09.06.2017 Aufrufe

Life Juni 2017 Druck

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Warum Millionen Deutsche den falschen Job haben<br />

Top-Akademiker putzen das Möbelhaus, ein Kapitän kontrolliert Pässe,<br />

ein Ingenieur fährt Taxi. Jeder siebte Deutsche ist überqualifiziert. Die<br />

Gründe für die Job-Missverständnisse sind teils bitter.<br />

Von seinem alten Leben bleiben Bernd von Kuhlmann nur Andenken.<br />

Ihm gefällt ein Foto, auf dem er keck in die Kamera schaut, in Hemd,<br />

karierter Weste und schwarzer Fliege. An der Wand zeigen Monitore die<br />

aktuelle Position der Internationalen Raumstation ISS. Vor ihm leuchten<br />

fünf Bildschirme, von Kuhlmann hält die Computermaus in der Hand,<br />

trägt Kopfhörer mit Sprachmikrofon und sein Blick scheint zu sagen:<br />

„Alles unter Kontrolle.“<br />

Die Aufnahme stammt vom 17. Februar 2008. Die Zeit: 16.26 Uhr<br />

und 18 Sekunden. Die Astronauten-Crew ist seit drei Stunden, sieben<br />

Minuten und 37 Sekunden wach. Das ist auf den Monitoren zu sehen.<br />

Von Kuhlmann war Ausbildungsleiter und Flight Direktor im Deutschen<br />

Zentrum für Luft- und Raumfahrttechnik in Oberpfaffenhofen. Damals.<br />

Von seiner heutigen Arbeit gibt es keine Fotos. Die verbietet sein Arbeitgeber,<br />

ein Möbelhaus. Bernd von Kuhlmann baut Schränke auf, oder er<br />

fegt vor der Müllpresse den Dreck zusammen. Der promovierte Physiker<br />

ist 50 Jahre alt und als „ungelernte Kraft“ eingestuft. Er verdient 1900<br />

Euro im Monat. Brutto. In Vollzeit. Von Kuhlmann geht hart mit sich ins<br />

Gericht: „Was für eine Verschwendung meines Lebens, denke ich oft.“<br />

Keine Frage, Bernd von Kuhlmann ist ein extremer Fall. Er ist aber<br />

beileibe keine Ausnahme. Hierzulande fahren Ingenieure Taxi, Sozialpädagogen<br />

räumen Regale ein, Schreinermeister stehen hinter Verkaufstresen.<br />

Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ist vor Jahrzehnten<br />

durchgestartet in die Wissensgesellschaft. Aber längst nicht alle Techniker,<br />

Bachelor- und Master-Absolventen bringen ihr Wissen auf dem<br />

Arbeitsmarkt unter.<br />

Im Gegenteil: Millionen Beschäftigte sind für ihre Arbeit überqualifiziert.<br />

Die Gründe sind vielfältig, die Folgen oft schwerwiegend. Für<br />

manch Betroffenen kann die Unterforderung zu psychischen Problemen<br />

führen. Für die Volkswirtschaft als Ganzes stehen verlorene Bildungsinvestitionen<br />

zu Buche.<br />

Gut ausgebildete Frauen bleiben oft unter ihren Möglichkeiten<br />

Aktuellen Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung<br />

(IAB) zufolge arbeiten mehr als 15 Prozent aller Beschäftigten unterhalb<br />

ihres Qualifikationsniveaus. Besonders die gut ausgebildeten Frauen<br />

bleiben unter ihren Möglichkeiten. 58 Prozent der Bachelor-Absolventinnen,<br />

Meisterinnen und Technikerinnen sind für die Beschäftigung,<br />

der sie nachgehen, formal überqualifiziert.<br />

16<br />

<strong>Life</strong><br />

<strong>Juni</strong><br />

Fragt man die Arbeitnehmer selbst, ist die Lage kaum besser. Im Mikrozensus<br />

von 2014 gaben zwölf Prozent aller Erwerbstätigen an, sie fühlten<br />

sich für die Anforderungen an ihrem aktuellen Arbeitsplatz überqualifiziert.<br />

Frauen waren mit einem Anteil von 14 Prozent über alle Bildungsabschlüsse<br />

hinweg überdurchschnittlich häufig betroffen.<br />

Die Zahlen verharren seit Jahren auf hohem Niveau – trotz der Millionen<br />

von Jobs, die in den vergangenen zehn Jahren auch und gerade für<br />

Gutqualifizierte entstanden sind. Das Problem: Es wachsen immer mehr<br />

Menschen nach, die ihre Ausbildung nicht nutzen. Die einen haben<br />

durch längere Auszeiten den Anschluss verpasst. Andere fühlen sich<br />

überfordert, wollen zurückschalten. Wieder andere haben eine Pechsträhne<br />

oder müssen schlicht erkennen, den falschen Beruf gewählt zu<br />

haben.<br />

Krank vor Unterforderung<br />

Manche der Betroffenen landen bei Bastian Willenborg, dem Chefarzt<br />

der privaten Oberbergklinik Berlin/Brandenburg. Neben gestressten<br />

Managern, die ihres Jobs nicht mehr Herr werden, kommen zu ihm<br />

häufiger Menschen, die krank sind vor Unterforderung. Seine Klinik ist<br />

idyllisch zwischen Wald und See gelegen, etwa eine Autostunde entfernt<br />

von der hektischen Hauptstadt. Ruhe pur. Doch einigen seiner Patienten<br />

ist es schon im Job zu ruhig.<br />

Da seien die Ministerialbeamten, Rats- oder Oberratsebene etwa, „in der<br />

Regel extrem gut ausgebildet und engagiert“, berichtet Willenborg. Alle<br />

zwei bis drei Jahre werden sie auf einen neuen Dienstposten versetzt.<br />

„Und plötzlich finden sie sich auf einem Posten, auf dem ihre Autonomie<br />

extrem eingeschränkt ist. Für alles müssen sie Rücksprache mit<br />

ihrem Vorgesetzten halten, dürfen nichts selbst entscheiden, fühlen sich<br />

wie eine Verwaltungskraft und langweilen sich fürchterlich“, sagt der<br />

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Das macht krank.“ Zumindest,<br />

wenn es den Menschen nicht gleichzeitig gelingt, die Defizite<br />

bei der Arbeit durch Familie, Hobbys oder Freunde zu kompensieren.<br />

Typische Folgen könnten dann Schlafstörungen sein, Ängste, Depressionen<br />

oder Suchterkrankungen.<br />

Mit Blick auf diese Konsequenzen hat Dirk Wächtler fast noch Glück<br />

gehabt. Denn auch seine Karriere verlief alles andere als glatt. Der<br />

Seefahrtsingenieur mit Kapitänspatent für die „große Fahrt“ kontrolliert<br />

Pässe am Münchner Flughafen. Zur falschen Zeit am falschen Ort<br />

sei er im Leben gewesen, sagt Wächtler – „und dann kam auch noch<br />

Pech dazu“. Wächtler studierte an der Ingenieurhochschule für Seefahrt<br />

der DDR. Große Tanker der Handelsflotte hätte er steuern sollen. Vor<br />

seinem ersten Einsatz fiel die Mauer. Bei den Reedereien im Westen<br />

klopften zig Kapitäne an, die mehr Erfahrung hatten als er. Sie bekamen<br />

die guten Jobs.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!