3. Vorlesung/4. Vorlesung Wahnsinn, Witz und Waldeinsamkeit ...
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<strong>3.</strong> <strong>Vorlesung</strong>/<strong>4.</strong> <strong>Vorlesung</strong><br />
<strong>Wahnsinn</strong>, <strong>Witz</strong> <strong>und</strong> <strong>Waldeinsamkeit</strong> – Kunstmärchen <strong>und</strong> Komödie<br />
bei Ludwig Tieck: Der Blonde Eckbert <strong>und</strong> Der gestiefelte Kater
1. Werkbiographische Anmerkungen zu Tieck<br />
2. Annäherung: William Lovell – Langeweile <strong>und</strong> die<br />
Gefährdungen eines selbstermächtigten „Ich“<br />
<strong>3.</strong> Bildungsfolklore: Zur Gattung des Kunstmärchens<br />
<strong>4.</strong> Metalepsie I: Der blonde Eckbert<br />
„Perversion“: Der Eckbert als verdrehte romantische<br />
Erzählung vom verlorenen Paradies<br />
Metalepsie: Der Eckbert als romantische Erzählung<br />
von „schwindeligen Identitäten“
LUDWIG TIECK (1773-1853)
„[D]as W<strong>und</strong>erbarste vermischte sich mit dem<br />
Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert“<br />
(Tieck, Ludwig: Der blonde Eckbert, Stuttgart 2001 [im<br />
Folgenden zitiert als DbE], S. 23)<br />
„Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem<br />
Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten<br />
die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen<br />
unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es“<br />
(Novalis: Die Welt muss romantisiert werden, a.a.O., S. 57)
JOHANN GOTTLIEB FICHTE (1762-1814)
„Das Ich setzt sich selbst, <strong>und</strong> es ist, vermöge dieses<br />
bloßen Setzens durch sich selbst; <strong>und</strong> umgekehrt: Das<br />
Ich ist, <strong>und</strong> es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen<br />
Seins. – Es ist zugleich das Handelnde, <strong>und</strong> das<br />
Produkt der Handlung; das Tätige, <strong>und</strong> das, was<br />
durch die Tätigkeit hervorgebracht wird. […] Das Ich<br />
ist schlechthin gesetzt.“<br />
(Fichte, Johann Gottlieb: Gr<strong>und</strong>lage der gesamten<br />
Wissenschaftslehre [1794], § 1, Abs. 6 <strong>und</strong> 7,<br />
Hamburg 1988, S. 16)
„[I]ch stehe dann da in der freudenleeren Welt, einer Uhr gleich,<br />
auf welcher der Schmerz unaufhörlich denselben langsamen<br />
einförmigen Kreis beschreibt.“ (Ludwig Tieck: William Lovell,<br />
Stuttgart 1999 [im Folgenden zitiert als: WL], S. 20)<br />
„Diese Langeweile hat bereits mehr Unglück in die Welt<br />
gebracht als alle Leidenschaften zusammengenommen. Die Seele<br />
schrumpft dabei wie eine gedörrte Pflaume zusammen, der<br />
Verstand wächst nach <strong>und</strong> nach zu <strong>und</strong> ist so unbrauchbar wie<br />
eine vernagelte Kanone, alles Spirituöse verfliegt, - da sitzt man<br />
denn nun hinter dem Ofen <strong>und</strong> zählt an den Fingern ab, wenn das<br />
Abendessen erscheinen wird; die St<strong>und</strong>en sind einem solchen<br />
Mann länger, als dem, den man am Pranger mit Äpfeln wirft;<br />
man mag nichts denken, denn man weiß vorher, dass nur<br />
dummes Zeug daraus wird, man mag nicht aufstehn, man weiß,<br />
dass man sich gleich wieder niedersetzt, das drückende Gefühl<br />
geht mit, wie das Haus mit der Schnecke.“ (WL 70)
„Aber was ist es, […] dass ein Genuß nie unser Herz ganz<br />
ausfüllt? – Welche unnennbare, wehmütige Sehnsucht ist es, die<br />
mich zu neuen ungekannten Freuden drängt?“ (WL 124)<br />
„An dies Leben hänge ich alle meine Freuden <strong>und</strong> Hoffnungen, -<br />
jenseits, - mag es sein, wie es will, ich mag für keinen Traum<br />
gewisse Güter verloren geben.“ (WL 165)<br />
„Ich selbst bin das einzige Gesetz in der ganzen Natur, diesem<br />
Gesetz gehorcht alles. Ich verliere mich in eine weite, unendliche<br />
Wüste.“ (WL 169)<br />
„Seit langer Zeit hab’ ich mich bestrebt, das Fremdartige,<br />
Fernliegende zu meinem Eigentume zu machen, <strong>und</strong> über dieser<br />
Bemühung habe ich mich selbst verloren.“ (643)<br />
„And as things fell apart/nobody paid much attention.”<br />
(Talking Heads - (Nothing But) Flowers)
James Macpherson - Fragments of Ancient Poetry (1760)<br />
J.G. Herder – Volkslieder (1778/79)<br />
„Auf eine andre höhere Stufe <strong>und</strong> in eine freiere Aussicht der Fantasie<br />
führt uns dagegen der epische Sagenstrom; denn dieser hat es gar nicht<br />
mehr mit der Gegenwart <strong>und</strong> Wirklichkeit zu tun, sie mag nun idealisch<br />
oder polemisch aufgefaßt werden. Er entspringt einer tieferen<br />
Naturquelle, <strong>und</strong> auch was geschichtlich ist in dieser Poesie der<br />
Vergangenheit, wird aufgelöst <strong>und</strong> verschmilzt in das allgemeine Sagen-<br />
Element uralter <strong>und</strong> ewiger Fantasie, so daß nichts einzelnes mehr in<br />
reeller Absonderung dramatisch hervortreten kann. Die Sage ist mit<br />
einem Wort die Seele der Poesie. [...] Das philosophische Naturgedicht<br />
oder die alte Kosmogonie der Götter bildet nur einen Zweig, eine Episode<br />
derselben; die Romanzen sind die einzelnen, zerstreuten Anklänge der<br />
epischen Sage [...] <strong>und</strong> das Märchen ist eine Spielsage, als arabeske<br />
Dichtung, zum Scherz der Fantasie, in allem Bilderschmuck der<br />
blühendsten Poesie. (Friedrich Schlegel, in: KFSA II, S. 357f.)
Charles Perrault - Histoires ou contes du temps passé, avec des<br />
moralités : Contes de ma mère l’Oye (1697) (dt. Feenmärchen für<br />
die Jugend 1822)<br />
In einem ächten Märchen muß alles w<strong>und</strong>erbar – geheimnißvoll<br />
<strong>und</strong> unzusammenhängend seyn – alles belebt. [...] Die ganze<br />
Natur muß auf eine w<strong>und</strong>erliche Art mit der ganzen Geisterwelt<br />
vermischt seyn.[...] Die Welt des Märchens ist die durchaus<br />
entgegengesetzte Welt der Welt der Wahrheit (Geschichte) – <strong>und</strong><br />
eben darum ihr so durchaus ähnlich wie das Chaos der<br />
vollendeten Schöpfung.[...] Das ächte Märchen muß zugleich<br />
Prophetische Darstellung – idealische Darstellung – absolut<br />
notwendige Darstellung seyn. Der ächte Märchendichter ist ein<br />
Seher der Zukunft.<br />
(Novalis, in: KS III, S. 280f.)
Mein Vater glaubte, es wäre nur Eigensinn oder Trägheit von mir,<br />
um meine Tage in Müßiggang hinzubringen, genug, er setzte mir<br />
mit Drohungen unbeschreiblich zu; da diese aber doch nichts<br />
fruchteten, züchtigte er mich auf die grausamste Art, indem er<br />
sagte, dass diese Strafe mit jedem Tage wiederkehren sollte, weil<br />
ich doch nur ein unnützes Geschöpf sei. (DbE 5)<br />
In das sanfteste Rot <strong>und</strong> Gold war alles verschmolzen, die Bäume<br />
standen mit ihren Wipfeln in der Abendröte, <strong>und</strong> über den Feldern<br />
lag der entzückende Schein, die Wälder <strong>und</strong> die Blätter der Bäume<br />
standen still, der reine Himmel sah aus wie ein aufgeschlossenes<br />
Paradies, <strong>und</strong> Rieseln der Quellen <strong>und</strong> von Zeit zu Zeit das<br />
Flüstern der Bäume tönte durch die heitre Stille wie in wehmütiger<br />
Freude. (DbE 9)
Aus dem wenigen, was ich las, bildete ich mir ganz w<strong>und</strong>erliche<br />
Vorstellungen von der Welt <strong>und</strong> den Menschen […] Ich hatte auch<br />
von Liebe etwas gelesen <strong>und</strong> spielte nun in meiner Phantasie<br />
seltsame Geschichten mit mir selber. Ich dachte mir den<br />
schönsten Ritter von der Welt, ich schmückte ihn mit allen<br />
Vortrefflichkeiten aus […](DbE 12)<br />
Ich war jetzt vierzehn Jahr alt, <strong>und</strong> es ist ein Unglück für den<br />
Menschen, dass er seinen Verstand nur darum bekömmt, um die<br />
Unschuld seiner Seele zu verlieren. (DbE 13)<br />
Jetzt wandelte mich oft eine Furcht vor meiner Aufwärterin an,<br />
ich dachte an mich selbst zurück <strong>und</strong> glaubte, dass sie mich auch<br />
einst berauben oder wohl gar ermorden könne. (DbE 17)
Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte <strong>und</strong> es sich<br />
einfallen ließ zu sagen: dies ist mein <strong>und</strong> der Leute fand, die<br />
einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer<br />
der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege,<br />
Morde, wie viel Not <strong>und</strong> Elend <strong>und</strong> wie viele Schrecken hätte<br />
derjenige dem Menschengeschlechte erspart, der die Pfähle<br />
herausgerissen oder den Graben zugeschüttet <strong>und</strong> seinen<br />
Mitmenschen zugerufen hätte: „Hütet euch, auf diesen Betrüger<br />
zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte<br />
allen gehören <strong>und</strong> die Erde niemandem.“<br />
(Rousseau, Jean Jacques: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur<br />
l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen<br />
Fragmenten <strong>und</strong> ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben <strong>und</strong> den<br />
Handschriften neu ediert, übersetzt <strong>und</strong> kommentiert von Heinrich Meier,<br />
Paderborn u.a. 2001, S. 173)
Es schien aber seine Verdammnis zu sein, gerade in der St<strong>und</strong>e<br />
des Vertrauens Argwohn zu schöpfen, denn kaum waren sie in den<br />
Saal getreten, als ihm beim Schein der vielen Lichter die Mienen<br />
seines Fre<strong>und</strong>es nicht gefielen. Er glaubte ein hämisches Lächeln<br />
zu bemerken, es fiel ihm auf, dass er nur wenig mit ihm spreche,<br />
dass er mit den Anwesenden viel rede <strong>und</strong> seiner gar nicht zu<br />
achten schien. (DbE 22)
Metalepse<br />
ein nur in fiktionaler Rede möglicher narrativer Kurzschluss, bei<br />
dem infolge einer Rahmenüberschreitung die Grenze zwischen<br />
extra- <strong>und</strong> intradiegetischer Position aufgehoben wird (indem<br />
z.B. die Figuren eines Textes über ihren Autor sprechen [Tiecks<br />
Kater, Johnsons Jahrestage], oder der Leser eines Textes zu<br />
dessen Protagonisten wird [Stardust memories]).<br />
Walther wünschte ihr mit einem Handkusse eine gute Nacht <strong>und</strong><br />
sagte: „Edle Frau, ich danke Euch, ich kann mir Euch recht<br />
vorstellen, mit dem seltsamen Vogel, <strong>und</strong> wie Ihr den kleinen<br />
Strohmian füttert. (DbE 18)
Er stieg träumend einen Hügel hinan; es war, als wenn er ein<br />
nahes, munteres Bellen vernahm, Birken säuselten dazwischen,<br />
<strong>und</strong> er hörte mit w<strong>und</strong>erlichen Tönen ein Lied singen:<br />
<strong>Waldeinsamkeit</strong><br />
Mich wieder freut,<br />
Mir geschieht kein Leid,<br />
Hier wohnt kein Neid,<br />
Von neuem mich freut<br />
<strong>Waldeinsamkeit</strong><br />
Jetzt war es um das Bewußtsein, um die Sinne Eckberts geschehn;<br />
er konnte sich nicht aus dem Rätsel herausfinden, ob er jetzt<br />
träume oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe;<br />
das W<strong>und</strong>erbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die<br />
Welt um ihn her war verzaubert <strong>und</strong> er keines Gedankens, keiner<br />
Erinnerung mächtig. (DbE 23)
Gegen Abend schien die Gegend umher etwas fre<strong>und</strong>licher zu<br />
werden […]Ich glaubte jetzt das Gesause einer Mühle aus der<br />
Ferne zu hören […] Mir war, als wenn ich aus der Hölle in ein<br />
Paradies getreten wäre, die Einsamkeit <strong>und</strong> meine Hülflosigkeit<br />
schienen mir nun gar nicht fürchterlich. […] als mir plötzlich<br />
war, als höre ich in einiger Entfernung ein leises Husten. […]eine<br />
alte Frau gewahr, die auszuruhen schien […]Als wir vom Hügel<br />
hinuntergingen, hörte ich einen w<strong>und</strong>erbaren Gesang, der aus<br />
der Hütte zu kommen schien […]so war es fast, als wenn<br />
Waldhorn <strong>und</strong> Schalmeie ganz in der Ferne durcheinander<br />
spielten. […] denn ihr Gesicht war in einer ewigen Bewegung,<br />
[…], so dass ich durchaus nicht wissen konnte, wie ihr<br />
eigentliches Aussehen beschaffen war. […] dass es mir immer<br />
nicht war, als sei ich erwacht, sondern als fiele ich nur in einen<br />
anderen, noch seltsamern Traum. (DbE 8-11)
Eckbert Bertha<br />
Alte Walther Hugo<br />
Strohmian