />
auch verstorbene Autoren werden als<br />
Fan-Untote wiederbelebt, zum Beispiel Kurt<br />
Vonnegut. <strong>De</strong>r Plot, der Ur-Text, wird, wie<br />
schon zu Zeiten vor dem Buchdruck plötzlich<br />
wieder flüssig - und geht auf im Meer<br />
der derivativ wuselnden fiktiven Add-Ons,<br />
PlugIns. Natürlich legt Amazon der Fan-<br />
Fiction neue Fesseln an. Pornography, nope!<br />
Böse, fiese, miese, brutale Sprache,<br />
nope! Crossbreeding von Welten, nene!<br />
Und ein Cameo von Stephenson in einer<br />
Foreworld-Saga ist natürlich auch nicht<br />
drin. Sind die Fans mit der Verlockung des<br />
Geldes jetzt schon von Amazon in einer restriktiven<br />
Kindle World gebändigt?<br />
Alle Marketing-Buzzwords<br />
Das noch etwas wackelige Format steht<br />
erst am Anfang und Amazon sind nicht<br />
die Einzigen. Beispielsweise Stan Lee<br />
(Macher von Spiderman, Hulk, Iron<br />
Man, X-Men etc.) verkauft seine neuen<br />
Superhelden gleich komplett ohne Story.<br />
Eine Welt aus leeren Seiten. Er liefert das<br />
<strong>De</strong>sign, die schwedische Firma Plotagon<br />
die Software, mit der man aus den neuen<br />
blanken Helden dann Videos zaubern<br />
kann. Vorausgesetzt, man hat das Stan-<br />
Lee-Helden-Erweiterungspaket gekauft.<br />
Und als nächsten Dreh verkauft Skit (eine<br />
Animations-App) jetzt die Fan-Fiction-<br />
Rechte von Pacific Rim, mit denen man<br />
sich selbst auch noch als Charakter in<br />
die eigene Version der persönlichen<br />
Dystopie einbauen kann. Als Opfer oder<br />
Held? Die Grenze ist längst verschwommen.<br />
Fan-Fiction in all seinen Facetten<br />
neuer Lizenzierungen jedenfalls verspricht<br />
der neue heilige Gral des Merchandising<br />
zu werden, indem es aus jedem Herzblut<br />
der Fan-Kreativität eine Tupperware-<br />
Party mit vergoldeten Strömen viraler<br />
Mitverdiener macht. Mitverdiener, die,<br />
wie Vampire mit umgekehrten Vorzeichen,<br />
aus den Herzblutströmen kübelweise<br />
Geschäftsmodelle in die Öffentlichkeit<br />
spritzen. Alle Marketing-Buzzwords der<br />
Stunde sind eh mit im Boot. Activation?<br />
Aber wie! Content-Marketing? Sogar ohne<br />
selbst den Finger zu krümmen! Wann<br />
und ob eins dieser Modelle den Durchbruch<br />
erlebt, steht noch aus. Die schöne neue<br />
Welt der Remixe ist aber definitiv schon<br />
jetzt ein paar Ecken komplexer geworden.<br />
Von der Kindle World<br />
gebändigt?<br />
Aber einen Umbruch gibt es, der die Welt der<br />
Bücher - und auch des Films, der Comics<br />
und so weiter - dann doch wieder radikal verändern<br />
könnte. Fan-Fiction. Irgendwem ist<br />
aufgefallen: Das boomt, das wuchert. Völlig<br />
unkontrolliert in den Grauzonen von Fair-Use<br />
rhizomisieren tippend-hyperaktive Kids die 45
<strong>177</strong> — mode<br />
Text Oliver Tepel<br />
Tinte<br />
auf<br />
Textil<br />
digitaldruck 2013<br />
Wer Inkjet-Printer für längst vergangene Relikte<br />
hält, sollte mal in der Modeindustrie nachfragen.<br />
Nach Anläufen kleinerer Labels greift mittlerweile<br />
auch die Haute Couture neben Digitalauch<br />
auf klassischen Tintenstrahldruck zurück.<br />
Unser Autor spekuliert über das ästhetische<br />
Resultat des Textildrucks der Zukunft.<br />
Gezeitenrechenmaschine, Thomsonsche Lotmaschine,<br />
Trockenkompass, Spiegel-Galvanometer - Lord Kelvin war<br />
nicht nur ein epochaler Theoretiker, sondern auch unentwegter<br />
Erfinder. Ein Aufzeichnungsgerät, das Linien und<br />
Kurven mittels aus einer Hohlnadel tropfenden Tinte auf<br />
Papierstreifen zeichnete, war eines seiner Patente im Jahr<br />
1867. Die Geburt des Inkjet-Druckers. Zugegeben, es dauerte<br />
noch ein wenig bis zu den rappelnden Plastikkisten, die<br />
sich in einer zusehends papierlosen Welt nun auch langsam<br />
wieder aus dem Alltag verabschieden. Wobei, verschwinden<br />
sie wirklich? Was macht der Inkjet, wenn er<br />
nicht Papier bedruckt?<br />
2004 zeigen der Brasilianer Bruno Basso und sein<br />
britischer Companion Chris Brooke in London die erste<br />
46<br />
Modekollektion aus komplett digital bedruckten Stoffen.<br />
Enorm primärfarbenreiche Muster, die von Jahr zu Jahr<br />
verschlungenere und wagemutigere Strukturen ergaben.<br />
2010 sampleten sie Jeff Koons Arbeiten und machten sie<br />
zu Mustern. Diese Muster verhalten sich ganz analog zum<br />
Track: Weit wichtiger als das Zitat ist der Effekt, der durchaus<br />
enorm formverliebt und vielfältig sein kann. Tatsächlich<br />
ist das Kreieren von Stoffmotiven und Mustern weit näher<br />
an der Entwicklung eines Tracks als an Zeichnung und<br />
Malerei. Zuerst griffen weitere britische <strong>De</strong>signer die Inkjet-<br />
Idee auf, dann brachen die Dämme zur Haute Couture<br />
bei Valentino und Givenchy, wo Riccardo Tiscis digitale<br />
Malerei eines Dobermanns in der aktuellen Kollektion für<br />
Aufsehen sorgte. Seine Koketterie mit Airbrush-Ästhetik<br />
erinnert an die Currywust mit Blattgold: ein dekadenter<br />
Spannungseffekt zwischen ultrasophisticated Druck und<br />
Motiv. Mary Katrantzou, Star der zweiten Generation, die<br />
längst unter ihrem "Queen of Prints"-Titel ächzt, präsentierte<br />
für ihre aktuelle Herbst/Winter-Kollektion Fotoprints als<br />
Gegenthese in schimmerndem schwarz und grau mit metallischen<br />
Tönen und nur schemenhaft gesprühten Farben.<br />
Wir sind nun also mitten in der Verfeinerungsstufe des Hypes<br />
um Inkjet- und Digitaldruck. Im Rennen um Ideen und technische<br />
Neuerungen gilt es genauer hinzusehen: Während<br />
viele der Printexperimente, die technisch erst ab 2009 und<br />
dann auch nur bei wirklich teurer Kleidung überzeugten, an<br />
späte Realisationen von Trash-Pop-Träumen der Achtziger<br />
Übergroße Motive<br />
und farbintensive Drucke<br />
berühren Geschmacksgrenzen<br />
und kreieren eine<br />
Ästhetik, von der man<br />
schon beobachten kann,<br />
wie sie über <strong>De</strong>sigual bald<br />
die Kaufhäuser füllt.<br />
Bis vor kurzem füllten diese virtuellen Sweater die tumblr-Blogs,<br />
mittlerweile gibt es sie auch IRL zu kaufen. <strong>De</strong>m neuen<br />
Digitaldruckern sei dank. sexy-sweaters.com
<strong>177</strong><br />
und Neunziger erinnerten, werden die Drucke nun nicht nur<br />
dunkler, sondern auch kleinteiliger und noch filigraner. So<br />
zeigt Valentino seit drei Kollektionen ein Reenactment antiker,<br />
medialer und barocker Elemente.<br />
In der kommenden Sommerkollektion des Berliner<br />
Teams Vonschwanenflügelpupke wird hingegen ein<br />
Problem großflächiger Prints thematisiert. Sie begrenzen<br />
die Möglichkeiten der Silhouette, Abnäher können kaum<br />
gesetzt werden ohne das Muster zu irritieren, verschiedene<br />
Lagen von Stoff funktionieren ebenfalls schwerlich. Warum<br />
also nicht gleich den Klassiker des Aufdrucks, das T-Shirt,<br />
bemühen? Dass Christopher Kane mit Shirts begann, spürt<br />
man auch noch in seiner aktuellen Winterkollektion. Dabei<br />
scheinen seine Muster reduzierter, überzeugen mit einem<br />
3D-Effekt aus parallelen Linien. Doch auch im aktuellen,<br />
dunklen Blumentrend spielt er mit, ebenso wie Thakoon<br />
oder N21 in morbidem Schwarz-Weiß. Diese beiden Farben<br />
weisen aber unmittelbar auf ein weiteres Inkjet-Problem:<br />
Wer auf Schwarz drucken will, kommt nicht mit den üblichen<br />
vier Farbpatronen (Cyan, Magenta, Yellow und<br />
Schwarz) aus, sondern benötigt eine weitere in Weiß.<br />
Jenseits der High Fashion erreichen die Fünfton-<br />
Drucker nun auch den Direct-to-Garment-Bereich (DTG).<br />
<strong>De</strong>r boomt im Internet, seit er vor gut zehn Jahren mit<br />
den entsprechenden Druckern von Mimaki & U.S. Screen<br />
begann. "<strong>De</strong>sign Dir <strong>De</strong>in Shirt" birgt zwar unendliche<br />
Ressourcen kommender Tristesse durch mitteleinfallsreiche<br />
Eigenentwürfe auf genormten Schnitten, aber sicher auch<br />
weit bessere Band-T-Shirts als gewohnt. Doch nicht nur<br />
die Kleinstserienproduktion profitiert von der Entwicklung<br />
der Drucker, sondern insbesondere der Massenmarkt.<br />
Zwischen 2011 und 2012 erreichten Geräte wie Stork Prints<br />
Sphene, Reggiani ReNOIR oder MS JPK den Markt. Sie<br />
arbeiten mit bis zu 24 Farbköpfen und vier verschiedenen<br />
Tropfengrößen und sollen bis 7200 qm in der Stunde bei<br />
300 x 600 DPI bedrucken, im Topmodus von 1200 x 2400<br />
DPI immer noch so viel wie frühere Topgeräte in der gröbsten<br />
Auflösung. Diese Möglichkeiten erreichten dieses Jahr<br />
die Kollektionen, insbesondere die für den Massenmarkt.<br />
Übergroße Motive und farbintensive Drucke berühren<br />
Geschmacksgrenzen und schaffen eine Ästhetik, von der<br />
man schon beobachten kann, wie sie über <strong>De</strong>sigual den<br />
breiten Markt erobert und in verwässerter Form, sprich geringster<br />
DPI-Auflösung, bald die Kaufhäuser füllt. Doch das<br />
futuristische Element dieser Drucke, jene seltsam technoide<br />
Psychedelia, verführt nun umso mehr zu einem genauen<br />
Blick oder dem Gespür alternder Stofffreunde, welche die<br />
Textilien prüfend durch die Hand gleiten lassen.<br />
Erkenne die feinen Unterschiede<br />
Interessanterweise haben diese Innovationen auch einen<br />
Einfluss auf die Weiterentwicklung konventioneller<br />
Textildruck-Techniken. Insbesondere der Laserdruck erzielt<br />
dabei noch weit präzisere Ergebnisse, ist aber auch teurer.<br />
Es sind zwar die ultrafeinen Linien und Farbverläufe der<br />
"laser exposing technology", die die Farbpunkte, anders<br />
als ein Inkjet, mit grafischer Präzision aneinanderreihen<br />
und den eingewöhnten Blick am nachhaltigsten zu beeindrucken<br />
verstehen. Gleichzeitig ist der entsprechende<br />
Prozess des Druckens vom Einfärben, über das Abtragen<br />
der Farbschichten mit dem extrem schwachen und präzisen<br />
Laser sowie dem Auswaschen der überschüssigen<br />
Farbe sehr aufwändig.<br />
Und der nächste Schritt? Auf der Paris Fashion Week<br />
debütierte Iris van Herpen in ihrer "Voltage"-Collection<br />
mit 3D-Prints. Eigentümlich plastische Outfits, ein an<br />
ein Gigersches Geschöpf oder Art-Nouveau-Linien erinnerndes<br />
Kleid und eine Kombination aus Rock und Stola,<br />
gleich einem Vorhang aus Muscheln oder rundgewaschenen<br />
Kieseln. Kreationen, die in Zusammenarbeit mit dem<br />
3D-Druckerhersteller Stratasys der jungen Technik huldigten.<br />
Noch scheinen es mehr Skulpturen als tragbare<br />
Kleider, doch ihr beeindruckendes Aussehen weist in die<br />
Zukunft.<br />
47
<strong>177</strong> — mode<br />
48
<strong>177</strong><br />
linke Seite:<br />
Aanisa:<br />
Beanie und Steppjacke_ Carhartt /<br />
Tribal-Shirt_ Nhu Duong<br />
Jeanne-Salomé:<br />
Jacke_ adidas Originals<br />
by Jeremy Scott<br />
diese Seite:<br />
Kind:<br />
Shirt_ adidas Originals<br />
by Opening Ceremony<br />
Mascha:<br />
Jacke_ Adidas Slvr /<br />
Rock_ Nhu Duong /<br />
Slipper_ adidas by Tom Dixon<br />
49
<strong>177</strong> — mode<br />
Anna:<br />
Jacke_ Nhu Duong /<br />
Leggins_ Nike /<br />
Chelsea Boots_ Pointer<br />
Ellie:<br />
Top und Leggins_ Puma /<br />
Sneaker_ adidas Slvr<br />
Aanisa:<br />
Top_ Nhu Duong /<br />
Hose_ Weekday<br />
Jeanne-Salomé:<br />
Top_ Model's own /<br />
Hosen_ Nhu Duong<br />
über adidas Originals<br />
by Jeremy Scott<br />
50
<strong>177</strong><br />
Vater:<br />
Hose & Weste_ Hien Le /<br />
Jacke_ Nhu Duong<br />
Mutter:<br />
Jacke_ Nhu Duong<br />
Kind:<br />
Kids own<br />
Sofa:<br />
Redesign Mikael Mikael<br />
für RLF<br />
51
<strong>177</strong> — mode<br />
Pablo:<br />
Sweater_ NX-2 by Nik Kosmas /<br />
Hose_ adidas Y-3 /<br />
Sneaker_ New Balance<br />
Jeanne-Salomé:<br />
Overall_ Kostas Murkudis<br />
für RLF /<br />
Schuhe_ adidas Y-3<br />
52
<strong>177</strong><br />
Mascha:<br />
Sweater und Trainingshose_ NX-2<br />
by Nik Kosmas /<br />
Schuhe_ Boxfresh<br />
Katzenbaum:<br />
blaue Schuhe_ adidas<br />
by Tom Dixon /<br />
Chelsea Boots_ Pointer /<br />
Bernhard Wilhelm für Camper<br />
Fotografie: Maja Cule<br />
Styling: Timo Feldhaus<br />
Braids: Sara Mathiasson<br />
Make Up: Franka Frankenstein<br />
Produktion: Maja Cule & Timo Feldhaus<br />
Vielen Dank an Mascha, Aanisa,<br />
Lars, Jeanne-Salomé, Nina, Mila,<br />
Pablo, Ellie, Anna, Silke, Manon,<br />
Judith, Tom, Christoph, R50,<br />
Winston Chmielinski, Nhu Duong,<br />
Nik Kosmas und Jan Joswig<br />
53
<strong>177</strong> — warenkorb<br />
Neue Standfestigkeit<br />
Onitsuka Tiger<br />
COLORADO EIGHTY-FIVE<br />
Nike+ FuelBand SE<br />
Update & erstmals in<br />
<strong>De</strong>utschland<br />
Nach der großen Geschichte zum "Quantified<br />
Self“-Movement im letzten Heft<br />
kommt nun passend die Antwort von<br />
Nike. Die zweite Version des NikeFuel.<br />
Die erste Version, die im Januar 2012 in<br />
den USA (ein bisschen später in England)<br />
präsentiert wurde, markierte im Blick auf<br />
Vermessung des Körpers einen Wendepunkt<br />
im <strong>De</strong>nken der Selbstoptimierer.<br />
Hier in <strong>De</strong>utschland musste man bisher<br />
mit dem Jawbone Up vorlieb nehmen -<br />
was bis heute keine schlechte Wahl ist -<br />
aber das tolle Digitaluhr-Feature des Nike-<br />
Fuel vermisste man doch. Killerfeatures?<br />
Das neue Fuelband SE integriert einen<br />
Bluetooth-4.0-Sensor, der den Energieverbrauch<br />
des Armbandes und vor allem<br />
des Smartphones reduziert und dadurch<br />
die Lebensdauer der Akkus verlängert.<br />
Neben dem gewohnten Schwarz wird es<br />
die Auswahl von mehreren Farben (z.B.<br />
Rot, Pink, oder auch Gelb) geben. Darüber<br />
hinaus wird es dauerhaft mit dem Smartphone<br />
verbunden, Synchronisierung ist<br />
nicht mehr nötig. Außerdem versprechen<br />
die Macher, das FuelBand SE solle die Bewegungen<br />
von unterschiedlichen Sportarten<br />
noch besser tracken. Natürlich auch<br />
drin: Ihr könnt Gruppen von Freunden<br />
kreieren, um sich gemeinsam zu fordern<br />
und dazu zu motivieren, gegeneinander<br />
und miteinander Ziele zu erreichen. Abgeschaut:<br />
Vom Jawbone Up haben sie den<br />
"Schlaf-Sensor“ geklaut - guter Klau, so<br />
kann auch im Schlaf mitgezählt werden.<br />
Nicht gut: Die entsprechende App gibt es<br />
nur für iOS.<br />
Es wird jetzt wieder brutaler, brachialer,<br />
bolleriger. Die Zeit der eleganten, freien<br />
Barfuss-Sneaker ist vorbei, der Lauf<br />
der Mode will es so. Uns dürstet (zumal<br />
im Herbst und Winter) nun wieder nach<br />
Standfestigkeit, etwas mehr Rahmung,<br />
letztlich: Umarmung. Onitsuka Tiger<br />
geht einen Schritt in die richtige Richtung.<br />
Zwar immer noch leicht und relativ<br />
schmal den Fuß umfassend, sorgt besonders<br />
die charakteristisch grob profilierten<br />
Stollensohle für ein gut austariertes Outdoorfeeling<br />
auf der Straße. Das Original<br />
entsprang dem Jogging- und Fitnesshype<br />
der 80er-Jahre, geschaffen als leichtgewichtiger<br />
Trailrunningschuh für ausgedehnte<br />
Draußenaktivitäten. <strong>De</strong>r Suede/<br />
Nylon-Tec-Allrounder verstärkt das Gefühl<br />
des Haltes und des Schutzes noch in der<br />
Midcut-Version, durch ausgeprägte Flexkerben<br />
sowie das nach oben gezogene<br />
Profil an der Schuhspitze.<br />
Colorado Eighty-Five<br />
Kostet: 100 €<br />
Das Band ist ab dem 6. November im Handel<br />
und kann bereits auf Nike.com vorbestellt<br />
werden. Kosten: 139 €<br />
54
<strong>177</strong> — warenkorb<br />
DVD: I Dream Of Wires<br />
Modularsynthies,<br />
inside out<br />
Kann jemand bitte mal das Gefiepe ausmachen?<br />
Nach vier Stunden "I Dream Of<br />
Wires" - so lang dauert der Director's Cut<br />
der Dokumentation zur Geschichte der<br />
modularen Synthesizer - wünscht man<br />
sich zunächst ganz schnell einen digitalen<br />
Preset-Sound. Für ganz doll lange. Es<br />
fiept. Andauernd. Und knirscht und wobbelt.<br />
Filter auf, Filter zu. Resonanz rein, Resonanz<br />
raus. Das ist dann aber auch schon<br />
das einzige, was man dem Film vorwerfen<br />
kann. Die Gespräche mit Musikern, Technikern<br />
und Sammlern stehen im Mittelpunkt<br />
des Films von Robert Fantinatto<br />
und Jason Amm, den wir seit langem von<br />
seinem eigenen Projekt Solvent kennen.<br />
Daniel Miller, John Foxx, Vince Clarke, Carl<br />
Craig, Trent Reznor, Morton Subotnick und<br />
Chris Carter kommen genauso zu Wort,<br />
wie Techniker und generelle Auskenner.<br />
<strong>De</strong>nn neben einem sehr fein aufbereiteten<br />
historischen Teil, der die technische<br />
Entwicklung im Allgemeinen und die ganz<br />
unterschiedlichen Ansätze in der Entwicklung<br />
der modularen Synthesizer an Ost-<br />
(Moog) und Westküste (Buchla) der USA<br />
skizziert, widmet sich die Dokumentation<br />
vor allem der Jetztzeit. <strong>De</strong>n Nerds, die die<br />
wachsende Szene von Liebhabern der<br />
Steckverbindungen mit neuen Modulen<br />
und Ideen versorgen.<br />
"I Dream Of Wires" ist auch für Nicht-<br />
Synth-Fans eine Augen öffnende Freude.<br />
Es ist den beiden Machern des Films<br />
hoch anzurechnen, dass es eben nicht<br />
ausschließlich um die "reine Lehre" der<br />
Schaltkreise geht. Man lernt auch einfach<br />
unglaublich skurrile und interessante<br />
Menschen und ihre Projekte kennen. Etwa<br />
das Mädchen aus Brooklyn, das in jahrelanger<br />
Arbeit einen Synth in einer alten<br />
Telefonvermittlungsanlage einbaut. Und<br />
wir steigen hinab in die Untiefen der NYU-<br />
Keller, wo immer noch der RCA MKII, der<br />
erste echte Synth der Welt, vor sich hinrostet.<br />
Was man immer sieht, ist der Glanz<br />
in den Augen der Interviewten, wenn es<br />
um Synthesizer geht. Und dieser Glanz<br />
inspiriert so sehr, dass man den Wunsch<br />
nach dem digitalen Preset ganz schnell<br />
wieder vergisst.<br />
56<br />
Lichtmächte<br />
Dietmar Dath & Swantje<br />
Karich zu den neuen<br />
Machtverhältnissen<br />
der Bilderwelten<br />
Crashkurs in visueller Mündigkeit: Die<br />
Beschreibung ist recht plump, zugegeben<br />
- im Gegensatz zur Poesie der<br />
Lichtmächte. Vor einem solchen Bild<br />
lassen sich die 270 vorliegenden Seiten<br />
immerhin aber im Ansatz durchdringen.<br />
Swantje Karich (u.a. Feuilleton FAZ) und<br />
Dietmar Dath schreiben eine “Kritik an<br />
den Bildregimes der Gegenwart“, fordern<br />
auf zu einem “neuen“ Sehen, und<br />
überfordern mit einem Referenzrahmen,<br />
der von Guy <strong>De</strong>bord bis Marina<br />
Abramović reicht, von Identitätsfindung<br />
durch Selfies bis zum Fantastischen<br />
in der Science-Fiction, von Netflix bis<br />
zur Bundeskulturstiftung. In all den<br />
Essays, Anekdoten, Parabeln (Karich<br />
fährt scheinbar viel mit dem Zug),<br />
Dialogen, lauten und wilden Monologen,<br />
und immer wieder Analysen von Film,<br />
Fotografie, Malerei, Kino und Museum,<br />
geht es aber doch grundsätzlich um<br />
Phänomene, die noch mitten in ihrem<br />
eigenen Umbruch stecken, in einer pubertären<br />
Phase der Orientierung beziehungsweise<br />
der Orientierungslosigkeit.<br />
Projekt: kritisches Sehen, visuelle Mündigkeit,<br />
informationelle Selbstverwaltung<br />
(“eine enteignete Instagram- oder<br />
Flickr-Nutzerin fühlt sich so schlecht<br />
behandelt wie der ungerecht besteuerte<br />
Kleinproduzent im Ständestaat.“), ein<br />
Sich-Behaupten und Nicht-Untergehen<br />
im trüben Bilderfluss. Weil sich Karich<br />
und Dath aber ihrer vagen Gegenstände<br />
bewusst sind, wird statt aufklärerischer<br />
Analyse “lediglich“ ein erstes reflexives<br />
Fährtenlesen skizziert. Die gesellschaftlichen<br />
Umbrüche zeigen sich in ihrer<br />
historischen Dimension an den Veränderungen<br />
im Kino und Museum: “Die Kunst<br />
flimmert, wo der Gegenstand sich noch<br />
sucht, den das Bild feiern oder bannen<br />
soll.“ Dieses Buch ist gleichzeitig Beobachtung<br />
gegenwärtiger Machtverschiebungen,<br />
Medien- und Kunsttheorie,<br />
Gesellschaftskritik, Institutionskritik, politisches<br />
Manifest, Hoffnung auf gerechtere<br />
und selbstbestimmte Orte.<br />
MALTE KOBEL<br />
Dietmar Dath / Swantje Karich,<br />
Lichtmächte, ist im diaphanes Verlag<br />
erschienen.
<strong>177</strong><br />
Jawbox Mini Jambox<br />
Bluetooth strikes back<br />
Microsoft Sculpt<br />
Comfort & Ergonomic<br />
Das "Natural Ergonomic Keyboard<br />
4000" war lange eines der wenigen wirklich<br />
praktischen Keyboards für beschädigte<br />
Handgelenke. Jetzt legt Microsoft<br />
mit der "ergonomisch" geschwungenen<br />
Sculpt-Reihe nach. Ich habe beide Modelle<br />
ausprobiert, die "Comfort" und<br />
die "Ergonomic" - mit gemischten Gefühlen.<br />
Das eine ist ein grundsätzliches<br />
Problem: Microsofts Tastaturen arbeiten<br />
nicht sauber mit OS X zusammen,<br />
manche Sondertasten wollen nicht, wie<br />
ich will. Programmierbar ist hier gar nix.<br />
Dann der USB-Dongle-Zwang, keine<br />
Hintergrundbeleuchtung - und nicht einmal<br />
ein USB-Hub! Dann sind die Sculpts,<br />
wie schon ihr Vorgänger, noch immer arg<br />
Plastik, für 80 respektive 130 Euro erwarte<br />
ich mir mehr (auch wenn eine Plastik-<br />
Funkmaus dabei liegt). Die "Ergonomic"<br />
wackelt auf einer glatten Oberfläche<br />
sogar ein wenig. Hervorragend hingegen<br />
ist das Schreibgefühl, ein knuspriger Anschlag<br />
fast ohne Klick, butterweich und<br />
trotzdem präzise. Die Tasten selbst sind<br />
griffig, leicht konkav. Die ergonomische<br />
Variante macht einen solideren, wertigeren<br />
Eindruck. Kleine Innovation der<br />
"Comfort": Ihre Leertaste ist zweigeteilt,<br />
die linke Seite funktioniert auf Wunsch<br />
auch als Backspace-Taste.<br />
Ob man nun eine "Ergonomic" haben<br />
will, muss jeder selbst herausfinden.<br />
Ich habe auch durch herbe Ganglion-<br />
Probleme zu dieser letzten Maßnahme<br />
gegriffen. Ohne klassisches Zehnfinger-<br />
System schreibt es sich auf so einer Tastatur<br />
aber ungelenk. Da die "Comfort"<br />
aber auch recht Handgelenks-schonend<br />
ausgelegt ist, werde ich zu ihr wechseln.<br />
Wer keine ergonomische Tastatur<br />
braucht, sondern ein massives Schreibwerkzeug,<br />
soll sich bei Ebay eine alte<br />
IBM Model M holen, etwas besseres gibt<br />
es eh nicht. Wer eine kleine, elegante,<br />
nicht sonderlich robuste Bürotastatur<br />
braucht, liegt bei einer der Sculpts richtig.<br />
Für mich sind sie hervorragende<br />
Weiterentwicklungen des alten "Natural<br />
Ergonomic Keyboard 4000" - übrigens<br />
auch was die Gaga-Namensgebung angeht.<br />
Das Thema des Sommers wird das Thema<br />
des Herbstes: Aber wenn Jawbone<br />
mit einem neuen Schalldruckhandschmeichler<br />
an den Start geht, lohnt ein<br />
Blick allemal. <strong>De</strong>nn da draußen an der<br />
Bluetooth-Front herrscht Krieg. Klein,<br />
groß, leicht, schwer, rund, eckig: Praktisch<br />
jede Firma, die auch nur im entferntesten<br />
etwas mit Audio zu tun hat,<br />
macht Bluetooth-Lautsprecher. Und die<br />
neue Mini Jambox ist Jawbones D-Day.<br />
<strong>De</strong>nn die Mini Jambox ist nicht nur<br />
irre klein und leicht. In dem Unibody<br />
aus Aluminium (ein first für Jawbone)<br />
stecken zwei Neodym-Treiber und ein<br />
passiver Bassreflektor, die den anderen<br />
Mini-Lautsprechern erst in die Fresse<br />
hauen und dann Yeah! brüllen. Das<br />
Brüllen ist dabei dank kalifornischer<br />
Raketentechnik extrem fein austariert,<br />
sanft und doch druckvoll, fulminant und<br />
in allen Frequenzbereichen präsent. So<br />
klein und doch so groß. <strong>De</strong>r erste wirklich<br />
Handtaschen-kompatible Lautsprecher<br />
von Jawbone füllt mit seinem Output<br />
locker ein mittelgroßes Zimmer. Fühlt<br />
sich im Regal genauso wohl, wie auf<br />
dem Tisch. Dort kann man dann auch<br />
das Feature nutzen, mit dem Jawbone<br />
ebenfalls vorne dran war: den Freisprecher;<br />
jetzt auch in HD. Dank neuem<br />
Mikro und Bluetooth 4.0 LE klingen Konferenz-Telefonate<br />
noch klarer. Und auch<br />
auf andere gelernte Vorteile muss man<br />
nicht verzichten, etwa Software-Updates<br />
für neue Features und LiveAudio-Technik<br />
für mehr Räumlichkeit im Sound. Mit<br />
der Mini Jambox ist aber auch die App<br />
für iOS und Android endlich in <strong>De</strong>utschland<br />
erhältlich. Die hilft nicht nur beim<br />
Einrichten des Lautsprechers, sondern<br />
aggregiert auch sämtliche Musik-Apps<br />
auf dem Smartphone. Erst Rdio, dann<br />
iTunes und Spotify zwischendrin? Dass<br />
da noch niemand vorher dran gedacht<br />
hat! In gleich neun Farben kommt sie<br />
dieser Tage in den Handel. Das sind 180<br />
gut angelegte Euro.<br />
57
<strong>177</strong> — bücher<br />
Text Gerlinde Lang<br />
bassdrumschreiberei<br />
2 BerlinbÜcher<br />
Am Abgrund<br />
Sven Regener,<br />
Magical Mystery oder:<br />
Die Rückkehr des Karl Schmidt<br />
(Galiani-Berlin)<br />
Ju Innerhofer,<br />
Die Bar<br />
(Metrolit)<br />
Plötzlich will jeder dabei gewesen sein, als die Wessis den Ossis für ein paar<br />
Glasperlen Berlin abkauften, um darin Party zu machen. Oder, später, als man<br />
hinter dem Holzzaun der Bar 25 in der Sonne tanzte. Jetzt kommen die Nachzügler.<br />
Haben die uns gerade noch gefehlt?<br />
"Etwa so musste Bielefeld kurz nach dem Krieg ausgesehen<br />
haben. (...) Und eins war mal klar: Hier konnte jeder mitmachen.<br />
Sogar ein alter Psychozausel wie ich, der seit fünf Jahren<br />
im Trockendock lag und bis eben noch Hilfshausmeister gewesen<br />
war." Ausgerechnet "Element of Crime"-Gitarrenballadeur<br />
Sven Regener will in "Magical Mystery. Die Rückkehr des<br />
Karl Schmidt" vom Techno Mitte der 90er in Berlin erzählen.<br />
Seiner Ehefrau Charlotte Goltermann ist das Buch gewidmet,<br />
sie war damals u.a. für das Ladomat-Label zuständig<br />
(Whirlpool Productions, Egoexpress, Commercial Breakup,<br />
Lawrence). Aber es ist nicht die Story von Ladomat, die hier<br />
bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Regener spinnt sein<br />
erfolgreiches "Herr Lehmann"-Universum weiter, charmant<br />
vertrottelte Markenzeichen-Dauerdialoge eingeschlossen.<br />
Oppa erzählt hier nicht einfach nur vom Krieg, er erlebt<br />
gleich einen ausgewachsenen Laberflash. Erstmals<br />
mit anwesendem Weibsvolk, nach frauenlosen Kasernen,<br />
Kneipen und besetzten Häusern in den vorigen Bänden.<br />
Die Crew des fiktiven Berlin-Mitte-Technolabels "BumBum<br />
Records" ist kommerziell erfolgreich, und hat dabei unversehens<br />
"faceless Techno" und andere Wertekinkerlitzchen<br />
geopfert. "BumBum" mit seinen Acts Frankie Highnoise,<br />
AFX & MFX und "Belinda mit dem Schlagerding" ist jedenfalls<br />
losest angelehnt an das deutsche Label Urban mit<br />
Signings wie Charlie Lownoise (& Mental Theo), 2XLC und<br />
Marusha. Jeden Freitag kommen die Charts per Fax, 5.000<br />
verkaufte Maxi-CDs!, und der Kühlschrank voll Champagner<br />
geht auf. Ins Zentrum stellt Regener den Sohn der Freien<br />
Hansestadt Bremen, Metallskulpturenzusammenschweißer<br />
und Ex-Speedfreak Karl. Nach fünf Jahren in der (natürlich<br />
charmant vertrottelten) Multitox-Drogenentwöhnungs-WG<br />
soll Karl nun als Nüchterner vom Dienst die (ebenfalls charmant<br />
vertrottelt angelegten) VertreterInnen von BumBum<br />
auf "Magical Mystery Tour" durch die deutsche Provinz<br />
chauffieren. Ziel der Reise: der Groß-Rave "Springtime",<br />
mit einem raren philosophischen Moment vom BumBum-<br />
Labelchef: "Ich will nicht, dass das irgendwann aufhört und<br />
dann bleibt nichts übrig, außer dass die sagen, das wäre<br />
so, was weiß ich, Hedonismus oder so ein Scheiß gewesen<br />
und das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass das<br />
irgendwann aufhört, weil demnächst kommt dann der neue<br />
heiße Scheiß um die Ecke und dann sind wir alle nur noch<br />
58<br />
Veteranen wie die ganzen Achtundsechziger, ich meine,<br />
guck dir die doch mal an, die sind alle in meinem Alter, und<br />
die tun schon so wie früher die alten Säcke, die immer die<br />
Hosen hochgekrempelt und ihren Knieschuss aus Stalingrad<br />
hergezeigt haben. Für die ist das Leben doch schon vorbei!<br />
Die erzählen doch nur noch von früher!" (...) Ferdi seufzte.<br />
"Ich will, dass irgendwas bleibt." Dabei bleibt's dann auch<br />
an Reflexion. Fazit: 500 Seiten und ein totes Meerschwein<br />
später ist es dann auch endlich gut.<br />
"Es wird der letzte Sommer." Auch Mia aus München<br />
ruft in "Die Bar. Eine Erzählung" von Ju Innerhofer die Arbeit.<br />
Nicht als ausgebildete Ärztin, sondern immer wieder Sonntags<br />
hinter die Backstage-Bar und Montags auch noch privat<br />
an die frische Luft der kaum verschleierten Berliner Bar<br />
25. 2010 läuft der Countdown über der Tanzfläche. Hat<br />
da eine mitgeschrieben, um eines Tages bei der Berliner<br />
Fremdenverkehrswerbung unterzukommen? "Berlin ist eine<br />
unfertige Stadt. Sie kann einen aber fertigmachen. Und<br />
trotzdem ist Berlin wohl einer der größten Sehnsuchtsorte<br />
für Kreative, Suchende und Abenteuerhungrige." Verhandelt<br />
werden dieselben Topoi wie bei "Party am Abgrund": Freiheit.<br />
Einsamkeit. Loslassen. Dazugehören. Sowas wie Sex.<br />
Rastlosigkeit. Lines. Comedown. Unspießigkeit. Ketamin.<br />
Egofickereien, kaputte Mägen, keine Krankenversicherung.<br />
Gier, Rastlosigkeit, Jägermeister. Das Beschwören einer hierarchielosen<br />
Situation mit gleichzeitiger "Zwei-Klassen-Rave-<br />
Gesellschaft" und strengem Ablauf hinter den Kulissen. Was ist<br />
anders? Die Clubschließfächer mit den Raver-Zahnbürsten und<br />
frischen Klamotten. Und: Willkommen im Kommerzparadies.<br />
"Wie kommen die Leute auf die Idee, dass die Drinks hier<br />
kostenlos sind, nur weil sie sich backstage befinden?" Mia,<br />
die Bar-Tussi mit der "Tom-Ford-Brille", dem "Diesel-Pulli",<br />
dem "Vuitton-Schal, ein Geschenk eines Freundes, Haute<br />
Couture in der Bar" - hat DJ und Booker als beste Freunde.<br />
"Wir fühlen uns jung, frei, mit einer kleinen Portion 'w asted',<br />
die aber durchaus als schick bezeichnet werden kann."<br />
Aber die Partyfreude ist gestört, "Endzeitstimmung" macht<br />
sich breit, und Freund Jan hustet Blut. Kaum droht etwas<br />
Wichtiges gesagt zu werden, flieht Innerhofer in alberne<br />
englische Halbsätze. Und die besten Phrasen werden<br />
an den Zeilenrändern noch mal zusammengefasst. VON<br />
DER TANZFLÄCHE HÖRE ICH DIE BEATS! Hedonismus!<br />
Erwachsenenspielplatz! Hey! Fazit: Für die, denen Regener<br />
noch zu wenig Kalauer bietet: "Das wohlige Gefühl, dass wir<br />
im Grunde doch alle eine Family sind, macht sich breit. Im<br />
wahrsten Sinne des Wortes." Geschichte? Vermächtnis?<br />
Frag mich nicht, I'm a princess.
warenkorb <strong>177</strong><br />
G-Sessions Finale<br />
30 Jahre G-SHOCK<br />
Die unverwüstliche G-SHOCK ist 30<br />
Jahre alt. In schier endlosen Variationen<br />
hat der Armbanduhr-Klassiker einen<br />
weltweiten Eroberungszug angetreten,<br />
unaufhaltsam und mit immer neuen<br />
und faszinierenderen Modellen ständig<br />
erneuert. Zuletzt wurde die Serie mit<br />
Gold gekrönt und zeigte noch ein Mal<br />
deutlich den Wert, den G-SHOCK auch<br />
als urbaner Mythos erreicht hat. Zu den<br />
Feiern zum Dreißigsten gehört aber auch<br />
ein europaweiter Kreativwettbewerb<br />
(mit den Stationen Mailand, Barcelona,<br />
Paris, Amsterdam, St. Petersburg und<br />
Manchester), der am 28. November sein<br />
Finale in Berlin feiert. Nicht nur Eminem<br />
soll in den Genuss kommen, seine eigene<br />
G-SHOCK zu designen.<br />
Ausgeschrieben wurden auf<br />
g-sessions.eu aber nicht nur neue Uhren-<strong>De</strong>signs,<br />
sondern auch die kreative<br />
Präsentation der Uhr in Videos, Songs<br />
oder Kunstwerken. Vom 28. Oktober an<br />
kann man auf der Webseite abstimmen,<br />
welcher der von Modedesigner Patrick<br />
Mohr und den anderen internationalen<br />
Kuratoren vorausgewählten Entwürfe<br />
das Rennen macht und am Ende in einer<br />
limitierten Version den Traum aller<br />
G-SHOCK Fans erfüllen wird: die selbst<br />
designte G-SHOCK.<br />
Die Abschlussparty am 28. November<br />
im Berliner Kraftwerk Mitte trägt den<br />
Namen Spirit of Toughness Award und<br />
Kikuo Ibe, der Erfinder der G-SHOCK<br />
wird den Preis an den Gewinner höchstpersönlich<br />
verleihen. Natürlich folgt eine<br />
Monsterparty im Anschluss mit einem<br />
bis zum letzten Moment geheimgehaltenen<br />
Live-Act. Das Geburtstagsjahr für<br />
G-SHOCK wird hier seinen gebührenden<br />
Abschluss feiern.<br />
g-sessions.de<br />
59
<strong>177</strong> — musiktechnik Text & bild Benjamin Weiss<br />
Maschine Studio: 999 Euro<br />
Software als Update:: 99 Euro (auf neuen Maschinen vorinstalliert)<br />
Maschine<br />
Studio&<br />
Software<br />
2.0<br />
60<br />
Neue HighEnd-Hardware und komplett<br />
renovierte Software: Native<br />
Instruments arbeitet mit Hochdruck<br />
an der Weiterentwicklung der<br />
Maschine. Das Ergebnis kann sich<br />
mehr als sehen lassen.<br />
Die neue Maschine Studio ist deutlich größer als die<br />
Maschine MK2, aber immer noch leicht genug, um sie<br />
eben Mal mitzunehmen. An der Unterseite hat sie zwei<br />
ausklappbare Stützen, mit der sie sich in bequemem<br />
Winkel aufbocken lässt. Auf der Rückseite gibt es neben<br />
dem Anschluss fürs Netzteil, dem USB-Anschluss<br />
und dem MIDI-Eingang gleich drei MIDI-Ausgänge sowie<br />
Anschlüsse für zwei Fußpedale, mit denen sich Start/Stop<br />
und das Aufnehmen beim Samplen steuern lässt.<br />
Oberfläche<br />
Die Grundelemente entsprechen denen der MK2: zwei<br />
Displays mit jeweils acht Buttons darüber und acht<br />
Endlos-Potis darunter, die Pad-Sektion und die Group-<br />
Buttons sind ebenfalls gleich. Was bei der MK2 über<br />
Doppelbelegungen der Pads funktioniert, bekommt bei<br />
der Studio aber jeweils einen eigenen Button. Dazu gibt<br />
es ein großes Jogshuttle und eine Master-Sektion mit<br />
dem Multifunktions-Poti für die verschiedenen Ein- und<br />
Ausgangslautstärken.<br />
Große Farbdisplays<br />
Eye Candy mit satten Farben: <strong>De</strong>r Neuling kommt mit zwei<br />
Farbdisplays, die bei einer Auflösung von 480 x 272 Pixeln<br />
jedes <strong>De</strong>tail mit sehr guter Blickwinkelunabhängigkeit<br />
und Helligkeit mit gutem Kontrast anzeigen. Das ist vor<br />
allem im Arranger, beim Editieren von Samples und für die<br />
Darstellung des neuen Mixers (der nur auf der Studio sichtbar<br />
ist) enorm praktisch.<br />
Eingangs- und Ausgangspegel<br />
Rechts oben in der Master-Sektion gibt es eine umschaltbare<br />
Pegelanzeige, die endlich eine übergreifende Pegelkontrolle<br />
auf allen Ebenen erlaubt: Master, Group und Sound sowie<br />
der neue Cue-Bus können so schnell und direkt gepegelt<br />
werden, auf der linken Seite lassen sich auch die Pegel von<br />
vier definierten Eingängen anzeigen, was für schnelles und<br />
unkompliziertes Sampling sehr praktisch ist. Darüber sitzen<br />
noch vier Aktivitätsanzeigen für die MIDI-Anschlüsse.<br />
Ein kleines, aber nicht unwichtiges <strong>De</strong>tail, wenn man beim<br />
MIDI-Troubleshooting keine Zeit verlieren will.
Bedienung und Haptik<br />
Die Bedienung ist bei der großen Oberfläche mit reichlich<br />
Platz zwischen Pads, Buttons und Jogshuttle sehr angenehm<br />
und übersichtlich. Die solide Verarbeitung, die griffigen<br />
Regler und das flotte Ansprechverhalten der Pads machen<br />
sofort Spaß, der Blick auf das Rechner-Display wird<br />
tatsächlich zur absoluten Ausnahme. <strong>De</strong>n flotten Workflow<br />
unterstützt auch die Tatsache, dass beinahe jede Funktion<br />
ihren eigenen Button bekommen hat. Wo bei der kleineren<br />
Maschine immer noch eine Tastenkombination dazwischen<br />
liegt, reicht hier ein Tastendruck.<br />
Für den mobilen Einsatz ist die Studio nur bedingt geeignet:<br />
Schwer ist sie zwar nicht und robust auch, aber fürs<br />
Handgepäck mit Rechner oder einen Standard-Rucksack im<br />
Alltag dann doch das entscheidende Quentchen zu groß.<br />
Im Studio spielt sie dagegen alle ihre Stärken aus: viel<br />
Platz, Übersicht und direkter Zugang zu allen Funktionen,<br />
präzises Editieren auf den eingebauten Displays und drei<br />
MIDI-Ausgänge machen sie zur zentralen, intuitiv nutzbaren<br />
Workstation. Dabei ist die Maschine Software 2.0 mit dem<br />
neuen Mixer sichtbar auf die Maschine Studio ausgerichtet.<br />
<strong>De</strong>r vergleichsweise hohe Preis liegt laut Native<br />
Instruments vor allem an den beiden großen Farbdisplays;<br />
meiner Meinung nach wäre dafür noch ein integriertes<br />
Audio-Interface drin gewesen, aber das ist tatsächlich auch<br />
der einzige Kritikpunkt.<br />
Maschine, runderneuert<br />
Zeitgleich mit der neuen Hardware wurde auch die Software<br />
gründlich überarbeitet, beziehungsweise komplett neu<br />
programmiert: Laut den Entwicklern ist keine einzige<br />
Zeile Code gleich geblieben. Das macht sich direkt beim<br />
ersten Ausprobieren bemerkbar, denn die jetzt endlich<br />
Multiprozessor-optimierte Software ist wesentlich genügsamer<br />
und lädt Files und Projekte deutlich schneller.<br />
Neue Oberfläche, neuer Browser<br />
Die komplette Oberfläche ist in zurückhaltendem dunklen<br />
Grau gehalten und ähnelt vom Aufbau her zunächst älteren<br />
Versionen; links der Browser, rechts oben der Arranger<br />
mit den Scenes und rechts unten die gerade ausgewählte<br />
Group mit ihren Patterns beziehungsweise der Sampling-<br />
Sektion. Auf den zweiten Blick wird aber klar, dass sich eine<br />
Menge getan hat, denn es ist eine Mixer-Sektion hinzugekommen<br />
und das ganze UI wurde glattgezogen. Viele <strong>De</strong>tails<br />
haben sich zugunsten von mehr Übersichtlichkeit leicht geändert:<br />
Einige nicht so oft genutzte Parameter lassen sich<br />
wegklappen. So sind etwa die Slots für Sounds auf die linke<br />
Seite gewandert. Eine sehr sinnvolle Erweiterung gibt es<br />
für Undo. Zusätzlich zur bisherigen Funktionalität, die auch<br />
Viel Platz, Übersicht<br />
und direkter Zugang zu<br />
allen Funktionen, präzises<br />
Editieren auf den eingebauten<br />
Displays und drei<br />
MIDI-Ausgänge machen<br />
Maschine zur zentralen,<br />
intuitiv nutzbaren Workstation.<br />
jede allerkleinste Reglerbewegung in Einzelschritten rückgängig<br />
macht, gibt es nun auch ein Take-basiertes Undo.<br />
<strong>De</strong>r Browser funktioniert nun über Tags und zeigt alle NIeigenen<br />
Instrumente und Sounds mit farbenfrohen Icons an.<br />
Unendliche Groups und Effektslots,<br />
Side-Chaining<br />
War man mit Maschine 1.x wegen der Begrenzung auf<br />
acht Groups pro Projekt bisher eigentlich gezwungen, für<br />
das Liveset einen anderen Host mit mehreren Maschine-<br />
Instanzen zu nutzen, lassen sich jetzt theoretisch unendlich<br />
viele Groups nutzen. Die ersten 64 davon können auf allen<br />
Maschinen über die Group-Buttons mit Shift erreicht werden.<br />
Das Gleiche gilt auch für die Anzahl der Effekte in den<br />
Effekt-Slots, die nicht mehr auf vier beschränkt sind. Auch<br />
Side-Chaining ist jetzt möglich und funktioniert nicht nur<br />
mit den internen Effekten, sondern auch mit PlugIns von<br />
Drittanbietern.<br />
Neuer Mixer mit Cue-Ausgang<br />
<strong>De</strong>r neue dezidierte Mixer zeigt in der Software auf allen<br />
Ebenen den Pegel an, bietet direkten Zugriff auf<br />
Grundfeatures wie Pan, Mute, Solo und zwei Aux-Sends,<br />
aber auch einen vereinheitlichten Überblick über das Routing<br />
von Sounds und Groups und die I/Os für Audio und MIDI.<br />
<strong>De</strong>r Mixer ist vor allem auf der Maschine Studio eine willkommene<br />
Erweiterung, denn nur auf ihr wird er auf den großen<br />
Farbdisplays angezeigt. Die anderen Maschinen folgen<br />
weiterhin dem alten Konzept, das leider auf deren Hardware<br />
keinen Hinweis darauf gibt, ob das Signal irgendwo verzerrt<br />
wird. Zumindest eine abgespeckte Pegelanzeige für den<br />
Master-Ausgang wäre hier wünschenswert und wahrscheinlich<br />
auch mit den gröber aufgelösten monochromen Displays<br />
<strong>177</strong><br />
möglich. <strong>De</strong>r Cue-Ausgang ermöglicht das Vorhören von<br />
Sounds und Samples, ohne dass sie über die Anlage zu hören<br />
sind.<br />
Arranger<br />
Mit einer richtigen Timeline werden Patterns in den Scenes<br />
in ihrer tatsächlichen Länge angezeigt: Alle Patterns, die<br />
wiederholt werden, bekommen etwas dunklere Ghost-<br />
Parts, um die Übersicht zu verbessern. Sonst hat sich<br />
in diesem Abschnitt nicht viel getan, hier gibt es noch<br />
Erweiterungsbedarf.<br />
Drum Synth<br />
Mit Maschine 2.0 führt NI einen eigenen Drum Synth ein, der<br />
fünf verschiedene Module bietet: Kick, Snare, HiHat, Tom<br />
und Percussion. Alle kommen mit angepassten Sound-<br />
Engines und liefern sowohl diverse akustische als auch elektronische<br />
Engines, mit denen sich eine große Bandbreite<br />
abdecken lässt. Sie klingen allesamt ziemlich überzeugend<br />
und machen den Griff zu Samples oft unnötig.<br />
Macros und MIDI<br />
Macros gibt es nun auch für die Masterebene, außerdem lassen<br />
sie sich mit MIDI Learn über externe MIDI CCs steuern.<br />
Dieses Feature lässt sich mit einem Workaround auch zur<br />
Fernsteuerung externer MIDI-<strong>De</strong>vices nutzen, denn einmal<br />
gelernt, gibt Maschine die CCs auch wieder raus. So lassen<br />
sich externe Geräte steuern, ohne dass in den Controller-<br />
Modus gewechselt werden muss. Die Macros können jeweils<br />
alle Parameter ihrer eigenen und der darunterliegenden<br />
Ebenen steuern, Mehrfachbelegungen sind auch<br />
möglich. Mit Program Change können jetzt auch die Presets<br />
von VST- und AU-PlugIns gewechselt werden. MIDI-Noten<br />
schicken außerdem auch die einzelnen Sounds, selbst wenn<br />
sie schon ein Sampler-Modul oder ein Instrument beinhalten;<br />
in Verbindung mit den neuen Pad-Link Features ergibt<br />
das vielfältige Layer-Möglichkeiten.<br />
Die neue Maschine-Software lohnt sich für die User<br />
aller Hardware-Generationen: Neben den vielen kleinen<br />
neuen Funktionen und <strong>De</strong>tailverbesserungen und dem fett<br />
klingenden Drumsynth ist vor allem die hinzugewonnene<br />
Prozessorleistung durch die Multicore-Unterstützung und<br />
die unbegrenzte Anzahl an Groups sehr befreiend, so dass<br />
man auch mit älteren Rechnern viel komplexere Projekte<br />
als zuvor umsetzen kann. Dazu ist die mitgelieferte Library<br />
noch mal um zwei Gigabyte gewachsen, hat mit dem Plate<br />
Reverb einen neuen internen Effekt bekommen und kommt<br />
mit Prism, Sccarbee Mark 1 und dem Solid Bus Compressor.<br />
Viele Features deuten außerdem darauf hin, dass mit den<br />
nächsten Updates noch Einiges nachkommt.<br />
Monophoner Analog-Synthesizer<br />
USB-, MIDI-, CV/Gate Interface<br />
stufenlos umblendbares<br />
Multimode-Filter (L-N-H-B)<br />
Doepfer.de
<strong>177</strong> — musiktechnik Text Benjamin Weiss<br />
Tracktion 4<br />
Die Einsteiger-<br />
DAW ist zurück<br />
Tracktion, da war doch was?<br />
Genau: Mackies kleine, übersichtliche<br />
Ein-Fenster-DAW ohne viel<br />
Schnickschnack. Länger nichts<br />
mehr von gehört. Nach sechs<br />
Jahren Partnerschaft haben sich<br />
die Entwickler wieder ausgegründet<br />
und schwuppdiwupp gibt es die<br />
neue Version 4.0. Erstmals auch für<br />
Linux.<br />
Wer Tracktion noch von früher kennt, wird sich schnell<br />
zurechtfinden. Die Oberfläche ist großzügig und aufgeräumt,<br />
zwischen den einzelnen Fenstern wechselt man<br />
per Tab und der Work- und Signalflow läuft grundsätzlich<br />
von links nach rechts. Die Entwickler verzichten<br />
bei Tracktion auf jegliche naturidentische Oberflächen,<br />
stattdessen sieht man immer nur die gerade nützlichen<br />
Informationen. Die integrierte In-App-Hilfe ist sehr ausführlich<br />
und gut verständlich, so dass sich Tracktion tatsächlich<br />
auch ohne Manual relativ schnell erschließt.<br />
Wer die Hintergrundfarbe vom gewöhnungsbedürftigen<br />
Blaubeerjoghurt auf etwas Verträglicheres umstellen will,<br />
kann dies tun: die Tracktion-Oberfläche kann weitgehend<br />
auf die eigenen Bedürfnisse angepasst werden.<br />
Editing, Routing und Effekte<br />
Jeder Track fängt in Tracktion mit einem Filter an - wobei<br />
Tracktion darunter etwas versteht, was man herkömmlich<br />
vielleicht nicht damit assoziieren würde. Je nachdem, was<br />
man nach dem <strong>De</strong>fault-Filter (einem Lautstärke/Panning-<br />
Modul) einsetzt, kann der Track ein MIDI-, ein Audio-Track<br />
oder etwa ein Aux-Send werden. Dabei lassen sich auch<br />
Drittanbieter-PlugIns einbinden. Eigenkonstruktionen<br />
aus verschiedenen Filtern/PlugIns werden als Racks abgespeichert:<br />
Das erlaubt unerwartet komplexe Kombi-<br />
Patches. Ungewohnt ist zunächst das Audio-Editing, da<br />
hier auf übliche Konventionen und bekannte Keyboard-<br />
Shortcuts verzichtet wurde. Einsteigern dürfte das aber<br />
egal sein. Sehr gelungen und eingängig ist der Umgang<br />
und die Erzeugung von Automationen; auch das Time- und<br />
Pitch-Shifting ist nicht nur sehr übersichtlich gestaltet,<br />
sondern klingt auch noch gut. Anders als der Rest der<br />
DAW-Riege trumpft Tracktion nicht mit einer Gigabyteschweren<br />
Library auf. Stattdessen gibt es eine kleine<br />
Auswahl von gut klingenden Standard-Effekten und einen<br />
Loop-Browser mit Standards aus allen Bereichen.<br />
Tracktion ist insgesamt eine gute und stabil laufende<br />
DAW für Einsteiger. Die App bietet viele Features, gleichzeitig<br />
werden Newbies nicht von zu vielen Möglichkeiten<br />
erschlagen. Dabei ist sie eine der wenigen DAWs, die neben<br />
Mac und PC auch Linux in 64 Bit unterstützt. Das<br />
Bedienkonzept ist wirklich sehr direkt und spart auch auf<br />
kleinen Bildschirmen Platz, so dass keine Zeit damit verschwendet<br />
wird, Fenster zu sortieren oder Funktionen in<br />
Untermenüs aufzuspüren. Die mitgelieferte Effektauswahl<br />
ist vielleicht etwas arg sparsam geraten, klingt aber durchweg<br />
solide. Außerdem lassen sich sowohl VSTs und unter<br />
OS X auch Audio Units einbinden. Eine <strong>De</strong>moversion steht<br />
zur Verfügung.<br />
Preis: 59 Dollar Vollversion,<br />
29 Dollar Upgrade von alten Versionen<br />
Plattformen: OS X, Windows 7 & 8,<br />
Linux (Ubuntu 12)<br />
62
Text Benjamin Weiss<br />
<strong>177</strong><br />
Preis: 21,99 Euro<br />
Touchable 2.0<br />
Neue Runde für<br />
die iPad-Remote<br />
Das iPad ist immer öfter der<br />
bessere Controller für Software auf<br />
dem Rechner. Das neue Touchable<br />
2.0 beweist das eindrücklich.<br />
In der Entwicklung neuer App-Versionen gibt es<br />
zwei grundlegende Ansätze: entweder auf der alten<br />
Codebasis aufbauen, oder alles komplett neu<br />
programmieren. Das Aufbauen auf dem alten Code<br />
geht zwar in den meisten Fällen schneller, aber es sammeln<br />
sich über die Jahre auch unschöne alte <strong>Bug</strong>s und<br />
Workarounds an, die sich irgendwann nicht mehr beheben<br />
lassen, weil sonst der Rest des Programms in<br />
sich zusammenfällt. <strong>De</strong>r andere Ansatz ist gründlicher,<br />
aber wesentlich arbeitsaufwendiger: jedes Mal komplett<br />
neu anfangen. Genau das haben touchAble mit<br />
Touchable 2.0 getan.<br />
Alt plus neu<br />
Touchable bietet auch in der Version 2.0 eine komplette<br />
Fernsteuerung für Live, die wesentlich weiter geht als eine<br />
schlichte Clip-Schleuder mit Mixer; wurde jedoch Featureseitig<br />
ordentlich aufgestockt. Damit man dennoch nicht die<br />
Übersicht verliert sind auf dem iPad-Display viele Funktionen<br />
ein- und ausklappbar, so dass immer nur das zu sehen ist,<br />
was gerade gebraucht wird. Daran muss man sich zwar<br />
zunächst gewöhnen, im alltäglichen Gebrauch wird aber<br />
schnell klar, dass das eine große Erleichterung ist. Neu ist<br />
in der Version 2.0, dass so gut wie alle frischen Features der<br />
aktuellen Ableton-Version integriert sind. Angefangen beim<br />
Browser mit Drag-&-Drop-Unterstützung, einem Pattern-<br />
Sequenzer mit Fold und Drum-Pads, klassischem Keyboard<br />
oder isomorpher Variante für den Push-Controller, Session<br />
Record bis zu Automation Arm. Gerade im Sequenzer wird<br />
der Einfluss von Push deutlich: Auf einem Touchstrip lässt<br />
sich schnell zwischen den Oktaven wechseln, kleine blaue<br />
Punkte zeigen an, auf welcher Oktave schon Noten sind,<br />
daneben kann ein Pitchbend-Wheel, Note Repeat und der<br />
Velocity-Bereich der gespielten Noten eingeblendet werden.<br />
Dazu kommen, ebenfalls wie bei Push, 25 verschiedene<br />
Skalen und das Fixed/In Key-Feature, bei dem nur die Töne<br />
der jeweiligen Skalen auf dem Keyboard liegen beziehungsweise<br />
spielbar sind. Da ein großer Teil der Live-9-Features<br />
selbst programmiert wurde, lassen sie sich praktischerweise<br />
auch mit Live 8 nutzen: Ausnahmen sind nur der Browser,<br />
Session Record und die Automation. Alle Sequenzer-<br />
Features funktionieren auch in 8.<br />
Alles auch modular<br />
Zusätzlich zu all den oben genannten Möglichkeiten lassen<br />
sich aber auch eigene Templates erstellen, was ähnlich<br />
funktioniert wie bei touchAbles DJ App d:b. Dazu kann<br />
man sich aus einer Reihe frei skalierbarer UI-Elemente wie<br />
Fader, Knobs, Buttons, X/Y-Pads und Labels bedienen, die<br />
Parameter aller fernsteuerbaren Bereiche aus Live steuern<br />
können, quasi Macros auf Programmebene.<br />
Einen externen Editor gibt es dafür zwar nicht, aber der ist<br />
auch gar nicht nötig, denn das Setup lässt sich bequem auf<br />
dem iPad einrichten und abspeichern. Ziemlich praktisch<br />
nicht nur für ein Master-Rig für den Live-Gig, auch zum<br />
auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichteten Spielen von<br />
Instrumenten oder Effekten sehr ergiebig. Überhaupt lädt<br />
die neue Version dazu ein, einfach nur übers iPad Tracks zu<br />
basteln, denn es kommt äußerst selten zu der Situation, dass<br />
ein Feature nur direkt über den Rechner erreichbar ist, mal<br />
abgesehen vom Audio-Editing.<br />
Mit touchAble 2.0 ist die Live-Remote endgültig zur beinahe<br />
allumfassenden Oberfläche geworden und stellt nicht<br />
nur die App-Konkurrenz weitestgehend in den Schatten<br />
(auch das ebenfalls sehr umfangreiche Lemur-Patch<br />
LiveControl 2), sondern lässt auch den einen oder anderen<br />
Hardware-Controller reichlich altbacken aussehen. Die hier<br />
getestete späte Beta lief dabei sehr stabil und reagierte direkt<br />
und ohne Verzögerung auf alle Eingaben.<br />
Touchable 2.0 ist ab dem 7. November im AppStore zu haben,<br />
für User der Vorversion ist das Update kostenlos.<br />
63
<strong>177</strong> — musiktechnik Text Sascha Kösch<br />
Nicht nur durch die massenhafte Abwanderung von erklärten<br />
Vinyl-Junkies zu CD-Playern, auch in der Software und<br />
bei den Controllern hat sich in den letzten Jahren für DJs<br />
viel getan - die 1210er sind als DJ-Symbol längst verdrängt.<br />
Native Instruments hat diesen Wandel mit immer neuer<br />
Hard- und Software begleitet und geformt. Angefangen<br />
von Remix-<strong>De</strong>cks und dem Flux-Modus - der Traktor in<br />
eine große Spielwiese verwandelt und eher in Richtung<br />
64<br />
Traktor<br />
Kontrol<br />
S4 MK2<br />
Es ist schon fast drei Jahre her, dass<br />
Native Instruments mit seinen S4- und<br />
S2-Controllern an den Start ging. Drei<br />
Jahre, in denen sich das Auflegen massiv<br />
verändert hat. Wie passt da Native<br />
Instruments neuer Supercontroller<br />
rein?<br />
Produzenten-Tool verändert hat - bis hin zu den passenden<br />
Controllern für jedes Einsatz-Szenario: F1, X1 und Z1, die<br />
Mischpulte wie das Z2 und die wiederum in eigener Weise<br />
grandiose Umsetzung von Traktor auf iOS. Als Traktor-DJ<br />
hat man heute die Qual der Wahl. Mit dem S4 hatte NI zum<br />
ersten Mal einen Controller entwickelt, der die Software<br />
komplett in Hardware goss. Erstere wurde seither fundamental<br />
erweitert: Wie bekommt man all die neuen Features<br />
in eine Kiste? <strong>De</strong>r S4 MK2 (und der S2, der auch neu aufgelegt<br />
wurde) hat es insofern leicht, als dass er einfach<br />
alles an Neuerungen von der restlichen NI DJ-Hardware<br />
übernehmen kann, muss sich aber andererseits auch davon<br />
absetzen können.<br />
Die Mixer-Sektion wurde vor allem durch einen dezidierten<br />
Filter-Knopf (wie beim Z1 und typischen DJ-<br />
Mischpulten) erweitert, der jetzt zusätzlich zu den<br />
Effekten zur Verfügung steht. Die Fader und Knöpfe sind<br />
in der klassischen Qualität, jedes <strong>De</strong>ck hat wie gewohnt<br />
zwei Effektkanäle und in der Mitte sitzt immer noch der<br />
Loop-Recorder.<br />
Übernommen wurden auch die transparenten, mehrfarbigen<br />
Buttons, die den Controller erstmal ungewohnt<br />
bunt statt klassisch dark erscheinen lassen. Damit liefern<br />
die Tasten zusätzlich Information über ihre Funktionsweise,<br />
denn es wird ganz schön eng und komplex im Kopf mit acht<br />
Cue/Flux/Freeze/Remix-Knöpfen und vier für die Transport-<br />
Funktionen. Wer ein wenig an Traktor gewöhnt ist, wird sich<br />
aber dennoch schnell zurechtfinden.<br />
Hier verstecken sich auch viele der Erweiterungen, die<br />
die Anpassung an iOS mit sich bringt. <strong>De</strong>r Loop-Slicer aus<br />
dem Freeze-Modus zum Beispiel, der einzelne Loops in<br />
acht Segmente zerlegt, die über die Buttons dann wie integrierte<br />
Samples abgespielt werden können. Außerhalb<br />
von Freeze sind es natürlich die klassischen Cue-Punkte<br />
in blau, in einem Remix-<strong>De</strong>ck die einzelnen Samples. Die<br />
Farben halten einen hier glücklicherweise intuitiv auf dem<br />
Laufenden.<br />
Die Aktivierung des Controllers auf dem iPad läuft<br />
automatisch. Beim Einstecken des Tablets startet<br />
Traktor DJ und alles ist sofort startklar. Die zweidimensionalen<br />
Effekte lassen sich etwas umständlicher als auf<br />
dem Pad selbst (das man aber natürlich trotzdem weiter<br />
als Controller nutzen kann) über den Dry/Wet-Regler<br />
in Verbindung mit den drei Effektreglern nutzen, die<br />
Steuerung funktioniert wie gewohnt über den Browse-<br />
Regler und das iPad passt sich natürlich automatisch im<br />
Layout der jeweiligen Benutzung an. Die Effekt-Tasten blenden<br />
so zum Beispiel die Effekte ein (die zweite überflüssigerweise<br />
die Gain- und EQ-Regler). <strong>De</strong>n Beatgrid editieren,<br />
im Track zu anderen Positionen springen, on the fly Freeze-<br />
Mode, alles lässt sich mit dem S4 in einfachster Weise realisieren.<br />
S4 und iPad, Check! Das könnte einfacher kaum<br />
sein und klingt in Zusammenarbeit mit der gewohnt wuchtig<br />
klaren Soundkarte des S4 umso besser.<br />
Neu am S4 MK2 sind obendrein der dezidierte Flux-<br />
Button über dem Pitch-Regler und der Mode-Button bei<br />
den Effekten, der vom Single- in den Group-Modus umschaltet,<br />
sowie die metallenen Jog-Wheels, die einen<br />
Hauch leichtgängiger sind als beim Vormodell, dafür aber<br />
auch etwas präziser reagieren. Hier hat man sich im <strong>De</strong>sign<br />
und dem Handling den gewohnteren CDJs angepasst.<br />
<strong>De</strong>r Rest ist dem Vorgänger sehr ähnlich. Es lassen sich<br />
Plattenspieler oder andere Live-Inputs einschleifen, egal ob<br />
mit Control-Vinyl/CD oder in "echt", die Zusammenarbeit<br />
mit CDJs funktioniert tadellos, der Sound ist ausgewogen<br />
wie immer, die Bedienung ein Klacks und auch der<br />
MIDI-In/Out-Modus wurde nicht eingespart. Wer entweder<br />
auf sein iPad, den Flux-Modus, die Remix-<strong>De</strong>cks, oder<br />
Plattenspieler und sonstige Inputs nicht verzichten kann,<br />
für den ist der S4-MK2-Controller (sofern die kleineren<br />
Einzel-Controller nicht ausreichen) perfekt. Und genau hier<br />
ist vielleicht auch das Problem, denn NI stellt mittlerweile<br />
so viele Controller für spezifische Einsätze bereit, dass eben<br />
nicht wenigen die tragbareren kleinen, gegenüber der All-<br />
In-One-Version die der S4 MK2 darstellt, reichen dürften.<br />
PS: Achtung übrigens beim Netzteil: Die alten funktionieren<br />
hier nämlich nicht wirklich.<br />
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Four Tet -<br />
Beautiful Rewind<br />
[Text Records]<br />
RECONDITE -<br />
HINTERLAND<br />
[Ghosty International]<br />
01 Four Tet<br />
Beautiful Rewind<br />
Text Records<br />
02 Recondite<br />
Hinterland<br />
Ghostly International<br />
03 Tim Hecker<br />
Virgins<br />
Kranky<br />
04 Snuff Crew<br />
Behind The Masks<br />
Bpitch<br />
05 Wasserfall<br />
Travelling While Sleeping<br />
Greta Cottage Workshop<br />
06 Felix Lenferink<br />
Forlane II<br />
Shipwreck<br />
07 Thorsteinssøn<br />
They Don’t Know<br />
Legendary Sound Research<br />
08 Palms Trax<br />
Equation EP<br />
Lobster Theremin<br />
09 Clara Moto<br />
Blue Distance<br />
Infiné<br />
10 Kettel<br />
ibb & obb OST<br />
Sending Orbs<br />
11 Me Succeeds<br />
Rongorongo Remixe<br />
Ki Records<br />
12 Geiger & Lafelt<br />
Walking In The Rain<br />
Nylon Trax<br />
13 Kerem Akdag<br />
A Good Play EP<br />
Apparel Music<br />
14 Benjamin Damage<br />
4600 EP<br />
50 Weapons<br />
15 Oleg Poliakov<br />
Random Is A Pattern<br />
Circus Company<br />
16 Jerome<br />
4B<br />
CGI<br />
17 My Panda Shall Fly<br />
Tape Tekkno<br />
Gang Of Ducks<br />
18 Objekt<br />
Agnes <strong>De</strong>mise / Fishbone<br />
Objekt<br />
19 Pink Skull<br />
Pink Game EP<br />
Days Of Being Wild<br />
20 Simian Mobile Disco<br />
Ton Zi Dan<br />
<strong>De</strong>licacies<br />
21 Ambassadeurs<br />
Alone In The Light EP<br />
Pilot Records<br />
22 NSDOS<br />
Lazer Connect EP<br />
Clek Clek Boom<br />
23 Hooved<br />
Timeless<br />
Amam<br />
24 <strong>De</strong>o & Z-Man<br />
XTC<br />
Hafendisko<br />
25 Finest Wear<br />
Distant Memories<br />
Colour And Pitch<br />
www.fourtet.net<br />
Man weiß einfach nicht so recht, was man zu diesem "Beautiful Rewind" sagen<br />
soll. Vielleicht, dass Kieran Hebden viel zu viele Ideen hat. Kein Wunder,<br />
wenn man gerade erst ein Album für Omar Souleyman und eine Kollabo mit<br />
Rocketnumbernine produziert, sowie eine Free-LP mit Staubfängern aus den<br />
Zip-Drives von 1997-2001 rausgehauen hat. Im Workflow wird postwendend<br />
Four-Tet-LP Nr.8 nachgelegt. Zum ersten Mal über den eigenen Betrieb Text<br />
Records wohlgemerkt und das gleich ohne Promo, wie Hebden im Voraus via<br />
Twitter verkündete: "no pre order, no youtube trailers, no itunes stream, no spotify,<br />
no amazon deal, no charts, no bit coin deal, no last minute rick rubin." Da<br />
ist sich jemand seiner Arbeit wirklich sicher. Und eben diese Entschlossenheit<br />
vermisst man auf "Beautiful Rewind" zu oft. Leicht diffus wandert Four Tet zwischen<br />
diversen Ansätzen hin und her. Als hätte sich Captain Hebden mit seiner<br />
Zeitmaschine auf den Weg der umfassenden Reminiszenz begeben und<br />
wäre nun zwischen den Stühlen stecken geblieben. Einmal mal kurz am Frequenz-Regler<br />
gedreht, um sich quer durch die Historie von Englands Piraten-<br />
Radio zu streamen, hängt er nun irgendwo zwischen UK-Garage, Grime und<br />
House, sowie seiner alten Liebe Elektronika fest. Dabei kommt durchaus die<br />
ein oder andere unangestrengte Aufarbeitung zustande. Wie der Opener etwa,<br />
das slow-fast-Gewitter "Gong", in dem mit Four-Tet-typischer Staubigkeit Jungle<br />
erkundet wird - quasi das Äquivalent zu Burials Garage-Entwurf. Auch für<br />
"Kool FM" wurden Breakbeats ausgegraben und in ein 4/4-Gerüst gequetscht,<br />
auf dem schließlich eine unverkennbar britische, grimey Bassline einfach nur<br />
ganz laut "massive" schreien will. Sick. Dazwischen dann aber diese unschlüssigen<br />
Momente wie "Ba Teaches Yoga" oder "Unicorn", in denen Hebden an<br />
seiner Leidenschaft für Elektronika-Arpeggios und -Flächen festhält und die<br />
man einfach nicht so recht in diesen Rahmen einordnen kann. Gefolgt von "Aerial“,<br />
bei dem man dann irgendwie gar nicht mehr weiß, wo es eigentlich hingehen<br />
soll. Mit Four Tet’scher Ethno-Polyrhythmik geht’s los, mit Ambient-Arpeggios<br />
und Garage-Vibes weiter, mit schizophren gecutteten Grime-Vocals<br />
und äquivalenter Bassline schließlich zu Ende. Alles in einem Track. Auf dass<br />
der Groove in Unentschlossenheit ersticke. Womöglich muss man "Beautiful<br />
Rewind" als fragile Sound-Skizze wahrnehmen. Als Four Tets assoziative Reise<br />
durch die ehemaligen britischen Piraten-Frequenzen und weniger als Sammlung<br />
alleinstehender Tracks, die in sich schlüssig wären. <strong>De</strong>r Gegenentwurf zu<br />
"Pink" also, der im vergangenen Jahr erschienenen Single-Anthologie. In dem<br />
Sinne wäre "Beautiful Rewind" der konsequente nächste Schritt im Schaffen<br />
des K. Hebden. Schade nur, dass "Pink" einfach wirklich so viel besser funktioniert<br />
hat.<br />
wzl<br />
www.ghostly.com<br />
Geschichte kann gnadenlos sein. Gleich zwei LPs mit dem Namen "Hinterland"<br />
sind dieser Tage erschienen. Caspars schwülstiges Etwas, eine Platte,<br />
die nur wie Naidoo sein will, und Recondites zweites Album. Bei Google verliert<br />
man so ganz automatisch, unsere Herzen jedoch lachen. Man hätte es ja<br />
ahnen können. Lorenz Brunners Sound atmete schon immer tiefe Melancholie,<br />
so etwas wie helle Dunkelheit. Die Tracks auf seinem eigenen Label "Plangent"<br />
deuteten die Richtung an, die sich nun manifestiert, radikal verdichtet. Das begann<br />
in den Arrangements, in der Auswahl der Töne und setzte sich beim Artwork<br />
fort. Rauhe Papphüllen mit gestempelter Natur-Abstraktion. Ja, es war<br />
die alte Leier der Verschleierung. Es war aber auch eine Erleuchtung. Und<br />
"Hinterland" leuchtet heller als alles andere zur Zeit. In einer der ersten textlichen<br />
Annäherungen mit Recondite in diesem Magazin, im <strong>De</strong>zember 2011,<br />
hieß es: "Es ist kein Geheimnis, dass die Welt etwas schöner wird, wenn man<br />
ihre Konturen nur leicht verwischt." Genau das ist der Dreh- und Angelpunkt<br />
des Albums. Die Lernkurve ist alles andere als steil und doch ist alles anders.<br />
Ein bisschen wie auf Kodein, wenn sich Dinge von einander entkoppeln, nicht<br />
mehr vollständig synchron laufen. Wenn der Autofokus lahmt, immer wieder<br />
versucht, scharf zu stellen und doch nur weiche Flächen produziert. Recondite<br />
gelingt es, dieses Konzept der Unschärfe auf Albumlänge zu perfektionieren.<br />
Die Beats sitzen. Sind klar und kräftig, verbinden gelebte Modernität mit<br />
kleinen Reminiszenzen an die Vergangenheit, leben vorbildliche Reduktion, bilden<br />
ein Fundament, wie es heutzutage im Häuserbau schon längst nicht mehr<br />
zum Einsatz kommt. Recondite jedoch baut für die Ewigkeit. <strong>De</strong>nn der Rest ist<br />
fluide. Richtet sich nicht nach den Vorgaben der Schlagwerk-Kellergeschosse,<br />
sondern nach der Umgebung, in die er seine Gebilde setzt. Minimale Eingriffe<br />
in die Natur. Sobald die Oberfläche erreicht ist, wird in die Natur hineingebaut.<br />
Und die will mal links, mal rechts, mal hoch, mal seitlich. Durch das Geäst der<br />
natürlich gewachsenen <strong>De</strong>epness. Mit seinen Melodien hätte Recondite auch<br />
die Elektronika revolutionieren können. Er ist der Pate des Waldes, nicht Voigt.<br />
Ein mystisches Plinkern. Es windet. Hört man Recondite zu, kann man die<br />
Farne förmlich anfassen. Und auf denen ist ordentlich was los. Es sprießt, es<br />
krabbelt und grabbelt, es pulsiert, es lebt. Und doch bleibt es zu großen Teilen<br />
unscharf. Neblig. Weit weg. Recondite spendiert die Entwürfe, große, hallige<br />
Skizzen, der Rest passiert im Kopf, sobald der mitwippt, man sich fallen lässt.<br />
Recondite hat genau das, was alle anderen nicht haben und doch haben wollen.<br />
Style. Mut. Die Darkness so bunt anzumalen, dass sie bei aller Übermacht<br />
in tiefem Purpur glüht. Bayreuth in 4/4. Götterdammerung in 808.<br />
THADDI<br />
66
SNUFF CREW -<br />
BEHIND THE MASKS<br />
[Bpitch]<br />
www.bpitchcontrol.de<br />
WASSERFALL -<br />
Travelling While<br />
Sleeping<br />
[Greta Cottage<br />
Workshop]<br />
gretacottageworkshop.co.uk<br />
TIM HECKER -<br />
VIRGINS<br />
[Kranky]<br />
www.kranky.net<br />
Die Snuff Crew stand schon immer für Acid. Für Oldschool.<br />
Für Drummachines, Synths, die reine Lehre. Damit sind sie<br />
weiß Gott nicht alleine. Warum auch. Aber ihr Album geht<br />
über ihre bisherigen Produktionen noch ein Mal weit hinaus.<br />
Es steigt vom ersten Moment ein, wie ein Popalbum.<br />
Wie dieser große Entwurf eines Glücksmoments, in dem<br />
man sich selber bestimmt. Es wird mit Melodien um sich<br />
geworfen wie im ersten Frühling. Es blüht an allen Ecke<br />
vor lauter Leichtigkeit. Die Maske ist gefallen. Snuff Crew<br />
sind nicht mehr die Kämpfer hinter den Maschinen, deren<br />
Beats, Grooves und Basslines alles sagen müssen, sie<br />
sind das Orchester eines ewigen Summer Of Love geworden.<br />
Egal ob sie Rachel Row, Kim Ann Foxman oder Tyree<br />
Cooper ins Studio geladen haben, alle haben dieses Ding im<br />
Blick. Tage des Schwärmens. Eine Zeit, in der sich alles in<br />
einer neuen Liebe für die Welt auflöst. Diesen Moment, in<br />
dem eine Generation zusammenkommt und auf einer Party<br />
einen Zusammenschluss feiert, der so unwahrscheinlich<br />
ist wie er unauslöschlich bleiben wird. Musik, die nicht sich<br />
selbst feiert, nicht die schönen Zeiten von damals, sondern<br />
dieses Gefühl, dass es im gemeinsam gefundenen Groove<br />
eine Welt gibt, in der es sich lohnt zu verharren und neuen<br />
Funk zu tanzen.<br />
bleed<br />
THORSTEINSSøN -<br />
THEY DON'T KNOW<br />
[Legendary Sound<br />
Research]<br />
<strong>De</strong>ephouse ist auf dem besten Weg das neuste Schimpfwort<br />
für EDM zu werden, das hält <strong>De</strong>ephouse-Platten aber<br />
nicht davon ab, von Woche zu Woche großartiger zu werden.<br />
Diese Platte ist ein perfektes Beispiel dafür warum. Thorsteinssøn<br />
kümmert sich um nix außer der Musik. Die Chords,<br />
der Groove, die Bässe, der Sound. "They Don't Know" ist keine<br />
Klage darüber, dass die anderen <strong>De</strong>ephouse nun wirklich<br />
nicht verstanden haben, sondern die lapidare Erkenntnis,<br />
dass Musik wie ein Achselzucken sein kann. Ein Hauch<br />
von Wahrheit, der völlig losgelöst von allen <strong>De</strong>finitionen eine<br />
Sicherheit erzeugt, die kein draußen braucht. Thorsteinssøn<br />
hat diese Unschuld der ersten Theo-Parrish- Tracks, aber<br />
auch die Unbekümmertheit plinkernd schnatternder Melodien,<br />
diesen Soul der <strong>De</strong>epness, die sich nicht sonderlich<br />
ernst nimmt, weil sie einfach der Grund ist, warum man<br />
überhaupt in diese Welt abtaucht. Die EP feiert sich selbst,<br />
feiert die Legenden um sich herum, feiert diese Bekenntnis<br />
zu einem Sound, der sich in unwahrscheinlicherweise<br />
bei aller Nähe zu den Vorbildern, den Legenden und der<br />
Geschichte doch ständig erneuert, so als wäre <strong>De</strong>ephouse<br />
nicht ein Stil, sondern ein endloses Ufer, an dem es ständig<br />
etwas Neues zu entdecken gäbe, das nichts ändert, außer<br />
der Erkenntnis, dass es ewig so weitergehen könnte.<br />
bleed<br />
Greta Cottage Workshop ist immer eine Reise wert. Hier<br />
werden die Schafe noch von Hand geschert. Die Musik<br />
so lange geknuddelt und getätschelt, bis sie am Ende<br />
glänzt und säuselt, gluckst und sprudelt, bis sie vor Glück<br />
quietscht. Wasserfall ist ein Projekt, das bis zur Besinnungslosigkeit<br />
eine Sanftheit verströmt, die einem wie ein lauwarmer<br />
Gebirgsbach im Hochsommer durch die Finger rinnt.<br />
Es ist eine Ode an die Biegsamkeit der Gefühle, die immer<br />
einen Weg finden, sich durch nichts eingrenzen zu lassen.<br />
Eine Feier der kleinen sanften Töne, die in alle Richtungen<br />
strömen und sich doch irgendwie in einem Fluss befinden.<br />
Durch die Musik von Wasserfall hindurch sieht man diese<br />
traumwandlerischen Bewegungen der scheinbar zufällig<br />
hingworfenen Perfektion einer Welt wie sie sein sollte. Keine<br />
verborgenen Schätze, sondern offen vor einem liegendes<br />
Glück und das Versprechen des Moments. "Travelling While<br />
Sleeping" ist der auf fünf Stücke komprimierte Powernap,<br />
bei dem man nicht die Augen schließt, sondern weit öffnet.<br />
Keine Reise ins Innere, sondern ein Sprung nach draußen in<br />
die Innerlichkeit der Welt. Es gibt viel zu viele Metaphern um<br />
Schönheit zu beschreiben. Wasserfall gehört für mich definitiv<br />
zu den klarsten. Jetzt müsste diese Welt nur noch wirklich<br />
sein.<br />
bleed<br />
FELIX LENFERINK -<br />
FORLANE II<br />
[SHIPWRECK]<br />
www.shipwreck.org<br />
In der Welt zwischen House und Bass ist noch viel zu viel<br />
ungesagt. Die Tracks von Felix Lenferink steppen, kicken<br />
wild um sich, sind so heiter, dass man fast lachen möchte,<br />
aber können auch mal eine Acidline durchknödeln. Während<br />
nicht selten die Synthese aus Kindersoul und hibbeligen<br />
Grooves irgendwann in Trance endet, oder der Nabelschau<br />
verknoteter Basslines und schnippischer Beats, flattern die<br />
Tracks von Lenferink eher von einem Höhepunkt zum nächsten,<br />
halten sich nie lange damit auf, sondern genießen dieses<br />
Verbrennen im aufblitzenden Moment. Eine EP voller<br />
Flausen, klingelnd überzogener Melodien, Stimmen, die<br />
aus allen Richtungen hereinwehen und schon wieder weg<br />
sind. Alles lässt sich kurz nieder, zeigt sich von seiner besten<br />
Seite, ist wieder woanders. Dabei wirkt die Musik aber<br />
alles andere als sprunghaft oder hecktisch, sondern säuselt<br />
lieber voller offener Geheimnisse. Gelegentlich ist das<br />
wie Filmmusik zu einem Märchen, das noch nie von Kitsch<br />
gehört hat, oder auch einem ersten Blick durch ein Kaleidoskop,<br />
das man so lange an die Augen presst, bis es fast<br />
weh tut, weil die Klarheit der Strukturen irgendwie die notorische<br />
Verwirrung völlig ausblendet. Die perfekte Synthese<br />
aus komplex verdichteter Konstruktion und dem Genuß einfachster<br />
Berührung durch Musik.<br />
bleed<br />
Es kann nur einen geben. Tim Hecker war schon immer unglaublich.<br />
Von seinen ersten Platten an stach er heraus duch<br />
diese eisig warme digitale Ästhetik, die seine Stücke durchzieht,<br />
wie ein glasklarer Schnitt. Konzentriert bis ins letzte aber<br />
doch so voller Nähe. Virgins ist für mich schon jetzt eins der<br />
Alben des Jahres. Weil es Träume erfüllt. Weil es mich in die<br />
Zeit purer aufwühlender Experimente zurückversetzt. Die Zeit,<br />
als Sounds aus dem digitalen Eis gebrochen werden mussten.<br />
Als man neue Klänge entdeckte, erfand, konstruierte, zu einer<br />
Architektur zusammenbaute, die völlig neue Landschaften<br />
entstehen ließ. Es ist keine Nostalgie für Clicks and Cuts, die<br />
diese Platte prägt. Es sind die vielen akustischen Instrumente,<br />
die Harfen, die Klaviere, die Streicher. Traumwandlerisch<br />
im Einklang mit den wehenden digitalen Sounds, den kleinen<br />
perfekt sitzenden Effekten und dieser großen Geste, dass Musik<br />
über sich selbst hinaus wachsen muss. Es ist immer blöd,<br />
Musik irgendwie als natürlich zu bezeichnen, nichts könnte<br />
ferner liegen, wenn man sich den Produktionsprozess ansieht.<br />
Aber "Virgins" wächst. Hat ein eigenes Leben. Es wuchert vor<br />
dem inneren Auge und fühlt sich mehr und mehr an wie das<br />
My-Bloody-Valentine-Album, das man machen würde, wenn<br />
man diesen Aufbruch in eine neue schwankende Zeit, neu erfinden<br />
könnte. Es ist kein Album der Hypothesen. Es ist eins<br />
der Erfüllung. Musik, die in jedem Moment in sich selbst hinabstürzt,<br />
ihre Melodien vor dem inneren Auge zerschmettert,<br />
die großen tiefen Basswellen anzerrt und in eine Schräglage<br />
versetzt, die Welt durchleuchtet mit dieser anderen Perspektive,<br />
die uns erst in die Lage versetzt etwas neues wahrnehmen<br />
zu können. "Virgins" ist wie sein Titel, wenn man ihn entkernt<br />
von jeder Mystik, jeder Geschlechterzuschreibung lesen könnte.<br />
Es ist Musik, die erwacht, auf etwas hindeutet, dass man<br />
nicht begreifen kann, aber längst versteht. Eine Verheißung,<br />
eine Unschuld, ein Neuanfang noch vor dem Neuanfang. Mit<br />
jedem der Stücke scheint das Album ein Licht auf etwas, das<br />
man wie zum ersten Mal sieht, nicht weil es neu wäre, sondern<br />
weil es in diesem Moment erst eine Bedeutung bekommt. Es<br />
kreist um diesen blinden Fleck der Unmöglichkeit einer neuen<br />
Welt, in der doch alles neu erscheint, einfach weil es durch und<br />
durch verrückt wurde, durch ein neues Zentrum eine andere<br />
Dimension erreicht, deren Mittelpunkt, Richtung, Begierden<br />
oder Erfahrungen noch keine Sprache kennen, aber ein Wort.<br />
Es gibt keinen Grund sich nicht in dieses Album zu verlieben.<br />
Für immer .<br />
BLEED<br />
67
<strong>177</strong> — reviews<br />
Mooryc<br />
KONTROLLIERT Fallen<br />
T Helena Lingor<br />
Die alten polnischen Geigenbauer seien sehr verschlossene Menschen. Sie würden ihre letzten<br />
Geheimnisse niemals preisgeben, sagt Maurycy "Mooryc" Zimmermann und muss gleichzeitig<br />
über diese Verschrobenheit lachen. Dass ein gewisser, streng konzentrierter, introvertierter Zug<br />
in seiner Musik von dieser polnischen Verschlossenheit und Melancholie geprägt ist, will er aber<br />
nicht bestreiten. Es gebe nur wenige Geigenbauer in Polen und auf eine Schule zu kommen, sei<br />
nicht einfach. Zwei Violinen habe er schon gebaut, bevor er aufgenommen wurde.<br />
Dass eine Art strenger Baumeister in die Konstruktion seiner Tracks verwickelt ist, das lag schon<br />
vor Mooryc' <strong>De</strong>bütalbum "Roofs" nahe. Es muss ein Fachmann des orchestrierten Schwermutes<br />
gewesen sein, dessen melodische Texturen über die harmonisch strenge Form verfügen, die vielleicht<br />
nur in dem Holzschliff eines alten Instruments zu finden ist. Was sich vor "Roofs", im Jahr<br />
2009 mit zwei EPs noch als verträumter Indie-IDM präsentierte, entwickelte sich mit den nächsten<br />
Tracks schnell zu epischer Auteur-Elektronika – einer Art kontrolliertes Fallen aus den Höhen einer<br />
melodramatisch arrangierten Klangarchitektur. "Fallin’ freely" lautet somit nicht umsonst ein Titel<br />
auf dem aktuellen Album.<br />
Mal über verklärt angebrannte Synth-Arpeggios, mal durch den kalten Nebel verhallter EBM-<br />
Floors, mal in der konzentrierten Entfaltung einer Harmonik über einen polyphonen Platzregen aus<br />
Strings: Mooryc' Tracks ist eine quasi sinfonische Entschiedenheit eigen, mit der sie sich auf einen<br />
bestimmten Moment melodramatischer Verdichtung hinbewegen. Auch auf "Roofs" finden sich mit<br />
"Powerless", "Jupiter" und "Say No More" erwartungsgemäß gleich mehrere Hymnen, auf denen sich<br />
irgendwo zwischen Pop und Elektronika konzentrierter Weltschmerz ereignet: "Es ist vielleicht die Erinnerung<br />
an eine musikalische Form oder ein Stück, wenn ich an einem Track arbeite", sagt Mooryc.<br />
"Mir fällt es leicht, eine Idee oder ein Arrangement schnell umzusetzen." "Roofs" wären dann vielleicht<br />
die Dächer seiner musikalischen Erinnerung - eine Schule alter, dunkler Meister. Bach und Arvo Pärt,<br />
<strong>De</strong>peche Mode, Boards of Canada und Burial, aber auch Peter Gabriel und der zeitgenössische polnische<br />
Komponiste Pawel Mykietyn, von dem er, wie er sagt, vor allem seinen Zugang zu atonaler Musik<br />
und bestimmten kompositorischen Elementen hat.<br />
In einem Lokal in Berlin-Moabit entspannt in seinem Stuhl sitzend und angenehm unverkopft<br />
kommunizierend, glaubt man Maurycy Zimmermann ohne Weiteres, wenn er nun aber behauptet,<br />
dass er eigentlich gar kein trauriger Mensch sei: "Bei 'Communication Breakdown' [auf "All those<br />
things" FaT 004, Anm. d. Red.] zum Beispiel, hab ich versucht, etwas eher Albernes zu machen.<br />
Das war als Witz gemeint. So nach dem Motto: Oh c'mon, lebst du eigentlich noch, oder bist du<br />
vielleicht schon tot. Im Produktionsprozess hat das aber eine bestimmte Realität angenommen. Es<br />
hat mich selbst schockiert, wie real traurig das klang. Das ist für mich der entscheidende Moment,<br />
wenn ich im Studio sitze und der gesamte Klang mich umhaut. Aber das bin nicht ich. Ich habe nur<br />
die einzelnen Stimmen geliefert."<br />
Dass Mooryc’ Gesang aus einer Art Kokon stammt, an dessen Innenwänden sich wohl erst das Kondensat<br />
dieses musikalischen <strong>De</strong>stillationsprozesses sammeln muss, macht deutlich, warum er sagt,<br />
dass Bands nicht sein Ding seien. Er brauche seine Studioumgebung, um zu singen, das könne er<br />
auch nicht, wenn andere dabei sind. Immerhin hätte er es letztens endlich einmal geschafft, zu singen,<br />
als sein Label-Buddy und bisher einziger Kollaborationspartner Douglas Greed dabei war.<br />
Mooryc, Roofs, ist auf Freude am Tanzen/Kompakt erschienen.<br />
Alben<br />
Ulrich Troyer - Songs for William 2<br />
[4Bit Productions - Hardwax]<br />
Irgendwo in Innsbruck gibts einen Brunnen, der geht ganz tief<br />
runter. Bis nach Jamaika. Sein Wasser<br />
schmeckt den Kindern auf beiden Seiten<br />
ganz besonders, und der Hall, wenn<br />
man hineingrüßt… tja. <strong>De</strong>r Dub, der<br />
steckt für Ulrich Troyer vor allem in den<br />
kleinen Stompboxen, Tretminen, dem<br />
Fußvolk sozusagen. In seinen Dub-<br />
Songs, erst recht, wenn man sich die<br />
zugehörigen Comic-Geschichten durchliest, sieht man die Effekt-Kistchen<br />
beim Zuhören förmlich kreuz und quer durchs<br />
Studio spazieren. "Songs for William 2", der zweite Teil einer<br />
Trilogie, kommt so niedlich und liebevoll daher wie vor zwei<br />
Jahren der erste; aber der Ton hat sich gewandelt. An die Stelle<br />
eines sommerlich-eingängigen Reisetagebuchs treten gedeckte<br />
Farben, dekonstruktive Explorationen, Melancholie<br />
zwischen Zwitscherknurpstierchen und Glockenspiel. Die<br />
Grooves pulsieren und schieben Herbstnebel über leere Landstraßen,<br />
der Wind pustet Dub-Blips drüber, plötzlich findet sich<br />
alles zu Pop zusammen ("Cable Loss"), dann arbeiten wir uns<br />
Fuß vor Fuß den ganzen Brunnen hinunter, in "Hardwired" erwartet<br />
uns die Schreckharmonica, vor der sich die kleine<br />
Drumbox erstmal raustrauen muss, aber dann sind auch<br />
schon alle fleißig am Steppen, schließlich am anderen Ende:<br />
weich schimmriger Drone-Ambient, das Fenster geht zum<br />
Knisterregen von Pyrolators "Inland" auf, und das Sandmännchen<br />
kommt im Gewand eines Beats. Das Highlight also wieder<br />
am Schluss, aber es ist dieser durchgehende, basteligpoetische<br />
Ansatz, der das Gesamtpaket von Troyers Dub<br />
auszeichnet.<br />
www.4bitproductions.com<br />
multipara<br />
Håkon Stene - Etude Begone Badum<br />
[Ahornfelder - A-Musik]<br />
<strong>De</strong>n nonchalantesten Quasi-Re-Start des Jahres legt hier das<br />
Hamburger Label Ahornfelder hin mit<br />
einem Doppelschlag des norwegischen<br />
Schlagzeugers Håkon Stene. Auf zwei<br />
gleichzeitige Releases verteilt erscheinen<br />
sechs Einspielungen von Werken<br />
zeitgenössischer Komponisten: auf diesem<br />
Album vier, auf einer CD-EP zwei<br />
weitere. Nonchalant, weil schick, sehr<br />
knapp an Info, und inhaltlich erste Kajüte. Schlagzeug: da geht<br />
ja eigentlich alles. Im Duo mit Marko Ciciliani bespielt er auf<br />
dessen "Black Horizon" E-Gitarren – verzaubert wäre der passendere<br />
Ausdruck, denn man traut seinen Ohren nicht. Was<br />
bei Michael Pisaros "Ricefall" geschieht, ist dagegen klar, und<br />
dabei nicht weniger unheimlich. Geradezu als Einsteiger dazwischen:<br />
die Dreingabe von Luciers Triangel-Stück "Silver<br />
Streetcar for the Orchestra", die sich in einer ordentlich klangintensiven<br />
Aufnahme ihren Platz verdient. Garniert von drei<br />
Vignetten ("Studies in Self-Imposed Tristesse") von Lars Petter<br />
Hagen, auf denen der Sound von Percussion und Elektronik ins<br />
Uncanny Valley taucht. Ein Fest für die Ohren, von Anfang bis<br />
Ende.<br />
www.ahornfelder.de<br />
multipara<br />
Gherkin Jerks - The Gherkin Jerks<br />
[Alleviated]<br />
Nach den beiden EPs kommt hier dann auch noch das Album<br />
dieser aus der Tiefe der Technogeschichte<br />
ausgegrabenen Tracks, und in<br />
ihrem spartanisch absurden Sound<br />
klingt das als Album irgendwie noch<br />
mehr so wie eine Welt, in der die frühen<br />
80er wiedererfunden wurden. Manchmal<br />
könnte das auch der Plan sein, so<br />
sehr eiern und quietschen die Sounds,<br />
manchmal ist es natürlich der perfekte Protoacid, den man in<br />
den reduziertesten Versionen später dann im Traum buchstabieren<br />
lernte. Ein Album, das einem aber vor allem zeigt, dass<br />
Oldschool eine ganz andere, breitere Geschichte hat, als diese<br />
bereinigte Version, die man so oft hört. Ist das futuristisch?<br />
Gewesen? Vermutlich, aber irgendwie doch in einer so verwirrten<br />
Kellerästhetik, dass die Träume vom roten Planeten definitiv<br />
aus der Werkzeugkiste eines Bastlers stammen. Für<br />
Genießer.<br />
bleed<br />
Bartmes - Flow Motion<br />
[Blisstone]<br />
Pianist und Keyboarder Joe Bartmes aus Heidelberg lässt es<br />
fließen. Elektronik hilft hier nur selten<br />
aus, wenn er seine Kompositionen veredelt,<br />
die sich im groovenden Souljazz<br />
bewegen. Statt einer Gitarre als Soloinstrument<br />
ist eine verfremdete Bassklarinette<br />
im Einsatz, die von Frank Spaniol<br />
gespielt wird. Am Mikro ist Fola Dada<br />
dabei, und insgesamt drei Schlagezuger<br />
haben das Album mit eingespielt. Neben Oli Rudow und<br />
John Bollinger ist das der langjährige Kompagnon Sebastian<br />
Merk. Herausgekommen ist ein intelligent geschriebenes Album,<br />
dass den Groove dezent abfeiert und dabei die Konzentration<br />
aufs Wesentliche nicht vergisst. Trotz des Namens<br />
kommt Bartmes letztendlich gut auf den Punkt und verliert<br />
den roten Faden nicht.<br />
tobi<br />
Toshimaru Nakamura + Ken Ikeda + Tomoyoshi Date<br />
Green Heights<br />
[Baskaru - A-Musik]<br />
Wie man lärmhaftes Geräusch und kindliche Klänge von Spielzeugklavier<br />
oder ähnlichem Gerät in einen<br />
sinnstiftenden Zusammenhang<br />
bringt, kann man beim Trio Toshimaru<br />
Nakamura, Ken Ikeda und Tomoyoshi<br />
Date, einer Art japanischen Improv-Supergroup,<br />
wie spielerisch lernen. Die<br />
drei Individuen mit ihren recht unterschiedlichen<br />
Herangehensweisen bei<br />
der Abstraktion von elektronischen Konventionen, bestellen<br />
gemeinsam eine Fläche, die an eine postindustrielle Brache<br />
und zugleich an idyllisch-karges, unberührtes Bergland denken<br />
lässt. Es ist eine offene Szenerie, in der Menschen nicht<br />
mehr oder noch nicht anwesend zu sein scheinen, und in der<br />
das Staunen über das Neue und eine leicht wehmütige Nostalgie<br />
wie selbstverständlich Hand in Hand gehen. Die Balance<br />
von leicht schmerzenden Frequenzen und fast zu lieblichen<br />
Tönen gelingt den dreien so lässig, dass man sich nur ehrfürchtig<br />
verneigen kann.<br />
www.baskaru.com<br />
tcb<br />
Oleg Poliakov - Random Is A Pattern<br />
[Circus Company/CCCD014 - WAS]<br />
Das neue Album von Oleg Poliakov ist massiv. Schüchtern.<br />
Dicht, zurückhaltend, pathetisch, zögerlich,<br />
smooth und natürlich funky wie<br />
immer. Seine Tracks haben auf der<br />
Oberfläche erst mal immer etwas Gewohntes,<br />
man scheint sich ins gemachte<br />
Nest zu legen, die Housewelten sind<br />
bekannt und sehr angenehm, dann aber<br />
kribbelt es in den Untertönen doch immer<br />
verwirrend und verdreht, es zuckt einem unter den Ohren<br />
weg, es sucht diese leichten Verschiebungen im Sound, die<br />
mal pure breit harmonische Euphorie sind, mal in sich versunkene<br />
Konzentration auf die dichten Dubs und den zischelnden<br />
Motor hinter all den Grooves. Eine Platte, die ihren Funk wie ein<br />
kleines zu pflegendes Kaminfeuer erst nach und nach entwickelt,<br />
dann aber immer betörender wird.<br />
www.circuscompany.com<br />
bleed<br />
Pick A Piper - s/t<br />
[City Slang - Rough Trade]<br />
Brad Weber, der Schlagzeuger von Caribou, ist sozusagen die<br />
kanadische Mischung aus Wolf Biermann<br />
und Lars Ullrich, verbindet er<br />
doch unter seinem Alias Pick a Piper<br />
(zusammen mit Angus Fraser und Dan<br />
Roberts) Schlagzeug sowie Liedermachen<br />
und präpariert das ganze clubtauglich.<br />
Angenehm auch, weil hier kein<br />
"Liedermaching"-Konzept auf Beats<br />
übertragen wird, sondern die Beats die Grundlage für die Vocals<br />
bilden, die ganz zum Schluss kommen. So entstanden<br />
sieben großartige Miniaturen, Soundscapes zum Schlagzeug;<br />
Vocals, die nicht überkandidelt wirken, und eine Grundstimmung,<br />
die es nicht nötig hat, auf Hit-Kompatibilität zu setzen.<br />
Bis im neuen Jahr wieder die Festivals losgehen, ist "Pick a<br />
Piper" das Überbrückungswerk - rhythmusbasierte Liedermacher-Indietronica<br />
vom Besten.<br />
www.cityslang.com<br />
bth<br />
Esmerine - Dalmak<br />
[Constellation - Cargo]<br />
Esmerine ist ein Projekt zweier "Godspeed You! Black Emperor"-<br />
und "A Silver Mt. Zion"-Musiker.<br />
Anstatt auf Gitarren setzt die Band allerdings<br />
eher auf Marimba, Banjo, Cello,<br />
Kornett, Perkussion und Bass. Auf ihrem<br />
mittlerweile vierten Album, dass in<br />
Istanbul entstanden ist, arbeitet die<br />
Band zusätzlich mit einheimischen Musikern<br />
und erweitert das Instrumentarium<br />
dadurch zusätzlich um eine Geige und verschiedene türkische<br />
Rahmentrommeln und Saiteninstrumente. Das gibt der<br />
Musik natürlich eine starke orientalische Anmutung. Die<br />
Tracks sind mal flächig, ambient, meditativ und dronig und oft<br />
auch furios treibend uptempo angelegt. Ziemlich klasse!<br />
www.cstrecords.com<br />
asb<br />
Juana Molina - Wed 21<br />
[Crammed Discs - Indigo]<br />
Vorweg eine Entschuldigung: Das tolle Album "Un Día" von<br />
2008 habe ich irgendwie erst überhört.<br />
Erst Jahre später so wirklich entdeckt.<br />
Dieses sei also nachträglich empfohlen.<br />
<strong>De</strong>nn Molinas neues Album ist genauso<br />
schön, strahlt, ist fast noch etwas poppiger.<br />
<strong>De</strong>r "Rolling Stone" hat die Argentinierin<br />
sogar mit den Pop-Forschenden<br />
Brian Wilson und Kevin Shields verglichen.<br />
Nicht ganz zu unrecht. <strong>De</strong>nn Molina sucht. Sie bringt<br />
Unerwartetes in ihren klanglichen Rahmen. Wiedererkennbarkeit<br />
mischt sich mit Neuem. Minimales vermengt sich mit<br />
durchaus Luzidem. Molina produziert einen elektronischen<br />
Folk, den sie hier deutlich erweitert um einen Haufen Instrumente<br />
und Ideen. Das klingt dann manchmal bewusst funkytrocken,<br />
manchmal fast schon indietronics-niedlich. Mit jedem<br />
neuen Hören entdeckt man mehr.<br />
www.crammed.be<br />
cj<br />
68
<strong>177</strong><br />
ALBEN<br />
Brown Reininger Bodson - Clear Tears / Troubled Waters<br />
[Crammed Discs - Indigo]<br />
Die legendäre Ambient und Soundtrack Serie "Made To Measure"<br />
wird vom belgischen Label Crammed<br />
Discs wiederaufgelegt; zwischen<br />
1983 und 1995 veröffentlichten hier so<br />
edle Herren wie Arto Lindsay, John Lurie<br />
und Harold Budd ihre Kompositionen<br />
für Film, Theater oder Video. Darüberhinaus<br />
ist Crammed Tuxedomoons<br />
Stammlabel mit sämtlichen Re- und<br />
Re-Re-Releases der Band, alle Solo- und Seitprojekte sind<br />
ebenfalls vertreten, voilà ... Bühne frei für Tuxedomoons Frontmänner<br />
Steven Brown und Blaine Reininger, die mit dem belgischen<br />
Musiker und Sounddesigner Maxime Bodson die Musik<br />
für ein Stück mit sieben Tänzern und drei Musikern schrieben.<br />
Choreografiert von Thierry Smits, ist "Clear Tears / Troubled<br />
Waters" eine durchwachsene Mischung aus Elektronik und<br />
Musik der klassischen Moderne, deren Genuss live und mit<br />
den dazugehörigen Bewegungen eher zu empfehlen wäre. <strong>De</strong>r<br />
visuelle Aspekt der Zusammenarbeit, die Interaktion fehlt.<br />
Schade eigentlich, der 1982 für Maurice Béjart geschriebene<br />
und separat veröffentlichte Tuxedomoon-Soundtrack für dessen<br />
Ballet "Divine" hatte eine klare musikalische Eigenständigkeit,<br />
dem dieses Werk völlig abgeht, leider.<br />
www.crammed.be<br />
raabenstein<br />
Arturas Bumšteinas - Meubles<br />
[Crónica - A-Musik]<br />
Bei einem Titel wie "Meubles" fällt es schwer, nicht an Erik<br />
Satie und seine "musique<br />
d'ameublement" zu denken, also Gebrauchsmusik<br />
für den Hintergrund,<br />
Proto-Ambient im Sinne Brian Enos.<br />
<strong>De</strong>r litauische Komponist Arturas<br />
Bumšteinas nennt Satie zwar nicht als<br />
direkte Referenz, doch die programmatische<br />
Möbelmusik, die man auf "Meubles"<br />
hören kann, knüpft in ihrer Statik recht frei an ihr historisches<br />
Vorbild an. Bei Bumšteinas werden die Töne wie<br />
Bauteile oder Muster eingesetzt, sie verteilen sich als punktartige<br />
Strukturen in der Luft. Das nach einem Gedicht des antiken<br />
Dichters Hesiod benannte, von Bumšteinas gegründet<br />
Works and Days Ensemble spielt die einzelnen Elemente so<br />
stoisch, als kämen sie gleich aus einem Computer. Manche<br />
Parts haben durchaus schroffen Charakter – hier sollte man<br />
sich besser nicht hinsetzen –, alles in allem verbreiten die Instrumente<br />
aber eine nur mählich fremdartige "wohnliche" Atmosphäre:<br />
Mit diesen Tönen kann man es eine Weile aushalten.<br />
www.cronicaelectronica.org<br />
tcb<br />
Piano Interrupted - The Unified Field<br />
[<strong>De</strong>novali - Cargo]<br />
Zweiter Release des Londoner Pianisten und Komponisten<br />
Tom Hodge sowie des französischen<br />
Electronic Producers Franz Kirmann.<br />
Klassische Einflüsse gemischt mit Electronica<br />
und Pop; eine eifrig bewanderte<br />
Straße dieser Tage. Zusammen mit den<br />
Gastmusikern Greg Hall am Cello und<br />
Tim Fairhall, Kontrabass, schlendern die<br />
vier Musiker unbeschwert durch schöne<br />
und bekannte Landschaften, die Sonne wärmt das letzte<br />
fallende Blatt. Die ab und an eingeworfenen, muffigen 4/4-Attacken<br />
werden auch sogleich wieder verworfen, man lagert<br />
vespernd am Wegesrand und verträumt die Wolken zu sehnsüchtigen<br />
Bildern. Steve-Reich-Minimalismus blinzelt freundlich<br />
unter den Semmeln hervor und - nein!!! - da kommt sie<br />
wieder, die technische, äh tecky Störung. Hach, könnte so ein<br />
gerader Beat nur romantisch sein, oder anders gesagt, hier<br />
fehlt so eine deepe, klärende Hand eines Andy Stott, dann hätte<br />
der Hund auch Eier, die er sich dann lecken könnte.<br />
www.denovali.com<br />
raabenstein<br />
Booka Shade - Eve<br />
[Embassy One - Warner]<br />
Die bisherigen Platten von Booka Shade "funktionierten in Diskotheken<br />
auf Ibiza genauso wie in englischen<br />
Konzerthallen", ist im Info zum<br />
neuen Album zu lesen. So soll es bleiben.<br />
Dieses Bügeleisen möchte ich mal<br />
sehen, das über die Tracks gefahren ist.<br />
Und wo bitte kann kann diese Bass<br />
drum-Politur kaufen? Großer Sound,<br />
leider nichts dahinter. In Manchester in<br />
einem Vintage-Studio sei das Album eingespielt. Mit sagenhaften<br />
Uralt-Geräten. Hört man alles nicht. Dafür einen Fritz<br />
Kalkbrenner auf "Crossing Borders", der wahnsinnig mumpfig<br />
klingt. <strong>De</strong>r arme Kerl. Seid ihr eigentlich Facebook-Freunde<br />
von Moby, ihr Bookas? <strong>De</strong>m entgleist der gute Geschmack<br />
auch immer wieder. Aber Moby haben wir lieb. Und somit auch<br />
sein Großraumdisco-Spülwasser. Gut zugehört haben Booka<br />
Shade aber allemal. Bei so hippen Themen wie Moderat zum<br />
Beispiel. Und jetzt sind wir auf dem richtigen Weg. Das sind<br />
gar keine Tracks hier, das sind Remixe von den vermuteten<br />
Gefühlen einer Generation, die es so gar nicht gibt. Ist nämlich<br />
nicht eure Generation. Aber keine Sorge. Das Goethe-Institut<br />
macht euch bestimmt ein paar Workshops in Thailand klar und<br />
Heineken zahlt dann gleich noch die Gage hinterher auf dem<br />
Rave. Viel Glück und viel Segen. Don't call us, we call you.<br />
thaddi<br />
Ricardo Tobar - Treillis<br />
[<strong>De</strong>sire]<br />
Eigentümlich verwaschen, aus der hintersten Ecke des Eises,<br />
kommt das Album von Ricardo Tobar<br />
hereingerauscht. Lofi, zerrig, verliebt in<br />
das Unterkühlte, wirkt hier jeder Sound,<br />
als wäre er aus dem Lot geraten, leicht<br />
daneben, leicht angematscht, aber dennoch<br />
genau darin das Glück findend.<br />
Eine höchst eigenwillige Soundästhetik,<br />
die manchmal klingt, als sei Kaffee über<br />
das Tape gelaufen. Bummige Platte voller Anwandlungen an<br />
die ersten analogen Zeiten, an die Keller, die die Welt bedeuteten,<br />
die Labore der Kabel und wild übernächtigten Dunkelheiten.<br />
Irgendwie hätte das auch eine Rush-Hour-EP sein können,<br />
oder ein Album, das man nach Jahrzehnten erst wieder aus<br />
der Versenkung geholt hat. <strong>De</strong>nnoch schafft es Tobar, in diesem<br />
Sound einen so frischen optimistisch klingelnden Sound<br />
zu erzeugen, dass man Stück für Stück mit ihm mitfeiert.<br />
bleed<br />
Claude VonStroke - Urban Animal<br />
[Dirty Bird/100]<br />
Ich muss zugeben, Claude VonStroke ist mir immer mehr zum<br />
Rätsel geworden. Mal perfekt und deep,<br />
mal dreist und überzogen, wie sein Label<br />
auch. Und das macht er hier auf dem<br />
Album dann gerne auch noch in einem<br />
Track. <strong>De</strong>r Opener und Titeltrack z.B.<br />
rockt besinnlich und melodisch los, bis<br />
er dann in DJ-Stakkatos kulminiert, die<br />
irgendwo in ihren Basswelten hängengeblieben<br />
scheinen. "Clapping Track" kennt man ja schon, das<br />
ist Blockparty und Orgelfeast in einem. Dreist und doch irgendwie<br />
richtig und funky. "Dood" ist auch irgendwo Schweinerock<br />
und Funk zugleich. Und genau so geht es immer weiter.<br />
Stücke zwischen einem überdrehten Funkverständnis, dem<br />
Willen gnadenlos durchzurocken, aber dabei doch irgendwie<br />
voller Ideen und lässiger Eleganz zu bleiben. Auf dem fast kindlichen<br />
"The Bridge" zeigt sich diese Verwirrung am deutlichsten.<br />
VonStroke will zurück zu den ersten Erfahrungen und die<br />
dürfen auch mal zu dreist sein. Ein skurriles Album für alle, die<br />
ihren Bass sehr poppig mögen, und dennoch auf blöde idiotische<br />
EDM-Phantasien ganz und gar verzichten können.<br />
bleed<br />
Omar Souleyman - Wenu Wenu<br />
[Domino - Good to Go]<br />
Omar Souleyman, der vermutlich bekannteste Hochzeitssänger<br />
der Welt, momentan aus politischen<br />
Gründen von Syrien in die Türkei gezogen,<br />
hat sein erstes Studioalbum aufgenommen.<br />
Wenn man bedenkt, dass im<br />
arabischen Raum rund 500 Bootlegs im<br />
Umlauf sind, ist das eigentlich nur eine<br />
Meldung von minderem Interesse. <strong>De</strong>m<br />
Westen ist Souleymans sehr energetischer<br />
Dabke aber auch längst bekannt. Neu ist, dass Souleyman<br />
nun auch auf Kurdisch und Türkisch singt, dass er Traditionals<br />
aus dem Irak mit seinem formal recht offenen<br />
Dabke-Sound adaptiert. Produziert hat Four Tet – und in der<br />
Folge klingt "Wenu Wenu", obschon das Album unter simulierten<br />
Live-Bedingungen aufgenommen wurde, etwas kompakter.<br />
Auf Souleymans Konzerten scheppern die Keyboards, Four<br />
Tets Produktion ist da natürlich auch eine Zähmung: Die Bassdrums<br />
sind runder, es gibt mehr analoge Klänge. Halbstündige<br />
Edits wie das legendäre "Leh Jani" findet man hier freilich auch<br />
nicht. "Wenu Wenu" ist Souleyman für den Hausgebrauch.<br />
www.dominorecordco.com<br />
blumberg<br />
My Panda Shall Fly - Tape Tekkno<br />
[Gang Of Ducks/GOD002]<br />
Und noch so ein phantastisches Oldschool-Album, in dem alles<br />
klingt, als sei es ausgegraben worden.<br />
Eine Zeitreise durch breite Synths,<br />
kleinkomprimierte Beats, durch Tapes<br />
zusammengeschredderte Atmosphäre<br />
einer undurchdringlichen Dichte, zauselige<br />
Spinnersounds der gelegentlich<br />
angestrengt wirkenden, aber immer<br />
genüsslich zelebrierten Art. Warum nur<br />
hat sich in diesen Jahren immer mehr ein Sound entwickelt,<br />
der sich durch und durch weigert, so klingen zu wollen, als<br />
wäre er von jetzt. Vielleicht, weil das Spiel mit der Zeit, mit den<br />
Parametern der Vergangenheit, die sich zitieren lassen, wie<br />
Passagen aus einer Sprache, die in elektronische Konstellationen<br />
gegossen ist, und als Labor immer wieder bereit ist, wiederaufzuerstehen,<br />
genau das ist, was die Zeit am Ende dann<br />
doch bestimmen könnte, weil sie sie durchkreuzt. Die Stücke<br />
von My Panda Shall Fly jedenfalls sind vom ersten Moment an<br />
Killertracks und so voller deep verschrobenem Gefühl, dass<br />
man sich in dieser Zeit längst aufgelöst hat, noch bevor einem<br />
der Faktor des Widerborstigen irgendwie auf den Nerv gehen<br />
könnte.<br />
bleed<br />
Felix Kubin - Zemsta Plutona<br />
[Gagarin - Indigo]<br />
"Spät-Europa", so der Titel eines 1982er Albums von Asmus<br />
Tietchens, einem der musikalischen Väter, später Kollaborateure<br />
Kubins (herauszuhören in "Nachts im Park" oder<br />
"Restez en ligne"), ist im Grunde der Ort, den seine Musik<br />
beschreibt, und wenn man ihr glaubt, dann leben wir dort<br />
alle. <strong>De</strong>r Retro-Charme seiner stilistische Sprache, von "Filmmusik"<br />
an, seinem <strong>De</strong>butalbum auf Gagarin vor 15 Jahren, ist<br />
abgestreift: Heute beschreibt sie das Jetzt, mehr denn je, eine<br />
technologisch fortgeschrittene Welt, die kraftwerksche Utopien<br />
längst hinter sich gelassen hat und die geistig immer noch<br />
im TV-Krimi und Robo-Sex der Sechziger verharrt. Das kühle,<br />
perfektionierte Pop-Format von "Zemsta Plutona" braucht et-<br />
was Gewöhnung, denn ihm scheint das anarchische Flanieren,<br />
der poetische Hörspiel-Flow zum Opfer zu fallen, der seine<br />
Werke immer zu Abenteuern gemacht hat. Die Stücke selbst,<br />
mit Gastmusikern (Drums, Bläser und nicht zuletzt Vocals)<br />
und allen liebgewonnenen Sounds und zickzackigem Funk auf<br />
Sonntagsstaat gebracht, können nichts dafür: die sind das,<br />
was man sich immer von einer Felix-Kubin-Party-Compilation<br />
gewünscht hat, bis hin zum klaustrophobischen "<strong>De</strong>r Kaiser<br />
ist gestorben". Und dann wird es doch noch locker: Samplecollagen,<br />
ein Rhythm Modulator als ominöser Mad-Science-<br />
Cartoon, schließlich ein Jam mit dem Grünen Winkelkanu.<br />
Spät-Australien: Wir kommen.<br />
www.gagarinrecords.com<br />
multipara<br />
Stefan Litwin / Frederic Rzewski - El Once<br />
[Gligg - Amazon]<br />
Das eigenwillige Saarländer Label, sonst zwischen Jazz und<br />
Kunst operierend, macht seinem dem<br />
Bergbau entlehnten Namen hier eine<br />
besondere Ehre. "El Once" gräbt unter<br />
den Trümmern von 2001 den elften<br />
September 1973 aus, den Tag des Putsches<br />
gegen den demokratischen Sozialismus<br />
in Chile. Pianist Stefan Litwin<br />
spielte zum Jahrestag einen Klassiker<br />
ein, Frederic Rzewskis 36 Variationen über die Quasi-Hymne<br />
der Republik, "The People United Will Never Be <strong>De</strong>feated".<br />
Rzewskis Stück – er selbst ebenso Pianist, vor allem bekannt<br />
als Interpret neuer, postserieller Musik – war 1975 seiner Zeit<br />
weit voraus, vielleicht mehr als mit "Attica", das Minimal-Music-Kennern<br />
ein Begriff sein wird. Vor Ideen sprühend, rasant<br />
und mit Humor, virtuos ohne elitär zu sein, setzt es in seiner<br />
Stilgrenzen ausradierenden Art Schubert und Ligeti, Serialismus<br />
und Improvisation nebeneinander. Wie Rzewski ist aber<br />
auch Stefan Litwin politisch engagierter Komponist und liefert<br />
zwei eigene Stücke für kleine Piano-Ensembles ab, die sich<br />
unmittelbar mit "dem Elften" befassen: Eine sehr farbenreiche<br />
und poetische Vertonung eines Gedichts von Gonzalo Millán,<br />
sowie eine von Präsident Allendes letzten Ansprachen, die in<br />
einer etwas zeremoniellen Schwere, aber schlüssig auf eine<br />
besondere Kräftespannung abhebt zwischen Gewalt und<br />
Ruhe. Zwischen den beiden CDs liegen dann aber auch noch<br />
170 Seiten Lesestoff, herausgegeben von Heike Hoffmann und<br />
Martin Schmidt, auf denen, ja, Dutzende Autoren das Thema<br />
auf verschiedenerlei Art beleuchten: Rückblenden, Analysen,<br />
Persönliches, immer wieder auch die Reaktion auf politische<br />
Verhältnisse mittels Kultur-/Musikproduktion umkreisend und<br />
reflektierend, und in Kürze und Prägnanz vom ersten Text an<br />
fesselnd.<br />
www.gligg-records.com<br />
multipara<br />
Ron Morelli - Spit<br />
[Hospital Productions]<br />
Ein Album, das von Stress handelt. So will L.I.E.S.-Gründer<br />
Ron Morelli sein <strong>De</strong>büt auf Hospital Productions<br />
verstanden wissen – es ist übrigens<br />
das erste von gleich drei lose zusammenhängenden<br />
Alben. Und<br />
vielleicht ist der Begriff des Albums hier<br />
auch gar nicht angebracht, denn hinter<br />
dem punkigen Titel verbirgt sich gewissermassen<br />
auch Punk: Acht mit offensichtlich<br />
heißer Nadel gestrickte Tracks, ohne übergeordnete<br />
Dramaturgie oder ähnlichen Album-Firlefanz. Allesamt Rohbauten,<br />
denen man mitunter einen gewissen Live-Charakter<br />
anhören kann. Bloß keinen ausgefeilten Industrial-Techno abliefern:<br />
Morelli setzt auf spröde Sounds und manchmal stört<br />
die Bassdrum da nur. Ein bisschen dreckig soll es sein, ein<br />
bisschen fies, die Samples wirken oftmals wie eine Verbeugung<br />
vor Throbbing Gristle. Ein echter Stresstest ist "Spit"<br />
nicht, dafür ist es zu kompakt. Aber wenn die Analogie erlaubt<br />
ist, ist das hier sehr gelungenes Genrekino.<br />
hospitalproductions.net<br />
blumberg<br />
Clara Moto - Blue Distance<br />
[Infiné - Rough Trade]<br />
Clara Moto versinkt auf dem zweiten Album weitestgehend in<br />
diesen pathetisch breiten Stimmungen<br />
aus tiefen Bässen, knuffigen Melodien,<br />
ruhig bestimmten Stimmen bis zum<br />
Säuseln und immer weiter aufgefächerten<br />
Harmonien. Etwas sprunghaft bewegt<br />
sich das Album dabei vom fast<br />
esoterischen Moment mit rollenden Pianos<br />
und Schleiern aus Stimmen, die<br />
nicht selten an die großen Damen der Gruftimusik erinnern,<br />
über orchestrales Pathos der glücklichsten Art, bis man sich<br />
plötzlich fast grundlos im Club wiederfindet, schließlich im<br />
säuselnden Popsong für frisch Verliebte. Eine Platte, die sich<br />
nicht auf einen Sound einigen will, aber dabei merkwürdigerweise<br />
auch nicht verliert, denn Clara Moto macht einfach jeden<br />
Track zu einem Hit eigener Art und verliert nie das perfekte<br />
Gespür, aus jedem Stück eine eigene Stimme zu machen.<br />
www.infine-music.com<br />
bleed<br />
Hans Castrup - Shadowplay<br />
[Karlrecords - Broken Silence]<br />
"...eine vibrierende Kombination aus Kalkül und Zufall", so benennt<br />
die Presse die Leinwandarbeiten<br />
Hans Castrups, Grenzgänger zwischen<br />
Malerei, Fotografie, Videokunst und<br />
Musik. <strong>De</strong>r Künstler vermengt Techniken<br />
unterschiedlicher Medien miteinander<br />
und kreiert damit spannungsgeladene<br />
Collagen, so auch auf<br />
"Shadowplay", eine experimentelle Melange<br />
aus Field Recordings, elektronischen Tongebern und Ef-<br />
69<br />
RECORD STORE • MAIL ORDER • DISTRIBUTION<br />
Paul-Lincke-Ufer 44a • 10999 Berlin<br />
fon +49 -30 -611 301 11<br />
Mo-Sa 12.00-20.00<br />
hardwax.com/downloads
<strong>177</strong> — reviews<br />
Clara Moto<br />
Wie weit ist es noch?<br />
T Julia Kausch<br />
Herbstlich ist es und irgendwie ausgestorben, als wir uns an diesem graubedeckten Nachmittag<br />
in Kreuzberg treffen. Ganz passend zu Clara Motos neuer Platte "Blue Distance", die<br />
von zarter Tristesse lebt und dabei so vielschichtig ist, wie man es sich bei manch einer anderen<br />
nur wünschen kann. Sie dabei auf einem Genre festzunageln, erweist sich schwieriger<br />
als gedacht: Ihre Musik schwebt irgendwo zwischen Ambient, Techno und House. Sie stimmt<br />
melancholisch schon mal die kommenden Wintertage an, ohne sich dabei in der Darkness zu<br />
verheddern. "Es wäre ohne die Aufhellung ein ziemlich düsteres Album geworden. Was auch<br />
okay ist, aber ich dachte mir, ich will es nicht zu schwer machen."<br />
Vor vier Jahren ist Clara Prettenhofer, so heißt sie bürgerlich, von Graz nach Berlin gezogen. Ihr erstes<br />
Album hatte sie schon während des Studiums in Österreich produziert, erzählt sie, als wir durch<br />
die bereits blätterbedeckten Straßen laufen. "Für mich war klar, dass ich nicht in Graz bleibe, es ist<br />
einfach eine Kleinstadt. Irgendwie ist es schon nett und lebenswert, aber ich wollte einfach mal raus."<br />
Sie lebte ein Jahr in Barcelona, bewarb sich dann bei der Red Bull Music Academy in Australien, wo<br />
sie zum französischen Label InFiné fand. Die internationale Verkettung macht das Leben in Distanzlosigkeit<br />
unmöglich. Auf dem Weg zum Dance-Album hat Clara nun das Tempo heruntergedreht. "Blue<br />
Distance" - der Titel ist eine Anspielung auf ein Gedicht von Sylvia Platz - ist leichte Melancholie. Es<br />
beschreibt auch Distanzen, die sie selbst überwinden musste, sagt Clara. Inzwischen sitzen wir in einem<br />
kleinen Café im Herzen von Kreuzberg. Gleich nebenan hatte sie früher einmal gewohnt. "Kurz<br />
nach dem Release meines ersten Albums war ich zeitweise gar nicht in Berlin, sondern nur in Frankreich.<br />
Ich war dann mal hier, mal dort. Das war schon ein bisschen schwierig, aber eben auch ganz<br />
spannend. Daraus ergab sich automatisch eine räumliche Distanz zu Familie und Freunden."<br />
Sie macht Musik, in der der Hörer eine essentielle Rolle spielt und stellt sich damit die alte Frage:<br />
Gibt es Sound ohne Hörer? "Das interessante bei einer Platte ist, dass es eben eine zeitliche und räumliche<br />
Distanz gibt und sie nicht so unmittelbar ist, wie beispielsweise ein Live-Auftritt." Entstanden ist<br />
ein sehr persönliches Album, das eine Geschichte aus ihrem Leben erzählt. Das Produzieren ist ihr jedoch<br />
schwer gefallen, jetzt, wo sie von ihrer Musik leben will. Im Kreuzberger Kämmerlein tüftelte sie<br />
rund zwei Jahre an der neuen Platte, die, wie sie selbst findet, eher zu Hause funktioniert. Das Leitmotiv<br />
findet sich auch in der Musik wieder; Hall und Echos verklanglichen die Distanz im Raum.<br />
Persönlich ist es aber nicht nur durch die in der Musik immanente Tiefgründigkeit, erstmals hat<br />
sie auch selbst gesungen: "Ich habe meine Stimme als Instrument benutzt und einfach Sachen dazu<br />
gesungen und dann repetiert oder nur als Fläche eingesetzt", erklärt sie als sie an ihrem Tee nippt. In<br />
ihrer Musik schafft sie Atmosphären und geht gleichzeitig darüber hinaus. Clara Moto weist ein tiefgründiges<br />
Verständnis für Beats auf, die hier und da auch gerne einmal brechen. Auch mit dabei ist<br />
Vocalist Mimu, die auf dem Track "Lyra" leise im Hintergrund trällert. "Trotzdem bildet meine Stimme<br />
den roten Faden. Das war eine neue Herausforderung. Auch meine Stimme selbst zu hören war am<br />
Anfang schwierig. Es war faszinierend, sich dieser Angst zu stellen", sagt Clara. Trotzdem entstanden<br />
letztlich zu viele Titel, die sie in der gerade erschienenen EP "Joy <strong>De</strong>parted" als Teaser angelegt hat.<br />
Eine Trennung, die nicht in Distanzierung mündet: "Es ist alles aus der selben Zeit. Die EP gehört irgendwie<br />
schon zum Album dazu, obwohl die Tracks nicht direkt auf dem Album erschienen sind. Die<br />
Musik beschreibt eben eine Phase in meinem Leben, die 'Blue Distance'."<br />
Clara Moto, Blue Distance, ist auf Infiné/Rough Trade erschienen.<br />
Alben<br />
fektgeräten. Castrups Lieblingstool ist die Schleifmaschine<br />
und so editiert er auch seine musikalischen Fundstücke, das<br />
Arbeitsprinzip ist der Taktgeber, nicht die Attitüde. Auf Youtube<br />
darf man sich zu allen zwölf Stücken noch die entsprechenden<br />
Videos betrachten und eigenartigerweise gelingt es Castrup,<br />
hier nicht zu vibrieren, der kalkulierte Zufall formuliert sich besser<br />
in der Abwesenheit einer parallelen Bildwelt.<br />
www.karlrecords.net<br />
raabenstein<br />
Justus Köhncke - Justus Köhncke & The Wonderful<br />
Frequency Band<br />
[Kompakt - Kompakt]<br />
Gleich und ganz glasklar: Justus Köhncke hat für mich hier<br />
sein Opus Magnum vorgelegt. Was ist<br />
nicht alles seit den wunderbaren "Spiralen<br />
der Erinnerung" geschehen? Musik<br />
als Träger von Ideen. Doch irgendwie<br />
findet Köhncke bei allen tollen anderen<br />
Releases hier erst so richtig seinen funky,<br />
shaky Disco-Weg, schmeißt Kitsch,<br />
Referenz und eben die verdammte Erinnerung<br />
(nicht komplett) über Bord und legt los. "A New Direction"<br />
ist eigentlich nicht vollkommen korrekt: Köhncke hat viele<br />
kongeniale Freunde an Bord geholt (u.a. Andi Toma, Eric D.<br />
Clark) und bleibt sich schon treu: Tanz, Tanz und Tanz. "Wonderful<br />
Frequency Band" als Track sagt und singt es alles, und<br />
zwar the easy listening way. Kurz vor "Sunshine Reggae", aber<br />
eben nur kurz. Köhncke hat für mich sein oder besser mein<br />
Endlos-Repeat-Album aufgenommen. Disco 2013 kann so<br />
schön sein.<br />
www.kompakt.fm<br />
cj<br />
Jonsson/Alter - 2<br />
[Kontra-Musik Records/KM032 - Clone]<br />
Die beiden haben ihr zweites Album fertig und es klingt noch<br />
einen Hauch deeper und lässiger als<br />
beim ersten Mal. Jeder Track ein Killer<br />
auf dem <strong>De</strong>ephousefloor, immer wieder<br />
voller dichter Melodien und slammender<br />
Grundideen, die dennoch in dem<br />
breiten harmonischen Gewebe der<br />
Songs aufgefangen werden, und am<br />
Ende klingt das Album einfach wie eine<br />
perfekte Clubnacht in der jedes Stück genau das war, das man<br />
immer genau in diesem Moment gebraucht hat. Sehr deep<br />
und verführerisch.<br />
www.kontra-musik.com<br />
bleed<br />
Olaf Stuut - Equilibre<br />
[Manual Music]<br />
Olaf Stuut versteht sich perfekt darauf, zerrissene Melodien<br />
mit kantigen Grooves zu etwas harmonisch<br />
Überdrehtem zu machen, das einen<br />
immer am Rand von Trance ganz<br />
selig mitswingen lässt. Zerhackte Vocals,<br />
Chords, immer mit einem gewissen<br />
Indiegefühl unterlegt, lassen seine<br />
Tracks oft so klingen wie eine dieser<br />
Bands, die man sich auf einem Festival<br />
als Höhepunkt wünscht, weil sie einfach nur euphorisierende<br />
Hits kennt, die aber dennoch alles andere als banal sind. Gelegentlich<br />
mag der Sound von Stuut fast überladen wirken, obwohl<br />
die Melodien so direkt sind, aber am Ende erwischen sie<br />
einen doch mit ihrer naiv glücklich trällernden Stimmung.<br />
bleed<br />
Lee Ranaldo and The Dust - Last Night On Earth<br />
[Matador - Indigo]<br />
Neben seiner leider mittlerweile Ex-Band Sonic Youth und einer<br />
Menge eher klangkünstlerischer<br />
Experimente hat Lee Ranaldo letztes<br />
Jahr mit "Between The Times And The<br />
Tides" ein unglaublich feines Pop-Album<br />
veröffentlicht, was alle spannenden<br />
Seiten der Sonic Youth durch Ranaldos<br />
Brille nochmal poppig<br />
aufgearbeitet hat und schon auch eine<br />
Art Trauergesang auf die legendäre und wichtige Band war.<br />
Ranaldo hat sich Steve Shelley, ebenfalls Ex-SY, dazu geholt,<br />
der schon auf dem Vorgänger den Eindruck verstärkt hat. Die<br />
neuen Songs sind nunmehr epischer, gerne auch mal sieben,<br />
neun oder elf Minuten lang und irgendwie noch persönlicher<br />
und entspannter. Ranaldo wirkt so langsam wie eine ruppigere,<br />
einfach besseere Ausgabe von Michael Stipe, der seinerzeit ja<br />
auch samt R.E.M. als SY-Fan angefangen hatte.<br />
www.matadorrecords.com<br />
cj<br />
Kadebostany - Pop Collection<br />
[Mental Groove - Groove Attack]<br />
Ich mag außergewöhnliche Kombinationen und so rennen Kadebostany<br />
offene Türen ein, wenn sie<br />
souligen Gesang, Housebeats, Blasmusik<br />
und Rap vermengen und dennoch<br />
den Blick auf ein stringentes Songwriting<br />
nicht vergessen. Sängerin Amina<br />
hat eine Stimmlage wie die Berlinerin<br />
Bajka, kann aber auch rappen. Schön<br />
finde ich den Titel, denn Popmusik im<br />
eigentlichen Sinn findet sich hier nicht. Aber es spricht für ein<br />
gesundes Selbstbewußtsein, dieses Nebeneinander der verschiedenen<br />
Stile und Einflüsse dem Pop zuzuordnen. Kadebostan<br />
als Kopf der Gruppe schreibt mitreißende Arrangements,<br />
die schwer zu vergleichen sind. Gerade deshalb ist<br />
dieses Album in seiner Vielfalt so charmant. Über dreizehn<br />
Stücke wird klar aufgezeigt, wie man neue Wege beschreiten<br />
kann und dennoch für den Pophörer zugänglich bleibt.<br />
www.mentalgroove.ch<br />
tobi<br />
Mi - One On The Way<br />
[Mesa Recordings]<br />
Endlich mal wieder ein Album, das es ernst meint mit den digitalen<br />
Restgeräuschen, dem geflunkert<br />
gebrochenen Sound unwahrscheinlich<br />
direkter Samples und dem Funk der<br />
zauselig direkten analogen Klänge in<br />
zerrupften Konstellationen. Mi kann<br />
das. Jedes Stück klingt wie ein Kleinod<br />
des Sample-Kubismus, überdreht<br />
glücklich glucksend und dabei doch nie<br />
komplex zerschrotet, sondern immer ganz nah und fast poppig<br />
durch die vielen Gitarren, Streicher und Pianos. Hitzig, funky,<br />
manchmal fast bluesig, aber am Ende doch irgendwie mit einem<br />
technoiden Backdrop. Aus Santa Fe kommt Ben Wright.<br />
Manchmal hört man das deutlich.<br />
bleed<br />
Super-Flu - Halle Saale<br />
[Monaberry - Intergroove]<br />
<strong>De</strong>r Ruf Halles als Stadt rangiert meist in den Regionen, in denen<br />
sich auch Hoyerswerda oder Bitterfeld<br />
befinden. Dabei hat Halle nicht nur<br />
das größte Ensemble an zusammenhängenden<br />
Gründerzeithäusern, sondern<br />
wirkt an manchen Ecken wie die<br />
amerikanische Insolvenz-Konklave am<br />
Michigan Sea. Etwa die Schnellstraße<br />
nach Halle-Neustadt, die zwischen die<br />
Altbauten gequetscht wurde und das perfekte Bild einer nachhaltig<br />
zerpflückten Stadt abgibt. Super-Flu schätzen ihre Heimatstadt<br />
ebenso und widmen ihr ein ganzes House-Album,<br />
das aber eher einem Zirkus gleicht. Open-Air-House mit Einschüben<br />
akustischer Instrumente pittiplatschert es sanft dahin,<br />
lässt hier und da ein wenig Akrobatenromantik aufblitzen<br />
und ist so nachhaltig wie eine der unzähligen Partys, die man<br />
nach kurzer Zeit vergisst. Mit ein wenig mehr Haltung hätte<br />
das sicherlich einen größeren Nachhaltigkeitswert. Schließlich<br />
stimmen die Grundkonstanten und gut produziert ist es auch.<br />
Also weiterhin alles im Fluss an der Saale.<br />
www.monaberry.de<br />
bth<br />
Looper - Matter<br />
[Monotype]<br />
Das norwegisch-schwedisch-griechische Trio Looper spielt<br />
Improv, der oft an Ambient in der Tradition<br />
Thomas Köners denken lässt – dargeboten<br />
in der Besetzung Schlagzeug,<br />
Saxofon und Cello. Auf ihrem dritten Album<br />
"Matter" jedenfalls liegt der Fokus<br />
auf unterbödigen Basswellen, über denen<br />
kaum definierte, fast gehauchte<br />
Geräusch-Schichten aufgebracht werden<br />
– Töne im landläufigen Sinne sind eindeutig in der Minderheit.<br />
<strong>De</strong>r Vergleich mit Köner ist keinesfalls an den Haaren<br />
herbeigezogen, da Percussionist und Komponist Ingar Zach<br />
unter anderem mit Gongs arbeitet, denen er sehr ähnliche Frequenzen<br />
entlockt wie der Dark-Ambient-Pionier. Im letzten<br />
Stück "Our Meal" steigern sich die drei Musiker dann zu einer<br />
Drone-Orgie, die noch einmal in ganz andere Richtungen<br />
weist.<br />
www.monotyperecords.com<br />
tcb<br />
Strike - Wood, Wire & Sparks<br />
[Monotype]<br />
Drei Australier an den Saiten mit starkem Berlinbezug: Die<br />
Bassisten Clayton Thomas und Mike<br />
Majkowski zogen vor einigen Jahren<br />
von Sydney nach Berlin, wo sie aus der<br />
Echtzeitmusikszene längst nicht mehr<br />
wegzudenken sind, während der Geiger<br />
Jon Rose ebenfalls lange Zeit in Berlin<br />
lebte, bevor der gebürtige Brite Australien<br />
zu seiner neuen Wahlheimat erklärte.<br />
Unter dem Namen Strike missbrauchen sie ihre Instrumente<br />
sehr eindrucksvoll als Schlagwerk: "Wood, Wire & Sparks",<br />
der Titel ihres in Teilen live entstandenen Albums, fasst den<br />
Ansatz der Improv-Virtuosen konzise zusammen. Das Trio<br />
schraubt mit scheinbar unerschöpflichen Energiereserven die<br />
Spannung in die Höhe und lässt nur selten Luft zum Atmen –<br />
ohne zu ermüden. Stets meint man, vor der nächsten Attacke<br />
eines Bogens auf der Hut sein zu müssen, aber am Ende ist es<br />
dann doch "nur" von kluger Dramaturgie vorangetriebene Musik,<br />
die einen gebannt hält.<br />
www.monotyperecords.com<br />
tcb<br />
CMKK - Gau<br />
[Monotype]<br />
Eine der schönsten Winterplatten der letzten Jahre war das<br />
2010er <strong>De</strong>but von Piiptsjilling, das fröstelnde<br />
friesische Lyrik mit sanften Drones<br />
und Geräuschspuren zum Knistern<br />
brachte. "Gau", aufgenommen im gleichen<br />
Studio am gleichnamigen Ort im<br />
Südwesten Frieslands, ist eine Gelegenheitsarbeit:<br />
Zum Abschluss einer<br />
gemeinsamen Tour mit Will Long, a.k.a.<br />
Celer, trafen sich die drei männlichen Viertel der Band (die<br />
Kleefstra-Brüder an Vocals und Gitarre, sowie Machinefabriek)<br />
70
<strong>177</strong><br />
ALBEN<br />
mit ihm zu einer improvisierten Session, aus der diese Dreiviertelstunde<br />
destilliert wurde. So erklärt sich der Name des<br />
Projekts, der zuerst wie eine extra finstere Variante des Vierfarbdrucks<br />
daherkommt, womit man auch nicht ganz falsch<br />
liegt, denn in Jan Kleefstras Texten treffen erneut scharfe Naturbilder<br />
auf stumme, zartbittere Melancholie, geben den locker<br />
und breit arrangierten Drones aus Gitarren, Tapes, Samples<br />
und Effekten Struktur. So locker, dass sich darin auch mal<br />
eine Einführung in heiße Quellen auf japanisch verirrt. Schön<br />
– aber ob es am mäßigen Fokus liegt oder daran, dass ihre<br />
Charaktere einander etwas im Weg stehen: ihren langen Diskografien<br />
fügen Machinefabriek und Celer hier nicht den großen<br />
Wurf hinzu, den das Projekt verspricht.<br />
www.monotyperecords.com<br />
multipara<br />
Simon Fisher Turner - The Epic Of Everest<br />
[Mute - Good To Go]<br />
<strong>De</strong>r Mythos darum, ob der englische Bergsteiger George Mallory<br />
1924 der erste Bezwinger des<br />
Mount Everest war, will nicht enden.<br />
Zumindest lässt sich nicht eindeutig<br />
nachweisen, ob er mit seinem Partner<br />
Andrew Irvine am 8. Juni den Gipfel erreichte,<br />
wiewohl seine 75 Jahre nach<br />
dem vermutlichen Absturz gefundene<br />
Leiche Indizien aufwies, dass er es geschaft<br />
haben könnte. Das Archiv des BFI veröffentlicht nun die<br />
restaurierte Neufassung des Originalfilms zur gescheiterten<br />
Expedition. Simon Fisher Turner, Musiker, Komponist, Schauspieler<br />
und Scoreschreiber von <strong>De</strong>rek Jarman, wagt sich vorsichtig,<br />
präzise und begeisternd an die musikalische Interpretation<br />
einer 90 Jahre alten Katastrophe. <strong>De</strong>r Artist vertonte<br />
schon einmal eine BFI-Restaurierung, "The Great White Silence",<br />
ebenfalls eine tödlich endende Expedition, bei der der<br />
englische Forscher Robert Scott als Zweiter nach Amundsen<br />
den Südpol 1912 erreichte um dann auf dem Rückweg zu verenden.<br />
Im Gegensatz dazu zieht es Fisher Turner bei "The Epic<br />
Of The Everest" vor, nicht nur mit authentischen Materialien zu<br />
arbeiten. Auf allen möglichen Wegen, auch aus dem Internet,<br />
sammelte er Sounds zusammen, um mit einer Handvoll wohlbekannter<br />
Freunde (Cosey Fanni Tutti, Andrew Blick und Peter<br />
Gregson) das Scheitern am Berg nachzustellen. Das Ergebnis<br />
lässt einen die Heizung höher stellen, zwischendurch, der Einsamkeit<br />
entrinnend ein paar gute Freunde anrufen, um dann<br />
nach 16 Tracks wieder auf Anfang zu gehen ... wohlig.<br />
www.mute.com<br />
raabenstein<br />
L.B. Dub Corp - Unknown Origin<br />
[Ostgut Ton - Kompakt]<br />
Luke Slater mal nicht als Planetary Assault Systems, seinem<br />
Alter Ego, das er in letzter Zeit fast bis<br />
zur Langeweile durchgezogen hat. Mit<br />
seinem neuen Projekt L.B. Dub Corp<br />
bringt er frischen Wind in die Spree-<br />
Kathedrale. Statt Industriehall-Stakkato<br />
nun afrikanisches Flair und mehr warme<br />
Bässe und Flächen. "I have a Dream",<br />
von Benjamin Zephaniah in Anlehnung<br />
an Martin Luther Kings Rede vor 50 Jahren getextet, bringt es<br />
auf den Punkt: den alten Traum einer music nation, unterlegt<br />
mit optimistischen Flächen. Mit housigem Piano schreitet<br />
"Generation to Generation" voran, "Nearly Africa" nimmt afrikanische<br />
Gesangsamples in jackende Basslines mit, "Ever and<br />
forever" sorgt für den Thrill-Moment und "L.B´s Dub" weckt<br />
Erinnerung an ein metallisches Pendant zu Bandulu/Space<br />
DJz. "Turners House" und " No Trouble in Paradise" sind perfekte<br />
Clubtracks, und mit "Roller feat. Function" werden die<br />
PAS-Freunde versöhnt. Oder ist das ein Ausblick auf Neues?<br />
Jedenfall hat Luke Slater selten so zuversichtlich geklungen.<br />
Abwechslungsreich mit Gespür für Techno, aber auch dem<br />
Mehr als nur 4/4.<br />
www.ostgut.de/ton<br />
bth<br />
Emptyset - Recur<br />
[Raster-Noton - Kompakt]<br />
Emptyset: Nach Kleinfrickelei hört sich dieser Name nicht an,<br />
eher nach Nagel mit Kopf. Oder auch:<br />
im Kopf. James Ginzburgs Duoprojekt<br />
mit Paul Purgas macht nach seiner<br />
letztjährigen EP für Raster-Noton mit<br />
diesem Album eine Punktlandung.<br />
Nicht nur, weil sie mit ihrem Pan-Sonichaften<br />
Maschinenkörper, mit ihrer Alva-<br />
Noto-esken rhythmischen Dynamik besonders<br />
in den rahmenden Tracks ("Fragment", "Recur",<br />
"Limit") hier nach Hause kommen. Sondern weil sie es hier<br />
schaffen, eine eigentlich geläufige Studiotechnik in etwas Absolutes<br />
zu verdichten: der Tonraum als Druckkammer, in dem<br />
brummende, flatternde, pressende, prügelnde Frequenzbänder<br />
zwischen Feedback und Kompression in musikalische Oszillation<br />
versetzt werden, wo die Zeitachse nurmehr Projektionsfläche<br />
von Kräfteverhältnissen wird, deren Abbild sie nicht<br />
nur optimal skalieren aufs menschliche Vermögen, sondern<br />
umwerfend lecker servieren. Herausragendes Beispiel dafür,<br />
dass aus einer guten, klaren Idee immer noch am meisten<br />
Energie zu holen ist. Rhythmic Noise erster Güte.<br />
www.raster-noton.net<br />
multipara<br />
Miracle - Mercury<br />
[Planet Mu - Cargo]<br />
Wie von Planet Mu bestellt, natürlich, kommt dieses Synth-<br />
Pop-Album reinsten Wassers. Dabei<br />
haben die beiden seit Ewigkeiten an<br />
diesem <strong>De</strong>but gebastelt. Dan O'Sullivan,<br />
in mindestens einem Dutzend Art-<br />
Rock-Bands unterwegs, traf 2006 auf<br />
Zombi-Hälfte Steve Moore, als jene mit<br />
seiner Band Guapo tourten. Als Keyboarder<br />
entwickelten sie Miracle, der<br />
Soundtrack zu Joel Schumachers "The Lost Boys" soll den<br />
Anstoß gegeben haben, schon seit 2010. Getragen von weich<br />
pulsierenden Strobo-Arpeggien (Italien grüßt) gleiten jetzt<br />
O'Sullivans Vocals durch hymnische Balladen, der junge Dave<br />
Gahan guckt über die Schulterpolster. Überhaupt: Ultravox,<br />
ABC, im Titelstück dann 808-State, in "Wild Nights" wird es<br />
nochmal krautig… man kennt das ja alles, und wundert sich<br />
nur, wie schön und natürlich sie das für sich bündeln. Kein Ausstellen<br />
von Studiovirtuosen- oder Kennertum, es geht immer<br />
ums Gefühl, und ihre Treffsicherheit dabei macht sie von Stück<br />
zu Stück sympathischer. Eine Unscheinbarkeit, die rein wirkt,<br />
kein Versuch, irgendwas besonders clever zu machen, schon<br />
gar nicht die Beats. Die erhabenen, universalen Dimensionen<br />
gehen im abschließenden, strömenden Mantra von "Organon"<br />
dann mit ihnen durch: sei's drum. Bis dahin gibt es genau die<br />
Melodien, zu denen man sich damals verliebt hat, und man<br />
erinnert sich, warum.<br />
www.planet.mu<br />
multipara<br />
Sebastien Tellier - Confection<br />
[Record Makers - Alive]<br />
In Zeiten der Ganzkörperschur scheint so ein dicht durchsaftetes<br />
Brusthaartoupet eine klärende Alternative<br />
zur bleich gewachsten Einerleihaut<br />
der Massen zu sein, oder um es<br />
mit John Clute zu sagen, die Aliens<br />
wenden sich pikiert ab, weil des Menschen<br />
wahrer USP sein Geruch ist... er<br />
stinkt. Wer dem ungekrönten Superstar<br />
der französisch-dunklen Siebziger Michel<br />
Piccoli einmal ein Autogramm abluchsen wollte, weiß,<br />
wovon ich rede: dieses konzentrierte anti-bourgeoise Odeur,<br />
destilliert aus einem Lastwagen voll ungewaschener Fernfahrer...<br />
Zigarettenasche und Schuppen der letzten durchsoffenen<br />
Wochen auf dem Nadelstreifenrevers. Sehr handfestes Restflackern<br />
längst vergangener Revolutionen um Liebe und Freiheit.<br />
Feucht, derb, schön.<br />
www.recordmakers.com<br />
raabenstein<br />
Gardland - Syndrome Syndrome<br />
[RVNG intl. - Cargo]<br />
Gar nicht lange her, da wurde in jedem zweiten Pressezettel<br />
noch die Zukunft beschworen. Heutzutage<br />
steht da stattdessen: informiert.<br />
Elektronische Musik, so das Versprechen,<br />
transportiere nicht das musikalische,<br />
sondern auch das "coole Wissen"<br />
der Vergangenheit. Solch Informiertheit<br />
meint mehr als bloß klangliche Verfahren<br />
der Nachahmung – und es schwirren<br />
geradezu medientheoretische Erklärungen herum, wie genau<br />
es zu dieser Wissensgenese kommt. In Falle des<br />
australischen Duos Gardland, deren <strong>De</strong>bütalbum man durchaus<br />
eine Breitband-Informiertheit attestieren könnte (Post-<br />
Punk, Acid, Industrial, Kosmisches), gibt es eine erfrischend<br />
unkomplizierte Erklärung: Die künstlerische Praxis des Duos<br />
enthalte mitnichten das Versinken in Archiven, stattdessen sei<br />
"Syndrome Syndrome" auf einer psychedelischen Wüstenexkursion<br />
entstanden. <strong>De</strong>r Erfahrungs-Klassiker. Aber Techno in<br />
die Wüste schicken? Mesmerisierend ist "Syndrome Syndrome"<br />
durchaus, aber nur im <strong>De</strong>tail. Das Fundament des Albums<br />
bilden eher stumpf-störrische Beats. Vertrackt ist hier erstmal<br />
gar nichts. Gottseidank. Gardland sind trotzdem immer dann<br />
am stärksten, wenn sie ihre Gerüste mit einer geilen Opakness<br />
zukleistern. Es entsteht dann eine sehr eigentümliche Form<br />
der Euphorie, die irgendwie wichtiger ist als das Ziehen von<br />
Referenzen. Zu "Syndrome Syndrome" kann man sich hervorragend<br />
den Kopf zerbrechen, bis einem irgendwann dämmert:<br />
Die wollen ja meinen Körper!<br />
igetrvng.com<br />
blumberg<br />
Kettel - ibb & obb OST<br />
[Sending Orbs - Clone]<br />
Verwundert auf der Suche, ob ich einen Film verpasst habe,<br />
kam ich auf eine Videodemo des Computerspiels,<br />
das ibb & obb ist. Ein<br />
Jump´N´Run – sweet und cute zugleich.<br />
Anders lässt sich das nicht umschreiben<br />
und wo früher hektisches<br />
8-Bit-Gedudel oft nervte, wurde dieses<br />
Spiel, das wohl zwei bis vier zusammenagierende<br />
Mitspieler benötigt, von<br />
Kettel vertont, der sich bereits mit Myam James I und II einen<br />
Namen machte. Damals war das melodische elektronischbreakige<br />
Musik im Stile der Warp-Artists, die er mit einer sanften<br />
303 unterfütterte. Für ibb & obb ließ er die 303 weg und<br />
gibt sich noch mehr den kleinen Spielereien hin. Das hat<br />
manchmal etwas kammermusikartiges und gibt den perfekten<br />
counterpart für das räumlich offene Spiel ab. Ob Zuhause voll<br />
konzentriert oder nebenbei beim Arbeiten, wird es das Album<br />
für den Herbst und WInter sein. Fehlt nur noch ein klassischer<br />
ChillOut-Room mit in Leuchtfarben bemalten Bauschaumfiguren,<br />
Schwarzlicht, weißen Netzen und noch mehr Schwarzlicht.<br />
Sehr gelungen.<br />
www.sendingorbs.com<br />
bth<br />
<strong>De</strong>an Wareham - Emancipated Hearts<br />
[Sonic Cathedral - Alive]<br />
<strong>De</strong>an Wareham hat mit Galaxie 500 und Luna Popmusikgeschichte<br />
in Sachen Dream Pop geschrieben.<br />
Wo Galaxie 500 immer ganz<br />
weit draußen waren und uns mit hohen<br />
Stimmen und großer Entrücktheit begeisterten,<br />
waren Luna besser produziert,<br />
insgesamt nicht mehr ganz so<br />
schuhglotzend, irgendwie auch konsequent<br />
einen Schritt weiter in Richtung<br />
Major. Doch Luna blieb der ganz große Erfolg verwehrt, und so<br />
lösten sie sich auf (siehe die schöne Musik-Doku "Tell Me Do<br />
You Miss Me"). <strong>De</strong>an & Britta, die sich in der Band Luna lieben<br />
lernten, verschrieben sich fortan einer Art abgespeckter Version<br />
von Luna, Warehams rundum gelungenes Mini-Album-Solo-<strong>De</strong>büt<br />
(nach so vielen Jahren) schließt dort an und zeigt zudem<br />
offenhörbar Einflüsse von Spacemen 3's Sonic Boom und<br />
Cheval Sombre, mit denen Wareham in letzter Zeit immer<br />
wieder, so auch hier, kooperiert hat. Nun ist er (wieder) eine<br />
deutliche Spur psychedelischer geworden. Ziemlich toll.<br />
www.soniccathedral.co.uk<br />
cj<br />
Black Hearted Brother - Stars Are Our Home<br />
[Sonic Cathedral - Alive]<br />
Ganz groß. Neil Halstead (Slowdive, Mojave 3), Mark van Hoen<br />
(Seefeel, Locust) und Nick Holton (Coley<br />
Park, Holton's Opulent Oog) haben uns<br />
mit ihren genannten Bands und Projekten<br />
schon immens erfreut. Als Black<br />
Hearted Brother nun packen sie alle ihre<br />
Ansätze zusammen und entwickeln einen<br />
neuen Versuch, Dream Pop,<br />
Shoegazing, Indie und das kleine Experiment<br />
zusammenzufügen. Auch wenn Halstead solo etwa<br />
immer und insbesondere live zu begeistern wusste, tut es auch<br />
ihm gut, wieder ein klein wenig weg vom Traditionellen zu kommen<br />
und spaciger zu klingen. Zwölf Songs, die einen mitnehmen,<br />
im wahrsten Sinne des Wortes. Und spätestens wenn sie<br />
auf "(I Don't Mean To) Wonder" die Gitarren rauschen und<br />
schreien lassen, winken, ganz unnostalgisch, Slowdive, von<br />
vorne sozusagen. Wow.<br />
www.soniccathedral.co.uk<br />
cj<br />
V.A. - Studio One – Ska Fever!<br />
[Soul Jazz - Indigo]<br />
Die Zeitreise in die Archive des Studio One konzentriert sich<br />
diesmal auf die Mitte der Sechziger, um<br />
den Jamaican Ska der Jahre 1964-<br />
1967 abzubilden. Bei dieser Vorstufe<br />
des Reggae gibt es Wiederbegegnungen<br />
mit einer Reihe von Helden des<br />
Genres, angefangen bei den Skatalites,<br />
den Ethiopians, den Wailers, dem frühen<br />
Lee Perry oder Don Drummond<br />
über Sologänge des Skatalites-Organisten Jackie Mittoo bis<br />
hin zu raren Gestalten wie dem ominösen Sänger Hugh Godfrey.<br />
Eine besondere Entdeckung sind die Clarendonians – bei<br />
denen Freddie McGregor schon als Kind zu singen begann –<br />
mit ihrer Coverversion des Beatles-Klassikers "You Won't See<br />
Me", in der sich sehr anschaulich nachvollziehen lässt, wie<br />
man aus einem Northern-Soul-lastigen Beat-Song mittels<br />
Offbeat, d.h. Verschiebung des Akzents um exakt ein Achtel,<br />
sehr elegant eine Ska-Nummer macht. Von den wunderbar<br />
traurigen Stimmen ganz zu schweigen. Sehr schön! Auch der<br />
angemessen rumpelige Klang.<br />
www.souljazzrecords.co.uk<br />
tcb<br />
Boardwalk - Boardwalk<br />
[Stones Throw - Groove Attack]<br />
Mike Edge und Amber Q aus Los Angeles erinnern stark an<br />
verträumt abgedriftete Satelliten. Und<br />
kultürlich klingen bei sowas dann auch<br />
immer die Großmeister dieses Sounds<br />
Velvet Underground, Spacemen 3, hier<br />
aber noch deutlicher Galaxie 500, Mazzy<br />
Star und Beach House durch. Irgendwie<br />
kann es für mich von dieser Musik<br />
einfach nicht genug geben. Boardwalk<br />
scheinen die intendiert bescheidene Homerecording-Variante<br />
dieses Ansatzes zu sein. Genau dieses Reduzierte tut ihren<br />
Songs sehr gut. In einen Song wie "I'm Not Myself" kann man<br />
sich förmlich hineinsetzen und zum nächsten Märchenpark<br />
fahren lassen. "What's Love" ist der erste Stopp, bei dem man,<br />
durchaus mal nach hinten schauend, an verflossene Lieben,<br />
Freunde und Lebensphasen denkt. Inne halten halt. Und dann<br />
weiter, aber ganz langsam, mit Boardwalk an Bord. Seufz.<br />
www.stonesthrow.com<br />
cj<br />
Vex Ruffin - s/t<br />
[Stones Throw - Groove Attack]<br />
<strong>De</strong>r Philippinen-Amerikaner Vex Ruffin selbst nennt Cabaret<br />
Voltaire und PIL als Einflüsse, seine<br />
Songs lassen aber auch durchaus noch<br />
härtere Gangarten wie Throbbing Gristle<br />
(in ihren eingägigen Momenten) oder<br />
Suicide (generell) erkennen. Alles wahrlich<br />
weder vom Image noch vom Sound<br />
her Leichtgewichte. Nein, manchmal<br />
sogar außerordentlich schwere Kost.<br />
Das klingt hier alles mit, man meint Vex Ruffin förmlich in die<br />
Vergangenheit schlendern zu sehen, als die Drum Machines<br />
erst mit Synthesizern begannen, Gitarren- und Punk-Bands<br />
eine neue Perspektive zu eröffnen. Meistens endete das in einem<br />
desolaten Electro-Blues wie bei einigen oben Genannten.<br />
Auch Vex Ruffin setzt hier an, streut aber auch schonmal Hip-<br />
Hop-Beats ein und wirkt wie ein durchgeknallter Beck ("It Will<br />
Come"). Echt keine Musik fürs sonnige Frühstück, eher schon<br />
für den früh dunkel werdenden Tag und ersten Gin Tonic. Kann<br />
Nachbarn ganz schön ärgern.<br />
www.stonesthrow.com<br />
cj<br />
Mr. C - The Future<br />
[Superfreq]<br />
Manchmal macht man alles falsch, wenn man denkt, alles<br />
richtig zu machen. Oldschool, check,<br />
Acid, Check, darke Vocals, check, wummernd<br />
cooler Sound, check, aber dann<br />
geht es bergab. Die Vocals haben etwas<br />
zu bodymusicmäßiges, zuviel Leder, zuwenig<br />
Funk, die Acidlines klingen wie<br />
hängengeblieben und selbst die Snarestakkatos<br />
können einen hier ernüchtern.<br />
Puh. Einfach alles zu düster und selbst in den Remixen auf<br />
Dauer kaum zu ertragen.<br />
bleed<br />
John Heckle - <strong>De</strong>solate Figures<br />
[Tabernacle Records]<br />
Heckle zögert nicht einen Moment sondern stürzt sich lieber<br />
gleich in einen Track voller schillernder<br />
HiHats und Acidgewitter, lässt Stringberge<br />
zu grandiosen Weiten auflaufen,<br />
die aus der Welt eine einzige Hymne<br />
machen und hat schon mal geklärt,<br />
dass Euphorie keine Grenzen kennen<br />
darf. Das Album swingt in seinem leicht<br />
atavistisch anachronen Sound zwischen<br />
Oldschool und purer Analogphantasie aller möglichen<br />
Konstellationen und ufert auch schon mal in verspielt fusseligem<br />
Jazzfunk aus oder überdrehten Chicagomelodien frisch<br />
aus dem Drumcomputer geschossen. Eine Tour de Force in<br />
analogen Welten die dennoch immer eine sehr getragene<br />
Stimmung vermittelt und den Funk eher in den verrückten<br />
Geistesblitzen zwischendurch aufleben lässt, als im Groove,<br />
der ganz und gar auf die Tiefe Substanz der mächtigen geraden<br />
Bassdrum aufgebaut ist. Brilliant durch und durch.<br />
bleed<br />
Clara Hill - Walk The Distance<br />
[Tapete - Indigo]<br />
Was für ein Anfang! Wenn im Film "Prometheus" auch sehr<br />
viele Anschlussfehler und Hollywood-<br />
Kompromisse zu entdecken bzw. bedauern<br />
waren, die ersten Minuten, die<br />
waren es wert. Was kann Film alles an<br />
anderen Welten entwerfen! Und hier<br />
und jetzt: Was kann Musik alles an Utopien<br />
liefern! "Konkav" ist ein anderer<br />
Planet, auf dem alles gut wird, ihn zu<br />
erreichen allerdings ist nicht ganz einfach. Die Sängerin Clara<br />
Hill kann einen an die Hand und mit nehmen. Sie ließ sich unterstützen<br />
von erfahrenen Piloten wie Schneider, Hanno<br />
Leichtmann, Simon Whetham oder Thomas Bücker. Letzterer,<br />
sonst Mann hinter Bersarin Quartett, Jean-Michel und und<br />
und, hat eben auch "Konkav" skizziert, das minimal-bombastisch<br />
schillerndste Stück von Hills Album. Hill probiert aus,<br />
diese zehn Songtracks klingen, als hätte sie kompromisslos<br />
erschaffen, was sie schon immer wollte. Wenn man Ridley<br />
Scott nur so (weitermachen) lassen würde wie die wissende<br />
Reisende Clara Hill, ja dann...<br />
www.tapeterecords.de<br />
cj<br />
Banabila & Machinefabriek - Travelog<br />
[Tapu Records]<br />
Neulich im Stau, der Typ im Mercedes nebenan ein vermeintlich<br />
typischer BWLer, Zwirnmensch unter<br />
Fleischkappe, die Unterlippe nahtlos<br />
in den Hals übergehend. Jacket und<br />
Schlips offensichtlich auf dem Rücksitz.<br />
<strong>De</strong>r Türrahmen in dieser ruckelndschleichenden<br />
Fortbewegungsart verdeckt<br />
hinterlistig den genaueren Einblick<br />
ins Fahrzeuginnere.<br />
Bemerkenswert an der Szene: das hartnäckig wiederkehrende<br />
dreifache Zucken des Herren; hier wird also Härteres dem Ohr<br />
zugeführt. Nichts an dem Bild passt so richtig zueinander und<br />
gerade deshalb muss man weiter hinstarren. <strong>De</strong>r Stau löst sich<br />
auf und der Mercedes entschwindet... Ende. Die beiden äußerst<br />
umtriebigen holländischen Produzenten Michel Banabila<br />
und Rutger Zuydervelt aka Machinefabriek könnten mit "Travelog"<br />
den Soundtrack zu der Szene geliefert haben, Minimal,<br />
Kraut, Ambient und Noise hüpfen übereinander, das Banale<br />
und Kleine ist der ungelenkte Held der Geschichte, Strandgut<br />
an einem kalten aber sonnigen Herbstnachmittag am Meer.<br />
Kater...<br />
www.tapurecords.bigcartel.com<br />
raabenstein<br />
Kid606 - Happiness<br />
[Tigerbeat6 - Cargo]<br />
Post aus Los Angeles und sie sagt: Mir gehts hier prima. Nun<br />
muss die Münze, mit der unser virtuoser<br />
Genrejongleur bezahlt, ja immer erstmal<br />
gewechselt werden. Die eher abgestandene<br />
Electronica seines letzten Albums:<br />
Abgesang auf Berlin, dem er<br />
dann entfloh. Und was passiert hier?<br />
Laut Presseinfo standen hier allen Ernstes<br />
u.a. Yacht-Rock-Bands (Christopher<br />
Cross, Toto, Doobie Brothers) Pate. Ich erhöhe: "Smooth Sailing",<br />
das ist doch Philip Glass. Aber alles halb so schlimm.<br />
Spätestens wenn auf "Cloud Sculpting" sich für den Rest des<br />
Albums der Knuddelbass als schnurrende Katze auf den<br />
Bauch legt, darf das Kleinhirn ans Steuer, das uns auf "Party<br />
Gambas" zu einem alten Kraftwerk-Tune fährt, dann "Corona-<br />
71
<strong>177</strong> — reviews<br />
Alben<br />
do Bay Breezin'" entlang durch die frische Feuchte sägt, und<br />
die Downtempo-Entspanntheit des ewigen Sommers, die jungen<br />
Damen in strahlenden Hänger-Loops, die sich wiegenden<br />
Orgelpads, schließlich das Ausrollen zwischen Spectrum<br />
Spools und Cluster+Eno, das ist einfach nur wunderbarer,<br />
transatlantischer, elektronischer Instrumentalpop mit warmem<br />
Bauch und weiten Armen, der keine <strong>De</strong>chiffrierung<br />
braucht.<br />
multipara<br />
Burkhard Stangl - Unfinished. For William Turner, painter.<br />
[Touch - Cargo]<br />
Musik, die fast zum Stehen kommt. <strong>De</strong>r österreichische Improv-Musiker<br />
Burkhard Stangl hat sich<br />
für sein erstes Touch-Album vom englischen<br />
Maler William Turner zu einer<br />
ganz eigenen Form von Impressionismus<br />
inspirieren lassen. Stangls Gitarren-Improvisationen<br />
evozieren eine präzise<br />
Flächigkeit mit sehr feinem Strich,<br />
kosten mikroskopische Motive und<br />
Klänge mit größter Disziplin und Ruhe aus und halten die Musik<br />
dabei stets elastisch. Hier geht es nicht um klangliche Abstraktion<br />
mittels Fixierung auf das Geräuschhafte der Tonerzeugung,<br />
wie es von Stangl an anderer Stelle ausgiebig erprobt<br />
wurde, sondern um weitgehend klassische Töne, die jedoch so<br />
konsequent aus jeglichem konventionellen Kontext herausgelöst<br />
wurden, dass sie eine abstrahierte Form annehmen. Gelegentliche<br />
field recordings – man hört fließendes Wasser, Stimmen<br />
oder nicht näher definierte Geräusche – und vereinzelte<br />
Elektronik setzen weitere Akzente, erschließen den Stücken<br />
zusätzliche Dimensionen. Auf perfekte Weise unvollendet, um<br />
es paradox zu sagen.<br />
www.touchmusic.org.uk<br />
tcb<br />
Phill Niblock - Touch Five [Touch - Cargo]<br />
Drone-Meister Phill Niblock setzt seine "Touch"-Reihe beim<br />
gleichnamigen Label fort und knüpft inhaltlich<br />
direkt an den Vorgänger "Touch<br />
Strings" an – auch auf "Touch Five"<br />
kommen ausschließlich Saiteninstrumente<br />
zum Einsatz. Majestätisch gleich<br />
der Anfang: "CornFeed Ear", interpretiert<br />
vom belgischen Cellisten Arne<br />
<strong>De</strong>rforce, der eine Reihe von Niblocks<br />
Kompositionen eingespielt hat, bringt das Prinzip der Obertonvariation<br />
über liegendem Grundton mit einem ganzen<br />
Spektrum an Mikrotönen zum Flirren. Ähnlich der Brite Rhodri<br />
Davies an der elektronischen Harfe mit dem Stück "A Cage of<br />
Stars". Unmerklich die Wechsel und Übergänge, wird hier<br />
stets auf Neue verdeutlicht, dass es keine Wiederholung desselben<br />
gibt – selbst ein gehaltener Ton verändert sich in der<br />
Zeit. Dass eine Komposition sich nur begrenzt von ihren Interpreten<br />
losgelöst betrachten lässt, demonstrieren die drei Versionen<br />
von "Two Lips" für Gitarrenquartett, die auf der zweiten<br />
CD versammelt sind. Das im Vergleich zu den beiden Solostücken<br />
weit dissonantere Werk lässt dabei von Besetzung zu<br />
Besetzung immer wieder neue Facetten und Klangfarben aufschimmern,<br />
als würde ein Text von verschiedenen Sprechern<br />
vorgetragen. Groß.<br />
www.touchmusic.org.uk<br />
tcb<br />
Wareika - Wternal [Visionquest - WAS]<br />
Das dritte Werk von Wareika umarmt einen quasi mit seinem<br />
warmen und organischen Sound, und<br />
Florian Schirrmacher singt nicht selten<br />
dazu. Zusammen mit Henrik Raabe und<br />
Jakob Seidensticker lotet er die Möglichkeiten<br />
eines deepen Livesets aus,<br />
dass ihnen Housemusik gestattet. Die<br />
sanften Steigerungen im Tempo und die<br />
gut gesetzen Vocalparts zeigen, dass<br />
die drei genau wissen, wie man Tanzflächen zu bedienen hat.<br />
Es ist diese Mischung aus Verspieltheit und straighten Beats,<br />
die das Trio so charmant und einzigartig machen. Die dubbigen<br />
Rhythmen haben die beiden ehemaligen Havana Boys<br />
auch weiter im Gepäck. Etwas grenzwertig ist die Coverversion<br />
von "La Paloma", aber nach mehrmaligem Hören gewinnt<br />
die Sympathie für das Housegerüst auch bei mir die Oberhand<br />
und es ist ziemlich sicher, dass die Nummer ein ziemlicher Hit<br />
in den Sets werden wird.<br />
tobi<br />
Leon Vynehall - Open EP<br />
[3024 - S.T. Holdings]<br />
Nach Piano-House im großen Stil auf Aus, wird nun auf Martyns<br />
Label das Großraum-Feuer am<br />
Laufen gehalten. "I Get Mine You Get<br />
Yours" jacked, was das Zeug hält.<br />
Hauptsache, die HiHat schön offen und<br />
die Synth-Line maximal catchy, ganz<br />
nach britischem Selbstbewusstsein.<br />
Soll hängen bleiben und tut genau das,<br />
nicht weniger, allerdings auch nicht viel<br />
mehr. Die B-Seite will mit der großflächigen Euphorie mithalten,<br />
fährt das selbe Konzept nochmal und hängt in Sachen<br />
Catchiness auch kaum hinterher. Nur das Drum-lose "I Know<br />
You Face Heroine" tanzt aus der Reihe. Soll irgendwie durchdachter<br />
daherkommen als der Rest, bleibt aber zu flach. Ein<br />
bisschen viel 0815 auf 3024.<br />
www.3024world.com<br />
wzl<br />
SINGLES<br />
Anstam - The Remixes<br />
[50 Weapons/50WEAPONSRMX07 - Rough Trade]<br />
Die Familienbande remixt sich weiter gegenseitig. Jetzt dran:<br />
Anstam. Moderats aktuelle Single<br />
"Gita" und Siriusmos "Stinky Wig" werden<br />
hier durch die Mangel gedreht. Mit<br />
viel quäkender Dringlichkeit, einer Prise<br />
Chaos über der Durchsicht durch jedes<br />
Soundpartikel. Besser als die Originale?<br />
Zumindest ebenbürtig. Und ein remixender<br />
Händedruck tut immer gut.<br />
www.50weapons.com<br />
thaddi<br />
Benjamin Damage - 4600 EP<br />
[50 Weapons/50WEAPONS031 - Rough Trade]<br />
30 Jahre lang hat der kleine ETI 4600 in einer abgelegenen<br />
Garage, irgendwo nördlich von London<br />
geschlummert. Als einer der wenigen<br />
seiner Art, die wohl überhaupt jemals<br />
richtig funktioniert haben. Und gäbe es<br />
nicht noch diese Menschen mit Herz für<br />
Maschinen, wie den Benjamin, wäre der<br />
putzige Synth, Geburtsjahr 1973, doch<br />
glatt seinem rostigen Schicksal überlassen<br />
worden. Frisch genährt mit neuen Befehlen, schnurrt der<br />
Kleine nun aber endlich wieder wie wild. Nach vorne will er, auf<br />
den großen Floor, da, wo es sich doch am besten wild herumspringen<br />
lässt. Herrchen Damage steht am anderen Ende der<br />
Leine und liefert nach seiner großen "Heliosphere"-LP drei<br />
technoide Sureshots, die sich ihrer repititiven Stärke mehr als<br />
bewusst sind. Ohne viel Schnörkel, genau so, wie wir die dunklen<br />
Momente lieben. Als Belohnung für den kleinen Wilden<br />
gibt's dann noch das Leckerli "Nebula" oben drauf, den kicklosen<br />
Flächen-Exzess, das Highlight in spe.<br />
www.50weapons.com<br />
wzl<br />
A Made Up Sound - After Hours<br />
[A Made Up Sound/AMS006 - Clone]<br />
Au weia, was ist denn hier los? Dave Huismans verabschiedet<br />
sich vom Dancefloor. Endlich, werden<br />
da einige sagen. Nicht, weil sie ihn loswerden<br />
wollen, sondern weil immer klar<br />
war, das mehr in ihm steckt. Dieses<br />
"After Hours" - episch und endlos - hätte<br />
in den 80ern auch von Dirk Ivens sein<br />
können. Die Drums haben den gleichen<br />
Punch und dabei auch die selbe digitale<br />
Ruppigkeit. <strong>De</strong>r Rest scheint improvisiert, aus der blutigen<br />
Nase gezogen, ein Bandwurm der Konfusion, der nur noch zittert,<br />
aber nicht mehr tanzt. Ein wirklich unfassbares Stück<br />
Musik. "What Preset", die B-Seite, feiert dann genau diese<br />
Abkehr von gelernten Sounds und wenn 4Hero damals bei<br />
Throbbing Gristle gewesen wären, hätten wir den Track schon<br />
seit 1979 in der Kiste. Runtergespielt klingt das bestimmt ohnehin<br />
besser. Wow.<br />
soundcloud.com/2562amadeupsound<br />
thaddi<br />
Monomood - Analog Threesome<br />
[Abstract Animal/003 - <strong>De</strong>cks]<br />
Schön auf der Bassdrum hängengeblieben. Etwas Bassline<br />
dazu. Etwas pathetische Sounds und<br />
irgendwann ist man - ohne das man es<br />
bemerkt hätte - mitten in einem<br />
Schranzinferno. Huch. Da lob ich mir<br />
den Mike-<strong>De</strong>hnert-Mix, der in seiner<br />
feinen funkigen Art aus "Vault" alles herausholt,<br />
was man so als Ravesüchtiger<br />
der ersten Stunde von seinen slammendsten<br />
UR-Platten braucht. "The Siren" zum Abschluss ist<br />
kaputt. Aber sowas von. Scheppernd, aus dem Lot, knatternd<br />
und mit der zerbrechlichen Gewalt eines Hammers ohne Hals.<br />
bleed<br />
Dresvn<br />
[Acido/14 - Hardwax]<br />
<strong>De</strong>r Ameisenstamm trifft sich zum Trommeln. Nicht üben für<br />
die Toskana, sondern für den Club. Ach, zur Hölle mit dem Ethno-Scheiß,<br />
bzw. den schwachbrüstigen Interpretationen aus<br />
japanischen Schaltkreisen der Kaiserzeit. Einfach mitmachen.<br />
Eh gut, eh besser. Dresvn? Immer über alle Zweifel erhaben.<br />
Das zeigen die drei neuen Tracks nur zu deutlich. Nicht für jeden,<br />
aber wenn, dann richtig.<br />
thaddi<br />
Kotelett & Zadak<br />
Schleuderganz EP<br />
[Acker Dub/023]<br />
Ein perfekter Popsong mit leicht kitschig smoothem Gesang<br />
ist das upliftend dubbige "Hello Species"<br />
geworden. Einfacher Chord, statisch<br />
klassischer Groove, Sounds, die<br />
nach Sommerelegie klingen und dann<br />
dieser kitschig gesäuselte Vocodergesang<br />
dazu. Alles perfekt. "Aimless" ist<br />
ein ähnlich sanft kitschiges Stück mit<br />
Gitarre und Gesang und "Tizia" voll mit<br />
Grufitpathos, während der Mollono-Bass-Remix dem "Hello<br />
Species" Track noch einen Hauch Trance verpasst.<br />
bleed<br />
Gab Rhome - Sometimes It Goes That Way<br />
[All Day I Dream/004]<br />
<strong>De</strong>r klingelnd schöne Track von Gab Rhome steht hier im Zentrum<br />
mit seinen Xylophonsounds und<br />
der warmen weichen Bassline, die alles<br />
in dieser sommerlich duftenden Stimmung<br />
einfängt. Kitsch für die nächsten<br />
Open Airs, egal wie lange die noch hin<br />
sein mögen. Flausige Beats, sehr schöner<br />
Gesang mit sanftem Indieflair und<br />
dieses atmende Gefühl in den Sounds,<br />
das so elegisch klingt wie man es braucht für diese endlosen<br />
Tage. Die Rückseite von ihm mit Maher Daniel ist ähnlich sanft,<br />
aber einen Hauch zu flauschig dabei und wirkt auf die Dauer<br />
so, als hätte das Butterschiff nie abgelegt.<br />
bleed<br />
Hooved - Timeless<br />
[Amam]<br />
Hooved ist dafür bekannt, dass seine Stücke immer ein wenig<br />
ausgehöhlt klingen. Etwas zu trocken,<br />
dafür aber mit einer geisternhaft schwebenden<br />
Stimmung, die einen in eine<br />
völlig eigene Welt entlockt. Und das zelebriert<br />
Hooved hier auf allen drei Tracks<br />
so lässig mit leicht um die Ecke träufelnden<br />
Grooves, kurz eingestreuten leicht<br />
melancholischen Elementen, diesen<br />
trocken warmen Basslines die alles in Swing halten und dem<br />
träumerischen Stil eines zu sich zurückfindenden Minimalismus<br />
der immer zwischen den Zeilen seines eigenen Sounds<br />
eine Welt hinter der Welt vorfindet, die verführerisch unentdeckt<br />
bleibt. <strong>De</strong>r Thomas Brinkmann Remix wirkt gegen diese<br />
filigran funkenden Stücke fast schon brachial.<br />
www.am-am.org<br />
bleed<br />
Nadia Popoff - Black Jack<br />
[Amam Extra/019]<br />
<strong>De</strong>r Track von Nadia Popoff aus Argentinien ist voller dunkler<br />
Spannung und Intensität und rockt mit<br />
dieser perfekten Konstellation aus darker<br />
Bassline und trockenen Sounds,<br />
magischen Hintergründen und schleichend<br />
dichtem Grundgefühl das sich<br />
auf "My Friend Sebastian" sogar in jazzigere<br />
Gefilde ausbreitet, aber dennoch<br />
seiner <strong>De</strong>epness treu bleibt. Die Remixer<br />
Alessio Mereu und Hooved bleiben dem spartanisch gefühlvollen<br />
Sound treu und kicken einen Hauch mehr um die<br />
Ecke.<br />
bleed<br />
Tom <strong>De</strong>mac & Will Samson - It Grows Again EP<br />
[Aus Music/053 - WAS]<br />
Genaugenommen liebe ich Tom <strong>De</strong>mac. Hier noch einen Dreh<br />
poppiger mit den Vocals von Will Samson,<br />
der wirklich am letzten Zipfel seiner<br />
Fistelstimme hängt, aber im Hintergrund<br />
wühlt sich <strong>De</strong>mac so genüsslich<br />
durch die Bässe und macht aus allem so<br />
ein dicht gebratenes Fest aus Sounds,<br />
die völlig in sich verschliffen sind, dass<br />
ich selbst die Vocals hier als Sound hören<br />
kann. Soul in dieser pergamentartigen Dürre kann einen ja<br />
manchmal ganz schön überfordern, aber irgendwie schaffen<br />
es die drei Tracks, aus ihrem Popprojekt doch etwas zu machen,<br />
das einem ans Herz geht und so phantastisch überarrangiert,<br />
aber dennoch flockig leicht bleibt, dass man es einfach<br />
genießt wie die frühen Soulplatten von Vladislav <strong>De</strong>lay.<br />
www.ausmusic.co.uk<br />
bleed<br />
Sei A - Wants EP<br />
[Aus Music/1352 - WAS]<br />
Sei A ist eigentlich immer am besten, wenn der die Harmonien<br />
frei durch den Raum schweben lässt<br />
und der Rest des Tracks dem säuselnden<br />
Grundton den richtigen Backdrop<br />
vermittelt. Das gelingt ihm hier vor allem<br />
auf "10" und "Promises", die beide<br />
sehr charmante Epen aus melodisch<br />
deepen Basslines und breiten Flächen<br />
sind und einen extrem lässigen Swing<br />
dabei entwickeln. Die funkigere Seite ist auf "Promises" auch<br />
irgendwie klarer als auf dem Titeltrack "Wants", der irgendwie<br />
sexy wirken will, aber dabei ein wenig zu sehr auf die Verlockung<br />
durch Hall auf den Vocals schielt.<br />
www.ausmusic.co.uk<br />
bleed<br />
V.A.<br />
[Big Doint/001]<br />
Was für ein Monster. Chicagobassline mäandert durch den<br />
Untergrund von FIOs "Take No Time",<br />
die Discosamples könnten auch ein obskurer<br />
Killersoul aus einem vergessenen<br />
UK-Underground sein, alles wuchtet<br />
und bollert ausgelassen zwischen<br />
den Filtern und dem zertrümmert<br />
glücklichen Groove und klingt völlig<br />
überdreht. BD mit "Big Doint" räumt mit<br />
ähnlich obskuren Soulsamples und schleppenderem Groove<br />
genau so auf und lässt alles in perfekter Konzentration über<br />
den Floor schluffen. Disco für Verwunschene. Auch auf dem<br />
letzten Track hält sich dieser Sound zwischen Underground<br />
und purer Euphorie, dieser leicht französische Sound überglücklicher<br />
Discoloops in kaputten Konstellationen der unwahrscheinlichsten<br />
Art. Eine Platte, die Big Doint definitiv einen<br />
Platz unter den kommenden Kultlabeln sichern dürfte.<br />
bleed<br />
Tal M. Klein - Exhaustasaurus<br />
[Aniligital Music]<br />
Merkwürdiger Titel. Trockener Groove. Tal M. Klein sonst eher<br />
bekannt für seine SlowMo-Housetracks kickt auf "Exhaustasaurus"<br />
spartanisch und mit ultradeepem Subbass los und<br />
wälzt sich gerade zu in den Basswellen, hechelt eine Stimme<br />
hinterher, die fast tribal wirkt und landet am Ende dann in einer<br />
stachelnden Synthstimmung die fast nach Rave klingt. Mit<br />
"Perforated" geht es dann tiefer in die Knie und zaubert eine<br />
elegische Discostimmung aus der 303, während "The Consequence"<br />
die Synths etwas weit über die Grenze von Kitsch aufdreht<br />
und dabei wirkt wie ein runtergepitchter Trancetrack. Die<br />
Remixe von Casbah 73 und Spitmilk schwanken zwischen jazzigem<br />
Swingsound und etwas fusseligem Kirmeshousesound.<br />
bleed<br />
Renaissance Man - Kama EP<br />
[Black Ocean/003]<br />
Und wieder zwei sehr wirre und phantastische Tracks von Renaissance<br />
Man. Kama rockt mit seinen<br />
tribalen Grooves mitten ins Herz der<br />
verzückten Raver der ersten Stunde,<br />
legt eine verheißungsvolle Stimme<br />
drauf und das Tänzeln leicht tranciger<br />
breiter Synths, und schon ist man mitten<br />
im Wald aus Strobos und Nebel. Die<br />
Rückseite mit seinen verknuffelten Vocals<br />
abstraktester Art bringt dieses überdrehte Zuckeln der<br />
Melodien zurück, die schon seine letzte EP hatte und bleibt<br />
dennoch immer auf den Floor konzentriert. Purer abstrakter<br />
Funk der oldschoolig verdrehten Art, die sich im Break dann<br />
noch in ganz säuselnd dreisten 70er-Jahre-Synths auflösen<br />
darf.<br />
bleed<br />
Duke Slammer - Snorkel Zone<br />
[Bonus Round Records/020]<br />
Manchmal verliebt man sich einfach sofort in einen Track.<br />
"Snorkel Zone" ist so einer. Klingelnd<br />
voller Melodien, leicht überdreht bleepig<br />
und doch mit einem gewissen Unterton<br />
früher Aphex-Twin-Momente.<br />
Zuckersüß und mit diesem wehenden<br />
Gefühl eines ersten Sommers mit einer<br />
völlig unwahrscheinlichen Begleitautomatikorgel.<br />
<strong>De</strong>r Rest der EP ist etwas<br />
näher an Disco, wenn auch stellenweise auf absurde Weise,<br />
klingelt natürlich in den Sounds ähnlich überzogen und erinnert<br />
mit manchmal auch ein wenig an die verdrehteren Momente<br />
von Luke Vibert. Eine Platte, die vom ersten Moment an<br />
kleine blubbernde Herzchen des Glücks verstreut.<br />
bleed<br />
Shanti Celeste - Need Your Lovin' (Baby)<br />
[brstl/005 - Hardwax]<br />
Keine falschen Hoffnungen. Es ist nicht DER Track. <strong>De</strong>r hier ist<br />
aber auch gut. Atmet New York. Finde<br />
ich. Mit dieser perfiden EQ-Einstellung<br />
auf der HiHat der 909, der federnden<br />
Bassdrum und dem überdrehten Soul in<br />
den Vocals. Und auch die B-Seite<br />
slammt. Mit Tieftöner-<strong>De</strong>epness auf der<br />
Bassdrum, ganz einfachen Chords und<br />
Stabs und diesem wolldeckigen Gefühl<br />
der Vertrautheit des Schnees im Sommer. Herrlich.<br />
thaddi<br />
Marlowe - Moonshine Heater<br />
[Cadenza/090 - WAS]<br />
Laurent Bovey aka Laps kommt hier mit einem perfekt auf Cadenza<br />
passenden Stück. Glucksend latin,<br />
flausig überdreht in den knuffig<br />
knisternd dichten Grooves und das alles<br />
mit einer gewissen gejammten Endlosigkeit,<br />
ist auch der Rest der EP ähnlich,<br />
hier aber steht die Melodie nicht ganz<br />
so im Zentrum und lässt die Grooves<br />
dann eher einen Hauch zu wissenschaftlich<br />
wirken.<br />
www.cadenzarecords.com<br />
bleed<br />
Vereker / Kupfer<br />
[CCCP/04 - Clone]<br />
Hinten anfangen lohnt. <strong>De</strong>nn "Radiosity" gibt einem all die<br />
Wärme zurück, die man vorher bei drei<br />
mumpfigen LoFi-Sumpfnattern des<br />
Oldschool-Techno ausschwitzen musste,<br />
um wenigstens irgendwie aktiv zu<br />
sein. Vereker und Florain Kupfer? Ach<br />
nee. Bestimmt toll für die, die auch im<br />
Winter noch im T-Shirt rumlaufen, aber<br />
ich habe diesen Sound so derartig satt,<br />
dass ich glatt nach CCCP auswandern würde. Da ist wenigstens<br />
der Wodka gut. Aber die B2, die braucht man dann eben<br />
doch.<br />
thaddi<br />
Bjorn Wolf & Youri Donatz - Put Your Mind On Zero EP<br />
[Cellaa Music/010]<br />
Was genau es mit diesem dark gepressten "Before Singing We<br />
Must Leave The Church" auf sich hat, ist<br />
mir nicht ganz klar. Ein mitreißender<br />
Technotrack für den dark konzentrierten<br />
Trip eben, der immer mehr ins Trudeln<br />
gerät. "Bred" mit seinen verwässerten<br />
Sounds, die klingen, als hätte man sie in<br />
einem Tümpel Alka Seltzer aufgelöst,<br />
gefällt mir aber um Längen besser, weil<br />
es so schön abstrakt knatternd auf eine flausig wirre Kinderstimme<br />
mit Basslinegewobble und abenteuerlichen Orches-<br />
72
<strong>177</strong><br />
singles<br />
terstabs hinausläuft. Rave für die Kleinsten. "Put Your Mind On<br />
Zero" ist ein abstrakt knatternder Minimaltrack mit viel Funk,<br />
und der Basti-Grub-Remix will den Funk noch klarer herausschälen.<br />
bleed<br />
CC / Golden Donna<br />
[CGI/CGI001]<br />
Extrem trockene Tracks, die auf der A-Seite von CC manchmal<br />
so wirken, als hätte jemand seinen ersten<br />
Versuch gemacht, Acid zu produzieren,<br />
aber leider keine 303 zur Hand gehabt.<br />
Kantig und abstrakt in den<br />
Grooves, verwirrt in den Sounds und<br />
sehr spröde, aber mit so viel Charakter,<br />
dass man die Tracks einfach lieben<br />
muss, vor allem wenn es bei dem Funky-<br />
Track "Shackles" dann eher ravig knatternd als poppig bleibt.<br />
Golden Donna beginnt die Rückseite mit einem Feuerwerk aus<br />
breitwandigem Souldubopus, das völlig für sich steht, und<br />
säuselt mit "Soft Escape II" dann am Ende noch eine Hymne<br />
für die Letzten, die den Club einfach nie mehr verlassen wollen.<br />
Wunderschöne und sehr frische EP.<br />
bleed<br />
Jerome - 4B / 5<br />
[CGI/CGI002]<br />
Die zweite EP des neuen Labels rockt auf dem ersten Track mit<br />
einer so unverschämt kickenden Orgel,<br />
dass man sofort weiß, es gibt hier kein<br />
Zurück mehr. Dann einfach eine Duborgie<br />
hinterher, kantige Beats, merkwürdig<br />
gestaute Sounds, holzig breite Kompressionen,<br />
ein magisches Stück. Die<br />
Version auf der Rückseite dreht sich<br />
mehr um den ausufernd schnell peitschenden<br />
Bass und wuchert immer mehr zu einem alles mitreißenden<br />
Ravetrack aus.<br />
bleed<br />
Chicago Damn - Experiments Must Continue<br />
[Chicago Damn/001]<br />
Irgendwie eigenwillige Acid-Platte, die in ihrer Überfrachtung<br />
mit Synthsounds und einem irgendwie sehr klaren, überhaupt<br />
nicht oldschooligen Sound manchmal so wirkt wie frühe italienische<br />
Acidexperimente. Sympathisch, verwirrt, gerne bereit<br />
hier noch mal ein neues knödeliges Moment einzuflechten, da<br />
noch eine Szenerie der Verwirrung mehr anzusteuern und am<br />
Ende dann ganz blauäugig doch vor allem loszurocken, aber<br />
irgendwie gefallen mir hier die wenigen Momente, an denen es<br />
nicht so auf Stakkato getrimmt ist, besser. <strong>De</strong>r smoothe klingelnde<br />
Groove von "Sleaze" oder der einfach hymnisch housig<br />
chordversessene "Strawberries and Kream"-Track.<br />
bleed<br />
Andy Vaz - I'm Not From <strong>De</strong>troit<br />
[Chiwax/002LTD - DBH]<br />
Hätte man ja auch selber drauf kommen können. Wobei der<br />
Weltenbürger von heute eh überall dort<br />
zu Hause ist, wo es Strom für die Maschinen<br />
gibt. <strong>De</strong>r Titeltrack ist eine<br />
pointierte Medidation, ein großzügig<br />
angelegter Loop, der sich so sanft immer<br />
wieder verschiebt, dass man das<br />
Sample am Ende selber glaubt. Ganz<br />
und gar klassich. Mit angetäuschter<br />
Darkness, leise flüsterndem Acid und immer wieder dieser<br />
Stimme. Don't tell me he's from <strong>De</strong>troit. Ein Mini-Hörspiel für<br />
die Backstreet. "Alternative State Of Insanity" schlängelt sich<br />
die Serpentinen der improvisierten Unendlichkeit hinauf, die<br />
303 spielt Gitarre und irgendwie scheint das Portamento kaputt.<br />
Genau richtig also. "<strong>De</strong>utz Motorcity" dann öffnet mit alter<br />
Wochenschau, preist die industrielle Brücke zwischen Köln<br />
und <strong>De</strong>troit in Sachen Autobau und technologischem Fortschritt.<br />
<strong>De</strong>r Rest: butterweich. Sounds, wie es sie nur noch auf<br />
Platten gibt, die im Laden die teuersten Preisschilder haben.<br />
Irre gute EP.<br />
thaddi<br />
Seb Wildblood - Feel<br />
[Church White/001]<br />
Ein sehr soulig überdrehter warmer Housetrack mit nur dezenten<br />
Raveerinnerungen in der Struktur<br />
und der Bassline. Sehr zart und jaulend<br />
zugleich ist der Track einer dieser eleganten<br />
Hits, der einem lange genug im<br />
Ohr bleibt, um auch in den kältesten<br />
Nächten des Jahres noch weiter zu<br />
glimmen. <strong>De</strong>r Apes 5 am Remix kontert<br />
mit einem schreddernden Technobilderbuchtrack,<br />
der mir allerdings viel zu beliebig wirkt.<br />
bleed<br />
Oleg Poliakov - C.A.V.O.K.<br />
[Circus Company/082 - WAS]<br />
Zwei der Tracks, für die man Poliakov einfach lieben muss. In<br />
sich verschlungene Melodien, die sich<br />
um den Hals fallen, lässig swingende<br />
Grooves dazu, treibend getriebene<br />
Sphären überall, und schon ist man von<br />
den Stücken bis ins Letzte aufgesogen<br />
und fiebert mit jedem noch so kleinen<br />
schimmernden <strong>De</strong>tail der Tracks mit.<br />
Wunderschön und immer leicht aus<br />
dem Gleichgewicht geraten, eiern die Stücke von Poliakov immer<br />
einen Hauch, aber genau das macht irgendwie auch ihre<br />
Faszination aus.<br />
www.circuscompany.com<br />
bleed<br />
Om Unit - Threads<br />
[Civil Music/058 - S.T. Holdings]<br />
Grandioser Kitsch macht hier den Anfang. Breite pathetische<br />
Synths, dann ein Stück, das klingt wie<br />
eine Grufti-Version der Pet Shop Boys<br />
und ein Stück verrückter Downtempo-<br />
Raveerinnerung, plötzlich dann Harfenklänge<br />
und Rap... Om Unit hat sein Album<br />
wirklich inszeniert wie ein Kino,<br />
das einen durch alle Gefühlslagen treiben<br />
will. Das merkwürdige daran, es<br />
passt nicht wirklich, aber wenn es aufgeht, vor allem auf den<br />
kürzeren melancholischeren Momenten und den abstrakten<br />
Drum-and-Bass-Tracks, ist es unschlagbar gut. Wenn es nur<br />
gelegentlich einen Hauch Pathos weniger hätte, dann könnte<br />
Om Unit wirklich alles erreichen.<br />
www.civilmusic.com<br />
bleed<br />
NSDOS - Lazer Connect EP<br />
[Clek Clek Boom/012]<br />
Clek Clek Boom ist immer gut für eine Überraschung. Die<br />
Tracks von NSDOS sind natürlich auch<br />
irgendwie oldschool, aber so flink und<br />
biegsam in ihren analogen Sounds, so<br />
kribbelig angezerrt, so aufgedreht lässig<br />
in den Modulationen, so smooth in ihrem<br />
abstrakten Funk, dass man das<br />
schon nach den ersten paar Takten vergessen<br />
hat. Zeitloser Funk zwischen<br />
abstrakter Chicago-FM-Synthese, flausigen Drummachines<br />
im Zusammenspiel mit Synths auf dem verwegenen Kurs<br />
durch die Milchstraße und kurzen augenzwinkernden Reminiszenzen<br />
an die frühen Stunden von <strong>De</strong>troit-Electro. Eine Platte<br />
mit drei völlig verschiedenen Tracks, die dennoch eine gemeinsame<br />
Stimme und ein Ziel haben. <strong>De</strong>n Kick unter den Daten<br />
ausgraben.<br />
bleed<br />
Jovonn<br />
House A La Carte<br />
[Clone Classic Cuts/026]<br />
Das Original ist von 1992 und zeigt diesen swingenden discoangehauchten<br />
Houseslammerstil von<br />
Jovonn in perfekter Art. Die Tracks noch<br />
in den Urzeiten festgezurrt, die Beats<br />
locker und mit einer eigenwilligen Intimität<br />
durchsetzt, die selbst ein peinliches<br />
Saxophon perfekt funky und verspielt<br />
glücklich klingen lassen kann. <strong>De</strong>r<br />
deepere "I Can't Make Up My Mind"<br />
klingt wie ein Track, der die Clubszenierie bis in die alltäglichsten<br />
Momente ausleuchtet mit seinen albernen Drinkempfehlungen<br />
und ist pure Clubnaivität vom Feinsten. Und auch das<br />
süßlich alberne "This Thing Is Jammin" zeugt von diesem<br />
kindlichen Charme der wie von selbst aufscheinenden Perfektion.<br />
Eine putzige EP, die irgendwie auch ein wenig so klingt,<br />
als wäre sie sich bewusst, dass die goldenen Zeiten gleich<br />
vorbei sind.<br />
www.clone.nl<br />
bleed<br />
Martinez<br />
Hollow EP<br />
[Concealed Sounds/CCLD001]<br />
Martinez war eine Zeit lang einer der ganz sicheren Fälle auf<br />
dem Floor. Jede Platte ein Hit für sich.<br />
Ruhiger ist er geworden, versponnener,<br />
fast so, als hätte er wie so viele aus dem<br />
Cadenza Umfeld die Wissenschaftlichkeit<br />
der Grooves und den Funks gesucht.<br />
Auf den beiden Tracks dieser EP<br />
wird den leicht verwegen im Untergrund<br />
brodelnden Synths viel Auslauf gelassen,<br />
der knochentrocken rubbelnde Groove immer wieder neu<br />
angefacht, und erst auf der Rückseite löst sich das in einer<br />
breiten alles überschummernden Melodie wieder auf. Eine<br />
Platte, die fast schüchtern wirkt, aber dennoch einen ganz eigenen<br />
ruhigen Glanz entwickelt, der von der Verzauberung der<br />
zurückgezogenen Welt des Grooves lebt.<br />
bleed<br />
Finest Wear - Distant Memories<br />
[Colour And Pitch/002]<br />
"The Tribute" ist genau das. Ein Tribut. Eine Hymne für alle die<br />
einfach nie genug von diesen klassischen <strong>De</strong>troit-Flächen bekommen<br />
können. Und darauf konzentriert sich der Track nicht<br />
nur, er lässt es einfach nicht mehr los. Er beharrt drauf. Er zieht<br />
die Fläche nimmer breiter auf, lässt sich ganz in diesem Gefühl<br />
aufgehen, dass einfach nur noch mehr Strings und Melodien<br />
in sich aufsaugt, je höher es hinaufsteigt. So schön die beiden<br />
anderen <strong>De</strong>ephousetracks der EP auch sein mögen, über diesen<br />
Track kommen sie nicht mehr hinaus. <strong>De</strong>finitiv aber eine<br />
EP für die ganz großen Gefühle, die irgendwie nie alt werden.<br />
bleed<br />
Mefjus - Contemporary EP<br />
[Critical Music/CRIT073 - S.T. Holdings]<br />
Mefjus erbarmungslos wie eh und je. Die Grenzen des Neurofunk<br />
hin und her verschiebend setzt der<br />
Österreicher auch bei seiner neuen und<br />
ersten EP für Critical neue Maßstäbe<br />
der Bösartigkeit. Sein unverkennbares,<br />
soundästhetisches Trademark aus<br />
holpriger Percussion, Reizhusten-Basslines<br />
und aufscheuernder Midranges<br />
scheint bei der "Contemporary"-EP<br />
noch deutlicher auf den Punkt gebracht zu sein, als bei seinen<br />
vorigen Releases. <strong>De</strong>tailverliebt sitzt hier jedes Element genau<br />
dort, wo es hin gehört. Dazwischen immer wieder verschrobene<br />
Electronika-Elemente, die sich am Warp-Katalog zu orientieren<br />
versuchen, verschachtelt retardierende Drum-Patterns<br />
und abreißende Melodiestränge. Auf der zeitlichen Ebene lässt<br />
Mefjus seine Sounds reifen und sich entwickeln. So werden die<br />
Tracks nicht langweilig, sondern überraschen immer wieder<br />
mit neuen Spielereien, Air-Breaks und Referenz-Einschüben<br />
der Drum & Bass-Historie. Oft imitiert aber bisher unerreicht,<br />
sitzt Mefjus auf seinem Neuro-Thron und braucht sich vor keiner<br />
Revolution zu fürchten.<br />
www.criticalmusic.com<br />
ck<br />
Pink Skull - Pink Game EP<br />
[Days Of Being Wild]<br />
Ich stehe auf dieses Label. Und "Skin Game" überzeugt mich<br />
auch durch und durch wieder davon.<br />
<strong>De</strong>r Track mit seiner extrem biegsamen<br />
Acidbassline, den Preacher-Vocals und<br />
dem reduzierten Drumtrack ist einfach<br />
ein Killer, auch wenn die Konstellation<br />
solcher Elemente erst Mal beliebig<br />
klingt, schafft Pink Skull es, daraus ein<br />
Meisterwerk Oldschool zu machen, das<br />
völlig frisch und aufrührerisch klingt. "Only You" ist ein satter<br />
krabbelnd aufgeheizter Acidtrack mit Discounterton, "Slave"<br />
ein Kellerkind der verwirrten betörenden Art und "Frottage Industry"<br />
am Ende noch ein süsslicher Ausklang für den nächsten<br />
Frühling der endlosen Retrobewegung. Eine Platte die bei<br />
aller Oldschool doch nie nach Bilderbuch klingt.<br />
bleed<br />
Simian Mobile Disco<br />
[<strong>De</strong>licacies/010 - Rough Trade]<br />
Ich muss zugeben, diese Simian Mobile Disco ist die erste seit<br />
einer ganzen Weile, die mich vom ersten<br />
Sound an überzeugt. Reduziert im Tempo,<br />
warm und ausgewogen in den<br />
Sounds, spielerisch in den Melodien<br />
und mit einem gewissen lässigen Chicagoflair<br />
im Hintergrund, rollt "Escamoles"<br />
immer mehr in eine sehr zischelnd<br />
hitzige Welt aus treibend tänzelnden<br />
kleinen Chords und lässt einen glücklich mitgrinsen bei jeder<br />
kleinen Wendung. Und auch das magisch smoothe "Smalahove"<br />
ist ein bezaubernd funkig kompaktes <strong>De</strong>ephousestück der<br />
lässigsten Art. Musik die sich so sehr auf ihr Innerstes konzentriert,<br />
dass man sich einfach bis ins letzte <strong>De</strong>tail auf sie einlässt.<br />
<strong>De</strong>r etwas ravigere aber irgendwie sanft oldschoolige<br />
Track "Ton Zi Dan" wird von Mike <strong>De</strong>hnert dann mit dem Holzschuh<br />
ausgetreten aber es bleiben die beiden eher blumig ruhigen<br />
Tracks, die die EP hier ganz und gar ausmachen.<br />
www.simianmobiledisco.co.uk<br />
bleed<br />
Tuff City Kids - Roby Tease EP<br />
[<strong>De</strong>lsin/dsr-h7 - Rushhour]<br />
Kein Wunder eigentlich, dass Janson und Lauer quer durch die<br />
Welt releasen und remixen. <strong>De</strong>r Schedule<br />
auf Jansons Running Back ist tight.<br />
Dabei wünschen wir uns bei jedem Takt<br />
Musik der beiden immer nur wieder das<br />
Album. Vier neue Tracks in der Zwischenzeit<br />
werden mit Kusshand genommen<br />
und bei "HFS" stehen dann<br />
auch gleich die Münder offen. Ob der<br />
Modernität. Zwingendes Rave-Zwinkern, Drei-Ton-Hook. <strong>De</strong>r<br />
Rest: schon jetzt Legende. Und wenn dann bei "Wendy" die<br />
Toms der 909 den Berg erkraxeln, um die Ableton-Fahne zu<br />
verbrennen, ärgert man sich zwar kurz, dass man auf diesem<br />
Ausflug nicht das sonische Tagebuch geführt hat, tanzt jedoch<br />
zumindest im Kopf den Berg schon wieder runter. "Reeze" ist<br />
dann 707-Platzregen und so landen wir doch wieder in Chicago<br />
und weil eh grad Wochenende ist, ist der Rest irgendwie<br />
leicht unscharf und umso nebliger. "Wendy" im zweiten Mix<br />
blubbert dann kongenial um die Welt und spuckt uns dort wieder<br />
aus, wo wir eh hinwollten. Hat man auch nicht alle Tage.<br />
www.delsinrecords.com<br />
thaddi<br />
Bookworms & Steve Summers - Hidden Portal<br />
[Confused House/CH 003 - Rush Hour]<br />
Hmmm. Irgendwie dann doch sehr dark und unscharf. Das<br />
können alle Beteiligten besser. Viel besser. Warum das Scharren<br />
mit den Hufen, wenn doch heutzutage alle Bus fahren?<br />
Auch gut Knarzen will gelernt sein. Irgendwie leer und verloren.<br />
www.confusedhouse.org<br />
thaddi<br />
Annie Hall - Random Paraphilia<br />
[<strong>De</strong>troit Underground/DU021]<br />
Knautschig verdreht sind die Beats von Annie Hall, digital angeschliffen,<br />
aber doch mit einem warmen<br />
Hintergrund aus Harmonien und<br />
leisen Stimmen. Musik, die klingt wie<br />
die aus dem Grab von Illbient auferstandene<br />
Welt von <strong>De</strong>troit und Bass, die in<br />
völlig unerwarteter Frische zu fünf unerwarteten<br />
Meisterleistungen zerknufft,<br />
knotiger Beats findet, in denen einem<br />
die Ohren weit aufgerissen werden. Perfekt auch die Kollaboration<br />
mit Shadow Huntaz. Und die Remixe von Richard <strong>De</strong>vine,<br />
E.R.P. und Valance Drakes passen natürlich durch und<br />
durch, auch wenn mir der ruffe digital verdrehte Sound der<br />
Originale irgendwie lieber ist.<br />
bleed<br />
Eddie Fowlkes - Special EP<br />
[<strong>De</strong>troit Wax/DW 006 - Rush Hour]<br />
Neue Tracks von Eddie? Immer her. Vor allem, wenn der "War<br />
On Dance" alles andere ist, als der Titel<br />
vermuten lässt, sondern vielmehr eine<br />
am mit Gasherd befeuerten Sampler<br />
hergestellte Reduktion des Funks. Und<br />
natürlich mit dieser markengeschützten<br />
Armada von Future-Chords. "Something<br />
Special E" auf der B-Seite wirkt<br />
die Live-Schalte in den Club zur Peak<br />
Time. Konzentriert und loopig, mit verhuschtem Acid und einem<br />
Ozeandampfer-Horn, das sich über den Besuch eines<br />
Kinderchores freut, der den Gospel studiert. Bon voyage!<br />
thaddi<br />
John Barera & Matt Gavris - Passenger EP<br />
[Dirt Crew Recordings/074 - WAS]<br />
In "Galaxy No.1" löst sich hier alles auf. Klassische <strong>De</strong>troitpianostabs,<br />
säuselnde Synths im Hintergrund,<br />
krabbelige Basslines und ein<br />
statisch direkter klassischer Groove<br />
sind manchmal einfach genug, um einen<br />
in den Himmel zu katapultieren.<br />
Das säuselndere "Individualist" ist mir<br />
wie ein paar andere Tracks der EP allerdings<br />
einen Hauch zu tänzelnd in den<br />
fast schon kitschigen Melodien, und erst auf "Watch" findet<br />
sich dieses direkte slammende Gefühl einer perfekten Mischung<br />
aus breiten Chords und klassischem Funk wieder.<br />
www.dirtcrew.net<br />
bleed<br />
ZDS - Hands<br />
[Dirtybird/101 - WAS]<br />
Man mag dieses "Bang The Box" ja schon fast nicht mehr hören<br />
können, so klassisch oldschool ist<br />
das Sample, aber der Track, den ZDS<br />
daraus machen, ist irgendwie doch unverschämt<br />
rockend genug, um sich<br />
schnell damit anzufreunden. Trocken,<br />
bassversessen, leicht verdreht in säuselnd<br />
ulkigen Melodien, die man nur auf<br />
Dirty Bird findet. Mit "Hands" legen sie<br />
noch einen drauf in dem unnachahmlich heiteren klingelnden<br />
Stil der schunkelnd plätschernden <strong>De</strong>epness. Sehr sympathische,<br />
sehr einfache EP, die dennoch zwischen ihren poppigen<br />
Momenten und dem leicht übertrieben sich glücklich in Oldschool<br />
suhlenden Sound perfekt ist.<br />
www.dirtybirdrecords.com<br />
bleed<br />
Halvtrak - Dust Under Bridges EP<br />
[Don't Be Afraid/DBA013 - Clone]<br />
Großartige EP vom ersten Track an. Klapprige Beats, eigenwillige<br />
Strings und Flöten, scheppernde<br />
Drummachines, Oldschool mit einem<br />
Hauch Kitsch der abstraktesten Art,<br />
wühlende Basslines, klimpernde<br />
Kleinstpianos, breite Flächen. Alles will<br />
hier auf einen Sound hinaus, der<br />
manchmal klingt wie die ersten Chicagoexperimente,<br />
überglücklich und verdreht<br />
die Möglichkeiten des elektronischen Equipments in einer<br />
Naivität testend, die man erstaunlicherweise auch jetzt<br />
noch nachempfinden kann, und dabei kicken die Tracks völlig<br />
BORN TO RAVE<br />
FORCED TO WORK<br />
DONNERSTAGS<br />
AB 20 H<br />
HARRYKLEIN<br />
HOUSE & TECHNO<br />
SONNENSTR. 8 · MÜNCHEN<br />
WWW.HARRYKLEINCLUB.DE
<strong>177</strong> — reviews<br />
SINGLES<br />
unbefangen trotz aller Klassik der Oldschool<br />
in den Sounds dennoch so frei<br />
und lässig, als wäre in der Zwischenzeit<br />
nicht eine Revolution im Sound nach<br />
der anderen über uns hereingebrochen.<br />
Wer auf der Suche nach einer Platte ist,<br />
die wie eine frühe Saber klingt, aber<br />
doch im Sound wuchtig und neu, der<br />
braucht diese Platte.<br />
bleed<br />
Bell Boys - Hotel Game EP<br />
[Discovery Recordings/006]<br />
Elegant schwummrige EP aus Chicago<br />
mit sanften Discountertönen, leicht<br />
kratzigem Sound und einem guten<br />
Gespür für den leicht verrufenen Kitsch,<br />
der dem Namen der EP sehr gut steht.<br />
Feine schillernde Chords und gelegentlich<br />
auch mal einen Hang zu etwas zu<br />
poppigen Momenten, ist es für mich<br />
vor allem das zarte säuselnde "Prayer<br />
Furnace", dass die EP zu einem Muss<br />
macht.<br />
bleed<br />
STL / L'estasi <strong>De</strong>ll'Oro - Einig Eins<br />
[Flaneur Audio/FA 07 - Rush Hour]<br />
Hit & Miss bei STL: "Satisfied Bit" will<br />
einfach anders<br />
sein und genau<br />
deshalb auch<br />
keine Freunde,<br />
geschweige<br />
denn Likes auf<br />
Facebook. Das<br />
ist bei "Hometown"<br />
schon ganz anders. Mit Zeitlupen-Break,<br />
schwerem Traditions-Acid<br />
und dem Fauchen des mechanischen<br />
Tigers. Sehr, sehr gut. L'estasi <strong>De</strong>ll'Oro<br />
will mir mit seinen sägenden Klöppel-<br />
Epen dann die ganze Zeit was sagen,<br />
das mir beim besten Willen nicht einleuchtet.<br />
thaddi<br />
Kry Wolf - Nightmode EP [Food Music]<br />
Die beiden Tracks von Kry Wolf sind ein<br />
wenig überfrachtet<br />
im Sound und<br />
kitschig in den<br />
Melodien und<br />
wirken manchmal,<br />
als hätte jemand<br />
versucht<br />
aus Bass dufte<br />
<strong>De</strong>ephouse-Pop zu machen. Ist ja nicht<br />
selten. <strong>De</strong>r Pedestrian-Mix aber, mit<br />
seinen rotzigen Acidbassline und dem<br />
kantigeren Groove, den unterschwellig<br />
eingeschleusten Vocals und verdrehten<br />
Breaks, macht daraus trotzdem einen<br />
Killer.<br />
bleed<br />
Jimpster - Porchlight<br />
& Rocking Chair Remixes Pt. 2<br />
[Freerange Records - WAS]<br />
Tanner Ross ist immer gut. In seinem<br />
Remix für Jimpster<br />
schafft er es<br />
locker seine<br />
spartanischen<br />
Beats und die<br />
säuselnde Melodie<br />
von "Brought<br />
To Bear" in einen<br />
eigenwilligen Einklang zu bringen und<br />
so die einfache poppige Melodie irgendwie<br />
um Längen zu erhöhen. <strong>De</strong>etron<br />
hingegen klingt so, als habe er auf zwei<br />
Versionen den Dreh nicht so ganz gefunden,<br />
was mit der Stimme anzufangen<br />
wäre. Zweischneidig.<br />
www.freerangerecords.co.uk<br />
bleed<br />
Lukas - Back To Boogie EP<br />
[Futureboogie Records/021]<br />
Endlich mal eine entspanntere Platte<br />
auf Futureboogie.<br />
Lukas legt<br />
sich gerne breit<br />
in die Pianos,<br />
den etwas übertrieben<br />
direkten<br />
Funkysound von<br />
kurzen Gitarrenlicks<br />
und Orchesterhits, aber findet auf<br />
den vier Tracks dennoch eine gute Gewichtung<br />
zwischen Popmomenten und<br />
sympathisch deepem Soul. Vier einfache,<br />
aber durch und durch sympathisch<br />
kickende Housetracks der alten Schule.<br />
bleed<br />
Topper - Slot Machine<br />
[Goodvibe Records/015]<br />
Sehr schöner Track mit diesem warmen<br />
alles unterfütternden<br />
Grundchord<br />
der sich<br />
wie ein roter Faden<br />
durch das<br />
gesamte Stück<br />
zieht und eine<br />
Stimmung erzeugt<br />
in der der Track einfach nur noch<br />
einer nie kommenden Auflösung zustreben<br />
muss. Spannung ohne Auflösung<br />
ist schon immer eine der besten<br />
Methoden gewesen, um einen Track<br />
zeitlos dahingleiten zu lassen. <strong>De</strong>r Rest<br />
der EP ist leider eher klassisch bumpender<br />
Minimalsound, mal jazzig angehaucht,<br />
mal eher typisch abstrakt als<br />
purer Groove mit ein paar Nebengeräuschen<br />
und auch der Remix ist nicht<br />
wirklich herausragend.<br />
bleed<br />
Ghost Mutt - Rumble Pak<br />
[Donky Pitch/DKY13 - Kudos]<br />
Keine leichte Kost hat Ghost Mutt mit<br />
seiner neuen Single bei Donky Pitch<br />
zu präsentieren. Seine mannigfaltigen<br />
Einflüsse aus Grime, Jungle und R&B-<br />
Produktionen werden hier zu einer<br />
abwechslungsreichen Melange vereint.<br />
Das ist heftiger Stoff, der Tänzer im<br />
Club vor einige Herausforderungen<br />
stellt. Spannende Brüche, verfremdete<br />
Vocals treffen auf Synthielinien, die mit<br />
trockenen Beats kombiniert werden.<br />
Das Titelstück gönnt einem nur kurze<br />
Pausen und ist vollgepackt bis obenhin.<br />
In einem DJ Set der progressive Beats-<br />
Fraktion erfüllt es sicher seine Funktion.<br />
Die drei anderen Produktionen gehen<br />
nicht ganz so hektisch zu Werke.<br />
www.donkypitch.com<br />
tobi<br />
Kyle Watson - Throwback EP<br />
[Gruuv/027]<br />
"Throwback" ist ein elegant flausiger<br />
zerrissener<br />
<strong>De</strong>ehousebasstrack<br />
mit einem<br />
guten Gefühl für<br />
die Andeutungen,<br />
die früher<br />
mal Microhouse<br />
hießen. Poppig,<br />
aber irgendwie charmant und definitiv<br />
ein perfekter Sommersound. <strong>De</strong>r<br />
deepere Black-Loops-Remix ist auch<br />
sehr funky, und wenn man den inneren<br />
2Step-Freund nicht etwas mehr im Griff<br />
hätte, dann würde man die komplette<br />
EP durchfeiern, so ausgelassen kitschig<br />
duftet das hier vor sich hin.<br />
www.gruuv.net<br />
bleed<br />
Dosem - Atica Remixes<br />
[Halocyan Records/PHC019]<br />
Joey Beltram und DJ Pierre. Schon eine<br />
krude Klassikermischung<br />
die<br />
hier als Remixer<br />
ausgesucht wurden.<br />
Beide hämmern,<br />
beide kennen<br />
keine Gnade<br />
und geniessen es<br />
sichtlich mal wieder den Technohammer<br />
rauszuholen, aber nur beim Pierre<br />
"Hey Wildpitch" Mix kommt diese grollende<br />
Gewitterstimmung voller Explosionen<br />
und berstender Energie auf, die so<br />
ein Track braucht. Auch wenn die Fussballchöre<br />
natürlich übertrieben sind, für<br />
einen Moment ist das Pathos früher<br />
Ravetracks aus Belgien doch wieder<br />
ganz da.<br />
bleed<br />
<strong>De</strong>o & Z-Man - XTC<br />
[Hafendisko/008]<br />
Klassiker. <strong>De</strong>o & Z-Man machen gerne<br />
Hymnen. "XTC"<br />
jubelt zu klassischen<br />
Electrogrooves<br />
der<br />
feinsten Art von<br />
unser aller Lieblingsdroge.<br />
Und<br />
der Gott des<br />
Funk spielt mit. Was auch sonst. Lässig<br />
wie immer stöhnen sie sich an die Spitze<br />
der Euphorie mit Orchester- und<br />
Stimm-Stakkatos und der Dancefloor<br />
singt mit. Wir brauchen viel mehr Hits<br />
auf die sich alle einigen können. Egal<br />
wie dreißt das Thema. <strong>De</strong>o & Z-Man<br />
haben Großes vor. Das merkt man diesem<br />
Track hier überdeutlich an und<br />
deshalb schicken sie ihn auch gleich in<br />
die Remix-Runde mit Erobique und Till<br />
von Sein. Erobique erfindet sich eine eigene<br />
Elephanten-Disco mit Vocoder,<br />
säuselnden Zwergen, Cheapo-Strings<br />
und glitschig gleitendem Popflair. Till<br />
von Sein hält sich eher zurück und verlegt<br />
die Extase auf die späten Stunden<br />
des Abends. Aber sind wir mal ehrlich.<br />
Es kann nur einen geben.<br />
bleed<br />
Headless Horseman - Midnight Ride<br />
[Headless Horseman/003]<br />
Muss zugeben, diese EP der sonst immer<br />
ganz großen<br />
Headless Horseman<br />
ist ein wenig<br />
zu dark geraten.<br />
Auf "Midnight<br />
Ride" jedenfalls<br />
kommt der<br />
schleppende<br />
Groove kaum aus sich raus und johlt im<br />
Hintergrund mit immer darkeren Phantasien<br />
einer panisch ausweglosen Welt<br />
kaputter Dubs. Die Rückseite beginnt<br />
ähnlich, fängt sich aber ein wenig mehr<br />
und entwickelt nach und nach einen<br />
betörend säuselnd darken Funk in den<br />
Harmonien und glitzernden Nebenräumen<br />
der Flächen.<br />
bleed<br />
Pearson Sound - Lola<br />
[Hessle Audio/026 - S.T. Holdings]<br />
Etwas elegisch schleicht sich die EP mit<br />
"Lola" heran, und<br />
will irgendwie<br />
nicht so ganz in<br />
Gang kommen,<br />
egal wie ausgewogen<br />
der<br />
Groove sein mag.<br />
Es fehlt einem<br />
etwas. Und "Starburst" überfrachtet<br />
sich dann mit Raveerinnerungen und<br />
angedeuteten Breaks zu den wummrigen<br />
Basslines, die am Ende auch eher<br />
wie ein Intro wirken. Am besten ist dieser<br />
Sound, der eigentlich vor allem ein<br />
Killergroove sein will, dann auf dem reduzierten<br />
"Power Drumsss" realisiert,<br />
das nur Dummachine, Phaser und Verzerrung<br />
kennt und damit dennoch kickt<br />
ohne Ende.<br />
www.hessleaudio.com<br />
bleed<br />
Trikk - Midnight Sequence EP<br />
[HypeLTD/HYPELTD013]<br />
Folgende Wette: Wer schafft es über<br />
vier Stücke möglichst viele britische<br />
Spielarten unterzubringen? Und<br />
der Gewinner heißt: Trikk. Dubstep-<br />
Bassline? Check. Garage-Groove?<br />
Check. Breakbeat? Zaghaft, trotzdem<br />
check. Schade nur, dass diese ganzen<br />
wunderbaren Nuancen in zeitgemäße<br />
4/4-Konvention gepresst werden.<br />
Führt irgendwie zu unentschlossenem<br />
Durchschnitts-(Tech-)House, der eher<br />
so vor sich hin plätschert, als dass er<br />
voller Tatendrang wüsste wann, wie,<br />
wohin. Habt ihr die auch noch ohne<br />
Gleichschritt-Kick da? Danke.<br />
wzl<br />
Joe - Slope / Maximum Busy Muscle<br />
[Hessle Audio/025 - S.T. Holdings]<br />
Funky und voller mystischer Untertöne<br />
gräbt sich "Slope"<br />
durch seine<br />
warme Bassline<br />
und die knatternd<br />
säuselnd<br />
nervtötenden<br />
Sounds, die sich<br />
in einer breiten<br />
Harmonie auflösen, die dem Stück das<br />
Gefühl geben, eins dieser Epen für ferne<br />
Planeten zu sein, die dennoch irgendwie<br />
im Partykeller mit Freunden am<br />
besten funktionieren. "Maximum Busy<br />
Muscle" ist ein komplexer um die Ecke<br />
gegroovter Track mit scheppernd unterkühltem<br />
Slamfaktor einer durchgedrehten<br />
Jazzband, die den Orinoko in einem<br />
Speedboat runterjagt. Grandios irgendwie.<br />
www.hessleaudio.com<br />
bleed<br />
Kodiak - Dragon Drop<br />
[Hot House Rec/HOTSHIT002]<br />
"Egyptian King" ist mit seinem breiten<br />
Ravepiano und<br />
dem übertrieben<br />
klappernden<br />
Drumsound zu<br />
Vocalstakkato<br />
schon ganz<br />
schön frech. Bis<br />
in die Samples<br />
hinein eine Oldschool-Ravenummer<br />
aus dem Bilderbuch, die dennoch irgendwie<br />
amüsant und locker genug<br />
bleibt, um einem nicht mit ihrer dreisten<br />
Attitude auf die Nerven zu gehen. <strong>De</strong>r<br />
Titeltrack ist eine überwuschige Bass-<br />
Nummer mit hängengebliebenen Vocals<br />
in purer Boygroupsoulphantasie für<br />
Dropssüchtige und mit seinen Mickey-<br />
Mouse-Stimmen auch ähnlich ravig<br />
überzogen. Stilübungen halt. <strong>De</strong>r Eliphino-Remix<br />
geht mir allerdings auf die<br />
Nerven, weil er einfach nicht peinlich<br />
genug unbekümmert dreist ist.<br />
bleed<br />
Trikk - Midnight Sequence EP<br />
[Hype Ltd./013]<br />
Ich kann die Uhr danach stellen, dass<br />
EPs eigentlich erst nach dem Titeltrack<br />
interessant werden. Wobbelnde Basslines<br />
und tolle Soundeffekte sind wirklich<br />
nicht alles. Auf dem housigeren Stück<br />
mit albernen Raggasampleeffekten<br />
zieht einen diese Stimmung wenigstens<br />
in die heiligen Hallen des Breakbeatwahnsinns<br />
in Slowmotion, der rubbelige<br />
Technotrack "Labour 91" wummert<br />
voller Klassik mit seinen hymnischen<br />
Stabs und frech eingeworfenen Divenvocals<br />
und "Prime Time" lässt der 909<br />
weiter freien Auslauf und knackt den<br />
Floor mit einer breiten trancigen Fläche.<br />
bleed<br />
<strong>De</strong>nse & Pika - Colt EP<br />
[Hotflush Recordings/HF041 - S.T.<br />
Holdings]<br />
Eigenwillig vollmundiges Piano für Hotflush.<br />
<strong>De</strong>nse &<br />
Pika lassen es<br />
auf dem wuchtigen<br />
"Colt" erst<br />
mal ganz lässig<br />
angehen und<br />
überzeugen mit<br />
einer ausgelassen<br />
angekratzten Hands-In-The-Air-<br />
Stimmung, die vielleicht etwas ravender<br />
geklungen hätte, wenn das Piano nicht<br />
ganz so die Drama-Queen wäre. "Black<br />
<strong>De</strong>ep" ist ein grollend böses Stück, das<br />
einen wieder auf den Boden der harschen<br />
Realität zurückbringt, in denen<br />
wohl die Eingeweide einer Kakerlake zu<br />
Summen scheinen. "Vomee" ist das etwas<br />
überfrachtet flausige Dubstück der<br />
EP, und mit dem Congadings am Ende<br />
überzeugen sie mich auch nicht wirklich.<br />
www.hotflushrecordings.com<br />
bleed<br />
Aufgang - Ellenroutir Remixes<br />
[Infiné - Rough Trade]<br />
Midnight HipHop erinnert mich stärker<br />
als alles an die<br />
frühen Zeiten von<br />
MoWax. Schleppende<br />
dunkle<br />
Beats, Piano,<br />
eine übernächtigte<br />
Stimmung,<br />
dieses leicht Darke<br />
der Verlassenheit, kantig und dennoch<br />
voller Funk. Eigentlich aber soll es<br />
ja um die "Ellenroutir"-Remixe gehen.<br />
Arnaud Rebotini macht einen süßlich<br />
schimmernden funkigen Poptrack für<br />
den Floor draus, Anton Zap ein sich<br />
überdreht in den weiten Flächen der<br />
Synths suhlendes Stück Begeisterung<br />
für die Grenze des smoothen Sounds<br />
und Leem ein Funkstück für Kleinkinder<br />
mit leichter Messie-Tendenz. Vom Original<br />
ist kaum etwas wiederzuentdecken.<br />
Nirgendwo. <strong>De</strong>nnoch aber sehr unterhaltend<br />
als Ganzes.<br />
www.infine-music.com<br />
bleed<br />
TRAPEZ 148<br />
NICOLAS BOUGAÏEFF<br />
DECOMPRESS EP<br />
TRAUM V169<br />
RYAN DAVIS<br />
STATE OF MIND<br />
TRAUM V168<br />
EXTRAWELT<br />
THE INKLING<br />
TRAPEZ 147<br />
ALEX UNDER<br />
ACTIVIDADES PARA NORMALES<br />
TRAPEZ LTD 130<br />
MORITZ<br />
OCHSENBAUER<br />
TRAPEZ LTD DIG 1<br />
INNER POCKET<br />
MOVES VOL. 1<br />
MBF 12108<br />
KONSTANTIN<br />
YOODZA<br />
TELRAE 020<br />
SALZ<br />
REWORKS PT. 5<br />
WWW.TRAUMSCHALLPLATTEN.DE JACQUELINE@TRAUMSCHALLPLATTEN.DE HELMHOLTZSTRASSE 59 50825 COLOGNE GERMANY FON ++49 (0)221 7164158 FAX ++57<br />
74
<strong>177</strong><br />
singles<br />
Dominic Petrie - Tomorrow Now EP<br />
[Ingredients Records/RECIPE038]<br />
Wie die erste Schall schluckende<br />
Schneedecke<br />
des Winters legt<br />
sich Dominic Petries<br />
<strong>De</strong>büt-EP<br />
"Tomorrow Now"<br />
über das hektische<br />
Treiben der<br />
Großstadt. Ganz<br />
geheimnisvoll schwoft sie durch die<br />
frostigen Nächte. Alleine, aber nicht<br />
einsam. Sie lädt zum Durchatmen ein<br />
wie eine rote Ampel. Regt zum Nachdenken<br />
an wie eine Arte-Dokumentation.<br />
Ganz sanft tröpfelnder Drum &<br />
Bass, der aber nicht versucht, keiner zu<br />
sein. Liquid jazzig und reduziert soulig<br />
legt Petrie Fährten zu den Boards Of<br />
Canada und LTJ Bukem gleichermaßen.<br />
Ingredients Records wird seiner Rolle<br />
als seismographische Talentschmiede<br />
wieder einmal gerecht und gräbt für uns<br />
diesen jungen Schotten aus. Dabei war<br />
eigentlich nur eine Single geplant. Doch<br />
die <strong>De</strong>mos begeisterten im Hause Ingredients<br />
so sehr, dass das Motto der<br />
EP missbraucht wurde und nun prompt<br />
für alle sieben Stücke herhalten muss,<br />
die Petrie einschickte. Gut so!<br />
ingredientsrecords.blogspot.de<br />
ck<br />
Kirk <strong>De</strong>giorgio -<br />
Unreleased 1991-1992<br />
[Indigo Aera/009 - Rush Hour]<br />
Gerade eben erst hat <strong>De</strong>giorgio ja mit<br />
seinem Album<br />
"Sambatek" ordentlich<br />
und das<br />
erste Mal seit<br />
langem wieder<br />
auf die Bassdrum<br />
gesetzt. Da<br />
bietet es sich an,<br />
den einen oder anderen Track aus den<br />
guten alten Zeiten gleich noch hinterher<br />
zu releasen, wo man doch gerade ein<br />
Sekündchen Aufmerksamkeit hat. 91,<br />
92: Das war ja eh die perfekte Zeit. Und<br />
so zeigen sich die vier Stücke hier als<br />
genau die Portion <strong>De</strong>epness, die man<br />
sich erhofft hatte. Immer zackig in den<br />
Beats, immer unendlich in allem anderen.<br />
Ganz und gar fantastisch und natürlich<br />
um Meilen besser als alles der<br />
Retro-Krabbelgruppe 2013.<br />
thaddi<br />
Close - Wallflower<br />
[!K7 - Alive]<br />
Ich muss zugeben, das Close-Album<br />
ging völlig an mir vorbei. Dieser Track<br />
hier ist mir einfach auch viel zu kitschig.<br />
Aber es geht ja um die Remixe und<br />
Kyle Hall macht seine Sache mit dem<br />
schluffig fein ziselierten Oldschoolgroove<br />
voller warmer Chords und leicht<br />
brüchiger Hintergründe einfach perfekt.<br />
Extrem schimmernd süßlicher Housetrack,<br />
der die Vocals zurückgenommen<br />
aber perfekt einsetzt. Huxley und <strong>De</strong>etron<br />
kommen aber um das eher darke<br />
Pathos des Originals nicht herum.<br />
www.k7.com<br />
bleed<br />
Massprod & Herva - Technology Fail<br />
as a Birth Control for Unnecessary<br />
Recordings<br />
[Kontra-Musik/kmwl006 - Clone]<br />
Das italienische Gespann kann ja den<br />
Stab ganz entspannt<br />
übernehmen,<br />
so wie Frak<br />
auf den bisherigen<br />
KMWL vorgelegt<br />
hat. Dass<br />
das neue Team<br />
nicht aus minder<br />
knorrigem Holz geschnitzt ist, verraten<br />
schon die Tracktitel, und es erweist sich<br />
gleich als Meister kunstvoll verdreckter<br />
Soundästhetik- und Arrangement-Attitüde.<br />
Die zwei A-Seiten-Tracks verführen<br />
mit jazzigem Electrofunk respektive<br />
federnd steppendem House, und kaum<br />
schaut man sich zwischen den Loops<br />
ein bisschen um, sondiert die Percussion,<br />
die als exotischer Kerschel noch<br />
aus der Kolonialzeit rumliegt, etwas genauer,<br />
wechselt das Licht, ein Geheimgang<br />
geht auf, eine Falltür, schon sind<br />
wir mitten in einer abseitigen Giallo-<br />
Episode, in der nichts mehr ist, was es<br />
scheint. Auf der B verstecken wir uns<br />
dann in zwei feuchten Kellern, in denen<br />
in den Neunzigern mal Cheap Records<br />
zu Hause waren, wo wir uns mit einem<br />
minimalen Drum-Workout sammeln,<br />
um uns danach hinzulegen und gehörig<br />
im Acid-Wald zu verlaufen. Bitte genau<br />
so weitermachen.<br />
www.kontra-musik.com<br />
multipara<br />
Matt Tolfrey feat.<br />
Marshall Jefferson - The Truth<br />
[Leftroom/042]<br />
Keine Frage, Geeeman rockt hier alles<br />
in Grund und Boden.<br />
Irgendwie<br />
klingt seine Version<br />
des Tracks<br />
aber auch verdächtig<br />
nach<br />
Arttu. Sind sich<br />
aber eh sehr nah.<br />
Die <strong>De</strong>ep-Vox-Voyage jedenfalls hat alles,<br />
was ein knallig bassiger Killeroldschooltrack<br />
so braucht. Und die Vocals<br />
von Marshall Jefferson könnten keine<br />
bessere Umgebung bekommen. Das<br />
Original ist dagegen irre gestelzt blumiger<br />
Durchschnittsbummeldeephouse.<br />
bleed<br />
Land Shark - Tie Me Up<br />
[Leftroom Limited/034]<br />
Jetzt noch mehr Remixe? 8? Vielleicht<br />
etwas viel. Vor<br />
allem weil der<br />
einzige Remix<br />
hier, der am Ende<br />
doch über sich<br />
hinauswächst,<br />
der Chicken-<br />
Lips-Mix ist und<br />
auch der natürlich schon draußen war.<br />
Wenn ich es richtig sehe, sind die neuen<br />
Mixe hier die von der PBR Streetgang<br />
und Yousef Circus, aber irgendwie sind<br />
die völlig überfrachtet.<br />
bleed<br />
Vessel - Misery Is<br />
A Communicable Disease<br />
[Liberation Technologies/006 - Good<br />
To Go]<br />
Na dann hoffen wir mal, dass sie uns<br />
das nicht übertragen<br />
wollen.<br />
<strong>De</strong>r Titeltrack<br />
knattert mit seiner<br />
brachial<br />
deepen Maschinengewehrästhetik<br />
allem voran<br />
und braucht eine Weile, bis er sich in<br />
den breiten Chords und Harmonien ergeht,<br />
die aus dem kämpferischen Hintergrund<br />
der hämmernden Grooves<br />
eine Beschwörung machen. Kaputter<br />
noch das abenteuerliche "VMI", das mit<br />
quietschigen Trümmersounds aufwartet,<br />
die klingen, als hätte man gerade<br />
erst seinen ersten Synth zusammengeschraubt<br />
und wäre jetzt mitten in den<br />
experimentellsten Phasen der frühen<br />
80er-Exploration gelandet. "Not For <strong>De</strong>sign"<br />
rundet die EP dann mit einem Kaputtnik-Dub<br />
ab, der schleppend und<br />
böse in sich selbst versumpft.<br />
liberationtechnologi.es<br />
bleed<br />
Palms Trax - Equation EP<br />
[Lobster Theremin/LT 001<br />
- Rush Hour]<br />
One for the watchlist. Palms Trax legt<br />
auf dem neuen<br />
Label beeindruckend<br />
vor und<br />
verzaubert vor<br />
allem mit den<br />
beiden Stücken<br />
der A-Seite. <strong>De</strong>r<br />
"Late Jam" ist<br />
mindestens so weich wie das Schnuffeltuch<br />
von Linus, dabei aber eigentlich in<br />
beinhart triolisches 707-Beton gegossen.<br />
Und dass mir niemand mit Darkness<br />
kommt, wenn es um den Titeltrack<br />
geht. <strong>De</strong>r ist einfach nur rot. Und somit<br />
perfekt. "Houses In Motion" ist mir mit<br />
seinen Digitalsounds und vor allem der<br />
großindustriellen Kuhglocken dann<br />
doch arg heftig homogenisiert. Willie<br />
Burns macht das in seinem Remix vom<br />
"Late Jam" dann aber wieder weg. Und<br />
wett. Killer-EP!<br />
thaddi<br />
Le Vinyl & Javi Bora - We Are Back EP<br />
[Liebe * <strong>De</strong>tail/026]<br />
Die vier Tracks der beiden schwanken<br />
zwischen smoothem Housesound mit<br />
Popgesang und latinartigen Perkussiontracks<br />
die schon mal etwas überzogen<br />
in den Samples wirken können.<br />
Klassisch durch und durch wummst das<br />
in den manchmal überdrehten Breaks<br />
doch zu sehr nach einem Schema, dass<br />
man eigentlich überhört hat, aber gerade<br />
auf dem poppigsten Track "True"<br />
überzeugt einen das Vocal einfach so<br />
sehr, dass klar ist, der Track wird ein Hit.<br />
Egal ob die "what you gonna do when<br />
they come for you"-Zeile geklaut ist.<br />
bleed<br />
Jimmy Edgar - Mercurio EP<br />
[LVX003/LVX003]<br />
Die Tracks klingen manchmal wie eine<br />
Mischung aus<br />
solidem Chicagobrachialsound<br />
der ersten Stunde<br />
und einem etwas<br />
versponnen<br />
flausigen Experiment<br />
mit zirpenden<br />
Klängen. Wir stellen uns vor, jemand<br />
hätte "The Original Videoclash"<br />
mit digitalem Voodoo aufgeblasen und<br />
wäre am Ende dennoch bei einem ravenden<br />
Monstertrack gelandet. So ähnlich<br />
funktioniert der "Ultraviolet", während<br />
"Qlinda" eher ein housig orgelndes<br />
Stakkato für Freunde eines frühen New-<br />
York-Sounds ist und der Titeltrack fast<br />
schon booty an seine Reminiszenzen in<br />
digitaler Flausigkeit heran geht. Sehr<br />
sympathisch.<br />
bleed<br />
Anja Schneider - Hey / Rio<br />
[Mobilee - WAS]<br />
Tja. Hm. Warum grüßt Anja Schneider<br />
Ron Hardy? Warum<br />
Chicago?<br />
Sonst nicht ihre<br />
Stärke. <strong>De</strong>r<br />
Groove von<br />
"Hey" ist einfach,<br />
schnippisch, direkt<br />
und funky<br />
und wie erwartet oldschool bis hin zur<br />
Acidbassline. Ein kleiner Oldschoolhit<br />
für zwischendurch. "Rio" geht einen<br />
ähnlich gedämpften ruhigen Weg mit<br />
etwas mehr Melodie im Hintergrund<br />
und rundet die Platte gut ab. Fast<br />
schüchternes Release zur Besinnung.<br />
www.mobilee-records.de<br />
bleed<br />
Katzuma/Souleance - Zoooriginals#2<br />
[Original Culture/OSZOO002]<br />
Ein einfaches Konzept fährt die Non-<br />
Profit-Organisation Original Cultures<br />
hier: 2 Originale von unveröffentlichten<br />
Tunes, eine limitierte 7" und ein visueller<br />
Künstler. In dieser Ausgabe dürfen<br />
Katzuma und das gemeinsame Projekt<br />
von Soulist und Fulgeance ran. <strong>De</strong>r Italiener<br />
gibt uns klassischen House mit<br />
"Hände in die Luft"-Attitüde. Ein Gute-<br />
Laune-Tune mit ordentlich Percussion,<br />
souligen Vocals, treibendem Groove<br />
und schönen Keys. Nichts Neues, aber<br />
bewährte Qualität. Die B-Seite der<br />
beiden Franzosen ist da etwas diffiziler,<br />
aber geht auch ordentlich in die Beine.<br />
Nur eben nicht so gerade, sondern mit<br />
gebrochenen Beats und einer fetten<br />
Bassline. Eine Extended Version des<br />
Katzuma Tunes gibt es im Netz für lau.<br />
www.originalcultures.org<br />
tobi<br />
Drum Talk - Face Like Thunder<br />
[MoreMusic/018]<br />
Sehr trocken im Sound, geht es auf dem<br />
Titeltrack vor allem<br />
um die locker<br />
rollende<br />
Bassline, die<br />
Claps, den ausgewogen<br />
klaren<br />
Killersound aus<br />
Bassline, Stabs<br />
und purer Technoideologie der ersten<br />
Stunde. Ein Fest auch die Bleeps und<br />
der unerwartet poppig überzogene<br />
Donner im Track. "Ratio" ist ein tragisches<br />
Stück verwirrter Orgel in schwankenden<br />
Harmonien mit einem fast paukenartigen<br />
Groove, der in seinen<br />
schmorenden Basslines perfekt aufgeht.<br />
Eine fast albern überdreht lässige<br />
EP, auf der nur der Remix von XXXY irgendwie<br />
banal wirkt.<br />
bleed<br />
Adham Zahran<br />
Spacebound<br />
[Neovinyl Recordings/034]<br />
Einfach und klassisch schleppend in<br />
seinem deepen<br />
Housesound mit<br />
Orgeln, Bässen<br />
bis an die Belastungsgrenze,<br />
Soulvocals und<br />
einem todsicheren<br />
Gespür für<br />
einen sehr langsam lethargisch verführerischen<br />
Aufbau. "Spacebound" ist<br />
natürlich auf die breite detroitige Fläche<br />
aus, "Back To Ryhthm" auf den Funk der<br />
zischelnd verliebten Intensität auf dem<br />
Floor, die ebenso alles aus der ersten<br />
tiefsten <strong>De</strong>troiterinnerung zieht, aber<br />
dennoch gefällt mir das dunkle klappernde<br />
"On My Own" am besten, das<br />
mich bis in die Rimshots und Flächen<br />
an die frühen Fragile-Releases erinnert.<br />
Ein Fest für alle, die klassische<br />
<strong>De</strong>troitsounds immer noch wie am ersten<br />
Tag lieben.<br />
bleed<br />
Myles Serge / Whim-ee - You Like It D<br />
[Night Drive Music/030 - <strong>De</strong>cks]<br />
Myles Serge und Whim-ee teilen sich<br />
diese wundervoll<br />
harmonische<br />
House-EP mit 4<br />
Tracks, die vom<br />
ersten Moment<br />
an in diesem<br />
warmem smooth<br />
gleitenden<br />
Sound gefangen sind, der einen auf den<br />
Floor mehr noch entführt als zwingt.<br />
Beide Tracks mit diesem sicheren Gefühl<br />
immer genau den richtigen Ton zu<br />
treffen und bei aller Sanftheit dennoch<br />
zu slammen, und die gegenseitigen Remixe<br />
sind ebenso bezaubernd. Schlichte<br />
und durch und durch schöne Platte.<br />
www.night-drive-music.com<br />
bleed<br />
Objekt - Agnes <strong>De</strong>mise / Fishbone<br />
[Objekt/003]<br />
Was für ein Irrsinnssound. Zerrig spröde<br />
Bassdrums,<br />
sphärische Hintergründe,<br />
klassische<br />
frühe<br />
Post-Aphex-<br />
Schule könnte<br />
man denken,<br />
aber dann wird<br />
das Geschnatter immer wilder, die<br />
Sounds sehr verdreht und gespenstisch<br />
und der Groove am Ende doch purer<br />
Funk. Zwei abenteuerliche Tracks aus<br />
den Tiefen einer Szene, die wir schon<br />
fast vergessen hatten.<br />
bleed<br />
Limo - My Sunday EP<br />
[Out-Er/009]<br />
Limo beginnt seine EP sehr zuckrig, mit<br />
einem fast ambienten<br />
Stück und<br />
lässt sich erst<br />
danach auf die<br />
treibend kickenden<br />
Bässe und<br />
Chords ein, die<br />
seinen Sound<br />
sonst so ausmachen, und sich hier auf<br />
"Based" noch mit perfekt gebogenen<br />
Acidlines paren. Treibende trockene<br />
Grooves mit satten brilliant rockenden<br />
Bässen und darken Vocals bestimmen<br />
auch den Roman-Lindau-Remix, der<br />
dieses treibend massive Gefühl, dass es<br />
hier um nichts weiter geht, als die Konzentration<br />
auf diesen einmal gefundenen<br />
Groove, auf die Spitze treibt.<br />
bleed<br />
North Lakes - Moonwalker EP<br />
[Phonica/009 - WAS]<br />
Mir ist nicht so ganz klar, warum diesen<br />
Monat alle beschlossen haben, die alten<br />
Synths der 70er wieder herauszuholen<br />
und in den Hooklines die merkwürdigsten<br />
Progressive Rock Epigonen<br />
übertreffen zu wollen. Ist aber so. Auch<br />
75
<strong>177</strong> — reviews<br />
Singles<br />
hier. North Lakes "Marlborol Noir" genießt seine Arps bis zum<br />
Umfallen und säuselt in breitem Kitsch zu einem eher nebensächlichen<br />
Groove. "Suomi Kutsuu" ist ähnlich verträumt und<br />
kitschig und auch "Moonwalker" könnte für einen blumigen<br />
SciFi aus den 70ern als Titelmelodie herhalten, selbst die<br />
Drummachines mit ihren Voreinstellungspatterns passen hier<br />
perfekt.<br />
www.phonicarecords.com<br />
bleed<br />
Ambassadeurs - Alone In The Light EP<br />
[Pilot Records]<br />
Ziemlich grandiose quietschiger Wahnsinn den dieses "Ardour"<br />
da anzettelt. Smoothe Basswelten<br />
mit eirigen Melodien und einer<br />
Grundstimmung und Vocals die klingen<br />
als hätte jemand auf Breakbeatbasis die<br />
Cocteau Twins neuerfinden wollen. Mit<br />
aller Süße und allem Glanz, dieser Naivität<br />
der leicht esoterischen Begeisterung<br />
und den noch einem etwas überzogen<br />
orchestralen Funk. Die EP geht auch weiter in diese<br />
Richtung, lässt die Stimmen ganz dünn säuseln und unterfüttert<br />
sie mit zu viel harmonischem Bass, lässt alles ganz groß<br />
inszenieren, nähert sich dabei aber oft einen Schritt zu sehr<br />
einem etwas willentlich aufgenommenen Popgestus, der den<br />
Stücken viel von ihrer Intensität entzieht.<br />
bleed<br />
Daso - Awake At Night EP<br />
[Private Gold/006 - WAS]<br />
Daso kann Kitsch. Immer wieder schleicht er sich von einer<br />
anderen Seite an die Harmonien heran,<br />
lässt sie wie Butter zergehen und scheut<br />
selbst vor einem zarten Hauch Autotune<br />
nicht zurück. Während der Titeltrack<br />
sich diesem Zuckersüßen widmet, wird<br />
es auf der Rückseite aber einen satten<br />
Hauch zu trancig. Wirklich.<br />
bleed<br />
Daze Maxim - drf<br />
[Randform/003 - Intergroove]<br />
Eigentümlich erstickt wirken die abstrakten Grooves von Daze<br />
Maxim hier. Schnippisch gegen den<br />
Strom geschwommen. Lange Exkursionen<br />
in Konzentration auf diesen einen<br />
Loop voller kantigem Swing. Zwei Stücke<br />
die egal ob auf den Funk oder die<br />
Harmonie konzentriert, sehr in sich verschlossen<br />
bleiben, aber doch einen unausweichlichen<br />
Charme vermitteln.<br />
bleed<br />
Rhythmic Theory - Siren Song<br />
[Rhythmic Theory/002 - Hardwax]<br />
Mit ordentlich Distortion schunkelt es sich doch einfach besser.<br />
Oder? Wer nein sagt, muss nicht<br />
weiterlesen. Bristol auf Overdrive. Dabei<br />
aber gar nicht so trocken, wie man jetzt<br />
vielleicht vermuten könnte. Zumindest<br />
die A-Seite, vielleicht inspiriert vom fast<br />
gleichnamigen Buckley-Song, kuschelt<br />
mit einem digitalen Etwas ziemlich verfiltert<br />
ganz nah ran an die Essenz. Und<br />
"Genesis" ist der Urknall, den der Titel verspricht. Sehr gut!<br />
thaddi<br />
The Revenge - <strong>Bug</strong>les Of Truth EP<br />
[Roar Groove/004]<br />
The Revenge stehen ja immer für sehr synthbeladene Downtempotracks,<br />
die in schleppender<br />
Glückseeligkeit das perfekte Gefühl<br />
zwischen Oldschool und Reminiszenzkitsch<br />
ausloten und dabei dennoch nie<br />
peinlich sind. Das geschieht auch auf<br />
den 4 Tracks der EP immer wieder und<br />
schwingt sich lässig mit warmen melodischen<br />
Basslines schnell in himmlische<br />
Höhen auf. "Close Encounters Of The Casual Kind" ist so<br />
etwas wie das Motto. Nähe, Lässigkeit, Wärme, alles wie zufällig,<br />
alles wie in einem Glücksfall des Moments eingefangen<br />
und die Euphorie so breit und zeitlos wie man es sich auf dem<br />
ruhigsten Floor wünscht. Ein Traum der sich selbst erfüllt.<br />
"MDMF" ist mir einen Hauch zu nah an frühen wavigen Discoabwegen<br />
aber mit "Oot Yer Nut" und dem mythischen "Can't<br />
Get You Out Of My Mind" Sample zu knuffig knorrigen Funkgrooves<br />
der ersten Chicagozeiten die nicht weit von DBX entfernt<br />
sind, rockt sich das alles wieder gerade. <strong>De</strong>n blumigen<br />
Abschluss findet die EP dann auf dem Track mit Jesse Rennix<br />
der geradezu in sanften Housechords zerfliesst.<br />
bleed<br />
Alci - Early Beginnings Part 3<br />
[Robsoul/128]<br />
Die Tracks von Alci sind immer perfekt ausgelotete <strong>De</strong>ephouse<br />
Swinger mit extrem smoothen Grooves und einem Hang ein<br />
zentrales Sample fast in Wildpitch-Art durchzuschleifen und<br />
dabei dennoch nicht auf der Stelle zu bleiben. Lässige Beats,<br />
dezente Jazzanklänge, diskreter Funk. Manchmal ist das mehr<br />
als genug und flattert so überragend schlicht, aber dennoch<br />
voller Intensität über den Floor, dass es immer stimmt.<br />
www.robsoulrecordings.com<br />
bleed<br />
Cosmin TRG - Panoramic EP<br />
[Running Back/RBTRG-1 - WAS]<br />
Ein perfekt arrangiertes Handausrutschen. Cosmin lässt<br />
flattern. Auf dem Titeltrack mit Restgeräusch unten und pointierten<br />
Verschiebungen oben. Eine ausgesprochen trockene<br />
Angelegenheit, bei der nur die HiHats die adäquate Portion<br />
Nässe ausschütten und einen rundum zufriedenen Bounce<br />
zurücklassen. "Belvedere" rauscht an uns vorbei wie ein ICE<br />
an der wartenden Regionalbahn in Kleinkleckerdorf. Nächster<br />
Halt: Peak! Später landet dann noch eine Boeing auf der Hochgeschwindigkeitstraße,<br />
aber da sind die meisten DJs schon<br />
beim nächsten Track. "Aurora" leuchtet hell, kultiviert das<br />
Schnarren der Unendlichkeit und presst es praktischerweise<br />
gleich noch in die kleinsten Getränkedosen der Weltgeschichte.<br />
Ein Mal deepness on the rocks? Und bitte.<br />
www.running-back.com<br />
thaddi<br />
Rodney Barkerr - Rockin' House<br />
[Rushhour/RH 019 - Rush Hour]<br />
Vier Mal blubbernder Oldschool aus Chicago. Ein "lost gem",<br />
wie man so sagt, Tracks, die es nie über ein paar White Labels<br />
hinaus geschafft haben. Und die waren teuer. Dann doch lieber<br />
richtig releasen. So ein Sound, der wird nie alt. Jackt, rockt und<br />
Herr Barkerr (wofür das zweite R steht, bleibt unklar) hat ein<br />
derartig sicheres Händchen für die Filtersweeps, dass es eine<br />
reine Freude ist. Jackt. Rockt. Funkt. Aber, und das ist das Tolle,<br />
nie in die Tiefe, sondern immer nur nach vorn. Und vielleicht<br />
auch ein bisschen in die Breite.<br />
www.rushhour.nl<br />
thaddi<br />
Indigo - The Storm<br />
[Samurai Red Seal/REDSEAL022]<br />
Ein Hoch auf die Geschichte. Während sich Liam Blackburn<br />
ruhig und überlegt auf Apollo austobt, geht es hier um reine<br />
Oldschool-Energie. D&B, Half-Step, nennt es wie ihr wollt.<br />
"Spirit Of The Winds" (mit Versa) ist soweit draußen wie der<br />
Teil des Universums, aus dem Source Direct nie zurückgekehrt<br />
sind. Und funktioniert doch eben komplett anders. Zum Glück.<br />
Das liegt nicht nur daran, dass falsches Timestretching heute<br />
einfach immer noch besser klingt als 1995. <strong>De</strong>r Titeltrack dann<br />
ist ganz nah dran am reduzierten Zeitgeschehen des Post-Everything.<br />
Und "Condition" ist ein Hilferuf der besonderen Art.<br />
Lieber Sven Weisemann, komm nach Manchester und mach<br />
mit mir Musik. Unsere vier Hände können die Welt verändern.<br />
Da warte ich jetzt mal drauf.<br />
www.surus.co.uk/samurai-music<br />
thaddi<br />
Manuel Belgrano - Stoned In Tandil Ep<br />
[Savordigital/009]<br />
Funky wie ein Bremsstreifen auf der Autobahn. <strong>De</strong>r Titeltrack<br />
rollt und rollt, lässt seinen Bass und den<br />
wuscheligen Congas viel Auslauf, sammelt<br />
sich in einem Energiebündel aus<br />
purem Flow, und genau diesen Sound<br />
zieht die EP auch weiter durch. Bollernd,<br />
leicht plastilinartig, schwergewichtig,<br />
aber mit Finesse und immer bedacht<br />
auf dieses dunkle Rollen der Beats, die<br />
hier einfach alles sind. Musik wie aus der Wüste der endlosen<br />
Fahrten durch den einzigen Tunnel.<br />
bleed<br />
Samuli Kemppi - A Last Day On Earth<br />
[SCR Dark Series/004]<br />
3 darke in sich verschlossene Technomonster mit leichten<br />
Acidanklängen, die perfekt gewesen<br />
wären für die Zeit, als man Techno noch<br />
in verlassenen Warehouses mit viel<br />
Strobo und Nebel gefeiert hat. Nicht<br />
stampfig, sondern sequentiell vielseitig,<br />
schleichend und immer eher auf die<br />
abseitig außerweltliche Stimmung geeicht,<br />
nie zu dark oder willentlich depressiv,<br />
sondern eher von diesem dunklen inneren Funk beseelt,<br />
der solche Tracks immer wieder zeitlos machen kann.<br />
bleed<br />
Skirt - Wish In The Maze<br />
[Semantica/SEMANTICA28]<br />
Eine eingängige, verheißungsvolle Grundrhythmik, eine graudunkle,<br />
intensive Grundstimmung.<br />
Dazu eine tiefenlastige Avant-Techno/<br />
Computer-Music-Bassdrum, besonders<br />
langsam schlagend, perfekt in den<br />
größeren Kontext des Stücks eingesetzt,<br />
sowie eine schnell pulsierende,<br />
unnachgiebig nach vorne drängende<br />
und doch eher dezente HiHat. So lässt<br />
sich Skirts Stück "Wish In The Maze" in Kürze zusammenfassen.<br />
Besonders gelungen sind zudem die beiden Remixversionen<br />
von Inigo Kennedy bzw. Ancient Methods, die die "Ambivalenz“<br />
der Tempi der Bassdrum bzw. Hi-Hat, die einander<br />
jedoch gut ergänzen, ja sogar befruchten, ausdeuten, weiterdenken<br />
und in ihrer jeweiligen Form überspitzen. So wird der<br />
Ancient-Methods-Remix – natürlich - ein Stück zerstörter,<br />
schneller und härter als die Ursprungsversion. Die Grundidee<br />
– die Grundrhythmik – bleibt aber bei allen Stücken erhalten.<br />
Eine EP mit hohem Wiedererkennungswert.<br />
jonas<br />
&ME - Blitz / Number 9<br />
[Saved/009]<br />
Die neue &ME ist extrem konzentriert. Wogende Bässe, die<br />
fast entkernt wirken, schwere stapfige Grooves, die noch tiefer<br />
in den Sound hineinsteigen, knarrige Basslines ganz weit<br />
unten. Alles wirkt hier, als wolle es sich vom ersten Moment<br />
an ganz in diesem Phantasma aus krabbelnd warm versponnenem<br />
Sound einsinken lassen, der am Ende irgendwie immer<br />
experimenteller wirkt, so, als hätte wer einen Blick zu tief in<br />
die Chips gemacht, wäre dabei dennoch voller Eleganz und<br />
Spannung auf die Huldigung der Elektrizität konzentriert. Ein<br />
Monster in tiefster Konzentration. "Number 9" führt diesen<br />
groovend abstrakten Sound dann mit tänzelnderer Grundstimmung<br />
weiter aus, schwebt erhaben, wie es nur &ME kann, auf<br />
diesem Gewebe aus Groove und Sound, das immer verrückter<br />
wird, auch wenn man es gar nicht merkt, und am Ende hat<br />
man das Gefühl, &ME moduliere den Klang eher, töpferte ihn,<br />
greife tief in den Sound und gebe ihm eine unwahrscheinliche<br />
Gestalt. Gespenstische Platte. Gespenstisch gut und in einer<br />
ganz eigenen Welt angekommen.<br />
bleed<br />
Cesare vs. Disorder - Wide Close Ep<br />
[Serialism/021]<br />
Funky und ausgelassen ravend legt die EP mit "Karaoke Tokyo"<br />
erst mal ganz unbefangen los und bewegt<br />
sich Stück für Stück in immer<br />
abenteuerlichere Melodien und Syntheskapaden<br />
die klingen, als hätte jemand<br />
einen Soundtrack für "The Blade<br />
Runner" schreiben wollen, aber den<br />
Film in ein Feld von Gänseblümchen<br />
versetzt. "Running Late" ist ähnlich<br />
überdreht in den Melodien, aber knatterig funkiger und rast<br />
eher auf sein Ziel zu. <strong>De</strong>r Track mit Quenum, "Just For Fun", ist<br />
ein pulsierend flackernder Soultrack wider Willen, der ein Mal<br />
mehr zeigt, dass hier die Idee im Vordergrund steht. "<strong>De</strong>vils<br />
Lettuce" rundet dieses EP voller überfrachtet spleeniger Synthideen<br />
perfekt ab. Dazu noch ein slammender Remix von<br />
Maayan Nidam für "Karaoke Tokyo", der auf seine ganz eigene<br />
Weise verdreht und kaputt ist.<br />
bleed<br />
Bimas, Mennie, Ghengis Khan & Bill Kill - Raw Cuts Vol. 1<br />
[Snatch Records]<br />
Drei dreist unverschämte Tracks mit überzogenenen Beats,<br />
bollernden Basslines, stampfigen Grooves, dreckigen Vocals<br />
und dieser Wand aus Bass, die alles klingen lässt, als wäre<br />
es so angezurrt überfettet, dass man sich die Bassbins am<br />
liebsten um die Ohren hauen möchte. Prollig und irgendwie in<br />
seiner Dreistigkeit verflixt gut.<br />
bleed<br />
Chris Page - Pronic EP<br />
[Sonntag Morgen/030]<br />
Sonntag Morgen ist immer wieder ein Garant für kompromisslos<br />
darke aber doch solide treibende<br />
Technotracks und hier kommt Chris<br />
Page mit zwei wallenden Monstern in<br />
denen sich die Bassdrums überschlagen<br />
und die Tiefen mit einem satten<br />
Wummern ausgelotet werden. Stellenweise<br />
ist der Sound wie auf "Slug Cherry"<br />
fast erstickend dicht und der Kampf<br />
um die Techno-Krieger wirkt wie fast in den letzten Zügen, aber<br />
die Tragik ist durchaus etwas, das man genießen kann. <strong>De</strong>nnoch<br />
gefällt mir der funkig zischelnde Remix von Jay Clarke am<br />
besten, der aus "The Last Mrs Tanqueray" einen Sound macht,<br />
der in seiner Intensität manchen frühen Robert Hood Tracks<br />
nahe kommt.<br />
bleed<br />
Christian Burkhardt - Sent The Money Back<br />
[Souvenir/059 - WAS]<br />
Eigenwillig, wie sich Christian Burkhardt immer mehr zu jemand<br />
entwickelt hat, der vor allem mit<br />
unterschwellig melodisch glücklichen<br />
Tracks abräumt. <strong>De</strong>r Titeltrack mit seinen<br />
verwuselten Vocals und der unverschämt<br />
poppigen Bassline z.B. genießt<br />
diese Stimmung einfach, und auch das<br />
zögerlichere "Grace" ist von diesem<br />
knuffig klingelnden Sound ganz gefangen.<br />
"Keep It Dirty" ist irgendwie noch in einem Sound gefangen,<br />
in dem es vor allem darum geht, die Beats so richtig fett zu<br />
machen und wirkt etwas unentschlossen, ob es damit nun<br />
dark losraven soll, oder eher sanft pathetisch dahindriften.<br />
www.souvenir-music.com<br />
bleed<br />
V.A.<br />
[Studio R/002]<br />
Die scheinen das ernst zu meinen. Alles andere wäre auch eine<br />
Katastrophe gewesen. Nach dem fulminanten<br />
ersten Teil der Compilation-Serie.<br />
Während das Kerngeschäft, der<br />
Stream im Netz, uns von der echten<br />
Welt entkoppelt, setzen die R-Macher<br />
hier auf Vinyl. Thankfully. Dieses Mal<br />
dabei: Soulphiction, der, nicht nur wegen<br />
der französischen Sprache, irgendwie<br />
die Geschichte von Fnac Dance Division endlich weiterdenkt.<br />
Oder einfach nur zu viel Navarre gehört hat in letzter<br />
Zeit: nie verkehrt. Es folgt Daniel Stefanik mit seiner Ode "studio<br />
r", an die Originators also. Mit viel Wind in den Chords und<br />
einer entspannten Hektik, wie sie nur die 909 produzieren<br />
kann, wenn die alte Maschine einfach zu viel auf ein Mal spielen<br />
muss. Genial und latent slammend. Dann: Freund der Familie.<br />
Die treten mit "Kantine" endgültig das Erbe von Chain<br />
Reaction an, bringen gleich Zitronenkuchen mit, um Missverständnisse<br />
zu vermeiden, entlauben die Dubs und vergewissern<br />
sich dabei immer, dass das Agent Orange auch ordentlich<br />
recycled wird. Schließlich kommt noch Doyek mit dem "Night<br />
Park" zum Zuge, einem freundlich und dunkel-schimmernden<br />
Klopfer, der seine Sweeps wie eine Achterbahnfahrt in Zeitlupe<br />
arrangiert und ab sofort auf dem Zettel der Unendlichkeit<br />
steht.<br />
thaddi<br />
DJ Spider & Marshallito - Propaganda For The <strong>De</strong>vil<br />
[Subbass/003]<br />
Wenn das Kind im Echo verschwindet, hat die Bombe schon<br />
ihren Job erledigt. Kalt und öde liegt die<br />
Welt da, nur noch bespielt von einem<br />
Bass, der weit und breit keine Magengrube<br />
mehr findet, die er grummeln<br />
lassen kann. Früher gingen EBM-Konzerte<br />
so los. Dunkel, Nebel, Samples.<br />
Das war meist besser als die Gigs<br />
selbst. Gilt auch für "Wordly Suffering".<br />
<strong>De</strong>r "Enemy Of God" ist da schon fast gewöhnlich, auch wenn<br />
der Dub ähnlich tapeszenig schlackert. Die B-Seite dann bietet<br />
ein ganz anderes Raumklima. Krude, aber freundlich, fast<br />
schon deep auf die Nachmittagstour. Am besten dann sicherlich<br />
die B2 "Fallen Angel". Aus echtem Move-D-Klopapier.<br />
thaddi<br />
Einstürzende Neubauten & Perc - Stahldub Interpretations<br />
[Submit/001]<br />
Ulkige Idee. Diese Stahldub-Versionen waren mir völlig entgangen.<br />
Damals. Ach. Kollaps reichte<br />
aber auch schon, um einem die Welt zu<br />
zertrümmern. <strong>De</strong>nnoch. Perc hat sie<br />
ausgegraben und macht nun wiederum<br />
4 eigene Versionen daraus, die natürlich<br />
vom ersten Moment an leicht stählern,<br />
aber auch etwas verzückter glitzern und<br />
mit einer abenteuerlichen Wucht lostrümmern.<br />
Hart. Industriell ohne Ende, aber irgendwie auch<br />
durch und durch phantastisch in der gelegentliche Größe, zu<br />
der sich die Stücke mittendrin schon mal aufschwingen können.<br />
bleed<br />
Headless Ghost - 77 EP<br />
[Tamed Musiq/TMQ 006 - Clone]<br />
Ripperton allein zu Haus. Nach den Slammern auf Clone -<br />
neulich erst - jetzt wieder auf dem eigenen Label. Und die drei<br />
Tracks ("11", "22" und "44") wirken wie eine Abrechnung mit<br />
der ausufernden Welt. Konzentriert auf die Basics, rockt sich<br />
der Schweizer von A nach C über D und lässt B eben ganz bewusst<br />
aus. Das merkt man erst Schritt für Schritt, wenn man<br />
die einfachen Konstrukte im Kopf immer schon einen Schritt<br />
weiterdenkt und dann plötzlich auf dem Abstellgleis steht.<br />
Niemand da. Ripperton auf jeden Fall nicht. <strong>De</strong>r ist ganz woanders<br />
abgebogen und genau das macht diese EP so groß. Unerwartete<br />
Einfachheit. Molekulare Durchdringung. 10 - Hello,<br />
Ripperton. 20 - goto 10. Run.<br />
thaddi<br />
Zoé Zoe - Twista EP<br />
[Telefonplan Records/001]<br />
Das <strong>De</strong>but des Labels kommt mit drei verdrehten Technotracks<br />
der außergewöhnlichen Art. Knochig aber nie scheppernd<br />
treiben die Grooves die leicht panischen aber doch mit<br />
vielen Melodien durchsetzten Stücke voran und führen in eine<br />
ausweglose aber doch mit Humor genommene Darkness, die<br />
ihren klapprigen Funk sichtlich genießt.<br />
bleed<br />
Stello Gala<br />
Body Rock Ep<br />
[Tenampa Recordings]<br />
Ich muss zugeben, der Titeltrack der EP reizt mich überhaupt<br />
nicht, aber dafür gibt es mit "Love and Sound" einen brilliant<br />
stampfig smoothen Killertrack, der sich ganz auf eine feine<br />
Melodie konzentriert und rings herum mit kleinen Geräuschen<br />
und Hallräumen spielt, die so elegant auf und ab ebben, dass<br />
es eine reine Freude ist. Und auch der grandiose ravende<br />
Stabtechno-Track "Stabtech" ist nicht mehr als er verspricht,<br />
macht das aber einfach ebenso lässig und direkt, dass man<br />
den Floor förmlich unter der ausgelassenen Wucht des Stücks<br />
explodieren sieht.<br />
bleed<br />
Paul Mac<br />
Grand Statement EP<br />
[Teng/011]<br />
Teng ist ein ulkiges Label. Von Nubian Mindz bis Paul Mac ist<br />
es ein weiter Weg. "92 Ways Of Acid" ist natürlich auch Oldschool,<br />
erinnert sich an die Zeit so rings um 1992, als Breaks<br />
und Techno noch nicht so ganz auseinandergedriftet waren<br />
und kickt mit wilden Acidbasslines und funky Breaks der einfachsten<br />
Art, ist aber doch eher einen Hauch stampfig. Gut.<br />
Auch das gehört zu Rave. <strong>De</strong>r Rest der EP wuchert dann aus<br />
in tiefe Basslinetrance der lässig wummernden Art, das einen<br />
selbst noch an frühe erste härtere Acidtracks aus den USA<br />
erinnert. <strong>De</strong>r Jorge Zamacona Remix passt in dieses Bild allerdings<br />
überhaupt nicht hinein.<br />
bleed<br />
Mgun - Some Tracks<br />
[Third Ear Recordings/3EEP]<br />
Mgun kann ganz schön böse loskicken. Stur fast schon. Maschinen<br />
an und losgefeuert, hier und da<br />
moduliert und schon ist das Stampfen<br />
eine Offenbarung. Das beherrscht er.<br />
Lapidar wie es auf den ersten Blick<br />
klingt, verwandelt sich die EP aber nach<br />
und nach in ein versponnenes Synthkleinod,<br />
in dem es vor allem um die<br />
süßlich zauseligen Melodien im Einklang<br />
mit kaputt gezerrten Beats geht, und da wirkt Mgun<br />
dann auf ein Mal so, als wäre er einer dieser vergessenen Helden<br />
aus den Urzeiten der Elektronik, die man gerade erst wiederentdeckt<br />
hat. Eigenwillige Zusammenstellung von Tracks,<br />
bei der man sich vielleicht etwas mehr Konzentration gewünscht<br />
hätte, am Ende aber doch vor Glück mitstrahlt.<br />
bleed<br />
76
<strong>177</strong><br />
singles<br />
Carter Bros - Run<br />
[The Classic Music Company/166D]<br />
<strong>De</strong>r Track erschien schon ein Mal auf einer EP von Monty Lukes<br />
Black Catalogue Label, deshalb<br />
wundert es auch nicht, dass Monty hier<br />
einen eigenen Remix beisteuert. Und<br />
der ist auch der Killer der EP. Die Raggaehousenummer<br />
bekommt in seinem<br />
endlosen Wildpitch das dubbigeste und<br />
weitläufigste Flair, im Solomon Remix<br />
ist etwas viel Synthgefussel, aber das<br />
Orginal mit seinen explodierenden kurzen Vocals ist irgendwie<br />
immer noch ein sehr eigenwilliger Burner für alle die jamaicanische<br />
Vocals einfach über alles lieben.<br />
bleed<br />
The Transhumans - Pleasure And Pain Theory And Practice<br />
Of Domination Vol II<br />
[Transhuman/TH 005 - Rush Hour]<br />
Ha, der Titel ist länger als die Review. Wer noch mal "Industrial<br />
Techno" sagt, bekommt aufs Maul. Was ein Scheiß.<br />
thaddi<br />
Quantic/Nidia Gongora - Muevelo Negro/Nangita<br />
[Truthoughts/TRU283 - Groove Attack]<br />
Will Holland alias Quantic meldet sich solo zurück und hat eine<br />
Weggefährtin der letzten Jahre im Gepäck. Nidia Gongora aus<br />
Timbiquí in Kolumbien, die Insider aus der Combo Bárbaro und<br />
Ondatropica kennen, singt auf den beiden Tunes dieser Singleauskopplung.<br />
<strong>De</strong>r Produzent wohnt ja inzwischen in Bogota<br />
und hat die lokalen Musiktraditionen in sich aufgesogen. Hier<br />
entfernt er sich ein Stück weit vom organischen Sound der vorherigen<br />
Produktionen, baut aber auf die Rhythmik pazifischer<br />
Musik in Kolumbien, die Curulao genannt wird. Dazu gehört<br />
auch ein Chor mit weiblichen Stimmen und Percussion aus<br />
der Region. Die Tunes hat Mister Holland in DJ-Sets getestet<br />
und veröffentlichenswert gefunden. Die 6/8-Rhythmen sind ja<br />
auch nicht so einfach mit Elektronik zu kombinieren. Funktioniert<br />
aber, als Bonus gibt es die Instrumentals und Accapellas<br />
obendrauf.<br />
www.tru-thoughts.co.uk<br />
tobi<br />
Cuthead - Everlasting Sunday<br />
[Uncanny Valley/UV019 - Clone]<br />
Es geht um Glitter. Einzig und ausschließlich. Verkleidet als<br />
House auf der A-Seite, als HipHop auf<br />
der B-Seite. Eine EP, neun Tracks. Und<br />
würde Cuthead singen, gäbe es reichlich<br />
Instrumentals. So nah dran, so oldschool<br />
ist die neue EP. Glitter also. Nicht<br />
am Baum, sondern im Flirren. An der<br />
emulierten Harfe, im Sample des achtsamen<br />
Herunterschreitens der gewundenen<br />
Panorama-Treppe, in wunderschönen Schuhen mit<br />
noch schönerem Lächeln. Wie das eben so ist an diesen nicht<br />
enden wollenden Sonntagen. An denen Mark Pritchard kurz<br />
reinschaut, um endlich den Speak&Spell zurückzubringen,<br />
den er sich seit der ersten Harmonic-313-EP gemopst hatte.<br />
Wenn Bassdrums mit den getupften Chords tanzen. Wenn der<br />
Kakao besser schmeckt denn je und die Plattennadel entstaubt<br />
wird und wieder glasklar durch den Groove fährt. So<br />
klingt Cuthead 2013. Nicht wie "Vibratin'", aber irgendwie<br />
dann doch und immer sowieso viel mehr.<br />
www.uncannyvalley.de<br />
thaddi<br />
Satoshi Fumi - Open Sesame<br />
[Unknown Season/003]<br />
Die Tracks von Satoshi Fumi haben öfter etwas von <strong>De</strong>signer-<br />
<strong>De</strong>troit. Hier jedenfalls durch und durch.<br />
Sehr klar in den Sounds summen sich<br />
die beiden Stücke direkt auf den Höhepunkt<br />
ein, bleiben dort hängen und verströmen<br />
vor allem dieses Licht der<br />
schönen Harmonien und Melodien, das<br />
solche Tracks immer wieder zu einem<br />
perfekten Highlight machen kann.<br />
Selbst das kleine kitschig trällernde Piano als Tupfer ganz oben<br />
fehlt hier nicht. Musik für Melancholiker, die ihren <strong>De</strong>troitsound<br />
bunt und blumig lieben.<br />
bleed<br />
Mark Pritchard - Lock Off EP<br />
[Warp/WAP349 - Rough Trade]<br />
Mark Pritchard war in den frühen 90er Jahren zusammen mit<br />
Tom Middleton "Reload", "Global Communication"<br />
und "Jedi Knights", mit<br />
Steve White "Africa Hi Tech", und solo<br />
"Harmonic 313". Jetzt veröffentlicht er<br />
unter seinem Geburtsnamen den zweiten<br />
Teil einer Trilogie bei Warp. Stilistisch<br />
geht er es hier recht breit gefächert<br />
an. <strong>De</strong>r Jungle-Eröffnungstrack<br />
präsentiert die beiden Altvorderen Ragga Twins und trabt<br />
mächtig vorwärts. Danach gibt’s feinen Hip-Hop-Trap samt<br />
Dancehallsirene und Ghetto-Atmo, rappelig Footwork-artiges<br />
und mit dem Titeltrack einen wirklich großartigen Junglegrimefootwork-Rundumschlag.<br />
Teil drei kann kommen!<br />
www.warp.net<br />
asb<br />
Volta Cab - I Cannot Sleep<br />
[Voyeurhythm/VR 013 - Rush Hour]<br />
Ganz arg viele Bekannte in diesen Tracks. Also: Sounds. Snippets,<br />
Loops, Gefühle. Und natürlich<br />
Samples als Grundgerüst von allem. So<br />
geht Russland. Wenn die besseren<br />
Holzbläser aus Plastik sind, lacht die<br />
Sonne und der Floor brummt. Hier mal<br />
reingebissen, Faithless?<br />
thaddi<br />
House Reverends - Drivetime EP<br />
[Well Rounded Individuals/007]<br />
Was für ein grandioser Kitsch. <strong>De</strong>r Titeltrack der EP klingt wie<br />
eine schmachtende 70er-Band in<br />
durchweichtem Soundbrei einer wuscheligen<br />
Houseband auf Retrooverdrive,<br />
und auch das Material Girl auf<br />
"Girl I Know" kennt keine Furcht vor<br />
dem flapsigen Orchestersound in brüchig<br />
knuffigem Hallwahn. Diese Vocals,<br />
runtergredeht und mit dem Soul einer<br />
kaputten Autotunewaschanlage versetzt, machen das ganze<br />
auch nur noch merkwürdiger. Schräg, sehr schräg. Für kaputte<br />
Discoafficionados.<br />
bleed<br />
Cormac - Is This Love EP<br />
[Wetyourself!/019]<br />
Cormac singt etwas zu gerne. Die Tracks bekommen durch die<br />
leicht abwegig darken Vocals immer etwas<br />
von Grace-Jones-Disco, auch<br />
wenn sie im Sound eher abstrakt und<br />
funky sind und die wenigen Elemente<br />
eigentlich perfekt konstruiert losgrooven.<br />
Verlassen wirkt das, tragisch, aber<br />
die Sounds sind so gut und perlend<br />
konkret tuschelnd, dass man da gerne<br />
drüber hinwegsieht und sich nach und nach immer tiefer in die<br />
Stücke einkuschelt. Am besten mit dem eher auf Stimmfragmente<br />
und Spoken Word basierenden Dubmonster "Tone Alone",<br />
das dem Stück durch die Stimmen eine breitere Dimension<br />
gibt und dem phantastischen Oldschool-Slammer "Who<br />
Funk". Knatternd und überschwänglich mit einem so sicher in<br />
der Vergangenheit aufgehobenen Groove, dass man einfach<br />
besinnungslos mitgeht.<br />
bleed<br />
Akabu & Giom feat. Kadija Kimara - Again<br />
[Z Records/12197]<br />
Irgendwie am sympathischsten im Dub, der mit seinen Soulvocals<br />
und dem tänzelnd dichten Groove vom ersten Moment an<br />
flausig und leicht überdreht auf einen so gut gelaunten Groove<br />
zusteuert, dass man die Sonne über der Bronx aufgehen hört.<br />
<strong>De</strong>r Giom-Mix übertreibt es dann etwas mit der discoiden<br />
Poppigkeit, auch der wummernde Joey-Negro-Strip-Mix ist<br />
einen Hauch zu sehr Handtasche. Sehr abstrakte Disco aber<br />
bleiben alle.<br />
bleed<br />
Mak & Pasteman - Brown Bread / Drowning<br />
[Naked Naked/006]<br />
Was genau mag in den beiden vorgehen. Diese darken abgehackten<br />
Stimmen, die kurz anreißen<br />
was nicht ist. Diese stapfigen Grooves<br />
und Beats, die zwischen den tragend<br />
schwärmerischen Sphären wie kämpfend<br />
losstapfen. Diese Verlassenheit der<br />
Stimmung, die sich selbst unter der<br />
Lupe hat, aber mit einem klinisch klaren<br />
Funk doch irgendwie im Einklang ist.<br />
Killertracks der dunklen Art, die sich selbst zum Gefangenen<br />
machen, dabei aber doch voller Stolz und ungebrochen selbst<br />
das übertriebenste Trancemoment noch in eine Extase verwandeln<br />
kann, die sich selbst überrascht.<br />
bleed<br />
Hakim Murphy - Chiffre<br />
[Mindshift Records/TOUBLE09]<br />
<strong>De</strong>troit. Klar. Die Sounds allein. Dieser Klang der so gebrochen<br />
und aus einer anderen Zeit hereingewht<br />
kommt. Diese subtilen Nuancen von<br />
himmlischen Flächen und kaputten<br />
Grooves, dieser unbändige Funk der<br />
unter allem bebt. Hakim Murphy geht<br />
hier stellenweise fast einen Schritt zu<br />
weit um auf dem Floor noch mitspielen<br />
zu können, aber es kann ihm auch egal<br />
sein, denn natürlich ist das Musik für The Mind. Musik die sich<br />
in verkatert glückliche Eskapaden eines Sounds begibt, der<br />
ganz für sich mit einer Geschichte gefüllt ist, die keine Grenzen<br />
kennt, schon gar nicht die von Oldschool. Die Tracks von Murphy<br />
wirken mal durcharrangiert, mal wie aus der Hüfte geschossen,<br />
sie gehen ihren unbeirrbaren einzigartigen Weg und<br />
den geht man immer gerne mit ihnen, denn es lohnt sich einfach<br />
mit jedem Stück etwas ganz eigenes entdecken zu können.<br />
Remixe kommen vom unnachahmlichen Spider in seiner<br />
futurististischsten Jazzkonstellation und Murdoc mit einem<br />
fast erstickt deepen Kellerhouse-Swinggroove.<br />
bleed<br />
Morgan Alexander - The Scripted Infirm EP<br />
[Jacksloot Records/003]<br />
Brutzelnd, aufgeladen, statisch und doch so soulig wie ein<br />
Stück sein muss, das eine so zerbrechlich verheissungsvolle<br />
Jazzstimme ins Zentrum nimmt. <strong>De</strong>r Remix von "Just Checkin"<br />
ist in seinen Grooves fast übergrade, fast kalt, die Chords das<br />
Gegenteil, die Stimme flüstert vom ersten Moment an Verführung.<br />
So sehr dieses Stück auch auf der Stelle zu stehen<br />
scheint, so es sich selbst und sein Thema bewundert, es reicht<br />
schon diese Differenz zu sich selbst um einen in jeder Sekunde<br />
davon zu überzeugen, dass dieser Track einfach ein Killer ist.<br />
Und diese bratzelnd zurückhaltend monströse Bassline dazu<br />
macht ihn einfach nur noch unglaublicher. Ein Stück das klingt<br />
als hätte man eine vergessene <strong>De</strong>troit-Hymne gerade frisch<br />
entstaubt. "Tilton's Place" mit seinen klapprigen Vocals, seinem<br />
ironischen "Really" Sample, den flatternden Synths und<br />
der zeitlos pumpenden Bassdrum ist eine ähnlich verrückte<br />
Hymne die davon handelt, dass man sich selbst selbst unter<br />
dem kritischsten Blick auf dem Floor immer noch völlig wandeln<br />
kann, weil man sich mit Tracks wie diesem einfach so<br />
konzentriert, dass man am Ende sogar wieder weiß warum es<br />
noch mal Work-It hieß.<br />
bleed<br />
Leif - Dinas Oleu<br />
[Fear Of Flying/FOFLP02]<br />
Leif ist unglaublich. Ein Album so voller sprudelnd warmer Ideen<br />
und Grooves, voller geheimnisvoller<br />
Momente purer Stimmungen in schlendernden<br />
Grooves, sanften Stimmen,<br />
verzückten Klängen und summenden<br />
Momenten, dass man sich ein Paddelboot<br />
wünscht, mit dem man auf dem<br />
Album baden gehen kann. Sommerlich<br />
bis ins letzte sind die Tracks in ihrem inneren<br />
Swing fast klassisch, man ist wirklich versucht Oldschool<br />
zu sagen, auch wenn sie nie so klingen. Aber es geht nie<br />
um den Floor oder die Rückbesinnung, sondern um diesen<br />
Versuch Musik zu berühren, wohl wissend, dass das nicht<br />
geht. Jeder Track beginnt wie ein Glühen, nimmt einen auf eine<br />
Reise mit, erzählt mit dieser direkten aber doch blumigen<br />
Stimme von einer Welt die man erst entdecken muss in der<br />
Stimme der Musik, die einem aber schnell so vorkommt, wie<br />
eine Heimat in der man sein Leben schon lange verbracht hat.<br />
Ein Album das mehr wie ein impressionistischer Roman wirkt,<br />
dabei aber nie in purer Ästhetik verweilt, sondern immer herzzerreißende<br />
Momente beschreibt, deren Nachwirkungen einen<br />
auch Tage später noch wie auf Wolken schweben lassen in<br />
dem sicheren Gefühl, man kann genau dahin immer wieder<br />
zurückkehren.<br />
bleed<br />
Kerem Akdag - A Good Play EP<br />
[Apparel Music/085]<br />
Apparel Music entdeckt immer wieder Künstler von denen<br />
man bei der ersten EP schon weiß, dass man ihnen treu bleiben<br />
muss. Die Tracks von Kerem Akdag sind bei aller swingend<br />
smoothen <strong>De</strong>ephouse-Attitude einfach zu lässig und humorvoll.<br />
Berichten mitten in den süsslichst funkigen String und<br />
Groove-Wirbeln von verlorenen Projekten, Dingen die man<br />
verpasst hat, Sachen die man einfach wieder neu erfinden<br />
kann und diesem absurd deepen Soul der alltäglichen Arbeit,<br />
der auf ein Mal genau so relevant ist, wie die Weisheiten der<br />
Liebe und Revolution. Allen Tracks gemeinsam sind diese unglaublichen<br />
Vocals, die dem stellenweise fast albern smoothen<br />
Sound der Tracks eine Ebene der unmittelbarkeit geben, die<br />
hier wie erkämpft wirkt, aber doch voller Leichtigkeit kickt.<br />
Stellenweise unheimlich, magisch, dann wieder voller Witz,<br />
dabei aber im Sound ungebrochen deep und voller klassischer<br />
Momente in neuem Licht. Eine der <strong>De</strong>ephouse EPs des Monats<br />
und das auch weil es das Genre gleichzeitig zu ernst und<br />
zum rumalbern nimmt .<br />
bleed<br />
Fjaak - Mind Games EP [Baalsaal Records]<br />
Nicht mehr der überdreht klare Funk der letzten EP sondern<br />
über Nach gereift steigt diese Platte von<br />
Fjaak ein. <strong>De</strong>ep und mit einem leicht<br />
überzogenen Soul der tragischen Nuancen<br />
ist das aber nur der Ausgangspunkt<br />
für die brilliant funkenden Basslines,<br />
diese smooth um die Ecke wedelnden<br />
Harmonien, die schwer auf der Seele<br />
liegenden Stimmen, die immer - wie<br />
z.B. im "I Can't Get No Satisfaction" Vocal - hintergründig in die<br />
Irre leiten. Und dann kommt mit "Don't Cry" doch noch eins<br />
dieser verdreht kantigen Stücke mit einem so deepen Chicagohintergrund,<br />
dass man Bandbreite von Fjaak sofort wieder<br />
entdeckt. Wir würden uns am liebsten jetzt schon ein Album<br />
von ihm wünschen, aber die nächste EP kann nicht weit sein.<br />
Eine der ganz großen <strong>De</strong>ephouse-Hoffnungen des Landes, der<br />
hier zeigt, dass selbst bei smootheren Tracks noch so viel Energie<br />
in allem steckt, dass sie wie von selbst über sich hinauswachsen.<br />
bleed<br />
<strong>De</strong>troit Swindle - Unfinished Business EP<br />
[Freerange Records/170]<br />
<strong>De</strong>troit Swindle. Ich komme immer noch nicht über diesen<br />
Namen hinweg. <strong>De</strong>r allein würde fast schon reichen um mich<br />
aufhören zu lassen. Und ihre Tracks bislang waren immer<br />
so voller ravigiger Housekiller, dass ich sowieso längst Fan<br />
bin. Die EP auf Freerange muss man wie alles am besten<br />
von hinten hören. "Woman" mit seinen überzogen eiernden<br />
Strings, dem grandios um die Ecke soulenden Divengesang,<br />
den Rhodes und Grooves, dem nicht ganz unerwarteten Moment<br />
in dem ein ganzes Stadion vor Glück aufschreit, dieses<br />
überall durchscheindene Gefühl, dass man ganz oben steht,<br />
an der Spitze der Welt, aber es trotzdem nicht ausnutzt, das<br />
macht die Größe der beiden aus. Auch hier. So viel im Zaum<br />
gehaltene aber dennoch überbordende Euphorie ist schwer<br />
zu halten. Weshalb der Titeltrack zwar trotz ähnlicher Sounds<br />
etwas direkter losfunkt und nicht ganz diesen Punkt findet, an<br />
dem das Feuer der Begeisterung über die vielen anderen der in<br />
diesem Umfeld herumschwirrenden Tracks hinausgeht. Trotzdem<br />
können sie es einfach. Spannungsvoller ist da "Under The<br />
Spell" das mit seinen sprunghaften Grooves eher in die Welt<br />
von Garage mit allen seinen Verlockungen eintaucht.<br />
bleed<br />
Carloscres & Gusher<br />
The Future Tan<br />
[Society 3.0 Records/077]<br />
Manchmal sonnt sich House in dieser Tiefe der eigenen Geschichte<br />
mit einem Blick auf vergessene<br />
Momente, die einem schon wieder wie<br />
die Zukunft vorkommen. So etwas in der<br />
Art müssen sich die beiden gedacht<br />
haben, als sie auf "The Pop Kit" diese<br />
kurzen Bu-bu-bup Vocals im Duett entdeckt<br />
haben und daraus die tragende<br />
Melodie des Stücks mit all seiner Albernheit<br />
fertig hatten. Puh. Klingt wie Tricky Disco für Träumer.<br />
Und so trudelt der Track dann auch vor sich hin. Blubbernd,<br />
schmunzelnd, und mit einer Popästhetik, die so einfach wie<br />
überzeugend ist. "Future Tan" sagt auch ständig "Du", aber<br />
vermutlich haben die beiden nicht daran gedacht, dass uns<br />
hier das irgendwie etwas zu kuschelig rüberkommt, vor allem<br />
wenn es in einen so schwärmerisch flausigen Housetrack verpackt<br />
ist. Kann man das irgendwie anders hören, dann ist es<br />
einfach ein charmantest Stück smoother Housemusik für den<br />
lauen Sommerabend.<br />
bleed<br />
V.A. - Stiff Little Spinners Vol. 4<br />
[Audiolith]<br />
Auf der Compilation-Serie übertreffen sie sich gerne selbst.<br />
Oder probieren etwas ganz neues. Und selbst Leute wie Joney,<br />
eh schon ein durch und durch überdrehter Experiment-Popper<br />
(im besten Sinn) rockt dann mit einem so monströs stoisch<br />
smoothen Stück wie "It's Braining Schnaps and Frogs" alles an<br />
die Wand. Stolzierend, erhaben, mächtig und doch so unnahbar.<br />
Aber auch Kalipo mit seinem trancig sommerlichen "Perspicientia"<br />
findet eine Lücke zwischen Popmusik und Groove,<br />
der früher immer nur Kompakt so süsslich und überglücklich<br />
gelungen ist, so weltumarmend, naiv und doch fundamental<br />
zugleich. Kring räumt dann mit einem klassisch monströsen<br />
<strong>De</strong>ephousetracks voller geschwungener Chords ab, Rampue<br />
gönnt sich einen trunkenen Urlaub in der Kneipe nebenan und<br />
Torsun Teichgräber zeigt den französischen Chansonetten wie<br />
man darauf Ravemusik stricken könnte, während Gimmix voller<br />
glücklichem Basskitsch den Housetrack für frisch verliebte<br />
hinterher schiebt. Sehr sympathisch poppige aber auch deepe<br />
EP.<br />
bleed<br />
Divvorce<br />
Vanessa (A Dreamer) EP<br />
[Fifth Wall/009]<br />
Aus Brooklyn? Da schreibt man offensichtlich die besten Promotexte.<br />
Ich lese die sonst nicht. Aber<br />
hier steht wesentliches drin, und die<br />
Genreangabe (existential) hat mich eh<br />
schon neugierig gemacht. Inspiration<br />
für Divvorce kommt von Franz Kafka<br />
und einem einsamen Spaziergang<br />
durch Paris während der Fashion Week.<br />
Das macht doch alles klar. Techno<br />
schreibt Divvorce mit Fragezeichen. Und die Platte hat bei aller<br />
<strong>De</strong>epness irgendwie dann auch Humor. Wummernde Bässe,<br />
Breaks wenn es sein muss, kompromisslose Härte mit subtiler<br />
Eleganz in den Sounds, aber auch schwärmerisch warme Eskapaden<br />
mit sehr eigenwilligen Stimmen. Techno wie es sein<br />
muss. Wagemutig aber doch so nah. Und die Remixe von Physical<br />
Therapy und Unklone legen noch einen drauf. Mal schepperndst<br />
verzerrte Breaks in smoothem Soundgewitter, mal eisig<br />
verliebt untergründig tranciges Glühen. Eine sehr<br />
vielseitige Platte auf der jeder Track ganz für sich schon ein Hit<br />
ist.<br />
bleed<br />
Geiger und Lafelt - Walking In The Rain EP<br />
[Nylon Tracks/016]<br />
Überragend lässige manchmal auch völlig abseitige Housetracks<br />
der deepesten Art bestimmen<br />
diese EP. Vom klapprig kaputten Kitsch<br />
des Titeltracks, der die Reminiszenz auf<br />
der Kuhglocke nachspielt, über das unnachahmliche<br />
"Trying To Say" das mit<br />
einer verzerrten Stimme und einem<br />
Groove der so um die Ecke shuffelt,<br />
dass man das Gefühl hat, der Loop ist<br />
kapuut, dennoch eine so grandios deepe Stimmung erzeugt,<br />
die selbst von dem "Party People" Sample nicht gebrochen,<br />
sondern eher verstärkt wird, bis zum ultrafunkig direkten "Midnight<br />
Drive" ein Fest.<br />
bleed<br />
Me Succeeds - Rongorongo Remixes<br />
[Ki Records/019]<br />
Eine bessere Sammlung an Remixern hätte man für das wunderschöne<br />
Rongorongo gar nicht auftreiben<br />
können. Alle sind voller Huldigung<br />
für Me Succeeds. Und die ganze<br />
Houseposse ist dabei. Iron Curtis,<br />
Christian Löffler, Tilman Tausendfreund,<br />
und alle Tracks sind Killer. Die süsslichen<br />
Vocals sind perfekt integriert, die<br />
euphorisierenden Melodien klingen<br />
überall durch, die Basslines rocken, die Beats kicken. "Rongorongo",<br />
"Seventeen" und "That's Why I Cast A Shadow" bekommen<br />
eine noch klarere Bestimmung für die deepesten<br />
Dancefloors dieser Erde und wir können es kaum erwarten bis<br />
die ersten Partys diese Momente puren Glücks in den Vocals<br />
und Stimmungen entdecken. Egal ob es funkig verrückt, oldschoolig<br />
hymnisch oder auch nur säuselnd verliebt zugeht, die<br />
Stücke sind immer so voller Herz und Dichte, dass man schon<br />
jetzt die Augen schliessen möchte um dieses Gefühl nu ja nicht<br />
zu verlieren.<br />
bleed<br />
77
DE BUG ABO<br />
Hier die Fakten zum DE:BUG Abo: 10 Hefte direkt in den<br />
Briefkasten, d.h. ca. 500.000 Zeichen pro Ausgabe plus<br />
Bilder, dazu eine CD als Prämie. Die Prämie gibt es immer<br />
solange der Vorrat reicht, wobei der Zahlungseingang für<br />
das Abo entscheidet. Noch Fragen?<br />
UNSER PRÄMIENPROGRAMM<br />
Clara Moto - Blue Distance<br />
(Infiné)<br />
Zarte Tristesse, vielschichtig arrangiert: Das<br />
neue Album von Clara Moto verbindet Ambient<br />
und Songwriting mit der erprobten Basis<br />
aus Techno und House. Und zeigt damit, wie<br />
vielschichtig unsere Dancefloor-Welt 2013 sein<br />
muss, um den Winter zu überstehen.<br />
Om Unit - Threads<br />
(Civil Music)<br />
"Slow on the bottom, fast on the top." Jim<br />
Coles ist ein Kind des Breakbeat-Kontinuums.<br />
Mit seinem <strong>De</strong>bütalbum gelingt ihm eine Synthese<br />
aus schleppenden, Bass-schwangeren<br />
Backbeats im 70-80-Bpm-Spektrum und<br />
hyperaktiver Percussion im doppelten Tempo.<br />
Special Request - Soul Music<br />
(Houndstooth)<br />
Scheiß drauf, lass rollen. Paul Woolford löst als<br />
Special Request das ein, was der gefragte DJ<br />
schon immer machen wollte: Eine direkte Auseinandersetzung<br />
mit der Musik, die ihn so nachhaltig<br />
prägte. Also Breakbeats, Jungle und alles,<br />
was dazugehört.<br />
DE:BUG Verlags GmbH, Schwedter Straße 8-9, Haus 9A, 10119 Berlin. Bei Fragen zum Abo: Telefon 030.88764931,<br />
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ein jahr DE:BUG ALS …<br />
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abonnement ausland<br />
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Mooryc - Roofs<br />
(Freude am Tanzen)<br />
Die Musik von Maurycy Zimmermann ist wie ein<br />
Flügelschlag, das volle Tonlinien, satte Rhythmik<br />
und Tiefe ans Licht treibt. Sagt sein Label.<br />
Und wir können nur freudig zustimmen. Langsam,<br />
schnell, mit Emphase oder zurückhaltend:<br />
Mooryc hat den elektronischen Kosmos fest im<br />
Griff.<br />
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PLZ, Ort, Land<br />
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Omar Souleyman - Wenu Wenu<br />
(Domino)<br />
Ein syrisches Phänomen, Hochzeitssänger in<br />
traditioneller Kutte! Hipper Gegenentwurf zum<br />
verwestlichten Ethno-Pop? Wie kann man den<br />
hiesigen Hype um jemanden werten, für den<br />
Michael Jackson und die Beatles Fremdworte<br />
sind und dessen neue Platte von Four Tet<br />
produziert wurde?<br />
nächste Ausgabe:<br />
Ort, Datum<br />
Unterschrift<br />
Von dieser Bestellung kann ich innerhalb von 14 Tagen zurücktreten. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs.<br />
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verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn es nicht 8 Wochen vor Ablauf gekündigt wird.<br />
DE:BUG 178 ist ab dem 29. November am Kiosk erhältlich / u.a. mit unserem großen Jahresrückblick, einem<br />
Studiobesuch bei Nils Frahm und einem epochalen Label-Feature zu <strong>De</strong>kmantel, dem Alleskönner-Hub aus Holland.<br />
im pressum <strong>177</strong><br />
DE:BUG Magazin<br />
für elektronische Lebensaspekte<br />
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Dank an<br />
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und Thomas Thiemich<br />
für den Font Fakt, zu beziehen<br />
unter ourtype.be<br />
78
<strong>177</strong> — de:bug präsentiert<br />
28.11. – 01.12.<br />
Haus der Kulturen der Welt, Berlin<br />
WORLDTRONICS<br />
Teams & Tools<br />
Es gibt eine Weltmusik, die nicht postkolonial<br />
verzerrt ist, beziehungsweise<br />
deren entsprechende Verzerrungen klar<br />
zu Tage treten oder sogar deren Inhalt<br />
sind. Das Worldtronics-Festival versucht<br />
nun schon seit sieben Jahren diese alternative,<br />
emanzipatorische Weltmusik<br />
zu ergründen und zu feiern. Motto der<br />
diesjährigen Ausgabe: Teams & Tools,<br />
die "weltweiten Phänomene wuchernder<br />
Musikszenen". Das Internet, so der<br />
Worldtronics-Ansatz, vernetzt auch<br />
Musikszenen und setzt sie zueinander in<br />
Beziehung. Neue Parallelen entlegener<br />
Musikentwicklungen treten hervor, Stile<br />
finden zusammen und alte Amalgame<br />
werden aufgeschmolzen. Diese neue<br />
Weltmusik ist dekonstruktivistisch -<br />
und gerade deswegen lässt sich auf<br />
sie so gut feiern. Und das geht im Haus<br />
der Kulturen der Welt dieses Jahr so:<br />
Mit ihren Projekten Bordermovement<br />
und Soundcamp klinken sich Gerriet<br />
Schulz und die Gebrüder Teichmann<br />
in die südasiatischen DIY-Netzwerke<br />
ein. <strong>De</strong>r Londoner Talvin Singh zeigt<br />
Gemeinsamkeiten zwischen klassischer<br />
indischer Musik und früher "westlicher"<br />
elektronischer Musik auf. <strong>De</strong>r Franko-<br />
Niederländer Pierre Bastien baut charmante<br />
Musikmaschinen mit Humor und<br />
Seele, die Katalanin Eli Grass macht<br />
experimentelle Musik mit Spielzeug und<br />
Fundsachen, die aus Kairo angereisten<br />
Sadat & Alaa Fifty kreuzen HipHop und<br />
Kairoer Straßenmusik. Die Berliner<br />
Avantgarde-Bigband Zeitkratzer präsentiert<br />
ein Projekt zu den elektronischen<br />
Musikstudios von Radiostationen<br />
vor allem in Osteuropa; Felix Kubin<br />
und die polnische Bigband Mitch &<br />
Mitch spielen verstörenden Avant-Pop<br />
und die Band Frikstailers aus Buenos<br />
Aires, so die Worldtronics-Veranstalter,<br />
schöpft "aus dem globalen, kollektiven<br />
Unterbewusstsein des Pop." Das<br />
Musikprogramm begleitet der Elektro-<br />
Fachmarkt, auf dem sich die Berliner<br />
Elektronikszene zum Schwofen bei<br />
Minikonzerten und DJ-Sets trifft. <strong>De</strong>nn<br />
was die Musikszenen der Welt können,<br />
das können sie auch im Haus der<br />
Kulturen der Welt.<br />
www.hkw.de<br />
14.–20.11.<br />
Festspielhaus Hellerau, Dresden<br />
CYNETART<br />
Das CYNETART ist ein Verbinder der<br />
Welten. Auch in diesem Jahr bietet es ein<br />
kontrastreiches Programm aus technologisch<br />
unterstützten Tanzaufführungen,<br />
international besetzten Workshops in den<br />
Bereichen Tanz, Medienkunst, Technik,<br />
außerdem einen aktuellen Schwerpunkt<br />
auf Biohacking und Bioart. Das versierte<br />
Rahmenprogramm aus Vorträgen,<br />
<strong>De</strong>monstrationen und Workshops findet<br />
seine hedonistische Spiegelung in<br />
Form von A/V-Performances, Konzerten<br />
und Clubabenden. Hier mit dabei: Kuedo<br />
(Planet Mu), Sensate Focus, Grischa<br />
Lichtenberger (Raster-Noton), Ryoichi<br />
Kurokawa, Assimilation Process (sub urban<br />
trash), Ulf Langheinrich (Epidemic),<br />
Zilinsky und Arpanet: das mysteriöse<br />
Duo um Frontmann Gerald Donald (aka<br />
Heinrich Müller / <strong>De</strong>r Zyklus, Japanese<br />
Telecom, Dopplereffekt, sowie eine Hälfte<br />
von Drexciya). Top-Notch-Sound- und<br />
Bildwelten werden dabei auf exzellenten<br />
technischen Anlagen im übergroßen Saal<br />
des Festspielhauses präsentiert.<br />
Foto: David Pinzer<br />
www.cynetart.de<br />
8.-10.11.<br />
Zollverein, Essen<br />
C3 FESTIVAL<br />
C3? Das steht für Club Contemporary<br />
Classical, den drei Cs also, die die<br />
musikalische Berichterstattung dieses<br />
Magazins seit Jahr und Tag immer<br />
wieder begleiten. So ist es keine<br />
Überraschung, dass die Protagonisten<br />
der zweiten Auflage des Festivals alte<br />
Bekannte sind. Matthew Herbert,<br />
Murcof und das US-amerikanische<br />
Kollektiv "Bang On A Can All-Stars" bilden<br />
das Headliner-Dreigestirn in diesem<br />
Herbst: ein dichtes Programm.<br />
Mr. Herbert kommt nicht allein nach<br />
Essen. In Quartett-Besetzung präsentiert<br />
er sein aktuelles Album "The End Of<br />
Silence": <strong>De</strong>utschlandpremiere! Murcof<br />
hat mit der Pianistin Vanessa Wagner<br />
ebenfalls Unterstützung auf der Bühne<br />
und die Bang On A Can Crew kommen<br />
eh immer reichlich. Dabei ist ihre<br />
geplante Performance von Brian Enos<br />
"Music For Airports" ja eher für ganz<br />
kleine Besetzung konzipiert: wird spannend!<br />
Außerdem im Programm: Macro-<br />
Boss Stefan Goldmann, die <strong>De</strong>novali-<br />
Darlings von Piano Interrupted, Tesla<br />
Mode und Rotterdam. Herbert packt<br />
derweil im Hotel Shanghai noch die<br />
Platten aus. Beim C3 geht es aber nicht<br />
nur um das Zuhören, sondern auch<br />
um das Ausprobieren. Schülerinnen<br />
und Schüler können sich während des<br />
Festivals dem Phänomen Ambient nähern,<br />
mit den Musikern vor Ort diskutieren<br />
und schließlich die akzentuierte Stille<br />
selbst umsetzen.<br />
Foto: Helen Woods<br />
www.c3festival.com<br />
10.11.<br />
Alter Schlachthof, Dresden<br />
ELECTRONIC BEATS<br />
Sommer gerade überstanden, leutet die<br />
Telekom direkt die nächste Festival-Saison<br />
ein. Dass das Electronic Beats Festival<br />
bei seiner jährlichen Europa-Reise im<br />
Frühling und Herbst jeweils eine Handvoll<br />
Hochkaräter einpackt, scheint mittlerweile<br />
sicherer als die Jahreszeiten selbst. So soll<br />
es denn auch in diesem Herbst sein, wenn<br />
Electronic Beats zum ersten Mal in Dresden<br />
Halt macht. Neben Sizarr, dem neuen Indie-<br />
Maßstab aus der Pfalz, wird unter anderem<br />
der Franzose mit den Riesentrommeln und<br />
dem Hang zum Pathos, alias Woodkid,<br />
in den Alten Schlachthof geladen. Als<br />
Gegenpol zum orchestral-cinematischem<br />
Epos des Musikers und Regisseurs<br />
aus Lyon, treten die Post-Whatsoever-<br />
Lieblinge von Mount Kimbie an, die sich<br />
mit "Cold Spring Fault Less Youth" in diesem<br />
Sommer nicht nur ein feines Nest<br />
bei Warp eingerichtet haben, sondern mit<br />
eben jenem Album wieder einmal gezeigt<br />
haben, zu welcher Intensität die Reduktion<br />
doch im Stande ist. Ein Album, dessen<br />
Produktionsprozess stark von der Live-<br />
Umsetzung ihrer ersten Platte beeinflusst<br />
wurde, wie sie uns im Interview erzählten.<br />
Ihre Live-Sets, in denen das Duo die konstante<br />
Re-Interpretationen ihrer eigenen<br />
Stücke verfolgt, geben im Umkehrschluss<br />
tiefe Einblicke in die Entstehung ihres unverwechselbar<br />
intensiven Sounds, der<br />
Ambient, Postrock, Electro, House und<br />
HipHop gleichermaßen unter seine Fittiche<br />
nimmt.<br />
Die preiswerten Tickets lassen sich seit<br />
kurzem über die EB Apps sichern und<br />
sind natürlich auch über den klassischen<br />
Online-Weg zu haben:<br />
www.electronicbeats.net<br />
79
<strong>177</strong> — musik hören mit:<br />
interview Bianca Heuser<br />
bild Elena Peters-Arnolds<br />
Backstage bei unseren Lieblings-<br />
Isländern. Während eines Tour-<br />
Stops in Berlin erzählen Gunnar<br />
Örn Tynes und Örvar Þóreyjarson<br />
Smárason von der Stripclub-<br />
Schwemme in Portland, der Arbeit<br />
mit Kylie Minogue und ihrer Liebe<br />
zu Twin Peaks.<br />
Dr. Buzzard’s<br />
Original Savannah Band –<br />
Sunshower (RCA, 1976)<br />
Gunnar: Das gefällt mir! Das ist sehr schön.<br />
Örvar: Und komisch psychedelisch.<br />
Eigentlich ist das ein super süßer Song für<br />
die ganze Familie, aber irgendwas ist doch<br />
80<br />
ein bisschen neben der Spur.<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Ich spiele euch das eigentlich wegen<br />
des tollen Bandnamens vor. Ihr habt<br />
ja einen ganzen Tumblr-Blog schlechten<br />
Bandnamen wie Dreadlock Comb-Over<br />
oder Sylvester Alone gewidmet.<br />
Örvar: Wie hast du den denn gefunden? Das<br />
hatte ich fast vergessen. Wir denken uns auf<br />
Tour ständig bescheuerte Bandnamen aus<br />
und haben sie irgendwann mal alle auf diesem<br />
Blog gepostet.<br />
Gunnar: Aber wie hieß diese Band noch<br />
mal? Das muss ich mir unbedingt aufschreiben.<br />
(pfeift)<br />
The Magnetic Fields –<br />
A Chicken With Its Head Cut Off<br />
(Merge, 1999)<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Für mich verbindet die Magnetic<br />
Fields und Múm eine bestimmte Romantik.<br />
Örvar: Das ist interessant. Wir selbst haben<br />
ja keinen Schimmer, was unsere Musik eigentlich<br />
ist. Besonders nach einer Tour ist die<br />
Vorstellung, die man vom aktuellen Album<br />
hat, komplett durcheinander gewirbelt. Dann<br />
bin ich vollkommen ahnungslos.<br />
Gunnar: Auf Tour ändert sich meine<br />
Vorstellung von unserer Musik tagtäglich.<br />
Örvar: Ich glaube eh, dass man die Vision<br />
seiner eigenen Musik erst nach ein paar<br />
Jahren ganz versteht, der Abstand hilft.<br />
Gunnar: Man würde natürlich alles ganz anders<br />
machen. Man bekommt sonst ja nicht<br />
so mit, wie man sich verändert. Aber beim<br />
Anhören der eigenen Musik von vor ein paar<br />
Jahren wird es einem plötzlich ganz deutlich.<br />
Örvar: Oft ist es als hätte jemand anders<br />
dieses Album gemacht. Aber das ist ein<br />
gutes Gefühl. Man kommt einer vergangenen,<br />
überholten Version von sich selbst<br />
wieder näher.<br />
Gunnar: Ich gehe mal Kaffee holen.<br />
Badalamenti Explains<br />
Twin Peaks Love Theme<br />
(YouTube-Upload, 2008)<br />
Örvar: Das muss Gunnar unbedingt von<br />
Anfang an hören. Gunnar, komm' mal!<br />
Gunnar: Oh, Twin Peaks!<br />
Örvar: Ja, aber hier erklärt Angelo<br />
Badalamenti wie er und David Lynch die<br />
Musik zusammen geschrieben haben.<br />
(Das Video endet: "He said: 'Angelo, don’t<br />
do a thing and don’t change a single note.<br />
I see Twin Peaks.' That’s how it was done.")<br />
Gunnar: Verrückt! Das ist so schön, fast<br />
besser als der eigentliche Song. Ich habe<br />
überall Gänsehaut!<br />
Örvar: Es ist toll, wie er beim Erzählen der<br />
Geschichte aufblüht. Und es ist eine großartige<br />
Art, Filmmusik zusammen zu schreiben.<br />
Das passiert vermutlich fast nie so.<br />
Gunnar: Ich glaube nicht, dass viele<br />
Regisseure ihre Vision so kommunizieren
<strong>177</strong><br />
»Wir selbst haben ja<br />
keinen Schimmer,<br />
was unsere Musik<br />
eigentlich ist. Besonders<br />
nach einer Tour<br />
ist die Vorstellung,<br />
die man vom aktuellen<br />
Album hat, komplett<br />
durcheinander<br />
gewirbelt.«<br />
können. Die meisten sprechen gar nicht<br />
dieselbe Sprache wie Musiker, sind nicht<br />
Teil des gleichen Dialogs.<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Wie war es für euch, den<br />
Soundtrack für "Jack und Diane" zu<br />
schreiben?<br />
Gunnar: Wir hätten natürlich gern genau<br />
so gearbeitet.<br />
Örvar: Wir haben schon oft Musik für Film<br />
oder Theater geschrieben, aber so wie Lynch<br />
und Badalamenti ist es uns noch nie ergangen.<br />
Aber offenbar geht das doch!<br />
Gunnar: Klar, wir haben ja gerade den<br />
Beweis gehört! Einen sehr schönen Beweis.<br />
Örvar: Es ist wichtig, dass der Regisseur<br />
loslässt und uns genauso vertraut wie sich<br />
selbst. In der Regel stehen sie aber unter<br />
starkem Druck und sind gestresst wegen<br />
der Produktion und des Budgets. Sie können<br />
sich nicht entspannen und möchten<br />
etwas möglichst Umgängliches. Darum<br />
ersetzen sie oft die eigentliche Filmmusik<br />
mit irgendwelchem Singer/Songwriter-<br />
Folk-Zeug. Das ist leichter verdaubar. Dieser<br />
Videoclip hat mich aber auch so berührt,<br />
weil Twin Peaks einer der wichtigsten popkulturellen<br />
Einflüsse auf unsere Generation<br />
war. Ich weiß noch, wie ich die Serie als<br />
Kind das erste Mal im Fernsehen sah. Ich<br />
wusste nicht, was mich getroffen hatte.<br />
Ich verstand kein bisschen von dem, was<br />
da vor sich ging.<br />
Gunnar: Und heute, mit einem Abschluss<br />
in Filmwissenschaft, versteht man immer<br />
noch nicht alles.<br />
Örvar: Ganz genau. Ich habe erst kürzlich<br />
wieder alle Folgen geschaut.<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Wenn man David Lynch vollkommen<br />
versteht, sollte man sich sowieso<br />
Sorgen machen.<br />
Kylie Minogue –<br />
Love At First Sight<br />
(Parlophone, 2002)<br />
Örvar: Ist das Kylie?<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Das konnte ich mir nicht verkneifen,<br />
nachdem ich ihr Feature auf eurem<br />
neuen Album entdeckt habe.<br />
Örvar: <strong>De</strong>r Song war eigentlich für eine<br />
Clubszene in "Jack und Diane" gedacht.<br />
Aber als mich der Regisseur in Spanien<br />
anrief war die Verbindung so schlecht,<br />
dass ich ihn nicht genau verstehen konnte.<br />
<strong>De</strong>r Track war dann schon längst fertig<br />
als wir das nächste Mal in Kontakt traten.<br />
Er wunderte sich: "Was ist das denn?!"<br />
und fand den Song eine Woche später aber<br />
doch ziemlich toll. Für die entsprechende<br />
Szene im Film hat er dann trotzdem etwas<br />
anderes verwendet.<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Habt ihr Kylie getroffen?<br />
Gunnar: Ja, ich. Örvar war mit FM Belfast<br />
auf Tour. Sie war super cool. Eine sehr<br />
bodenständige und feine Person. Ich glaube<br />
nicht, dass sie je einen Fuß in ein derartig<br />
kleines Studio gesetzt hat, aber das störte<br />
sie gar nicht. Anfangs befürchtete ich,<br />
dass wir das nicht in einem Tag schaffen<br />
würden, manche Leute brauchen ja doch<br />
recht lang im Studio. Aber sie war super professionell<br />
und traf den Nagel auf den Kopf.<br />
Örvar: <strong>De</strong>r Regisseur versuchte im Studio<br />
noch den Text zu ändern, aber Gunnar konnte<br />
zum Glück die Originalversion aufnehmen.<br />
<strong>De</strong>r Text ist ziemlich heftig. Die erste<br />
Zeile wollte komischerweise niemand ändern:<br />
"I bleed like a pig". Ich wollte das unbedingt<br />
aus Kylies Mund hören. Das war<br />
ein kleiner Sieg.<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Habt ihr etwas übrig für diese Art<br />
von Popmusik?<br />
Örvar: Ich weiß nicht. So richtig entkommen<br />
kann man dem Ganzen ja nicht. Aber<br />
vor fünf Jahren war das alles noch spannender.<br />
<strong>De</strong>rzeit klingt alles so flach.<br />
Gunnar: Wir haben uns mal über "Toxic"<br />
gestritten, weißt du noch?<br />
Örvar: Was soll ich sagen, mich hat die<br />
Produktion einfach nicht so beeindruckt.<br />
Lawrence –<br />
In Patagonia<br />
(Dial, 2013)<br />
Örvar: Was ist das?<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Das ist von Lawrences neuem<br />
Album "Films & Windows".<br />
Gunnar: Das ist richtig gut.<br />
Örvar: Und so zeitlos!<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Er sagt, er produziert die meisten<br />
Sachen unterwegs. Schreibt ihr auch<br />
auf Tour neue Musik?<br />
Gunnar: Wir machen das als erstes, wenn<br />
eine Tour vorbeigeht. Man ist so vollgesogen<br />
mit neuen Eindrücken, die etwas in einem<br />
auslösen.<br />
Övar: Während einer Tour machen wir aber<br />
eher keine Musik. Dafür habe zumindest<br />
ich dann keinen Kopf. Ich kann mich nicht<br />
einfach hinsetzen und anfangen. Ich brauche<br />
viel Zeit für Spaziergänge und so. Aber<br />
Reisen wirkt sich auf jeden Fall auf unsere<br />
Musik aus, vor allem die Menschen,<br />
die wir treffen.<br />
Team Dresch –<br />
Fagetarian And Dyke<br />
(Chainsaw und Candy<br />
Ass Records, 1995)<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Team Dresch war eine lesbische<br />
Punkband aus Portland, Oregon.<br />
Örvar: Solche Sachen haben wir in den<br />
Neunzigern auch gehört. Als Teenager ist<br />
man so empfänglich für alles Mögliche. Es<br />
gibt überhaupt keine Wand zwischen sich<br />
und einer lesbischen Punkband niederzureißen.<br />
Wir haben damals unsere erste<br />
Band wegen Slint gegründet. Wusstest du,<br />
dass Portland die Stadt mit der höchsten<br />
Dichte an Stripclubs weltweit ist? Das hat<br />
mir jemand erzählt, als wir in Portland in<br />
einem auftraten.<br />
Gunnar: Die nannten das eine "Burlesque<br />
Show". Ich erfuhr erst, was das für ein<br />
Etablissement war, als sich nach dem<br />
Konzert backstage so viele nackte Mädchen<br />
aufhielten.<br />
Örvar: Ich kam nach einer Autofahrt von<br />
San Francisco so müde in Portland an,<br />
dass ich backstage auf dem Fußboden<br />
einschlief. Als ich aufwachte, stand direkt<br />
neben mir eine halbnackte Frau, die sich<br />
im Spiegel betrachtete.<br />
Gunnar: Die Räumlichkeiten waren aber<br />
toll. Nach dem Konzert gab es auch eine<br />
Show, inklusive Rotkäppchen. Das war<br />
wirklich merkwürdig.<br />
Le1f – Swerve<br />
[Prod. The-Drum]<br />
(Self-released, 2013)<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Das ist von "Tree House", dem<br />
aktuellen Mixtape des New Yorker Rappers<br />
Le1f.<br />
Gunnar: Sin Fang, der gerade mit uns<br />
tourt, hockt den ganzen Tag backstage und<br />
hört sich solche Musik auf YouTube an. Es<br />
ist gut, einen Teenager dabei zu haben.<br />
<strong>De</strong>:<strong>Bug</strong>: Le1fs Homosexualität ist ein<br />
prominentes Thema in seinen Texten.<br />
Reykjaviks Bürgermeister schrieb letztens<br />
dem Moskauer Bürgermeister einen<br />
Brief, in dem er ankündigte, jegliche<br />
Zusammenarbeit wegen des verabschiedeten<br />
Anti-Homosexuellen-Gesetzes einzustellen.<br />
Gunnar: Ich glaube leider nicht, dass er die<br />
politische Macht hat, das durchzusetzen.<br />
Aber es ist toll, dass er sich dazu äußert.<br />
Örvar: Ja, Jon Gnarr ist toll im Umgang<br />
mit diesen Dingen. Die Gay Pride Parade<br />
ist eines der wichtigsten Feste in Island.<br />
Alle kommen downtown und er ist immer<br />
in Drag auf einem der Wagen dabei. Letztes<br />
Jahr durfte ich mit FM Belfast auf der großen<br />
Bühne spielen, das war fantastisch.<br />
Gunnar: In Island gibt es wirklich kaum<br />
Homophobie.<br />
Örvar: Normalerweise ist die Parade ein<br />
sehr buntes und lustiges Fest, aber dieses<br />
Mal war es sehr politisch. Zum einen<br />
wegen Russland und zum anderen wegen<br />
Bradley beziehungsweise Chelsea<br />
Manning. Um etwa diese Zeit kündigte er<br />
auch seine Geschlechtsumwandlung an.<br />
Wir haben in letzter Zeit öfter diskutiert,<br />
ob wir überhaupt in Russland spielen sollten<br />
und sind uns immer noch nicht sicher,<br />
was richtig ist. Wir haben vorerst aber beschlossen,<br />
dass es wenig sinnvoll ist, unsere<br />
Fans für die Politik ihrer Heimat zu<br />
bestrafen. Die haben damit sicher schon<br />
genug zu kämpfen.<br />
Múm, Smilewound,<br />
ist auf Morr Music/Indigo erschienen.<br />
81
<strong>177</strong> — Für ein besseres Morgen — text & illu harthorst.de<br />
Echtzeitverblödung<br />
ist der neue Normalfall<br />
Kopf rein, Arsch raus, auf sie mit Gebrüll! Und nachher wundern sich alle, dass immer noch<br />
Papstwochen bei McDonalds sind, aber der Lifestyleissimo kranker Katholiban soll heute<br />
nicht Thema sein. Sache ist: Die <strong>De</strong>utsche Content Allianz hat einen "Inhalte-Gipfel"<br />
gefordert, weil "Inhalte-Politik Chefsache" werden soll, beziehungsweise was heißt soll?<br />
Muss! Was man sich dann am besten häppchenweise auf dem Hirn zergehen lassen sollte:<br />
<strong>De</strong>utsche Content Allianz? Gibt es tatsächlich, soll das gemeinsame Sprachrohr der<br />
Breitarschplayer des heimischen Medienbetriebs sein: ARD, ZDF, Privat-TV, Musikindustrie,<br />
GEMA, Großverlage. Aha, OK, aber: <strong>De</strong>utsche Content Allianz? Mit ein bisschen bekifftem<br />
Anstandsabstand besehen circa so sinnig wie die Herdprämie für Haare auf Emanzenzähnen.<br />
Oder, besser: das Oktoberfest München Miami Beach. German Rechtschreibreform, you<br />
know schon! Also warum gibt ausgerechnet die Aristokratie deutscher Medienapparatschiks<br />
ihrem Club einen so topverstrahlt denglischen Namen? Und begibt sich damit auch noch in<br />
die übelste Verwechselungsgefahr mit der <strong>De</strong>utsche Kontinenz Gesellschaft? Die es übrigens<br />
nicht nur wirklich gibt, sie ist ausgerechnet auch noch beispielhaft vorbildlich in Sachen<br />
Wahlspruchgebung: Müssen Wollen Können. Hammer! Oder? Würde da der Kumpel aus der<br />
Werbung sagen, aber das sagt er eigentlich dauernd zu allem möglichen, meistens beim<br />
Coffee oder Bier und auf Koks oder Facebook aber auch sonst mal zwischendurch. Nur:<br />
In diesem Fall hat Werbekumpel tatsächlich recht, weil Müssen Wollen Können ist doch<br />
wirklich Hammer! Oder? Die <strong>De</strong>utsche Content Allianz hat gar keinen Claim, aber Inhalt<br />
First! würde prima passen, oder, noch besser: Content is König! Weil "Inhalt" und "Content"<br />
eben nur theoretisch Synonyme sind, aber praktisch ganz verschiedene Duftstoffe freisetzen:<br />
"Inhalt" riecht nach Spaßbremsertum und Hausaufgaben, "Content" nach angesagtestem<br />
Fun und heißer Marketingluft. Durch ihre Namenswahl hält sich die Allianz auf der Soll-Seite<br />
also schon mal geschickt den Rücken frei, weil übertriebene Erwartungshaltungen in puncto<br />
Qualität gleich am Empfang bodennah zurechtgestutzt werden und man alle Energien<br />
nach vorne richten kann, auf die Haben-Seite, die man dann ja im Rahmen des Inhalte-<br />
Gipfels als "Chefsache" zu besprechen gedenkt, genauer gesagt sogar als "Chefsache im<br />
Bundeskanzleramt", heißt: ARD, GEMA und VDZ wollen ihre Angelegenheiten mit Merkel<br />
unter sich ausmachen, derweil sich die Medienzwergmassen im Begleitprogramm gegenseitig<br />
auf die kleinen Eier gehen können, da sind sie schön beschäftigt und nerven nicht die<br />
Chefs, aber vor allem verleihen sie der Berichterstattung diesen authentischen Graswurzel-<br />
Flair, der sogar die Planwirtschaftskonspiration im Kanzleramt in dieses weiche, verzeihende<br />
Soft-Porno-Licht taucht - dann doch lieber weiter zum Begleitprogramm des Inhalte-Gipfels:<br />
Radikale Inhaltsschützer gehen auf die Nerven und fallen ins Wort, Contentmanager verteilen<br />
Gratispröbchen und militante Copyrightfighter demonstrieren für ein uneingeschränktes<br />
Kopierverbot. Die <strong>De</strong>utsche Interessengemeinschaft Inhaltsverzeichnis (DIGI) und der<br />
Zentralverein <strong>De</strong>utscher Inhaltsangaben (ZDI) werfen sich wechselseitig "vollinhaltliches<br />
Versagen" vor, der Verein <strong>De</strong>utscher Inhaltsfälscher und Contentverdreher (VDIuC) wirbt mit<br />
niveauvollen Getränken um Verständnis und die Nörglergemeinschaft <strong>De</strong>utscher Inhalt (NDI)<br />
richtet sich mit einem dramatischen Appell an "alle Inhaltefreundinnen und Inhaltsfreunde:<br />
Wenn es so weitergeht, wird die Zukunft inhaltsleer!" Raubdiskutierer, Fressesprecher und<br />
Inhalteversteher: volle Dröhnung Echtzeitverblödung! Nach diesem Inhalte-Gipfel bleibt nur<br />
noch festzustellen: Inhalte sind wirklich der letzte Dreck! Für ein besseres Morgen: Blitzkrieg<br />
on Bullshit! Kein Pardon! Keine Gefangenen! Aber macht euch trotzdem keine Sorgen, früher<br />
oder später niest das Hirn alles wieder raus, vor allem jetzt im Herbst und erst recht später<br />
im Winter - Endlich wieder keine Zeit zum Kochen!<br />
82
Die Stunde der Städte<br />
Tanzen in Bamako, Zelten in Ulan-Bator,<br />
Sparen in Las Vegas, Planen in Peking,<br />
Opernarien in der Pariser Metro – die Städte<br />
der Welt regen uns auf und ziehen uns an.<br />
Edition Le Monde diplomatique, Heft 14 »Moloch, Kiez & Boulevard.<br />
Die Welt der Städte«, broschiert, 112 Seiten, ISBN 978-3-937683-45-4<br />
8,50 €*<br />
<strong>De</strong>r etwas andere<br />
Städteführer<br />
mit Beiträgen von<br />
Sieglinde Geisel,<br />
Philippe Rekacewicz,<br />
Rebecca Solnit,<br />
Charlotte Wiedemann<br />
u. a.<br />
Sechs Filme zum Geschichtsatlas<br />
Die neue DVD-Box Le Monde diplomatique film mit<br />
sechs zum Teil preisgekrönten Filmen ist<br />
eine Fundgrube für Fans von Ton- und Bildarchiven.<br />
Historische Aufnahmen an Originalschauplätzen,<br />
Interviews mit Zeitzeugen und erstmals<br />
veröffentlichte Super-8-Filme erweitern den<br />
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<strong>De</strong>r Geschichtsatlas<br />
+ plus DVD-Box für<br />
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102 Seiten, über 130 Karten<br />
und Infografiken,<br />
ISBN 978-3-937683-32-4<br />
DVD-Box Le Monde diplomatique film »Das 20. Jahrhundert«<br />
mit Poster, sechs Filme, Länge: 480 Min, EAN 405 291 236 0860<br />
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bei Le Monde diplomatique bestellen.<br />
T. (030) 25 90 21 38 • F. (030) 25 90 25 38)<br />
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www.zelda.de<br />
© 2013 Nintendo. Wii U is a trademark of Nintendo. © 2013 Nintendo.<br />
* Einlösung des Download-Codes im Nintendo eShop. Um den Nintendo eShopnutzen zu können, musst du<br />
den NINTENDO NETWORK VERTRAG und die NINTENDONETWORK DATENSCHUTZRICHTLINIE akzeptieren.<br />
Für den drahtlosen Internetzugang können unter Umständen Gebühren anfallen.