Pr_VE_Finnland-BW-Berlinvertretung
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Moderne legte. Freilich war der in der jungen Republik grassierende nationalistische<br />
Sibelius-Kult auch ein problematisches Erbe, dem sich jüngere finnische Komponisten<br />
nur dadurch zu entziehen vermochten, dass sie zumal seit 1945 Anregungen der Avantgarden<br />
Westeuropas und Amerikas aufgriffen. Deren Einfluss reicht von der Dodekaphonie<br />
über serielle Techniken bis hin zum Jazz. Auch und gerade in der avancierten<br />
Chormusik entstanden solchermaßen außerordentlich innovative Hybride aus einheimischen<br />
Traditionen und internationalen Orientierungen. Von ihnen legt auch das Konzert<br />
dieses Abends, das weltliche und geistliche, ja sogar gottesdienstnahe Kompositionen<br />
vereint, Zeugnis ab.<br />
Einojuhani Rautavaara<br />
Einojuhani Rautavaara ist womöglich <strong>Finnland</strong>s bedeutendster lebender Komponist.<br />
Die Schaffensbiografie des 1928 in Helsinki Geborenen steht geradezu exemplarisch für<br />
den Weg des musikalischen <strong>Finnland</strong> in die Moderne. Kein anderer als Sibelius ließ an<br />
Rautavaara 1955 ein Stipendium weiterreichen, das die Koussevitsky-Stiftung dem damals<br />
90-jährigen zuerkannt hatte. Dieses ermöglichte es dem jungen Adepten, unter<br />
anderem bei Aaron Copland am amerikanischen Tanglewood Music Center und bei dem<br />
Dodekaphoniker Wladimir Vogel in Ascona zu studieren. Sibelius, Copland, Vogel – die<br />
extrem unterschiedlichen Stilrichtungen, die diese Vorbilder und Lehrer repräsentieren,<br />
geben auch dem Werk des außerordentlich produktiven und in Gattungen wie der<br />
Sinfonik, der Oper und der Chormusik gleichermaßen erfolgreichen Rautavaara seine<br />
komplexe, in sich widersprüchliche Vielseitigkeit. Von der Bruckner-Nachfolge über den<br />
nordischen Expressionismus, die Zwölftontechnik und den Serialismus bis zu einer neuen<br />
quasi-romantischen Einfachheit und Eingängigkeit lässt sich seine Stilentwicklung verfolgen.<br />
Eine Konstante des Oeuvres ist die mystische Dimension, etwa die auf frühkindliche<br />
Erlebnisse zurückgehende Neigung zur Darstellung von Engelserscheinungen.<br />
Um diese geht es auch im Canticum Mariae virginis von 1978, das auf der Textebene drei<br />
altchristliche Marientexte vereinigt: den Hymnus »Ave maris stella«, den Tractus »Gaude<br />
Maria virgo« und den Vers »Beatam me dicent« aus dem Magnificat. Rauta vaaras<br />
Vertonung kombiniert diese Texte vertikal in einer Weise, die man mit Blick auf mittelalterliche<br />
Verfahren mit einiger Freiheit als Tropierung bezeichnen könnte. Bevor mit<br />
den unverkennbar an gregorianische Melodiebildungen erinnernden «Gaude«-Rufen<br />
des Soprans (später auch in dialogischer Verzahnung mit dem Bass) die Musik ein scharfes<br />
<strong>Pr</strong>ofil erhält, scheint sich in den zehnstimmig aufgespalteten Alti und Tenören eine<br />
an Ligeti erinnernde statische Klangfläche zu etablieren. Dieser Eindruck trügt indes:<br />
Zunächst verdeckt durch die schier omnipräsente Sekundreibung Eis-Fis in der Horizontalen<br />
wie in der Vertikalen, entwickelt sich vielmehr ein zehnstimmiger Kanon, der mit<br />
althergebrachten kontrapunktischen Künsten wie Themenvergrößerung und -verkleinerung,<br />
Spiegel- und Palindrom-Techniken (ab einem bestimmten Punkt läuft das Thema<br />
achsensymmetrisch zu seinem Beginn zurück) nur so gespickt ist. Solchermaßen erweist<br />
sich Rautavaara in diesem zweifellos «modern« klingenden Werk zugleich als radikaler<br />
Traditionalist. Symmetriebildungen vielfältiger Art bestimmen auch die Großform der<br />
Komposition. Ganz am Schluss aber tritt<br />
ein neues Motiv hinzu: Zu dem bekannten,<br />
in Quart-Parallelen geführten «Gaude«-<br />
Motiv der Soprane erklingen in den Bässen<br />
Glockenquinten («come campani«).<br />
Eine großartige Klangidee, der freilich erst<br />
in großen Räumen mit entsprechendem<br />
Nachhall ihre optimale Verwirklichung zuteil<br />
wird. Sie ist aber nur ein Beispiel dafür,<br />
dass das Werk an tüfteliger Polyphonie<br />
keineswegs sein Genügen hat. Vielmehr<br />
führt Rautavaara hier Sinnlichkeit und<br />
Konstruktion zu einer in jeder Hinsicht<br />
Einojuhani Rautavaara<br />
überzeugenden Synthese.<br />
Zu Beginn der 90er Jahre beauftragte der<br />
Philharmonische Chor Tokio Rautavaara mit einer größeren Chorkomposition, deren<br />
Text und Musik »eine Beziehung zur heutigen Welt« haben sollten. Rautavaara schrieb<br />
daraufhin – 1993 – die dreiteilige Canción de nuestro tiempo auf Gedichte des spanischen<br />
Lyrikers Federico Garcia Lorca, der 1936, beim Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs,<br />
von Angehörigen der faschistischen Falange ermordet worden war. »Beziehung<br />
zur heutigen Welt«? In der Tat, die Art und Weise, wie sie die Themen Sterblichkeit und<br />
Angst traktierten, sei, so Rautavaara, sogar noch aktueller als zur Entstehungszeit der<br />
Gedichte in den 20er und 30er Jahren. So gab er der Vertonung des dritten Poems – »Ciudad<br />
sin sueño« (»Stadt ohne Träume«) – aufgrund von dessen »unerhörten Bildern«, die<br />
er seinerzeit mit den Gräueln in der im serbisch-bosnischen Krieg belagerten bosnischen<br />
Hauptstadt assoziierte, den Untertitel »Nocturno del Sarajevo« (»Nachtstück aus Sarajewo«).<br />
Der erste Satz, »Fragmentos de agonía« (»Fragmente des Leidens«), setzt Lorcas surrealmythische<br />
Bilder einer harten, inhumanen industriellen und kriegerischen Welt in einen<br />
Litaneiton so mechanischen wie drängenden Charakters um. Aus der akkordischen<br />
Textur, in der sich die jeweiligen Stimmen, von d-Moll ausgehend, vorzugsweise chro-<br />
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