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Siegelwelt-Chroniken - Die Feuerprobe / von Beate Weirich

Der Initiationsweg einer jungen Frau https://tintenweberei.com

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<strong>Die</strong> <strong>Siegelwelt</strong>-<strong>Chroniken</strong> Band 6<br />

<strong>Beate</strong> Paul<br />

<strong>Feuerprobe</strong><br />

Armadillo Collection<br />

2012


<strong>Die</strong> <strong>Siegelwelt</strong>-<strong>Chroniken</strong> Band 6: <strong>Feuerprobe</strong><br />

Lektorat: Christine Hochberger<br />

Umschlagillustration: Fern <strong>Weirich</strong><br />

©2012 Armadillo-Collection: Fern <strong>Weirich</strong><br />

© 2012 der Texte: <strong>Beate</strong> Paul<br />

© 2012 der Illustrationen: Fern <strong>Weirich</strong><br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

2


Einige Worte zuvor<br />

<strong>Die</strong> alten Helden haben ausgedient. Wer die Erde der Zukunft mit<br />

Egomanen, herzlosen Kampfmaschinen bestückt, beweist nicht viel<br />

Phantasie und spricht der Menschheit die Fähigkeit ab, lernfähig zu<br />

sein. <strong>Die</strong> Autorin hat ihren fesselnden Roman mit Heldinnen und<br />

Helden einer anderen Art ausgestattet, wie die junge Miri, die sich<br />

voller Kraft, Herz, Mut und Klugheit durch ihren Initiationsweg<br />

kämpft.<br />

Haben die „Heldenreise“ <strong>von</strong> Paul Rebillot, die Initiationsarbeit der<br />

„School of Lost Borders“ und der Weg der Heldenarchetypen<br />

irgendetwas in einem Endzeitszenario zu suchen? Warum nicht!<br />

<strong>Die</strong>se Wege sind zukunftsweisend, da sie den Menschen seinem<br />

tatsächlichen Wesen näher bringen. Sie helfen ihm, der zu werden,<br />

als der er geboren wurde und der er immer schon war. Und diese<br />

Wege sind im Kern uralt. Ihre Wurzeln finden sich in den ältesten<br />

Mythen und Ritualen der Menschheit. Sie haben das Potenzial, auch<br />

noch in Jahrhunderten wirksam zu sein.<br />

Ich schreibe diese Zeilen auf einer Decke sitzend, neben einer<br />

indianischen Schwitzhütte. Ich bereite gerade eine Gruppe <strong>von</strong><br />

Männern auf ihre Initiationserfahrung vor. Ihr Weg ist es, zu sterben<br />

und neu geboren zu werden. Wie die Heldin dieser Geschichte sind<br />

sie auf verschiedenen Ebenen unterwegs. Einer-seits ist alles nur<br />

Fiktion, Spiel, so tun als ob. Andererseits ist alles real. <strong>Die</strong> Ängste sind<br />

real, die Widerstände, die kraftvollen Energien in der Psyche jedes<br />

Einzelnen sind real. Und diese Art der Realität kleidet sich gerne in<br />

3


mythische Bilder, in archetypische Figuren. Jeder dieser Männer<br />

gestaltet und erlebt seine persönliche „<strong>Feuerprobe</strong>“.<br />

Bei der Lektüre dieses Romans habe ich oft geschmunzelt, weil mir<br />

die eine oder andere Szene sehr vertraut vorkam. Nicht, weil ich sie<br />

in anderen Geschichten gelesen hätte, sondern weil sie sich so oder<br />

so ähnlich auch in den magischen Räumen einer Visionssuche oder<br />

Heldenreise ereignen. Auch dort werden die Helden <strong>von</strong><br />

sprechenden Tieren begleitet, zauberkräftige Waffen helfen ihnen,<br />

das Ungeheuer auf der Schwelle zu überwinden und den Schatz zu<br />

erringen, mit dem sie in die alltägliche Welt zurück-kehren.<br />

Ich wünsche diesem Buch viele begeisterte Leserinnen und Leser.<br />

Vielleicht motiviert es sogar den einen oder anderen, sich selbst auf<br />

die Socken zu machen.<br />

Wasserburg, 24. Mai 2012<br />

Franz Mittermair<br />

4


Zum besseren Verständnis<br />

Miris Welt ist uns zwar nicht völlig fremd, aber auch nicht ver-traut.<br />

<strong>Die</strong> Zivilisation, wie wir sie kennen, wurde durch Erdbeben,<br />

Vulkanausbrüche, Überschwemmungen und eine tödliche Seuche<br />

fast völlig ausgelöscht. Buchstäblich im letzten Moment haben die<br />

Überlebenden begonnen unter der Führung der Regenbogenkrieger<br />

eine neue Welt aufzubauen.<br />

Im Jahr 2136 leben die meisten Bewohner der Rhein-Main-Region<br />

unter riesigen Biokuppeln. Sie haben sich darauf geeinigt, auf jede<br />

Form <strong>von</strong> Gewalt zu verzichten. Natürlich gibt es immer noch<br />

Konflikte, doch es gibt auch kreative Lösungen.<br />

In den Außenbereichen am Rand der Kuppeln leben die Schrotthändler,<br />

die mit alten Trucks und Maschinen in die Ebenen hinausfahren,<br />

um Metall-Lagerstätten zu suchen. Da die Menschen nicht<br />

nur auf Gewalt sondern auch auf jede Form der Ausbeutung<br />

verzichten, werden keine natürlichen Erzvorkommen mehr ausgebeutet<br />

und die Kuppelstädte sind auf Metallfunde aus der Zeit vor<br />

dem „großen Rums“ angewiesen.<br />

Andere Menschen haben sich zu Clans zusammengeschlossen, die als<br />

Nomaden über die Ebenen ziehen, um der Stimme der Erd-mutter zu<br />

lauschen. In den Liedern der Sterne und im Herzschlag des<br />

Erddrachen suchen sie nach der Magie, die die vielen ausgestorbenen<br />

Tier- und Pflanzenarten zurückbringt.<br />

5


<strong>Die</strong> achtzehnjährige Miriel Rosen arbeitet in der Wildniskuppel,<br />

einem ehemaligen Park aus der Zeit vor dem „großen Rums“, der<br />

heutzutage für Psychotherapie und Selbsterfahrung genutzt wird.<br />

Nach ihrer Ausbildung zur Wildnisassistentin ist sie auf dem Weg zu<br />

ihrer Abschlussprüfung …<br />

<strong>Beate</strong> Paul<br />

6


Erstes Kapitel<br />

„Bitte treten Sie <strong>von</strong> der Rampe zurück und verlassen Sie die<br />

gekennzeichneten Bereiche. Der Gleiter ist besetzt“, tönte eine gelangweilte<br />

Frauenstimme durch die Station. Miri dachte nicht daran,<br />

zurückzutreten. <strong>Die</strong> junge Frau mit dem straff geflochtenen Zopf<br />

drängte sich an einem übergewichtigen Anzug-Fatzke vorbei. Er hatte<br />

einer Nobel-Tussi und zwei alten Frauen den Vortritt gelassen. Jetzt<br />

dachte er offenbar angestrengt darüber nach, ob er der<br />

Lautsprecherstimme gehorchen, oder noch einsteigen sollte.<br />

„Bitte treten Sie zurück“, wiederholte die Stimme mit gleichbleibender<br />

Höflichkeit. „Der nächste Gleiter der Linie 'Grün‘ vierzehn,<br />

Rhein-Main-Zentrum Südost erreicht die Station in neun-zehn<br />

Minuten. Zu den Stationen einhundertachtunddreißig, Jesper-Juul-<br />

Schule, und einhundertsiebenundzwanzig …“<br />

Miri wollte nichts über Fahrpläne oder alternative Linien wissen. Sie<br />

wollte nur den Überlandgleiter in die Wildniskuppel nicht ver-passen.<br />

Ausgerechnet an ihrem großen Tag durfte sie nicht zu spät kommen.<br />

Mit zwei Sätzen überquerte sie die grün gefärbten Stein-gussplatten<br />

in der Einstiegszone und quetschte sich zwischen den Türflügeln<br />

hindurch. Als diese den Widerstand spürten, öffneten sie sich mit<br />

einem Geräusch, das wie ein vorwurfsvolles Räuspern klang.<br />

„Achtung“, sagte ein Zwillingsbruder der Frau <strong>von</strong> der Stationsdurchsage.<br />

„<strong>Die</strong>ser Wagen ist besetzt. Bitte gehen sie nach vo…“ Der<br />

Mann aus dem Lautsprecher klang so, als hätte er sich ver-schluckt.<br />

Mit einem leisen Zischen glitten die Türen übereinander und der<br />

Gleiter nahm langsam Fahrt auf.<br />

Miri blickte auf den Boden zu ihren Füßen, um den vorwurfsvollen<br />

Blicken ihrer Mitfahrer nicht zu begegnen, während sie nach vorne<br />

7


ging. <strong>Die</strong> Sicherheitsprogramme waren nicht unfehlbar. Irgendwo<br />

würde sie bestimmt noch einen freien Sitz finden.<br />

„Bitte nehmen Sie Platz“, empfing sie der Lautsprecher im nächsten<br />

Wagen. „Aus Gründen der Sicherheit ist es nicht gestattet, während<br />

der Fahrt …“ <strong>Die</strong> Durchsage endete mit einem Misston, der fast wie<br />

ein Ächzen klang. „<strong>Die</strong>ser Gleiter ist besetzt“, fuhr der Sprecher<br />

wenig später fort. Offenbar hatte ihm die Überwachungskamera<br />

verraten, dass ein Passagier zu viel an Bord war. „Bitte steigen Sie an<br />

der Station einhundertachtunddreißig, Jesper-Juul-Schule, aus und<br />

warten Sie auf den nächsten Gleiter der Linie 'Grün' vierzehn, Rhein-<br />

Main-Zentrum Südost.“<br />

„Dann komme ich aber zu spät“, schimpfte Miri.<br />

„Pst, Frau Elbenkönigin.“ Ein pechschwarzer Lockenkopf tauchte<br />

zwischen den Sitzreihen auf. „Komm schnell. Wir schmuggeln dich an<br />

Herrn Kontrollski vorbei.“<br />

„Hallo Wulf.“ Obwohl sie ihm unter normalen Umständen aus dem<br />

Weg gegangen wäre, steuerte Miri eilig auf ihn zu. „Ist bei dir noch<br />

was frei?“<br />

„Nicht für jeden. Aber für so hohen Besuch rücken wir gerne<br />

zusammen.“<br />

Miri hörte jemanden kichern. Noch bevor sie hinter der hohen Lehne<br />

etwas sehen konnte, wusste sie, dass es Sarah war. Das hübsche<br />

Mädchen mit den großen, braunen Augen war seit zwei Jahren Wulfs<br />

Freundin.<br />

„Setz dich auf meinen Schoß.“<br />

„Ich?“ Miri starrte ihn entsetzt an.<br />

8


„Ne, lass mal“, entgegnete Wulf. „Du hast ja immer noch keine Airbags<br />

und einen Hintern wie ein Junge. Ich hab lieber was Griffige-res<br />

im Arm.“<br />

Sarah kletterte auf seinen Schoß und kicherte albern, als Wulf an<br />

ihren Brüsten herumtatschte.<br />

Miri setzte sich auf den freigewordenen Platz und seufzte. Vor zwei<br />

Jahren hatten sie und Sarah noch um die scharfsinnigsten Argumente<br />

im philosophischen Forum im Wettstreit gelegen. Doch seit sie <strong>von</strong><br />

diesem gut aussehenden Wichtigtuer erwählt worden war, schien sie<br />

ihr Gehirn nicht mehr zum Denken zu benutzen.<br />

„Wohin des Weges?“, erkundigte sich Sarah. „So wie du aussiehst,<br />

willst du sicher nicht zum Abtanzen.“<br />

„Volltreffer.“ Lachend schüttelte Miri den Kopf. Bereits der Ge-danke,<br />

dass sie auf dem Weg in eine Tanz-Arena sein könnte, war absurd.<br />

Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie neben Prinzessin Sarah<br />

bestenfalls das Aschenputtel geben konnte. „Ich fahr in die<br />

Wildniskuppel“, sagte sie, bevor die ehemalige Klassenkameradin das<br />

Gespräch auf den neuesten Mode- oder Musiktrend bringen konnte.<br />

„Oh je!“ Wulf schüttelte den Kopf. „Machst du das immer noch?“<br />

„Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten habe ich meine Ausbildung<br />

nicht geschmissen“, entgegnete sie schnippisch. „Heute ist<br />

Abschlussprüfung. Wenn auf der Zielgeraden nicht noch was quer<br />

läuft, bin ich morgen die jüngste Wildnisassistentin, die Ben je ausgebildet<br />

hat.“<br />

„Da wird nichts quer laufen“, sagte Sarah beschwichtigend. „Klarer<br />

Fall. Du schaffst das.“<br />

9


„Na ja, aber …“ Wulf rümpfte die Nase. „Wildnisassistentin?“ Er<br />

dehnte das Wort, als hätte es einen schlechten Geschmack. „Mal<br />

ehrlich. Mit eurer Wildniskuppel lockt ihr doch heutzutage keinen<br />

mehr aus der Bude.“<br />

Miri schnaubte verächtlich, widersprach ihm aber nicht. Schließlich<br />

wusste sie auch, dass die Belegzahlen in den letzten Jahren kontinuierlich<br />

gesunken waren.<br />

„Ich bin in der Abenteuerkuppel“, berichtete Wulf. „Geniale Tech-nik,<br />

Wahnsinnstricks, ständig neue Szenarios und jede Menge Komfort.<br />

Alle Kurse sind ausgebucht. Keiner muss sich mit Gestörten abgeben,<br />

die schon für die Persönlichkeitsauslöschung gebucht sind. Im<br />

Sommer geht mein Kurs in die letzte Runde, dann bin ich Adventure-<br />

Instructor. Aber ich mach gleich weiter. Bis zum Adventure-Coach<br />

schaffe ich es dieses Jahr sicher noch.“<br />

„Pfft.“ Miri blies die Backen auf. „Adventure-Coach! Das macht auf<br />

jeden Fall was her.“<br />

„Du solltest es wenigstens mal ausprobieren“, riet ihr Sarah. „Ich find‘<br />

die Workshops gut und unser Wölfchen hat’s echt drauf.“<br />

Mit einem abgrundtiefen Seufzer verdrehte „Wölfchen“ die Augen.<br />

„Geh wenigstens mal zum Besuchertag“, fügte Sarah noch hinzu.<br />

„Nein, danke.“ Miri schüttelte den Kopf. „Mir ist der Wald lieber als<br />

ein Piratenschiff oder eine nachgebaute Polarlandschaft.“<br />

„Wir haben auch Waldszenarios“, sagte Wulf. „Willst du die Termine?“<br />

„Ach lass mal. Ich steh auf echte Bäume, nicht auf die Holo-Variante.“<br />

10


„<strong>Die</strong> Hologramme kannst du <strong>von</strong> echten Bäumen nicht unterscheiden“,<br />

beteuerte Sarah. „Ich war mal…“<br />

Wulf fiel ihr ins Wort. „Vergiss es. Wenn dir deine Mutter den Namen<br />

einer Elbenkönigin aufgedrückt hätte, müsstest du auch erst in<br />

Hasenköddeln stehen, bevor du glaubst, dass du im Wald bist. Wer<br />

Miriel heißt, kann vermutlich gar nichts anderes als eine<br />

Wildnistrainerin werden.“<br />

„Och Wulf …“ Sarah kicherte und Miri bemühte sich, nicht hinzuhören.<br />

Wulf hatte sie schon immer wegen ihres Namens aufgezogen.<br />

Als ob sie ihre Mutter dazu angestiftet hätte, sie mit dem<br />

Elbennamen „Sternentochter“ zu strafen. Dabei hatte Wulf bestimmt<br />

keinen Grund, darüber zu spotten. Schließlich hieß er nicht<br />

nur Wulf, was ungewöhnlich genug gewesen wäre, seine Eltern<br />

hatten ihn auch noch nach einem Krieger aus einer märchenhaften<br />

Vorzeit „Beowulf“ genannt.<br />

„Sollen wir Daumen drücken?“, erkundigte sich Sarah. „Ist das heute<br />

die Theoretische?“<br />

„<strong>Die</strong> Praktische“, antwortete Miri. „Und Daumendrücker kann ich<br />

heute Abend sicher gut brauchen. Ben hat gesagt, dass er mir die<br />

Prüfungsaufgabe selbst stellen will.“<br />

„Oha!“ In gespieltem Entsetzen riss Wulf die Augen auf. „Er wird dich<br />

bestimmt auf die Suche nach dem legendären Schwert schicken, das<br />

er bei seiner Visionssuche gefunden und durch eine klitzekleine<br />

Unachtsamkeit gleich wieder verloren hat.“<br />

„Wulf!“ Sarah hielt ihm den Mund zu. „Mach ihr doch keine Angst.<br />

Ein großer Jedimeister stellt seinem Padawan keine Aufgaben, die er<br />

nicht auch bewältigen kann. Außerdem müssen wir gleich raus.“<br />

Sie drängte sich an Miri vorbei und Wulf folgte ihr.<br />

11


„Mach’s gut, Elbenkönigin“, rief er zum Abschied so laut, dass es das<br />

ganze Abteil hören konnte. „Vergiss unser dummes Geschwätz und<br />

lass dir <strong>von</strong> den Spirits genau erklären, was du tun musst, um die<br />

Welt zu retten.“<br />

12


Zweites Kapitel<br />

Miri atmete erleichtert auf, als die beiden draußen waren. Früher<br />

hatte sie Wulf gemocht. Er war der Älteste und sie die Jüngste in der<br />

Ausbildungsgruppe gewesen. Trotzdem hatten sie immer gerne und<br />

gut zusammen gearbeitet. Sie hatten sogar da<strong>von</strong> geträumt,<br />

gemeinsam eine Jugendgruppe zu leiten. Mitten in der Vorbe-reitung<br />

zu ihrer Visionssuche hatte Wulf die Ausbildung abge-brochen. Bei<br />

einem Ausflug in die echte Wildnis jenseits der sicheren<br />

Kuppelwände hatte er mit ihrem Mentor einen fürchter-lichen Streit<br />

vom Zaun gebrochen und danach war er einfach nicht mehr<br />

gekommen. Wulf hatte ihr nie erzählt, was passiert war, und Lorenz<br />

hatte ebenfalls geschwiegen.<br />

Egal! Miri kramte ihr Memory-Pad aus dem Rucksack. Der Wildnis-<br />

Trainings-Ordner versteckte sich unter dem Schattenriss eines<br />

galoppierenden Pferdchens. Behutsam strich Miri über die Figur,<br />

bevor sie den Ordner öffnete. Bei der ersten Trancereise hatte sie<br />

entdeckt, dass ihr Krafttier ein Pferd war. Seither wünschte sie sich<br />

nichts sehnlicher, als einmal einem echten Pferd zu begegnen.<br />

Bedauerlicherweise gab es seit dem großen Rums, der alles<br />

vernichtete hatte, was nicht rechtzeitig in eine Bio-Kuppel geflüchtet<br />

war, keine Pferde mehr.<br />

„Bleib beim Thema!“, ermahnte sie sich. „Was könnte Ben in einer<br />

zweistündigen Prüfung <strong>von</strong> einer angehenden Wildnisassistentin<br />

verlangen?“ Sie hatte die Einladung erst vor drei Tagen in ihrem<br />

elektronischen Postfach gefunden. In Ermangelung einer besseren<br />

Idee, rief sie die Nachricht noch einmal auf.<br />

Abschlussprüfung Miriel Rosen, Freitag, 25. Mai 2136, 19.30 Uhr.<br />

Darunter hatte ihr Mentor ein paar persönliche Zeilen geschrieben:<br />

13


Merl und Ian kommen auch zur Prüfung. Ben hat sie eingeladen.<br />

Wenn du willst, können wir uns um sieben im Seminarhaus treffen,<br />

um den Raum gemeinsam herzurichten. Lorenz.<br />

Miri hatte vergeblich versucht, herauszufinden, was der Sozial-trainer<br />

und sein jüngster Klient in der Prüfung zu schaffen hatten. Lorenz<br />

hatte ihr nichts verraten. Es war naheliegend, dass sie einen echten<br />

Klienten anleiten und die Übung anschließend mit ihm auswerten<br />

sollte. Aber ausgerechnet Ian? Seit zwei Jahren kam Merl einmal im<br />

Monat mit dem sonderbaren jungen Mann in die Wildniskuppel. Seit<br />

zwei Jahren hatte sie ihn noch kein Wort reden hören. Nur mit den<br />

Steinen, Pflanzen und Tieren redete er in einem sonderbaren<br />

Singsang, den außer ihm kein Mensch verstand. Wenn sie sich im<br />

Eingangsbereich oder in der Schleuse begegneten, erwiderte er<br />

weder ihre Grüße noch ihre Blicke. Sie hatte herausgefunden, dass<br />

Ian mit vierzehn zum ersten Mal eine Persönlichkeitsauslöschung<br />

beantragt und seinen Antrag seither pünktlich jedes halbe Jahr<br />

bestätigt hatte. Wenn sie sich richtig erinnerte, würde er bald<br />

einundzwanzig sein, dann konnten die Behörden seinen Antrag nicht<br />

länger ablehnen. Hoffentlich er-wartete niemand <strong>von</strong> ihr, dass sie ihn<br />

<strong>von</strong> der Idee abbringen könnte, sich einer medizinischen Behandlung<br />

zu unterziehen, mit der besonders unglückliche oder zornige<br />

Menschen in zufriedene Idioten verwandelt wurden.<br />

Der Stadtgleiter erreichte die Endstation, Miri stieg in die Überlandlinie<br />

um. Seufzend stellte sie fest, dass sie noch immer keinen<br />

Blick in ihre Unterlagen geworfen hatte, aber ihr blieb noch etwas<br />

mehr als eine halbe Stunde Fahrzeit in einem fast leeren Gleiter.<br />

Entschlossen öffnete Miri den Ordner. <strong>Die</strong> Baumzeremonien unter<br />

Punkt eins hatte sie oft genug selbst gemacht, Medizinradübungen<br />

würde hoffentlich keiner <strong>von</strong> dem schweigsamen Klienten verlangen<br />

und Übernacht-Zeremonien sicher auch nicht. Miri erinnerte sich<br />

14


noch gut an Ians Geschrei, als Merl ihn einmal nicht pünktlich bei<br />

Sonnenuntergang im Seminarhaus abgeliefert hatte. An dem Symbol,<br />

unter dem die Meditationen gespeichert waren, blieb Miris Finger<br />

hängen. Sie hatte lange keine Meditation mehr angeleitet.<br />

Während sich Miri den Aufbau verschiedener Meditationen ins<br />

Gedächtnis rief, flogen im trüben Licht des Sommerabends flache<br />

Kuppeln vorbei, in denen Gemüse angebaut wurde. Der grüngoldene<br />

Widerschein einer größeren Obstbau-Kuppel verriet ihr, dass der<br />

Gleiter in zwölf Minuten die Wildniskuppel erreichen würde. Sie<br />

schaltete ihr Memory-Pad aus, stopfte es in den Rucksack und starrte<br />

in die trostlose Landschaft, ohne etwas zu sehen. Erst als sie sich<br />

dabei ertappte, dass sie mit einem tiefen Seufzer aus-atmete, wurde<br />

ihr bewusst, dass sie die Luft angehalten hatte. Kopfschüttelnd lachte<br />

sie das besorgte Gesicht in der dicken Scheibe aus.<br />

„Wovor fürchtest du dich, Miri-Mäuschen“, sagte sie zu ihrem<br />

Spiegelbild. „<strong>Die</strong> Ram-Medi hast du schon hunderttausendmal<br />

gemacht und bei der Archetypen-Meditation lässt du einfach die<br />

Blumen weg und gehst durch die Chakren nach oben. Wilder Mann,<br />

wilde Frau im Wurzelchakra, Heiler, Heilerin im Bauch, Krieger,<br />

Kriegerin im Sonnengeflecht …“<br />

Das Bild einer lachenden Frau in archaischen Kleidern mit einem<br />

langen, schlanken Schwert drängte sich in ihre Gedanken. <strong>Die</strong><br />

Kriegerin, die das Schwert des Lichts ergreift, sobald Klarheit und<br />

Gerechtigkeit bedroht werden.<br />

Ben hatte den angehenden Wildnisassistenten erzählt, dass er<br />

diesem Schwert bei seiner Visionssuche tatsächlich begegnet war.<br />

„Obwohl ich in dem Moment wusste, dass es meine Aufgabe war, das<br />

Schwert in unsere Welt zurückzubringen, habe ich nicht ge-wagt, es<br />

15


auch nur zu berühren.“ Tränen hatten in seinen Augen ge-schimmert,<br />

als er ihnen das Ende seiner Geschichte erzählte. „Ich habe später<br />

noch oft versucht, das leuchtende Schwert wieder-zufinden, aber der<br />

Zugang zu dem Ort zwischen den Welten blieb für mich verschlossen.<br />

Es gibt auf dem Weg eines jeden Menschen Türen, die sich nur ein<br />

einziges Mal öffnen.“<br />

Miri erinnerte sich, dass Wulf mit einem dummen Witz über<br />

Multifunktionswerkzeuge und Universalschlüssel in das ehr-fürchtige<br />

Schweigen geplatzt war. Um die Peinlichkeit zu über-spielen, hatte er<br />

gefragt, wo er diese Tür finden würde, aber Ben hatte nur nachsichtig<br />

gelächelt.<br />

„Du musst nicht danach suchen“, hatte er gesagt. „Wenn das Schwert<br />

einen <strong>von</strong> euch ruft, findet euch auch die Tür.“<br />

Ben war kein junger Mann mehr. Im vergangenen Winter war er vier<br />

Wochen lang krank gewesen. Vielleicht hatte er entschieden, dass es<br />

an der Zeit war, jemandem zu verraten, wo er diese Tür suchen<br />

musste und da sie als Einzige <strong>von</strong> ihrer Ausbildungsgruppe übrig<br />

geblieben war …<br />

„Quatsch!“, sagte sie halblaut zu ihrem Zwilling in der Fensterscheibe.<br />

„Wenn er das tun wollte, hätte er sicher nicht Merl und Ian<br />

zu deiner Prüfung eingeladen.“ Seufzend wandte sie sich wieder den<br />

Meditationen zu, die sie jedes Mal schneller vergessen als gelernt<br />

hatte.<br />

Nach der Kriegerin kam die Königin im Herzchakra, der Narr in der<br />

Kehle, der Magier oder die Magierin in der Stirn und der oder die<br />

weise Alte im Scheitelchakra.<br />

„Behalt das wenigstens für die nächsten paar Stunden“, ermahnte sie<br />

sich. „Auch wenn dich Ben nicht ausgerechnet mit Ian eine<br />

Meditation machen lassen wird.“<br />

16


Der Gleiter folgte einer lang gezogenen Linkskurve, um dem<br />

unsicheren Sumpfboden am Rheinufer auszuweichen. Hinter einem<br />

Schotterhügel kam die Wildniskuppel in Sicht. Noch sechs Minuten.<br />

Durch das Schimmern der Kuppelwände konnte Miri schroffe<br />

Berggipfel und das satte Grün <strong>von</strong> Tannen erkennen. Doch die Berge<br />

existierten nur im Computerprogramm der Projektoren, die den<br />

ehemaligen Park aus der Zeit vor dem großen Rums in ein weites,<br />

wildes Land verwandelten.<br />

Der Gleiter wurde langsamer, als er sich der Kuppel näherte. Gleich<br />

würde der Leuchtbalken über dem Tor <strong>von</strong> Rot auf Grün wechseln.<br />

<strong>Die</strong> beiden Türflügel würden sich langsam in die meterdicken<br />

Steingusswände schieben, aus denen die Schleuse vor mehr als<br />

hundert Jahren erbaut worden war und dann …<br />

Erschrocken zuckt Miri <strong>von</strong> der Fensterscheibe zurück. Aus den<br />

Augenwinkeln hatte sie eine Bewegung bemerkt. Dabei gab es im<br />

lebensfeindlichen Ödland außerhalb der Kuppeln nicht allzu viel, was<br />

sich bewegen konnte. <strong>Die</strong> schmierig grüne Oberfläche eines Tümpels<br />

kräuselte sich wie bei einem nahenden Erdbeben. Dann war wieder<br />

alles still. <strong>Die</strong> Wildniskuppel war keine fünfhundert Meter mehr<br />

entfernt. Hinter dem schweren Metalltor wären sie auch vor einem<br />

Erdbeben sicher, aber der Gleiter hatte bereits aufgesetzt und kroch<br />

im Schritttempo auf den Eingang zu, als hätten sie alle Zeit der Welt.<br />

Miri spürte, wie ihre Kehle eng wurde. <strong>Die</strong> Luft schien sich<br />

elektrostatisch aufzuladen. Sie kribbelte auf ihrer Haut, ließ ihre<br />

Haare knisterten und hinterließ einen verbrannten Geschmack auf<br />

ihrem Gaumen. <strong>Die</strong> beiden Frauen weiter hinten schienen nichts <strong>von</strong><br />

alledem zu merken. Sie plauderten und lachten miteinander. Plötzlich<br />

bäumte sich der Gleiter auf, als wolle er abheben. Ein Schlag wie <strong>von</strong><br />

einem gewaltigen Hammer donnerte ihn auf den Boden zurück. Von<br />

einem Moment auf den anderen war es stockdunkel. Ein<br />

unsichtbares Ungeheuer schien seine Klauen in die Hülle zu schlagen,<br />

Glas zerbarst und Miri wurde im hohen Bogen durch die Luft<br />

17


geschleudert. Sie hörte jemanden schreien, dann prallte sie mit dem<br />

Rücken gegen etwas Hartes, im gleichen Moment verstummte der<br />

Schrei. Sie wagte nicht, zu atmen.<br />

Kann es sein, dass Sterben so schnell geht? Ein sonderbares Geräusch<br />

erwachte in der Dunkelheit. Miri registrierte verblüfft, dass es ein<br />

hysterisches Kichern war, das aus ihrer Kehle kam. Gleichzeitig<br />

rannen ihr Tränen übers Gesicht. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass<br />

es nur so dunkel war, weil sie die Augen fest zusammengekniffen<br />

hatte. Sie kicherte wieder, verschluckte sich dabei, und konnte gar<br />

nicht mehr aufhören zu lachen, bis sie sich die Seiten halten musste,<br />

weil sie keine Luft mehr bekam. Bevor sie es wagte, die Augen zu<br />

öffnen, wappnete sie sich gegen den Anblick einer entsetzlichen<br />

Katastrophe.<br />

Aber da war nichts. Keine Toten, keine Verwundeten, kein Gleiter. So,<br />

als hätte es ihn nie gegeben. Erstaunt stellte Miri fest, dass ihr nichts<br />

wehtat. Ihr Rücken war steif, aber sie konnte sich aufrichten und ihre<br />

Beine trugen sie Schritt für Schritt dem Steingusswall mit den hohen<br />

Metalltüren entgegen.<br />

„<strong>Die</strong> wilde Frau im Wurzelchakra, die Heilerin im Bauch und die<br />

Kriegerin im Solarplexus“, wiederholte sie. Sie wollte auf keinen Fall<br />

darüber nachdenken, was da gerade passiert war. Es war sowieso<br />

wichtiger herauszufinden, wie sie ohne Gleiter in die Schleuse kam.<br />

Lorenz wusste vermutlich, wie das Schleusentor manuell geöffnet<br />

werden konnte, er wusste schließlich sonst auch alles über die<br />

Wildniskuppel. Sie zog das Interkom aus ihrer Brust-tasche und<br />

aktivierte es, um ihn anzurufen. Auf dem Display blinkte ein rotes<br />

Dreieck, kein Netz. Hoffentlich gab es an der Schleuse eine<br />

Kommunikationseinrichtung. Während sie noch darüber nach-dachte,<br />

glitten die schweren Torflügel ächzend in die Steinguss-wände, als<br />

stünde nicht ein hilfloses junges Mädchen, sondern ein Gleiter mit<br />

zertifizierter Kennnummer davor.<br />

18


<strong>Die</strong> Station kam Miri gleichzeitig vertraut und sonderbar fremd vor.<br />

Hastig presste sie das Armband mit ihrem Ident-Chip gegen das<br />

Lesegerät am Eingang zum Verwaltungsgebäude. Mit einem Klacken<br />

wurde die Tür entriegelt, Licht flammte auf und erhellte den Gang bis<br />

zu Frau Sanders Schreibtisch. Erstaunt stellte Miri fest, dass dieser so<br />

leer war, als hätte sich die alte Dame in einen längeren Urlaub<br />

verabschiedet. <strong>Die</strong> Lesepads, die sonst auf dem Tresen und den<br />

beiden Tischen lagen, waren in einem der Regale gestapelt. <strong>Die</strong><br />

Monitore mit Filmberichten über die Wildniskuppel waren dunkel,<br />

selbst die Kontrollleuchten der Intrakomgeräte brannten nicht. Ein<br />

faustgroßer Eisklumpen bildete sich in Miris Magen. Sie lauschte in<br />

den Flur, der an zwei Besprechungszimmern und einem Büro vorbei<br />

zum Treppenhaus führte. Nichts. Kein Geräusch, das darauf schließen<br />

ließ, dass es außer ihr noch jemanden hier gab. Nur das Summen der<br />

Pumpen, die das Wasser durch die Kuppelgeneratoren trieben, klang<br />

vertraut. Vielleicht hatte Frau Sander wirklich Urlaub, aber Miri<br />

konnte sich nicht vorstellen, was Ben, seine Frau Ruth und Lorenz<br />

dazu veranlasst haben könnte, die Kuppel sich selbst zu überlassen.<br />

Vielleicht war ihnen etwas zugestoßen. Erst jetzt entdeckte sie den<br />

Zettel, der neben dem Tresen auf dem Boden lag. Eine<br />

handtellergroße Ecke, die aussah, als wäre sie aus einem Buch<br />

gerissen worden.<br />

Hallo Miri, stand da in der schwungvollen Handschrift ihres Mentors.<br />

Komm rüber ins Seminarhaus. Wir warten dort auf dich. Gruß,<br />

Lorenz. Ratlos betrachtete Miri die Nachricht. Plötzlich entdeckte sie,<br />

dass auf der Rückseite noch vier Wörter standen: Pass auf dich auf!<br />

19


Drittes Kapitel<br />

Miri kannte sich in der Wildniskuppel gut genug aus, um sich im<br />

Dämmerlicht der Notbeleuchtung zurechtzufinden. Sie ging an Frau<br />

Sanders Tresen vorbei, den Gang entlang, hinten rechts durch die<br />

schwere Holztür in den Schleusenbereich. Mit dem Identchip öffnete<br />

sie die vordere Schleusentür. Eigentlich sollte jetzt das Licht angehen,<br />

aber es blieb dunkel. Obwohl Miri wusste, dass der Gang genau vier<br />

Meter lang und zwei Meter breit war, konnte sie sich nicht dazu<br />

überwinden, die Schwelle zu überschreiten. Der bloße Gedanke,<br />

ihren Fuß auf die uralten Steinplatten mit den un-leserlichen<br />

Inschriften zu setzten, schnürte ihr die Kehle zu. Ein Kribbeln kroch<br />

über ihren Rücken bis zum Haaransatz hinauf. Irgendetwas war hier<br />

nicht in Ordnung. Sie ertappte sich sogar bei dem Gedanken, mit dem<br />

nächsten Gleiter zurückzufahren.<br />

„Quatsch!“ Miri schüttelte den Kopf. „Vielleicht gehört das schon zur<br />

Prüfung.“ Entschlossen trat sie über die Schwelle und patschte in eine<br />

Pfütze. Auf dem Boden einer Schleuse gab es keine Pfützen. Hinter<br />

ihr schloss sich die Tür, es war stockdunkel und so still in dem kurze<br />

Gang, dass Miri ihr eigenes Herz schlagen hörte.<br />

„Los jetzt! Weiter!“, befahl sie ihren Füßen. „Auf den paar Metern bis<br />

zur nächsten Tür könnt ihr euch beim besten Willen nicht verlaufen.“<br />

Nach drei Schritten stand das Wasser so hoch, dass es über den Rand<br />

ihrer Schuhe schwappte. Vielleicht war die Bodenreinigungs-anlage<br />

defekt. <strong>Die</strong>ser Gedanke erschien Miri so tröstlich, dass sie vor<br />

Erleichterung beinahe laut gelacht hätte. Doch ein zweiter Gedanke<br />

ließ das Lachen in ihrer Kehle verdorren. Nur ein sehr komischer<br />

Zufall konnte den Reiniger und die Beleuchtung ausge-rechnet an<br />

ihrem Prüfungstag außer Betrieb setzen.<br />

20


Vorsichtig tastete sich Miri an der Wand entlang. Bis zum zweiten<br />

Chiplesegerät konnte es nicht mehr weit sein. Sie hoffte, dass es<br />

seine Arbeit tun und die hintere Tür entriegeln würde. Auf der<br />

anderen Seite würde sicher wieder alles in Ordnung sein.<br />

Tap-tap-tap … - Das Platschen schien <strong>von</strong> einer erheblich höheren<br />

Decke zurückzuhallen und der Gang kam Miri heute viel länger vor.<br />

Außerdem führte er leicht bergauf. Am Ende der Pfütze war der<br />

Untergrund uneben. Ein Stein löste sich unter ihren Tritten und<br />

klackerte gegen die Wand. Ihre Füße ertasteten eine Kante, da-hinter<br />

führte der Weg steil bergab. Irritiert blieb sie stehen. Offenbar hatte<br />

sie es doch geschafft, sich in einem vier Meter langen Gang zu<br />

verirren. <strong>Die</strong> glatte Steingussmauer war einer unbehauenen<br />

Felswand gewichen, eisiges Wasser rann über ihre Füße und Miri<br />

lauschte dem fernen Tosen eines größeren Wasserlaufs. Plötzlich<br />

kam es ihr vor, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben.<br />

Hastig wollte sie einen Schritt zurückweichen, doch im selben<br />

Moment kippte die Steinplatte nach vorn. Das Glucksen verwandelte<br />

sich in ein Brausen, Schleifen und Scheppern. Steine rollten über ihre<br />

Füße und prallten gegen ihre Kniekehlen. Wasser spritzte ihr ins<br />

Gesicht. Miri stemmte sich mit aller Kraft gegen die Flut, doch sie<br />

konnte der Gewalt nicht standhalten. Das Wild-wasser zerrte sie mit.<br />

Miri wusste, dass sie sich irgendwie auf den Füßen halten musste. Sie<br />

versuchte, mit dem Wasser mitzurennen, aber nach wenigen<br />

Schritten prallte sie gegen einen Felsen, der hüfthoch aus dem<br />

Wasser ragte. Vor Schmerz wurde ihr übel, ihre Knie gaben nach und<br />

Miri wurde gegen die Wand gebeutelt. Ihr Rücken prallte so hart<br />

gegen eine Felskante, dass ihr die Luft wegblieb.<br />

Durch eine steile Rinne spülte der unterirdische Fluss seine Beute<br />

immer tiefer in den Schoß der Erde.<br />

An einer Klippe geriet die rasende Fahrt ins Stocken, doch bevor sich<br />

Miri neu orientieren konnte, wurde sie <strong>von</strong> der nächsten Flut-welle<br />

21


gepackt und über die Abbruchkante geschwemmt. Kopfüber stürzte<br />

sie in die Dunkelheit und einen Herzschlag später platschte sie in<br />

tiefes, kaltes Wasser.<br />

„Hilfe!“, brüllte sie, nachdem sie wieder aufgetaucht war und sich<br />

strampelnd und rudernd an der Oberfläche hielt. „Verdammt noch<br />

mal, hört mich denn keiner?“<br />

Doch sie wartete vergeblich auf eine Antwort.<br />

„Hilfe.“ Ihr Zorn trieb mit den eisigen Wellen da<strong>von</strong>. „Holt mich doch<br />

hier raus. Bitte.“ Miris Stimme erstickte in einem Schluchzen.<br />

„Ist da wer?“ Der Ruf hallte <strong>von</strong> den Wänden der Höhle wider und<br />

schien <strong>von</strong> allen Seiten gleichzeitig zu kommen.<br />

Eine Welle der Erleichterung spülte ihre Panik fort. Ben und die<br />

anderen hatten sie gefunden.<br />

„Hallo?“<br />

„Ich bin hier!“, wollte Miri antworten, doch ein Schluckauf riss ihr die<br />

Worte <strong>von</strong> den Lippen.<br />

„Keiner.“ Schlurfende Schritte entfernten sich. „Wer soll denn auch<br />

hier hergekommen sein?“ <strong>Die</strong> Stimme klang wie das Murmeln eines<br />

Baches. „Du wirst langsam alt, Knochensängerin. Alt und<br />

schwachsinnig.“<br />

„Ich!“, versuchte es Miri noch einmal, diesmal klang es wie ein<br />

Krächzen. „Ich bin hier.“<br />

<strong>Die</strong> Schritte hielten inne. „Hallo?“<br />

„Hier. Ich bin hier. Im Wasser.“ Tränen der Erleichterung strömten<br />

Miri über die Wangen. „Bitte holen Sie mich raus.“<br />

22


„Wer bist du?“ Ein zitternder Lichtschein wanderte über die Decke<br />

und kam langsam näher. „Und warum schreist du denn so? Kannst du<br />

nicht schwimmen? Ach nein, du musst ja schwimmen können. Sonst<br />

könntest du nicht mehr schreien. Komm hier rüber.“ Über einem<br />

Felsen tauchte die Flamme einer Kerze auf. „Da kannst du aus der<br />

Badewanne klettern.“<br />

Mit zwei Zügen durchquerte Miri das Becken, das im Schein der Kerze<br />

recht klein und wenig bedrohlich aussah. Direkt neben dem Felsen,<br />

auf den sich das Flämmchen niedergelassen hatte, bildeten die<br />

ausgewaschenen Steine eine Art Treppe oder Trittleiter. Der nasse<br />

Overall hing jedoch schwer an ihren Schultern und Miri schaffte es<br />

erst im zweiten Anlauf, sich auf den Rand des Beckens zu stemmen.<br />

„Lass mich mal sehen, was dieser launische Bach heute zu mir<br />

heruntergespült hat.“<br />

Im flackernden Schein der Flamme sah Miri zwei dunkle Augen, die<br />

sie skeptisch musterten. Sie starrten, ohne zu blinzeln und ruckten<br />

<strong>von</strong> hier nach dort wie die eines Vogels. <strong>Die</strong> Augen schienen sich in<br />

einem Netz aus Runzeln und Falten verfangen zu haben, aus denen<br />

die gewaltige Nase einer steinalten Frau ragte. Ihre schütteren Haare<br />

hingen in wirren Strähnen über ihren Schultern und ihr Körper<br />

steckte in einem formlosen Kleid.<br />

„Bisschen jung, findest du nicht“, sagten die schmalen Lippen zu<br />

niemand Bestimmtem. „Was soll ich denn damit anfangen?“ Ihr<br />

Mund sah verkniffen und grimmig aus, gleichzeitig schienen die<br />

schwarzbraunen Augen vor Vergnügen zu funkeln.<br />

„Sie müssen gar nichts mit mir anfangen.“ Mit einem zornigen Ruck<br />

schwang Miri ihr Bein über die Felskante. „Ich will in die Wildniskuppel<br />

zu meiner Prüfung. Aber ich habe mich wohl verlaufen.“ Sie<br />

stütze sich auf den Beckenrand und wollte sich langsam auf der<br />

23


anderen Seite herunterlassen. Stattdessen plumpste sie der Alten wie<br />

ein nasser Sack vor die Füße.<br />

<strong>Die</strong>se kicherte, als hätte Miri etwas ungeheuer Komisches gesagt<br />

oder getan. „Ah so, eine Prüfung! Na, dann komm mal mit.“<br />

Miri musste sich anstrengen, um mit der alten Frau Schritt zu halten.<br />

Sie folgten einem engen, gewundenen Gang, der immer weiter<br />

hinabführte. Winzige Kristalle glitzerten an den Wänden. Sie schienen<br />

das Licht der Kerze einzufangen und tausendfach zurückzuspiegeln,<br />

sodass Miri Schwellen und Stufen rechtzeitig erkennen konnte.<br />

Geschickter als sie es <strong>von</strong> der alten Frau erwartet hätte, kletterte<br />

diese über einen Felsen, der den Ausgang versperrte. Miri folgte ihr.<br />

Draußen war es kaum heller, die Dunkelheit roch nach feuchtem<br />

Sand, und der Wind trieb einen salzigen Duft herbei. Winzige Lichter<br />

ließen den samtschwarzen Himmel funkeln. Sterne! Miri hatte nie<br />

zuvor etwas so Schönes gesehen.<br />

„Komm schon.“ <strong>Die</strong> alte Frau steckte die Kerze in eine Lampe aus<br />

geflochtenen Zweigen. „Es ist nicht mehr weit.“<br />

Als sie aus dem Schutz der Felsen hervortraten, zerrte der Wind an<br />

Miris nassen Haaren. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre<br />

Körperwärme den Overall bereits getrocknet hatte. Sie sah den<br />

Schein der Laterne über einen schmalen Pfad talwärts wanken und<br />

beeilte sich, zu ihrer Führerin aufzuschließen.<br />

„Sagen Sie“, begann Miri, „wo…“<br />

<strong>Die</strong> Frau bedeutete ihr, zu schweigen. „Da drüben ist meine Hütte.“<br />

Sie wies in die weglose Dunkelheit. „Am Feuer plaudert es sich<br />

gemütlicher.“<br />

24


„Ich wüsste trotzdem gerne, wo ich hier gelandet bin“, versuchte es<br />

Miri noch einmal, als die Frau ihre Laterne am Rand einer Klippe<br />

abstellte und mit beiden Händen das straff gespannte Seil neben den<br />

abschüssigen Felsstufen packte.<br />

„Weißt du das wirklich nicht?“ <strong>Die</strong> Frau starrte sie mit ihren Vogelaugen<br />

an. „Du warst doch schon öfter hier.“<br />

„Es ist …“, stotterte Miri. „Hier sieht es fast so aus wie bei einer<br />

Traumreise in die untere Welt. Aber …“<br />

„Aber was?“ <strong>Die</strong> Frau blinzelte amüsiert. „Ah! Du glaubst, dass es<br />

diese Welt in Wirklichkeit nicht gibt.“<br />

„So meine ich das nicht“, entgegnete Miri rasch. „Ich weiß, dass die<br />

Spirits in der unteren Welt leben und die Krafttiere. Aber …“<br />

Kichernd wandte sich die Alte ab und schickte sich an, die Treppe<br />

hinunterzuklettern. „Wenn das so ist, kann es nicht weiter schwierig<br />

sein, in deine gewöhnliche Welt zurückzukommen. Du musst nur<br />

aufwachen, und alles ist wieder in Ordnung.“<br />

Während Miri die Schritte der Frau auf den steinernen Stufen<br />

knirschen hörte, überlegte sie, ob es wirklich so einfach wäre. Wenn<br />

sie in der Pfütze ausgerutscht war und sich den Kopf angeschlagen<br />

hatte, müsste sie nur die Augen öffnen, um …<br />

„Komm runter, wenn du noch da bist. Und bring die Laterne mit.“<br />

Miri schob das erste Bein über die Felskante und tastete mit dem Fuß<br />

nach der obersten Stufe.<br />

„Pst“, zischte die alte Frau warnend. „Schnell, gib mir die Laterne und<br />

schaff dich wieder hoch. Keinen Mucks.“<br />

25


Ein Ruck am Seil verriet Miri, dass ihre Führerin wieder ein paar<br />

Stufen zu ihr heraufgestiegen war. „Was…“<br />

„Mach schon!“ <strong>Die</strong> Stimme der Frau klang eher besorgt als ärgerlich.<br />

Als Miri die Laterne hinunterreichte, hörte sie in der Ferne ein<br />

rhythmisches Stampfen.<br />

„Hören Sie das auch?“ Atemlos lauschte sie in die Nacht. „Das klingt<br />

fast wie…“<br />

„Verschwinde und halt den Mund“, zischte die Alte. „Deine<br />

Begriffsstutzigkeit kann dich hier um Kopf und Kragen bringen.“<br />

Miri blickte sich nervös um. Jetzt, wo die Lampe auf dem unteren<br />

Weg da<strong>von</strong>schwankte, kam es ihr hier oben noch dunkler vor und die<br />

Angst vor einem Sturz in die Tiefe lähmte ihre Füße. Auf Händen und<br />

Knien tastete sie sich an der Abbruchkante entlang, bis sie zu einem<br />

mannshohen Felsen kam, hinter dem sie sich verstecken konnte. Das<br />

Klappern war näher gekommen. Es klang, als würde jemand mit<br />

einem Eisen auf den felsigen Grund schlagen. Tacktack tacktack, tack,<br />

tackatack, tack. Vorsichtig spähte Miri aus ihrer Deckung hervor.<br />

„Runter mit dir!“, fauchte die Alte. Sie schien selbst im Dunkeln<br />

sehen zu können.<br />

Das Klappern war jetzt direkt unter ihr, es stockte kurz und<br />

verstummte dann ganz.<br />

„Halt, wer da?“, wollte eine befehlsgewohnte Männerstimme wissen.<br />

Unwilliges Schnauben tönte zu Miri herauf und ein warmer, scharfer<br />

Geruch stieg ihr in die Nase.<br />

„Wer sollte schon mitten in der Nacht durch diese gottverlassene<br />

Gegend streifen“, antwortete die alte Frau.<br />

26


„<strong>Die</strong> Knochensängerin“, erwiderte eine Frauenstimme, die in Miris<br />

Ohren eisig klang. „Was hast du um die Zeit hier zu schaffen?“<br />

„Nichts, was ich nicht auch tagsüber hier mache. Ich suche Knochen,<br />

die noch in meiner Sammlung fehlen.“<br />

„In dieser mondlosen Nacht?“<br />

„Manche Dinge lassen sich leichter finden, wenn einem die Augen<br />

keinen Streich spielen können. Aber Euch habe ich schon lange nicht<br />

mehr in dieser Gegend gesehen. Was treibt Euch zu dieser Unzeit hier<br />

her?“<br />

„Es gab eine Erschütterung im Gewebe zwischen den Welten“,<br />

antwortete die Frau. „Würde mich wundern, wenn du das nicht auch<br />

gespürt hättest.“<br />

„Ich bin alt“, entgegnete die Knochensängerin. „Selbst wenn ich<br />

etwas gespürt hätte, hätte ich es vermutlich schon wieder<br />

vergessen.“<br />

„Hast du etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen?“, wollte der<br />

Mann wissen.<br />

„Nichts, außer zwei hohen Herrschaften, die mitten in einer<br />

mondlosen Nacht durch die Berge reiten, um Gespenster zu fangen,<br />

Herr Ritter.“<br />

„Wenn du nicht auf der Stelle …“, polterte der Mann, doch die Frau<br />

fiel ihm ins Wort.<br />

„Lass die närrische Alte. Wir müssen weiter. Unser Weg ist noch weit<br />

und die Nacht ist nicht mehr lang.“<br />

„Wie Ihr befehlt, meine Herrin.“<br />

27


Eins der Pferde schnaubte und tänzelte auf der Stelle. Dann setzten<br />

sich die beiden Tiere wieder in Bewegung. Hastig schob sich Miri auf<br />

die Knie. Einmal in ihrem Leben wollte sie ein echtes Pferd sehen. <strong>Die</strong><br />

Reiter verschwanden gerade hinter der nächsten Kurve, als sie sich<br />

weit über die Felskante beugte, um ihnen so lange wie möglich<br />

nachzuschauen. Zu weit! Der Stein, auf den sie sich gestützt hatte,<br />

gab unter ihrem Gewicht nach. Miri polterte in einer Lawine <strong>von</strong><br />

Staub und Schotter auf den unteren Weg.<br />

Der Hufschlag verstummte, dann kam er zurück.<br />

28


Viertes Kapitel<br />

Völlig verdattert hockte Miri auf dem Boden. Ein Pferdebein ragte<br />

höchstens eine Armlänge entfernt vor ihr auf. Aus dieser Perspektive<br />

hatte sie sich das Tier nicht ansehen wollen.<br />

„Was ist das denn?“, wollte die herrische Frauenstimme wissen.<br />

Miris Blick wanderte über das Bein zu einer muskulösen Schulter und<br />

einem anmutig gebogenen Hals. <strong>Die</strong> Sprecherin thronte auf dem<br />

29


Rücken eines hochbeinigen Grauen. Im Licht einer Fackel er-kannte<br />

Miri, dass die Dame ein dunkles Kleid trug, dessen Oberteil ihre<br />

schmale Taille vorteilhaft betonte, während der Rock so lang und<br />

weit geschnitten war, dass man ihre Füße unter dem gold-bestickten<br />

Saum kaum erkennen konnte. <strong>Die</strong> langen schwarzen Haare trug sie<br />

offen und ein Umhang, der über der Brust mit einer Brosche<br />

geschlossen war, fiel in Falten über ihre Schultern. Wie auf den alten<br />

Bildern, die Miri so oft betrachtet hatte, hielt sie in der Linken die<br />

Zügel und auf ihrer Rechten hockte eine Eule.<br />

„Ich, ähm“, stotterte Miri. „Ich bin…“<br />

„Das ist eine angehende Cantadora“, schnitt ihr die alte Frau das<br />

Wort ab. „<strong>Die</strong> Schülerin einer guten Freundin, die ich auf ihre Prüfung<br />

vorbereiten soll.“<br />

„Eine junge Knochensängerin?“ <strong>Die</strong> Dame beugte sich ein wenig vor,<br />

als wollte sie Miri ganz genau betrachten. „Und du bereitest dich<br />

gerade auf eine Prüfung vor?“<br />

„Ich…“<br />

„Vergiss es“, keifte die Knochensängerin. „Das dumme Ding wird die<br />

Prüfung nie bestehen. Sie kann die Knochen eines Eichhörnchens<br />

nicht <strong>von</strong> denen eines Vogels unterscheiden.“<br />

„Kannst du die Knochen eines Pferdes <strong>von</strong> den vielen anderen<br />

Knochen unterscheiden, die der Fluss da unten in der Bucht an Land<br />

spült?“, erkundigte sich die Dame.<br />

Miri wollte ihr sagen, dass sie Wildnistrainerin werden wollte, keine<br />

Zoologin und erst recht keine Knochensängerin, doch eine nasskalte<br />

Berührung im Nacken ließ sie erschrocken nach Luft schnappen.<br />

30


Hastig fuhr sie herum und blickte in das offene Maul eines riesigen<br />

Hundes. Lackschwarz stand die Nase aus den graubraunen Zotteln<br />

seines Bartes hervor. Plötzlich kräuselte sich die Haut auf seiner<br />

Schnauze, und er entblößte dabei Eckzähne, die mindestens so lang<br />

waren wie eins ihrer Fingerglieder. Ein gewaltiges Niesen ließ den<br />

Hundekörper erbeben.<br />

„Merkwürdig“, sagte die Dame. „Tagauge scheint dich zu mögen,<br />

obwohl du nach der anderen Welt riechst.“<br />

„Das sind diese komischen Kleider, die sie da oben im Berg ge-funden<br />

hat. Weiß der Kuckuck, wo der Bach dieses komische Zeug<br />

aufgetrieben hat. Ihr gefällt es jedenfalls und sie will es nicht mehr<br />

hergeben. Aber ich verstehe nicht, warum Ihr Eure kostbare Zeit mit<br />

dem dummen Ding vertrödelt, wenn Ihr glaubt, dass es einem<br />

Eindringling gelungen ist…“<br />

„Sei still!“, entgegnete die Dame schroff. „Ich rede mit deiner<br />

Schülerin.“ Mit einem Lächeln, das Miri an die Katze aus einem alten<br />

Kinderbuch erinnerte, wandte sich die Dame wieder an sie. „Bist du<br />

eine Cantadora oder bist du diejenige, die das Gewebe zwischen den<br />

Welten beschädigt hat?“<br />

„Ich bin hier, um meine Prüfung abzulegen. Danach müssen andere<br />

entscheiden, wie ich mich in Zukunft nennen darf.“ Mit dieser<br />

Antwort war Miri sehr zufrieden.<br />

Offenbar hatte auch die Dame nichts daran auszusetzen. „Köst-lich.“<br />

Lachend wandte sie sich zu ihrem Ritter um. „<strong>Die</strong>se Antwort sagt<br />

alles und nichts. So dumm kann das Mädchen gar nicht sein.“ Sie ließ<br />

ihr Pferd vorwärts treten, und der Graue setzte seinen Huf direkt<br />

neben Miris Bein ab.<br />

„Es ist ganz einfach“, sagte sie dabei. „Wenn du mir das Windpferd<br />

zurücksingst, bist du als Cantadora in meinem Reich willkommen.<br />

31


Vermagst du es nicht, muss ich dich wohl in meine Festung bringen<br />

lassen, wo wir zweifelsohne herausfinden werden, wer du bist und<br />

was du hier zu schaffen hast.“<br />

Als wäre das sein Stichwort gewesen, drängte der Ritter sein<br />

Schlachtross am Pferd seiner Herrin vorbei. Obwohl er die Fackel in<br />

der Hand hielt, konnte Miri sein Gesicht nicht erkennen. <strong>Die</strong> schwarze<br />

Rüstung schien das Licht, das ihn traf, zu verschlucken. Sie konnte nur<br />

sehen, dass er einen Bart trug. Genau wie Lorenz!<br />

Eine rettende Idee blitzte im Nebel <strong>von</strong> Miris Denken auf. Vielleicht<br />

war das ein Teil ihrer Prüfung. Wenn Merl oder Johannes mit Klienten<br />

in die Kuppel kamen, stiegen sich die Techniker im Kontrollraum<br />

gegenseitig auf die Füße. Mit aufwändigen Projektionstechniken<br />

verwandelten sie die hundert Bäume unter der Kuppel in einen<br />

weglosen Urwald und den Hügel mit dem alten Wachturm in ein<br />

Gebirge. Schauspieler wurden angeheuert, um ein Ereignis, das im<br />

wahren Leben keinen Abschluss finden konnte, auf einer mythischen<br />

Ebene zu einem glücklichen oder tragischen Ende zu führen und den<br />

Klienten aus einer Depression oder einer Wahnvor-stellung zu<br />

befreien.<br />

<strong>Die</strong>se Geschichte war geradezu archetypisch: <strong>Die</strong> Prinzessin verirrt<br />

sich im Wald und landet bei der Hexe, die sie vor den Nachstellungen<br />

der dunklen Königin beschützt und dafür sorgt, dass das<br />

verwöhnte, junge Mädchen zu einer verantwortungsvollen Königin<br />

heranreift. Selbst der Sturz ins Ungewisse, die Dunkelheit und der<br />

Weg durch die Erde fügten sich perfekt in dieses Szenario ein. Miri<br />

hatte ihre Abschlussarbeit über Initiationen geschrieben und die<br />

kühne These aufgestellt, dass beim rituellen Weg über die Schwelle<br />

durchaus auch einmal Blut, Schweiß und Tränen fließen durften.<br />

Vielleicht wollten Ben und Lorenz testen, ob sie ihrer eigenen Theorie<br />

Stand hielt. Wenn sie sich bei dem Sturz verletzt hätte, wäre das<br />

Experiment längst abgebrochen worden.<br />

32


„Kannst du es?“, wiederholte die dunkle Königin ihre Frage.<br />

„Ich weiß es nicht“, antwortete Miri mit ihrer wiedergewonnenen<br />

Selbstsicherheit. „Aber ich kann es versuchen.“<br />

„Das Windpferd?“ <strong>Die</strong> Alte bog sich vor Lachen. „Was mir nie gelungen<br />

ist, soll dieses dumme Ding zuwege bringen?“<br />

„Du hast gesagt, dass du zu alt bist und nicht mehr die Kraft hast,<br />

diesen mächtigen Zauber zu wirken. Sie ist jung. Vielleicht gelingt ihr,<br />

was du nicht kannst.“<br />

„Vergiss es. Aus der wird nie eine Cantadora. Ich werde sie morgen<br />

früh bei Sonnenaufgang zu meiner Blutschwester zurückschicken. Sie<br />

wird dich hier nie wieder belästigen, Herrin.“<br />

„Nein.“ Jetzt lächelte die Frau wie der Tiger aus einem anderen Buch.<br />

„Entweder sie ist die Cantadora, die mir das Windpferd zurückholt<br />

oder mein Kerkermeister findet heraus, wer sie wirklich ist und was<br />

sie mit uns zu schaffen hat.“<br />

<strong>Die</strong>se Geschichte musste sich Lorenz ausgedacht haben. In seinem<br />

Bücherregal gab es ein ganzes Fach mit Märchenbüchern. „Ich will es<br />

auf jeden Fall versuchen.“ Miri bemühte sich darum, bei diesen<br />

Worten ernst und würdevoll auszusehen.<br />

„Gut.“ Der Tiger wurde wieder zur Katze. „Dann sollten wir uns jetzt<br />

schleunigst auf dem Weg machen“, sagte sie zu dem Ritter. „Bei<br />

Sonnenaufgang müssen wir wieder hier sein, und nachsehen, ob sie<br />

ihre Prüfung bestanden hat.“<br />

„Ich werde mein Bestes tun.“ Miri verbeugte sich vor der Dame, so<br />

gut das im Sitzen möglich war. „Mithilfe der Geister mag es mir gelingen.“<br />

33


„Das ist aber nicht fair“, zeterte die Knochensängerin. „Es braucht<br />

mindestens einen Tag, um alles vorzubereiten, und eine ganze Nacht,<br />

um die Knochen wach zu singen. Selbst wenn sie die Macht dazu<br />

hätte …“<br />

„Nimm dir ein Beispiel an deiner Schülerin, alte Krähe, und hör endlich<br />

auf, dummes Zeug zu schwatzen“, herrschte die dunkle Königin<br />

die Alte an. „Wenn die Zeit so knapp ist, solltet ihr gleich anfangen.<br />

Nein. Sie soll anfangen.“ Mit spitzen Fingern deutete sie auf Miri.<br />

„Dich will ich am Ritualplatz nicht sehen. Du magst nicht mehr die<br />

Macht haben, das magische Pferd zu rufen, aber es ist dir sicher ein<br />

Leichtes, die Magie des Mädchens zu stören. Hilf ihr, alles vorzubereiten,<br />

und dann verschwindest du in deine Hütte. Du solltest<br />

nicht einmal daran denken, mich zu betrügen. Vergiss nicht, dass ich<br />

meine Augen überall habe, Knochensängerin.“<br />

Mit einem harten Ruck am Zügel wendete die Dame ihr Pferd und im<br />

gleichen Moment sprang auch der zottige Hund auf. Mit einem<br />

Nasenstüber verabschiedete er sich <strong>von</strong> Miri, bevor er seiner Herrin<br />

folgte. Im Galopp stoben der Graue und der Hund da<strong>von</strong>. Der Ritter<br />

musterte Miri, als wolle er sich jedes Detail ganz genau einprägen,<br />

dann ließ er sein schwarzes Ross auf der Hinterhand kehrt machen<br />

und donnerte hinterher.<br />

„Da hast du uns etwas Schönes eingebrockt“, schimpfte die<br />

Knochensängerin. „Mithilfe der Geister mag es mir gelingen“, äffte<br />

sie Miri nach. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was es bedeutet,<br />

tote Knochen ins Leben zurück zu singen?“<br />

„Eigentlich nicht.“ Achselzuckend schüttelte Miri den Kopf. „Aber Sie<br />

können es mir sicher erklären.“<br />

34


Mit einem Seufzer der Resignation wandte sich die alte Frau ab.<br />

„Komm. Wir haben nicht viel Zeit, das Unmögliche wahr zu machen.“<br />

„Könnte ich das wirklich schaffen?“ Vor Aufregung machte Miri einen<br />

kleinen Hopser. Tote Knochen ins Leben zurücksingen. Das war eine<br />

richtig abgefahrene Sache. Sie durfte nicht vergessen, Lorenz zu<br />

fragen, wer auf die Idee gekommen war. Vielleicht hatte er es in<br />

einem seiner alten Bücher gelesen.<br />

„Nein“, entgegnete ihre Führerin. „Wir tun so, als würdest du es<br />

versuchen und hoffen, dass unsere Herrin und ihre Jäger unter-wegs<br />

lange genug aufgehalten werden, damit wir dich in deine Welt<br />

zurückschaffen können.“<br />

„Aber meine Prüfung!“, protestierte Miri.<br />

„Vergiss es!“ <strong>Die</strong> Knochensängerin blieb so abrupt stehen, dass Miri<br />

beinahe auf sie geprallt wäre. „Das ist keine Prüfung.“ <strong>Die</strong> Vogelaugen<br />

der alten Frau funkelten im Licht der Laterne. „Zumindest<br />

nicht so, wie du es dir vorstellst. <strong>Die</strong>ses Land hat mit deiner Kuppel<br />

nicht viel gemein. <strong>Die</strong> untere Welt ist genauso wirklich wie deine<br />

alltägliche Welt. Aber hier herrschen andere Regeln und Gesetze. Eins<br />

dieser Gesetze macht die hochwohlgeborene Dame“, sie deutete in<br />

die Richtung, wo der Hufschlag schon vor geraumer Zeit verklungen<br />

war, „zur uneingeschränkten Herrscherin über Leben und Tod. Und<br />

ein anderes sorgt dafür, dass du bei Sonnenaufgang nach Hause<br />

zurückkehren kannst, wenn du weißt, wo ein Tor unsere Welten<br />

miteinander verbindet.“<br />

Ratlos zog Miri die Schultern hoch. „Aber ich weiß doch gar nicht…“<br />

„Aber ich“, schnitt ihr die Knochensängerin das Wort ab. „Das genügt.<br />

Und für den Fall, dass sie ihr Nachtauge vorbeischickt, sollten wir<br />

jetzt endlich mit der Arbeit anfangen.“<br />

35


Nachdenklich folgte Miri der alten Frau hinunter zum Ufer eines<br />

schäumenden Flüsschens. Im Verlauf <strong>von</strong> Jahrtausenden hatte das<br />

Wasser ein tiefes Bett in die Felsen gegraben. Am Fuß der Klippen<br />

wurde der Gebirgsbach breiter und ruhiger. Im weiten Bogen strömte<br />

er dem nahe gelegenen Meer entgegen.<br />

Der staubfeine Sand in der Flussbiegung war so weiß, dass er in der<br />

Dunkelheit leuchtete. Zwischen den Klippen und dem Flussufer lag<br />

ein gewaltiger Haufen Knochen.<br />

„Es sind zweihundertfünfundvierzig“, sagte die Knochensängerin.<br />

„Sieben fehlen noch. <strong>Die</strong> musst du finden, bevor du mit dem Ritual<br />

beginnen kannst.“<br />

Miri schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Wie soll ich in der<br />

Dunkelheit ...“<br />

„Du wirst du es lernen müssen.“ Seufzend schüttelte die alte Frau<br />

den Kopf. „Ich habe die Knochen schon wenigstens ein Dutzend Mal<br />

zusammengetragen. Aber sobald ich anfange, über ihnen zu singen,<br />

tritt der Fluss über die Ufer und reißt alles auseinander.“<br />

„Und wie soll ich …“<br />

„Fang einfach an.“ Sie wies mit dem Kinn auf eine Stelle flussabwärts,<br />

wo das Wasser schäumend zwischen zwei Felsen hindurchbrauste.<br />

„Das ist ein guter Platz. Dort sammelt sich, was das Eis auf<br />

den Bergen dem Fluss schenkt.“ Mit diesen Worten wandte sie sich<br />

ab und ließ Miri mit dem Knochenhaufen allein.<br />

„Eine Cantadora, die Knochen wachsingt“, brummte Miri, während<br />

sie über einen steilen Pfad in die Bucht hinunterkletterte. „So etwas<br />

Abgefahrenes habe ich noch nie gehört. Na warte, Lorenz.“ Sie<br />

36


drohte einer windzerzausten Kiefer, die den stattlichen Mann nur mit<br />

viel Fantasie vertreten konnte, mit der Faust. „Bei nächster<br />

Gelegenheit erzähl ich dir was über die Rahmenbedingungen einer<br />

Prüfung vor der Initiation. Eine Herausforderung soll es schon sein.<br />

Aber ich habe nirgends gelesen, dass die Auf-gaben unlösbar sein<br />

müssen.“<br />

„Wenn du aufhörst, zu jammern und endlich anfängst zu suchen,<br />

kommst du erheblich flotter voran“, spottete eine raue Stimme. Miri<br />

wirbelte erschrocken herum.<br />

„Wer …?" Aber da war niemand. <strong>Die</strong> Soundsysteme, erinnerte sie<br />

sich. Lorenz wollte ihr offenbar zeigen, dass diese Kuppel einige<br />

Überraschungen parat hatte, die die angehende Wildnisassistentin<br />

noch nicht kannte.<br />

„Willst du jetzt jammern oder suchen?“<br />

Der Lautsprecher musste in den knorrigen Ästen der Kiefer ver-steckt<br />

sein.<br />

„Beim Suchen kann ich dir helfen. Beim Jammern brauchst du<br />

vermutlich keine Hilfe.“ Eine Krähe hockte auf einem der obersten<br />

Äste und blickte neugierig zu ihr herunter. Sie öffnete ihren Schnabel.<br />

„Also?“<br />

Kichernd schüttelte Miri den Kopf. „Du bist doof, Lorenz.“<br />

Mit einem beleidigten Krächzen plusterte sich die Krähe auf. „Erstens<br />

heiße ich nicht Lorenz und zweitens bin ich nicht halb so doof wie du.<br />

Ich weiß nämlich, wo die Knochen liegen.“<br />

„Na dann los.“ Allmählich bekam Miri Spaß an der Geschichte. „Lass<br />

uns die Knochen aus dem Gletschereis suchen.“<br />

37


Fünftes Kapitel<br />

<strong>Die</strong> Krähe führte Miri zu einer Stelle, wo der Fluss über zwei Felsen in<br />

ein kleines Becken rauschte, bevor er auf der anderen Seite rasch<br />

breiter wurde und gemächlicher weiterfloss. „Am Aus-fluss findet<br />

sich allerhand“, krächzte der Vogel. „Ich hoffe, es macht dir nichts<br />

aus, schon wieder nass zu werden.“<br />

Vorsichtig kletterte Miri <strong>von</strong> einem Felsen zum nächsten. Da der Fluss<br />

im Moment nicht viel Wasser führte, kam sie trockenen Fußes zum<br />

anderen Ufer. Zwischen zwei Steinen fand sie einen langen, dünnen<br />

Knochen. Vorsichtig rüttelte sie ihn los. „Einen hab ich schon“,<br />

triumphierte sie.<br />

<strong>Die</strong> Krähe gab ein Geräusch <strong>von</strong> sich, das wie ein spöttisches Lachen<br />

klang. „Den kannst du stecken lassen, es sei denn, du wolltest uns<br />

gleich noch eine Hirschkeule herbeisingen. Nimm das da.“ Sie pickte<br />

etwas aus dem Sand. „Das gehört zum rechten Vorderhuf.“<br />

Mithilfe der Krähe brauchte Miri nicht lange, bis sie mit ihren<br />

Fundstücken den schmalen Weg zur Hütte der alten Frau hinaufsteigen<br />

konnte.<br />

„Hast du alles?“, rief ihr die Knochensängerin schon aus einiger<br />

Entfernung entgegen.<br />

Triumphierend reckte Miri das Bündel hoch. „Sieben Knochen“,<br />

antwortete sie, „drei Wirbel, eine Rippe, ein Fesselbein, ein Huf-bein<br />

und ein Sprunggelenk. Eine Krähe…“<br />

„Pst!“ <strong>Die</strong> Alte bedeutete ihr, zu schweigen. „Lass uns den ein-fachen<br />

Teil des Zaubers zu Ende bringen.“<br />

38


„Ja klar, die Nacht dauert nicht ewig.“ Miri war in Plauderlaune. „Es<br />

wäre nicht so schnell gegangen, wenn mir diese…“<br />

„Still!“, herrschte sie die alte Frau an. „Als Nächstes musst du die<br />

Knochen so zusammensetzen, wie die Natur sie einst zusammengefügt<br />

hatte. Vergiss nicht, dass dein Werk vollendet sein muss,<br />

bevor die Sonnenscheibe am Horizont erscheint. Und denk daran,<br />

dass du dir <strong>von</strong> niemandem dabei helfen lassen darfst. Unsere Herrin<br />

hat ihre Augen überall.“ Verstohlen deutete sie zum Himmel und Miri<br />

glaubte, aus den Augenwinkeln einen Schatten zu sehen, der lautlos<br />

über die Bucht schwebte und dem Fluss bis zum Strand hinunter<br />

folgte. Dort verlor ihn Miri aus den Augen.<br />

„Nachtauge“, flüsterte die Knochensängerin, und lauter setzte sie<br />

hinzu: „Mach dich endlich an die Arbeit. Oder glaubst du, die Sonne<br />

wird deinetwegen in ihrem Lauf innehalten?“<br />

„Nein, aber …“ Miri starrte ungläubig auf den Haufen. „Wie soll ich<br />

daraus …“<br />

Mit einem traurigen Lächeln zog die alte Frau die Schultern hoch und<br />

in diesem Augenblick sah sie fast so dünn und zerbrechlich aus wie<br />

die morschen Knochen, die der Fluss an Land gespült hatte. „Ich sage<br />

dir nur, was zu tun ist. Wie du es tust, musst du selbst entscheiden,<br />

und mit Unterstützung der Geister mag es dir auch gelingen.“<br />

„Nun mach schon.“ Ungeduldig pickte die Krähe gegen den langen<br />

Beinknochen, auf dem sie sich niedergelassen hatte.<br />

„Bist du sicher?“ Ratlos betrachtete Miri das knubbelige Ding in ihrer<br />

Hand, das nicht anders aussah, als zwei oder drei Dutzend anderer<br />

knubbeliger Dinger. Sie war nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein<br />

Knochen war. Ebenso gut hätte es ein Stein oder ein Wurzelstück sein<br />

können.<br />

39


<strong>Die</strong> Krähe war <strong>von</strong> ihrer eigenen Weisheit sehr überzeugt. „Meinst<br />

du, ich sehe zum ersten Mal ein Pferdeskelett?“, spottete sie. „Ich<br />

lebe da<strong>von</strong>, dass andere sterben. Frösche, Kaninchen oder Katzen<br />

findet man am Rand der großen Straßen zwar bedeutend öfter, aber<br />

ich habe auch schon tote Pferde gesehen. Vor allem nach einer<br />

Überschwemmung.“<br />

„Was für Straßen?“, wunderte sich Miri.<br />

„Vergiss es.“ <strong>Die</strong> Krähe schüttelte sich. „Straßen gibt es ja keine<br />

mehr. Frösche übrigens auch nicht. Sogar die Katzen sind selten<br />

geworden.“<br />

Seufzend verdrehte Miri die Augen. „Bist du sicher, dass der Knochen<br />

zum rechten Vorderhuf gehört?“<br />

„Ganz sicher.“<br />

Miri legte ihren Fund an die Stelle, die ihr die Krähe gezeigt hatte.<br />

„Weißt du, was es mit diesem Nachtauge auf sich hat?“, fragte sie<br />

dabei.<br />

„Du meinst dieses hässliche Vieh da oben“, krächzte die Krähe. Hoch<br />

über ihnen beschrieb ein großer Vogel einen weiten Bogen über die<br />

Klippen, den Fluss und das Meer. „Das ist die Eule dieser alten Hexe.<br />

Das Weib plagt die Knochensängerin schon seit hundert Jahren<br />

damit, dass sie ihr das Windpferd herbeisingen soll. Aber die<br />

Cantadora ist schlau. Anstelle des Pferdes ruft sie einfach den Fluss,<br />

dann muss sie mit der Arbeit <strong>von</strong> vorne anfangen.“ <strong>Die</strong> Krähe hüpfte<br />

über den Sand, pickte an einem Knochen herum und flatter-te<br />

plötzlich krächzend auf, als hätte Miri sie verjagt.<br />

„Trotzdem vertraut die dunkle Königin der Knochensängerin diese<br />

wichtige Aufgabe an?“, überlegte Miri.<br />

40


„Vertrauen?“ <strong>Die</strong> Krähe schüttelte sich heftig, als wäre sie in einen<br />

Regenguss geraten. „Sie vertraut ihr natürlich nicht. Aber was ge-tan<br />

werden muss, kann eben nur eine Cantadora tun.“<br />

„Kann ich dir denn vertrauen?“<br />

„Warum solltest du mir vertrauen?“, entgegnete die Krähe.<br />

„Weil …“ Miri starrte auf die vielen Knochen, die in ihrer<br />

anatomischen Abschlussarbeit noch keinen Platz gefunden hatten.<br />

„Wenn ich dir nicht trauen würde, würde ich mir nicht <strong>von</strong> dir helfen<br />

lassen, und wenn ich mir nicht <strong>von</strong> dir helfen lassen würde, würde ich<br />

damit nicht rechtzeitig fertig werden.“<br />

„Findest du nicht, dass deine Argumentation ein bisschen zu dünn<br />

ist?“<br />

„Weißt du denn eine bessere?“ Sie konnte dem Vogel doch nicht<br />

sagen, dass sie ihn immer noch für eine raffinierte Simulation hielt,<br />

die <strong>von</strong> Lorenz gesteuert wurde. Als Biologe hatte er sicher auch<br />

Anatomie studiert und er würde seine einzige Schülerin vermutlich<br />

nicht ausgerechnet in dieser wichtigen Prüfung hängen lassen.<br />

„Nein“, antwortete die Krähe mit einem komischen Krächzen, das<br />

fast wie ein Kichern klang. „Es ist aber auch egal, ob du mir vertraust<br />

oder nicht. Wenn du in dieser Nacht fertig werden willst, solltest du<br />

dich beeilen.“<br />

Über dem Meer verblasste die Dunkelheit bereits, als Miri den letzten<br />

Knochen an seinen Platz legte. Sie trat einen Schritt zurück, um ihr<br />

Werk zu betrachten. Für die Rippen und das rechte Beinpaar hatte sie<br />

eine flache Grube ausgehoben. Das linke Beinpaar, den Hals und den<br />

Kopf hatte sie so gelegt, dass es aussah, als hätte sich das Pferd in<br />

den feinen Sand gewälzt und könnte jeden Moment aufspringen. Auf<br />

eine gruselige Weise war das Skelett schön.<br />

41


„Und wie geht es jetzt weiter?“, wollte sie <strong>von</strong> ihrer gefiederten<br />

Ratgeberin wissen.<br />

„Eigentlich ist alles erledigt“, antwortete die Krähe. „Du musst nur<br />

noch darauf warten, dass die Sonnenscheibe den Horizont berührt.<br />

Das Tor in deine Welt versteckt sich hier in den Klippen. Es öffnet sich<br />

immer bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Wenn du zwischen<br />

den Felsen einen leuchtenden Bogen siehst, rennst du einfach<br />

darunter durch, dann bist du in Sicherheit. Für den Fall, dass das<br />

Nachtauge zurückkommt, solltest du vorher allerdings noch ein<br />

bisschen singen.“<br />

Miri dachte einen Moment lang darüber nach, ob sie die untere Welt<br />

wirklich schon verlassen wollte. Es wäre lustiger, herauszufinden, was<br />

sich Lorenz oder Ben einfallen ließen, wenn die an-gehende<br />

Wildnisassistentin die zugedachte Rolle nicht länger spielen würde.<br />

„Und was müsste ich singen, wenn ich das Windpferd tatsächlich<br />

zurückrufen wollte?“ Sie versuchte, bei dieser Frage möglichst<br />

unschuldig auszusehen.<br />

„Du solltest nicht einmal darüber nachdenken, das Windpferd zu<br />

rufen. Das ist kein gewöhnliches Pferd“, antwortete die Krähe<br />

erschrocken. „Wenn die Herrin der unteren Welt über seine Magie<br />

gebieten könnte, wäre das für deine und meine Welt gefährlich.“<br />

„Und was wäre daran so gefährlich?“, bohrte Miri weiter. Doch die<br />

Krähe schüttelte sich nur und pickte mit einem misstönenden<br />

Krächzen an einem Wirbelknochen herum.<br />

Lautlos glitt der Schatten der Eule über die Klippen. Sie kreiste<br />

zweimal über der Bucht, dann schwang sie sich in den Nachthimmel<br />

hinauf und flog nach Westen zu den Bergen, wo die dunkle Königin<br />

vermutlich noch nach dem geheimnisvollen Eindringling suchte.<br />

42


„<strong>Die</strong> alte Hexe hat bereits das leuchtende Schwert. Wenn sie<br />

außerdem auch noch über das Windpferd gebietet, kann sie jederzeit<br />

das Tor zu einer anderen Welt öffnen. Niemand könnte sie dann<br />

noch daran hindern, auch in deine Welt zu kommen.“<br />

„Dort würde es ihr bestimmt nicht gefallen.“ Lachend schüttelte Miri<br />

den Kopf. „Wenn sich keiner herumkommandieren lässt, ist das für<br />

eine Dame ihres Standes sicher frustrierend.“<br />

<strong>Die</strong> Krähe legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. „Du<br />

unterschätzt die Magie der dunklen Königin.“ Sie duckte sich auf den<br />

Boden als würde sie sich vor ihren eigenen Worten fürchten. „Mit ihr<br />

würde alles zurückkehren, was ihr aus eurer Welt verbannt habt:<br />

Neid, Missgunst, Angst vor denen, die anders sind, und Gewalt.“<br />

Miri musste rasch den Kopf zur Seite wenden, um ihr Lächeln zu<br />

verbergen. Wenn sie bisher noch gezweifelt hatte, dann waren die<br />

pathetischen Worte der Krähe der letzte Beweis dafür, dass Lorenz<br />

diese Szene ersonnen hatte. Seiner Meinung nach war die untere<br />

Welt der alten schamanischen Kulturen mit dem Unter-bewusstsein<br />

gleichzusetzen. Wer sich nicht mit den Sehnsüchten und Ängsten in<br />

seinem persönlichen Schattenreich auseinander-setzte, riskierte, dass<br />

sie sein Denken und Handeln mehr und mehr bestimmten. Lorenz<br />

war überzeugt da<strong>von</strong>, dass die Krankheiten, an denen die alte Welt<br />

zugrunde gegangen war, jederzeit wieder ausbrechen konnten, wenn<br />

die Menschen nicht bereit waren, sich den Herausforderungen ihres<br />

Unterbewusstseins zu stellen.<br />

„Du solltest anfangen zu singen, bevor das Nachtauge zurückkommt“,<br />

mahnte die Krähe.<br />

Miri hatte gerade noch darüber nachgedacht, wie eine angehende<br />

Wildnisassistentin mit den Herausforderungen ihres Unterbewusstseins<br />

umgehen musste. „Hat die Herrin der unteren Welt<br />

43


überhaupt ein Recht auf dieses Windpferd, wenn ich es ins Leben<br />

zurücksinge?“, fragte sie. „Könnte ich es vor ihr schützen?“<br />

„Du musst verrückt sein!“ <strong>Die</strong> Krähe starrte Miri ungläubig an. „Du<br />

hast noch keinen blassen Schimmer <strong>von</strong> deiner Magie und träumst<br />

da<strong>von</strong>, eine Hexe herauszufordern, die seit vielen hundert Jahren<br />

nichts anderes tut, als ihre magischen Kräfte und ihre Skrupellosigkeit<br />

zu vervollkommnen.“<br />

„Ich könnte es wenigstens versuchen.“ Miri war sicher, dass sie den<br />

richtigen Weg gewählt hatte.<br />

„Dann nimm dir ein Instrument und sing dein Zauberlied.“<br />

„Was für ein Instrument?“, wunderte sich Miri.<br />

„Da drüben.“ <strong>Die</strong> Krähe flatterte zu einer Kiste, die Miri zum ersten<br />

Mal am Rand der Klippen stehen sah. Nach der Prüfung musste sie<br />

Lorenz unbedingt fragen, ob die Truhe die ganze Zeit da gestanden<br />

hatte und durch einen optischen Trick verborgen ge-wesen war.<br />

Jedenfalls war sie echt. Miris Finger strichen über poliertes Holz oder<br />

eine gute Imitation. Der Deckel war so schwer, dass sie ihn mit<br />

beiden Händen hochstemmen musste. Zwischen Stoffpolstern lagen<br />

Rasseln, Flöten, Trommeln, eine kleine Gitarre und andere<br />

Instrumente, die Miri nie zuvor gesehen hatte.<br />

„Ach du meine Güte“, seufzte Miri. Dem Musikunterricht was sie<br />

bisher immer erfolgreich aus dem Weg gegangen.<br />

„Mach schon“, nörgelte die Krähe. „Es kann doch nicht so schwer<br />

sein, das richtige Instrument auszusuchen und anfangen zu singen.“<br />

„Welches ist denn das richtige Instrument?“, fragte Miri.<br />

44


„Wenn du nicht einmal das weißt, solltest du dir die Geschichte aus<br />

dem Kopf schlagen und die Biege machen, bevor die dunkle Königin<br />

zurückkommt“, spottete die Krähe.<br />

Mit einer Rassel würde sie wohl am wenigsten falsch machen.<br />

„Vergiss nicht, dass du nicht nur dein Instrument, sondern auch noch<br />

dein Lied finden musst, bevor die Sonne aufgeht.“<br />

Als würde sie einem eigenen Willen gehorchen, griff Miris Hand an<br />

den Rasseln vorbei nach einer flachen Trommel. Sie konnte gerade<br />

noch die Hand mit dem Musikinstrument zurückziehen, ehe die Kiste<br />

mit einem entschiedenen Rums zuklappte. Im selben Moment war sie<br />

so spurlos verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.<br />

„Na bitte“, krächzte die Krähe. „Geht doch.“<br />

„Was jetzt?“<br />

„Fang einfach an, zu singen.“<br />

„Was für ein Lied soll ich denn singen?“<br />

„Das Lied der Cantadora. Das Lied, in dem die lebenden Seelen den<br />

toten begegnen.“ <strong>Die</strong> Krähe flatterte zum Gerippe, das im weißen<br />

Schimmer des staubfeinen Sandes zu leuchten schien. „Ein Lied, das<br />

Wasser, Erde, Luft und Feuer aufweckt, und Leben zurück-bringt, das<br />

schon lang im Strom der Zeit versickert ist.“<br />

Miri schüttelte den Kopf. So etwas passierte doch nur in den<br />

Geschichten, die sie früher so gerne gelesen hatte. Damals hatte sie<br />

sich nichts sehnlicher gewünscht, als wenigstens einmal mit der<br />

Heldin oder dem Helden dieser fantastischen Abenteuer den Platz zu<br />

tauschen. Sie bezweifelte plötzlich, ob das wirklich so eine gute Idee<br />

gewesen war.<br />

45


„Wo soll ich dieses Lied finden?“<br />

„Im Rauschen deines Blutes oder im Herzschlag der Erde, im Brausen<br />

des Windes, im Tanz der Mäuse oder im Flüstern einer Krähenfeder.<br />

Wenn du der Trommel gut zuhörst, führt sie dich auf den richtigen<br />

Weg. Ach, fast hätte ich es vergessen.“ <strong>Die</strong> Krähe hüpfte zu einem<br />

nahegelegenen Stein und zerrte etwas darunter hervor. „Das<br />

brauchst du auch noch.“<br />

„Was?“<br />

Als das metallisch glänzende Ding aus dem Schnabel der Krähe in<br />

Miris Hand fiel, erkannte sie, dass es ein fingerlanges Messer mit<br />

einer sichelförmigen Klinge war. Ein fester Riemen war um den Griff<br />

geschlungen und zu einem Halsband zusammengeknotet.<br />

„Leg es an“, krächzte die Krähe. „Wenn du es brauchst, hast du keine<br />

Zeit, danach zu suchen.“<br />

„Wozu brauche ich ein Messer?“ Miri schüttelte den Kopf.<br />

„Später. Jetzt brauchst du nur die Trommel und dein Lied.“<br />

Ein zarter Klang schwebte über die Bucht, als Miri mit den Fingerspitzen<br />

sachte über die Trommelhaut strich.<br />

„So findest du das Lied nicht“, krächzte die Krähe.<br />

„Hast du denn eine bessere Idee?“<br />

„Du musst sie mit einem Trommelschlägel spielen.“<br />

„Und wo soll ich den hernehmen?“<br />

„Erinnerst du dich an den Knochen zwischen den Felsen?“<br />

„Den Hirschknochen?“<br />

46


<strong>Die</strong> Krähe nickte. „Hol ihn. Der gibt einen guten Schlägel ab.“<br />

Hastig kletterte Miri die steile Uferböschung hinab, aber der Knochen<br />

steckte nicht mehr da, wo sie ihn vorhin gesehen hatte.<br />

„Ich brauche einen Schlägel“, murmelte sie, während sie dem Wasser<br />

folgte. „Schlägel, Schlägel, Schlägel.“ Ihre Augen suchten das Ufer<br />

vergeblich nach einem passenden Knochen ab. Sie wollte schon<br />

umkehren, als sie auf den Wellen etwas treiben sah. So wie es<br />

aussah, musste es ein Stock sein. Armlang und dünn mit einer<br />

knorrigen Verdickung am einen Ende.<br />

„Schlägel, Schlägel, Schlägel, Schlägel“, lockte Miri. Ein kleiner Strudel<br />

lenkte die Wellen in einen schäumenden Wirbel und spülte ihr den<br />

Ast direkt vor die Füße.<br />

„Ich hab einen“, jubelte Miri. „Vielen Dank!“ Sie winkte den Wellen<br />

zu, kletterte die Böschung hinauf und rannte zu dem Pferdeskelett<br />

zurück. Wie <strong>von</strong> selbst fanden ihre Füße einen flotten Dreiertakt,<br />

brambabam, brambabam, brambabam, bam. Schlägel, Schlägel,<br />

Schlägel, Schlägel murmelten ihre Gedanken dazu. Eins-zwei, einszwei,<br />

eins-zwei, stopp.<br />

„Ein morscher Ast“, murrte die Krähe. „Der geht dir doch schon nach<br />

den ersten Schlägen in Stücke. Soll ich einen anderen Knochen für<br />

dich suchen?“<br />

„Nein“, entgegnete Miri brüsk. „Lass uns anfangen.“ Der Rhythmus,<br />

der sie begleitet hatte, durfte ihr nicht abhandenkommen.<br />

47


Sechstes Kapitel<br />

Brambabam, brambabam galoppierten ihre Füße auf der Stelle. Einszwei,<br />

eins-zwei trabte derweil der Schlägel über die Trommel.<br />

Brambabam, brambabam, eins-zwei, eins-zwei. Miri hatte Mühe, die<br />

gegenläufigen Rhythmen zu halten.<br />

Brambabam, brambabam, eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei.<br />

Fahles Licht stieg wie Nebel aus dem Boden auf. Zuerst hüllte es das<br />

Pferdeskelett ein, dann kroch es über ihre Füße und schließlich hing<br />

es wie eine schimmernde Wolke über der Bucht.<br />

Brambabam, brambabam, eins-zwei, eins-zwei.<br />

Plötzlich ging das Lied der Trommel in einem Donnergrollen unter.<br />

Der Fluss verharrte in seinem Lauf und wurde zu Eis, doch der<br />

Moment der Reglosigkeit dauerte nur einen Augenblick. Ächzend<br />

zerbarst das Eis und eine gewaltige Kraft schob es dorthin zurück,<br />

woher es gekommen war. Das Wasser brodelte als würde es mit der<br />

Gewalt seiner Natur gegen etwas Machtvolleres ankämpfen.<br />

Brambabam, brambabam, eins-zwei, eins-zwei, eins …<br />

Spiel weiter, flüsterte die Stimme der Knochensängerin durch Miris<br />

Gedanken. Du hast den Strom der Zeit dazu gezwungen, rückwärts zu<br />

fließen. Jetzt musst du nur noch die richtigen Worte finden. Frag die<br />

Sterne. Sie kennen die Worte der heiligen Lieder.<br />

<strong>Die</strong> Sterne? Angestrengt starrte Miri zum Himmel hinauf, aber da war<br />

nichts mehr. Das spinnwebgraue Licht des erwachenden Tages<br />

verbarg die Sterne vor ihren Augen. Direkt über dem Horizont<br />

entdeckte Miri noch einen letzten hellen Punkt am Saum des<br />

schwarzgrauen Nachtmantels. Der Morgenstern!<br />

48


„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Morgen? Ruft sie das Licht?“<br />

Fremde Worte <strong>von</strong> ihrer eigenen Stimme gesungen.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Morgen? Ruft sie das Licht?“<br />

Selbstvergessen sang Miri das Lied des Morgensterns während Hände<br />

und Füße dem Rhythmus der Pferde folgten.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Sternensang.<br />

Trommellied, rufst du den Morgen, rufst du das Licht?“<br />

<strong>Die</strong> Klippen ringsum waren eins mit dem Grau der schwindenden<br />

Nacht. <strong>Die</strong> Bucht mit dem staubfeinen Sand schien wie eine Insel im<br />

geisterhaften Licht des Zaubers zu schwimmen.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Abend? Ruft sie die Nacht?“<br />

Aus der Ferne mischte sich das Donnern galoppierender Hufe in ihren<br />

Gesang.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Abend? Ruft sie die Nacht?“<br />

Es klang so, als kämen sie aus den Bergen herunter in das abgelegene<br />

Flusstal. Galoppierend, trabend und wiehernd näherte sich eine<br />

ganze Herde.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Sternensang.<br />

Trommellied, rufst du den Abend, rufst du die Nacht?“<br />

Fast wären Miris Füße ins Stolpern geraten, als sie im Schatten<br />

zwischen den Klippen einen Pferdekopf erkannte.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Frühling? Ruft sie die Flut?“<br />

49


Eine rotbraune Stute trat hinter dem Felsen am Ende der Bucht<br />

hervor. Mit weit geblähten Nüstern prüfte sie die Witterung, bevor<br />

sie ihre Hufe in den schimmernden Sand setzte.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Frühling? Ruft sie die Flut?“<br />

Andere Pferde folgten. Zwischen den schattengrauen Pferden, die im<br />

Licht des Tages braun oder schwarz sein mochten, erkannte Miri eine<br />

gescheckte und eine goldbraune Stute.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Frühlingssang.<br />

Trommellied, rufst du den Regen, Schmelzwasserflut?“<br />

Steifbeinig trippelte ein sternenweißes Fohlen an der Seite der<br />

schattenfarbenen Mutter über den schmalen Uferstreifen am<br />

Eingang der Bucht. Mit hoch erhobenem Kopf stand es da und sah zu<br />

Miri herüber.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Sommer? Ruft sie die Glut?“<br />

Neugierig stakte das Fohlen ein paar Schritte näher.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Sommer? Ruft sie die Glut?“<br />

Auch das Fohlen folgte dem Ruf des Lieds. Mit langem Hals und<br />

bebenden Nüstern kam es näher. Miri konnte bereits den Milchduft<br />

seines Atems schmecken.<br />

„Blut“, krächzte ihr die Krähe ins Ohr. „Du brauchst Blut, um den<br />

Zauber wahr zu machen. Schnapp dir das Fohlen. Schnell.“<br />

Mit einem schrillen Wiehern bäumte sich das Fohlen auf, machte auf<br />

der Hinterhand kehrt und fegte über den Sand.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Sommersang.<br />

Trommellied, rufst du die Hitze, Mittagslichtglut?“<br />

50


Der Wirbel winziger Hufe übertönte den Rhythmus der Trommel.<br />

Dann trabte das Fohlen zu seiner Mutter zurück.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Herbstwind? Ruft sie den<br />

Sturm?“<br />

Ein langbeiniger Junghengst, der größer war als die anderen Pferde<br />

aber noch knochig und schmalbrüstig, hatte offenbar einen falschen<br />

Weg erwischt. Nervös trabte er am oberen Rand der Klippen entlang.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Herbstwind? Ruft sie den<br />

Sturm?“<br />

Zornig stampfte er mit dem Huf auf die Erde und sein herrisches<br />

Wiehern schallte wie eine Trompete über die Berge.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Herbstwindsang.<br />

Trommellied, rufst du den Donner, Sturmwetterwut?“<br />

Er machte auf der Hinterhand kehrt und galoppierte ein Stück zurück.<br />

Wie das Echo des Donners rollte sein Hufschlag durch die Bucht.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Winter? Ruft sie das Eis?“, sang<br />

Miri.<br />

Offenbar hatte der Hengst den Abstieg nicht gefunden. Es dauerte<br />

nur wenige Augenblicke, bis er zurückkam.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Winter? Ruft sie das Eis?“<br />

Mit einem gellenden Schrei bäumte sich der Fuchs auf.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang, lautloser Schneegesang.<br />

Trommellied, rufst du den Winter? Leben, das ruht?“<br />

Mit diesen Worten endete das Lied. Atemlos lauschte Miri dem<br />

letzten Trommelschlag nach. Der Zorn des jungen Hengstes war<br />

51


verstummt. Wie ein Gefangener seines eigenen Stolzes stand er auf<br />

der Klippe. Selbst die Stimmen der Sterne schwiegen in diesem<br />

Moment.<br />

„Schau nur.“ Wie eine stumpfe Klinge zerriss das Krächzen den<br />

magischen Augenblick. „Du hast es geschafft!“<br />

Miris Blick fiel auf das Skelett, doch da waren keine Knochen mehr zu<br />

sehen. Muskeln und Sehnen, Haut und Haare bedeckten das Gerippe.<br />

Es ist noch nicht geschafft, flüsterte die Stimme der Knochensängerin<br />

durch ihr Denken. Der Zauber braucht Blut, um wahr zu werden.<br />

Der Fuchshengst tänzelte auf der Stelle. Miri hörte Steine<br />

herabprasseln, als er mit seinen Vorderhufen nach sicheren Tritten<br />

suchte. Dann sank er plötzlich in der Hinterhand ein, sein Körper<br />

spannte sich wie ein Bogen und schnellte über den Rand der Klippe<br />

hinaus. Für einen Augenblick hing er reglos in der Luft, als wäre er<br />

erstarrt wie das Leben im Winter. Dann senkte er seinen Kopf,<br />

streckte die Vorderbeine weit nach vorn und landete nur ein paar<br />

Schritte <strong>von</strong> ihr entfernt. Sand stiebte auf und Miri spürte die<br />

Erschütterung des Bodens, der noch immer im Rhythmus ihres<br />

magischen Gesangs vibrierte.<br />

Brambabam, brambabam, grollte es durch die atemlose Stille. Einszwei,<br />

eins-zwei, eins-zwei dröhnte die Trommel dazu.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie das Leben? Ruft sie den Tod?“<br />

Es war nicht Miri, die diese Zeile sang. <strong>Die</strong> Sterne selbst schienen zu<br />

singen und ihr Gesang hallte <strong>von</strong> den zermahlenen Knochen in der<br />

Bucht wider.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie das Leben? Ruft sie den Tod?“<br />

52


<strong>Die</strong> Vorderhand des Hengstes versank im schimmernden Sand. Noch<br />

im Sprung riss er die Hinterbeine nach vorn um den Sturz<br />

abzufangen, aber sein eigenes Gewicht schob ihn über die rechte<br />

Schulter nach vorn, er überschlug sich und blieb reglos am Rand der<br />

flachen Grube liegen.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang, Lausche des Lebens Sang.<br />

Trommellied, rufst du das Leben? Rufst du das Blut!“<br />

„Du hast es gehört“, kreischte die Krähe. „Nimm sein Blut, um dein<br />

Werk zu vollenden.“<br />

Miri hatte nie zuvor in ihrem Leben Blut vergossen. Wie <strong>von</strong> selbst<br />

näherte sich die Klinge dem schweißnassen Fell, unter dem der Strom<br />

des Lebens pulsierte.<br />

„Rufst du das Leben? Rufst du das Blut!“, klang es in ihrem Denken<br />

fort und fort.<br />

„Worauf wartest du noch?“<br />

Sie musste lebendiges Blut vergießen, um die toten Knochen dem<br />

Leben zurückzugeben.<br />

„Ein Leben um das andere“, krächzte die Krähe. „Mach schnell.“<br />

„Nein!“ Zornig schlug Miri nach der Krähe, die sie fast dazu verleitet<br />

hätte, das Undenkbare zu tun. „Das mache ich nicht.“<br />

Als wäre ein Bann gebrochen sprang der feuerfarbene Junghengst<br />

wieder auf die Füße. Er brachte sich mit einem gewaltigen Satz über<br />

die Grube in Sicherheit, aber er rannte nicht weg.<br />

„Blut!“, krächzte die Krähe abermals. „<strong>Die</strong>ser Zauber braucht Blut,<br />

sonst kann er nicht wahr werden.“ <strong>Die</strong> schwarzen Schwingen<br />

53


klatschten Miri ins Gesicht, als der Vogel versuchte, auf ihrem Arm zu<br />

landen. „Schnell. Nimm mein Blut, bevor es zu spät ist.“<br />

„Nein!“<br />

„Dummes Ding!“, schimpfte die Krähe. „Du musst es zu Ende bringen.<br />

Hörst du denn nicht, dass die dunkle Königin bereits auf dem Weg<br />

hierher ist.“<br />

Ein härterer, schärferer Ton hatte sich in das Lied gemischt, das<br />

immer noch in den Klippen, dem Fluss und der Erde nachhallte.<br />

Klackdadap, klackdadap, schlug Eisen auf Stein.<br />

<strong>Die</strong> Pferde schienen die Gefahr zu wittern. <strong>Die</strong> Leitstute wandte sich<br />

dem Fluss zu, der immer noch bergauf floss und die anderen Tiere<br />

folgten ihr.<br />

Nur der Fuchshengst zögerte. Über die flache Grube mit dem leblosen<br />

Pferdeleib, begegneten seine Blicke der jungen Cantadora.<br />

Das Geheimnis der Macht liegt darin, nur das zu nehmen, was du<br />

auch zu geben bereit bist.<br />

<strong>Die</strong>ser Gedanke war voller Schönheit und Kraft.<br />

Bist du bereit, dein eigenes Blut für das Leben des Windpferdes zu<br />

vergießen?<br />

Miri nickt stumm. <strong>Die</strong> Weisheit dieser Worte sank bis auf den Grund<br />

ihres Herzens.<br />

Rufst du das Leben? Rufst du das Blut!<br />

Ihr eigenes Blut für das Leben eines Pferdes. Ihr Blut … - Das Messer<br />

der Knochensängerin! Miri legte ihre Hand um die sichel-förmige<br />

Klinge und packte so fest zu, als wollte sie den Stahl zer-drücken. Den<br />

54


Biss spürte sie kaum. Erst als ein dumpfes Pochen ihre Hand taub und<br />

gefühllos machte, wurde ihr bewusst, dass sie ein fühlendes Wesen<br />

verletzt hatte. Sie drängte Entsetzen und Ekel zurück und stieg zu<br />

dem leblosen Pferd in die Grube hinab.<br />

„Mein Blut für dich“, flüsterte sie, während sie seine breite Stirn<br />

zeichnete.<br />

Rufst du das Leben? Rufst du das Blut!<br />

Klackdadap, klackdadap. Tacktack, tacktack. Eisen hämmerte den<br />

Rhythmus in den Stein. Mit ihrer verletzten Hand strich Miri über den<br />

Rücken des Windpferdes, seine Beine, seine Hufe. Sie war so<br />

versunken in ihr Tun, dass sie nicht bemerkte, wie das Brausen des<br />

Flusses allmählich leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Erst<br />

die Bewegung, die plötzlich durch den Pferdeleib lief, rief sie zurück<br />

in die Wirklichkeit des anbrechenden Morgens. Ein Zittern rann über<br />

das Fell, die Vorderbeine zuckten wie im Traum und die Hinterbeine<br />

schlugen plötzlich aus. Im gleichen Moment riss das Pferd die Augen<br />

auf und versuchte, aufzuspringen, aber die Beine konnten den<br />

schweren Leib noch nicht tragen. Miri sprang mit einem Satz aus der<br />

Grube und trat sicherheitshalber zwei Schritte zurück, als das Pferd<br />

ächzend zur Seite kippte. Einen Augenblick lag es ganz still, plötzlich<br />

peitschte der Kopf in die Höhe, die Hufe zerwühlten den Sand.<br />

Breitbeinig und mit hängendem Kopf stand das Tier in der Grube, als<br />

ob das Aufstehen seine ganze Kraft gekostet hätte. Im grauen Licht<br />

des frühen Tages erkannte Miri, dass sein Fell weiß wie der Sand in<br />

der Bucht war.<br />

Klackdadap, klackdadap, klang es aus den Klippen herunter.<br />

Erschrocken riss der Schimmel den Kopf hoch und sprang mit einem<br />

gewaltigen Satz aus der Grube. Er schüttelte sich, bis sein knochiger<br />

Körper in eine Staubwolke gehüllt war, dann warf er noch einen Blick<br />

zu den Klippen, bevor er sich abwandte, um der Herde zu folgen.<br />

55


„He“, rief Miri dem Schimmel leise nach. „Habe ich dich wirklich<br />

wachgesungen? Und bist du tatsächlich das Windpferd, nach dem die<br />

dunkle Königin sucht?“<br />

56


Sie war sicher, dass Ben oder Lorenz die Simulation an dieser Stelle<br />

beenden und über die Lautsprecheranlage verkünden würden, dass<br />

Miriel Rosen ihre Prüfung bestanden hatte und als Wildnis-assistentin<br />

ins Team der Wildniskuppel aufgenommen wurde. Statt-dessen<br />

wandte sich das weiße Pferd um und kam zu ihr zurück.<br />

„Du hast die Magie gewirkt, die mich nach all den Jahren hierher<br />

zurückgerufen hat? Respekt. Das hat nicht einmal die Knochensängerin<br />

zustande gebracht.“ Eine samtweiche Schnauze senkte sich<br />

in Miris Hand. „Danke, Mädchen.“ Der warme Atem ließ den Schmerz<br />

ihrer Schnittwunde verblassen.<br />

„Darf ich …“ Ungläubig schüttelte Miri den Kopf. Es konnte doch gar<br />

nicht wahr sein, dass sie mit einem leibhaftigen Pferd am Fuß einer<br />

Klippe stand, die es in der Wildniskuppel überhaupt nicht gab. Dass<br />

es noch viel unwahrscheinlicher war, mit diesem Pferd zu reden, fiel<br />

ihr erst später auf. „Darf ich dich anfassen?“ Unsicher streckte sie die<br />

Hand nach den dürftigen Haarsträhnen aus, die über den Pferdehals<br />

hingen.<br />

„Von mir aus“, antwortete das Pferd. „Aber beeil dich. Wir müssen<br />

verschwinden. Der erste Wind des neuen Tages weht ungebetene<br />

Gäste hierher.“<br />

57


Siebtes Kapitel<br />

Nun hörte auch Miri den Hufschlag, der <strong>von</strong> den Klippen<br />

herunterklang. „Wohin?“ Nervös blickte sie sich um. „Da drüben ist<br />

ein Weg. Aber ich weiß nicht …“<br />

Das Windpferd schüttelte den Kopf. „Zu spät. Sie sind gleich da. Wir<br />

müssen uns verstecken.“ Mit einem herrischen Wiehern rief der<br />

Schimmel die Herde zurück. „Zwischen den anderen Pferden wird sie<br />

mich nicht erkennen“, stellte er fest. „Und du versteckst dich hinter<br />

den Felsen.“<br />

„Willst du mich denn für dumm verkaufen?“, hörte Miri die dunkle<br />

Königin schimpfen.<br />

„Beeil dich!“ Das Pferd versetzte ihr einen aufmunternden Stoß, dann<br />

trabte es zu den anderen.<br />

„Glaubst du, ich wüsste nicht, was es bedeutet, wenn das Gewebe<br />

zwischen den Welten erschüttert wird?“ <strong>Die</strong> dunkle Königin musste<br />

direkt über dem Felsüberhang stehen, unter dem sich Miri<br />

verstecken wollte.<br />

„Es ist dem Mädchen wohl gelungen, irgendeine Form <strong>von</strong> Magie zu<br />

wirken“, erwiderte die Knochensängerin. „Aber das Windpferd …“<br />

„Wir werden ja sehen, was passiert ist.“<br />

Miri duckte sich unter einen Steinüberhang, als sich die Schatten der<br />

Reiter gegen den heller werdenden Himmel abzeichneten. Sie<br />

tauchten da auf, wo der junge Hengst <strong>von</strong> den Klippen gesprungen<br />

war. Im Gegensatz zu dem schmalbrüstigen Fuchs setzte der Graue<br />

seine Hufe auf die schmalen Trittsteine und trug seine Reiterin sicher<br />

in die Bucht. Das schwarze Streitross tat es ihm nach.<br />

58


„Was sind das für Pferde?“, wollte die dunkle Königin wissen.<br />

„Das ist die Herde aus den Bergen.“ Vorsichtig folgte die Knochensängerin<br />

den Reitern. „Sie kommen nur selten in die Täler.“<br />

„Welches <strong>von</strong> ihnen ist das Windpferd? Und wo ist das Mädchen?“<br />

Miri duckte sich tiefer in ihre Nische.<br />

„Ich weiß nicht.“ Kopfschüttelnd blickte die Knochensängerin in die<br />

Runde. „Vielleicht ist es ihr gelungen, ein Tor zwischen den Welten zu<br />

öffnen. Vielleicht war das die Erschütterung im Netz der Magie, die<br />

wir beide gespürt haben. An diesen Pferden kann ich jedenfalls nichts<br />

Magisches erkennen.“<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin trieb ihren Grauen an den Rand der Grube. „<strong>Die</strong><br />

Knochen sind nicht mehr da, und der Fluss hat sie diesmal auch nicht<br />

da<strong>von</strong>getragen. Es sollte mich doch sehr wundern …“ Sie musterte<br />

die Pferde eins nach dem anderen. „Zu jung“, sagte sie, als ihr Blick<br />

auf das milchweiße Fohlen fiel. „Und der ist zu alt.“<br />

Im grauen Licht des dämmernden Morgens glich der Hengst, den Miri<br />

herbeigesungen hatte, einem elenden Klepper. Sein Fell war stumpf<br />

und schmutzig, Mähne und Schweif bestanden aus struppigen<br />

Haarbüscheln und er ließ den Kopf hängen, als könne er das Gewicht<br />

kaum tragen.<br />

„Der vielleicht.“ Sie deutete auf den schmalbrüstigen Fuchshengst am<br />

Rand der Herde. Mit einem nervösen Schnauben riss das junge Pferd<br />

den Kopf hoch.<br />

„Der muss es sein.“ <strong>Die</strong> Dame nickte dem Ritter zu. „Fang ihn ein und<br />

bring ihn her.“<br />

Mit einem schrillen Wiehern stieg der Junghengst auf die Hinterhand,<br />

wirbelte herum und sprengte da<strong>von</strong>.<br />

59


„Los!“ Mit einem groben Fußtritt trieb die dunkle Königin ihr Pferd<br />

an. „Er darf uns nicht entkommen.“ <strong>Die</strong> Pferde stoben in alle<br />

Richtungen da<strong>von</strong>, der Trommelwirbel ihrer Flucht hallte <strong>von</strong> den<br />

Klippen wider.<br />

Nur der struppige Schimmel rührte sich nicht und die Knochensängerin<br />

stand mit verschränkten Armen am Fuß der Klippen.<br />

Sie nickte anerkennend. „Und wie soll es jetzt weitergehen?“<br />

„Ich weiß nicht.“ Miri kroch aus ihrem Versteck. „Vielleicht …“<br />

Einerseits könnten Lorenz und Ben dieses abgefahrene Programm<br />

allmählich beenden, andererseits wollte sie sich noch nicht <strong>von</strong> der<br />

Welt trennen, in der es Magie gab und Pferde.<br />

Im Gegensatz zu Miri wusste der Schimmel offenbar genau, was er<br />

wollte. „Ich gehe einfach mit in Miris Welt. Dann bin ich die alte Hexe<br />

endlich los.“<br />

„Das geht nicht“, entgegnete die Knochensängerin. „Du gehörst<br />

hierher. In Miris Welt gibt es keine Pferde mehr. Außerdem sind wir<br />

zu spät. Das Tor ist öffnet sich, wenn die Sonne über den Horizont<br />

tritt.“ Sie deutete dabei nach Osten. Ein glutroter Splitter der<br />

Sonnenscheibe hatte sich bereits in das Grau des Himmels geschoben<br />

und vergoldete die Schaumkronen der Wellen. „Ihr solltet euch<br />

da<strong>von</strong>machen, bevor die dunkle Königin merkt, dass sie das falsche<br />

Pferd jagt.“<br />

„Wohin?“ Miri blickte sich ratlos um. Im Osten versperrte ihnen das<br />

Meer den Weg und hinter den Klippen im Westen ragte der Berg auf,<br />

in dem die Knochensängerin sie gefunden hatte. Das Pferd würde ihr<br />

sicher nicht in die unterirdischen Gänge und Höhlen folgen. <strong>Die</strong><br />

Herde aus den Bergen war auf dem schmalen Streifen Land zwischen<br />

dem Wasser und den Klippen nach Norden geflohen. Dort waren<br />

auch die dunkle Königin und ihr Ritter. Der einzige Fluchtweg, der<br />

60


ihnen offen stand, führte nach Süden, über den Fluss und weiter am<br />

Strand entlang.<br />

<strong>Die</strong> Knochensängerin nickte, als könne sie Miris Gedanken lesen. „Ja,<br />

ihr müsst nach Süden. Kennst du das Grüne Land?“, fuhr sie zu dem<br />

Windpferde gewandt fort.<br />

„Oh ja“, schnaubte der Schimmel. „Aber für dieses Leben habe ich<br />

mir vorgenommen, ein bisschen vorsichtiger zu sein. Ich will nicht<br />

schon wieder als junger Held sterben, lieber als alter Feigling.“<br />

Miri erinnerte sich daran, dass die Nomaden im Ödland ihre Toten in<br />

einem immergrünen Land wähnten. Wie auf Spinnenbeinen kroch ihr<br />

die Angst in den Nacken.<br />

„Trotzdem müsst ihr da hinüber“, entgegnete die Knochensängerin.<br />

„Der Landweg kostet euch zu viel Zeit. Wenn ihr den Klippen zum<br />

Südkap folgt, kommt ihr zu einem Schlupfhafen. Fragt die Fischer, ob<br />

sie euch auf die andere Seite bringen. Erinnert sie einfach daran, dass<br />

ich ihnen gelegentlich wieder Fische ins Netz oder Wind in die Segel<br />

singen soll.“<br />

„Und wie geht es weiter, wenn wir auf der anderen Seite sind?“,<br />

erkundigte sich Miri.<br />

„Dein Begleiter weiß, wo das Wasser der Heilung aus der Erde tritt.“<br />

<strong>Die</strong> Knochensängerin deutete auf das Windpferd. „<strong>Die</strong> Hüterin der<br />

Heiligen Quelle ist meine Schwester. Sie wird euch weiterhelfen. Aber<br />

ihr müsst euch beeilen. <strong>Die</strong> hohe Dame lässt sich bestimmt nicht<br />

lange an der Nase herumführen.“<br />

Obwohl der Fluss um diese Jahreszeit nicht viel Wasser führte, war<br />

Miri bis zu den Hüften durchnässt als sie das andere Ufer erreichten.<br />

61


Um nicht schon <strong>von</strong> weitem gesehen zu werden, folgten sie dem<br />

Verlauf der Klippen, obwohl sie auf dem festen Boden am Saum des<br />

Meeres flotter vorangekommen wären.<br />

Miri kam es so vor, als würde sie mit jedem Schritt tiefer im Sand<br />

versinken, und ihre Beine fühlten sich bleischwer an.<br />

„Mach schon.“ Der Schimmel stieß sie aufmunternd in den Rücken.<br />

„Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns und unsere Jäger sind<br />

schnell.“<br />

„Ich kann nicht mehr“, ächzte Miri. „Meine Füße …“<br />

„Steig auf meinen Rücken, dann sind wir schneller.“<br />

Allein bei der Vorstellung wurde es Miri schwindelig. „Ich kann nicht<br />

reiten.“<br />

„Dann musst du es eben lernen“, entgegnete das Pferd so, als sei<br />

daran nichts Besonderes.<br />

Miri kletterte auf einen Felsen und <strong>von</strong> dort auf den Rücken des<br />

Schimmels. Der hohe unsichere Sitz machte ihr Angst.<br />

„Rück ein bisschen weiter vor“, ermahnte sie das Pferd. „Wenn du so<br />

weit hinten sitzt, verliere ich dich beim ersten Galopp.“<br />

„Galopp?“ Erschrocken krallte sich Miri in seine dürftige Mähne.<br />

„Geht es nicht vielleicht auch etwas langsamer?“<br />

„Setzt dich anständig hin“, entgegnete das Pferd. „Mach die Beine<br />

lang und die Knie zu. Das klappt schon. Vergiss nicht, zu atmen.“<br />

Miri tat, was ihr der Hengst gesagt hatte, aber schon bei seinen<br />

ersten Schritten kam sie ins Wanken.<br />

62


„Locker bleiben, weiteratmen und die Knie nicht zusammenkneifen.<br />

Das kitzelt mich und dich bringt es aus der Balance.“<br />

„Ich kann nicht …“<br />

„Halt den Mund und konzentrier dich auf deinen Hintern. Deine<br />

Wirbelsäule und meine sind eins. Wir bewegen uns im vollkommenen<br />

Gleichklang. Und atme! Es ist der Atem, der uns miteinander verbindet.<br />

Ja, genau so!“<br />

Tack tackatackatackatack, trommelten die Hufe erst langsam und<br />

dann immer schneller über das Geröll am Fuß der Klippen. Der harte<br />

Rhythmus verwandelte sich in eine rollende Bewegung, die aus der<br />

Hinterhand aufstieg, und den Pferderücken kaum erschütterte.<br />

„Das ist aber kein Galopp.“ Miri wusste nicht, ob sie darüber erleichtert<br />

oder enttäuscht sein sollte. In ihren Traumreisen war sie oft<br />

geritten, manchmal hatte sie sich auch selbst in ein Pferd ver-wandelt<br />

und immer waren es die weiten, wilden Sprünge gewesen, die sie fast<br />

in einen Rausch versetzt hatten.<br />

„Paso Llano“, antwortete das Pferd nicht ohne Stolz. „Das ist für den<br />

Anfang bequemer zu sitzen. Wenn du dich einigermaßen sicher<br />

fühlst, können wir auch einen Galopp riskieren.“<br />

„Wenn du meinst.“ Miri fühlte ihr Herz im Hals schlagen, als der<br />

Schimmel nach rechts abwendete und durch den tiefen Sand zum<br />

Strand hinunter stakte.<br />

„Halt dich fest und konzentrier dich auf deinen Hintern.“<br />

Als sie den schmalen Streifen erreichten, wo die Wellen ausrollten<br />

und verebbten, wurde der Hengst schneller. Zuerst wirbelten seine<br />

Hufe im flotten Vierertakt über den nassen Sand, dann wurden die<br />

63


Bewegungen runder. Das gleichmäßige Stampfen verwandelte sich in<br />

einen gesprungenen Dreiertakt.<br />

„Lass die Beine vorne“, schnaubte der Hengst. „Und vergiss nicht zu<br />

atmen.“<br />

Miri nickte stumm.<br />

Padabap, Padabap. Der Pferderücken zog sich unter ihr zusammen<br />

und streckte sich wieder. Sie klammerte sich mit beiden Händen fest<br />

in die Mähne und ließ sich in die Bewegung hineintragen.<br />

Padabap, Padabap. <strong>Die</strong> Sprünge wurden immer länger und der Boden<br />

schien unter ihnen vorbeizufliegen. Der scharfe Wind trieb Miri<br />

Tränen in die Augen und die Konturen der Klippen verschwammen zu<br />

einem breiten, schwarzgrauen Streifen.<br />

Padabap, Padabap. <strong>Die</strong> Sonne vergoldete den Strand, Schaumflocken<br />

schimmerten darauf wie kostbare Juwelen. Inzwischen war es<br />

hell genug, dass Miri die grauen Felsen erkennen konnte, die sich am<br />

Ende der lang gezogenen Bucht auftürmten.<br />

„Hier haben wir keine Deckung“, fiel es Miri plötzlich ein.<br />

„Na und.“ Der Schimmel machte einen übermütigen Bocksprung.<br />

„<strong>Die</strong> dunkle Königin sucht uns irgendwo in den Bergen und ihre Eule<br />

ist bei Tag blind wie ein fliegender Maulwurf.“<br />

Hoch über ihnen klang ein halb verwehter Schrei.<br />

„Bist du sicher?“ Miri suchte am Himmel nach dem Schatten der Eule,<br />

aber wenn es da oben tatsächlich etwas zu sehen gab, verbarg es sich<br />

hinter den Wolken, die mit dem Wind aufs Meer hinaus-trieben.<br />

„Egal“, schnaufte der Hengst. „Sie erwischt uns so oder so nicht<br />

mehr. Wir haben es gleich geschafft.“ Bis zum Kap waren es<br />

64


höchstens noch ein paar hundert Meter. Miri konnte bereits den<br />

schmalen Weg erkennen, der zwischen silbrigen Gräsern und<br />

Stechginster steil bergauf führte. „Hier ist auch der Hafen, <strong>von</strong> dem<br />

die Knochensängerin gesprochen hat.“<br />

Lautlos glitt ein großer geflügelter Schatten vor ihnen über den Sand.<br />

Ein lang gezogener Schrei verlor sich in der Ferne. Der Spion der<br />

dunklen Königin hatte sie also doch entdeckt.<br />

„Ich habe keine Angst vor dir!“ Miri richtete sich hoch auf und ballte<br />

eine Faust gegen die windzerzausten Wolken. „Wir sind frei! Hörst<br />

du? Du kannst uns ebenso wenig festhalten wie den Wind. Wir<br />

gehen, wohin wir wollen. Und wir werden dir niemals dienen.“ Miri<br />

ertappte sich bei dem Gedanken, dass dieser Satz ein würdiger<br />

Schlusspunkt für ihre Prüfung sein könnte.<br />

„Das klingt gut“, schnaubte ihr vierbeiniger Gefährte. „Aber jetzt<br />

konzentrier dich wieder auf deinen Hintern. Es wird gleich ein<br />

bisschen ruppig. Vergiss nicht, zu atmen.“<br />

<strong>Die</strong> Prüfung schien noch nicht zu Ende zu sein.<br />

Zuerst ging es steil nach oben. Obwohl der Hengst seine Sprünge<br />

bereits verkürzt hatte, kam er auf dem Schotter ins Rutschen. Mit<br />

kurzen, harten Sätzen brachte er sich und seine Reiterin nach oben.<br />

Miri starrte angstvoll auf die Steine, die unter seinen Hufen<br />

auseinanderspritzten, und wie eine Lawine zum Strand hinunterkollerten.<br />

„Weiteratmen“, keuchte der Hengst. „Und schau nach vorn.“<br />

Gehorsam hob Miri den Kopf, doch was sie sah, verschlug ihr vollends<br />

den Atem. Der Weg endete im Nichts und in der Erde klaffte ein<br />

tiefer Riss, der wenigstens zwei Meter breit war.<br />

65


„Atmen!“ Mit einem gewaltigen Sprung setzte der Schimmel über<br />

den Abgrund. Der harte Stoß ihrer Landung warf Miri vornüber und<br />

sie konnte sich gerade noch an den Pferdehals klammern. Mit<br />

knapper Not gelang es dem Hengst, durchzuparieren, bevor seine<br />

Reiterin endgültig den Halt verlor und herunterplumpste.<br />

Als sie sich wieder auf seinen Rücken hangelte, hörte Miri harte<br />

Schläge <strong>von</strong> Metall auf Stein. Tackatack, tackatack, hämmerte es.<br />

„<strong>Die</strong> dunkle Königin“, flüsterte sie. „Da hinten.“<br />

Gegen den Morgenhimmel zeichneten sich zwei Reiter ab, die rasch<br />

näher kamen.<br />

Der Schimmel schnaubte verächtlich. „Bis die hier sind, sind wir<br />

längst über alle Berge. Hier muss es irgendwo eine Treppe geben.“<br />

„Da.“ Miri deutete auf die schmalen Stufen, die sicher vor vielen<br />

Jahren in den grauen Fels geschlagen worden waren. <strong>Die</strong> Kanten<br />

waren abgetreten und verwittert, an manchen Stellen mussten<br />

Baumstämme oder dicke Äste fehlende Stufen ersetzen. Weit unten<br />

erkannte Miri das tiefe, dunkle Wasser der windgeschützten Bucht<br />

und einen Holzsteg. Boote oder Fischer konnte sie jedoch nicht<br />

ausmachen. Bevor der Hengst mit ihr die Treppe hinunter-kletterte,<br />

glitt sie rasch <strong>von</strong> seinem Rücken.<br />

„Vermutlich kommen wir schneller da unten an, wenn wir beide zu<br />

Fuß gehen.“ Und sicherer, setzte sie in Gedanken hinzu.<br />

66


Achtes Kapitel<br />

Hinter einer engen Kurve blieb Miri so plötzlich stehen, dass ihr das<br />

Pferd beinahe in die Hacken getreten wäre.<br />

„Was machen wir eigentlich, wenn wir niemanden finden, der uns da<br />

hinüberfährt?“ Von ihrer Position konnte sie den Anlegesteg mit den<br />

salzverkrusteten Holzpfosten überblicken. Kein einziges Boot lag da<br />

unten vor Anker.<br />

„<strong>Die</strong> Boote gehören Fischern“, fiel es dem Schimmel ein. „Um die Zeit<br />

sind sie vermutlich draußen auf dem Meer.“<br />

„Und jetzt?“ Miri blickte erschrocken nach oben. Der Hufschlag in<br />

den Klippen kam viel zu schnell näher.<br />

„Wir können laufen“, antwortete das Pferd. „Es ist nicht weit.“<br />

„Du spinnst wohl.“ Miri fragte sich kopfschüttelnd, wer dieses<br />

Prüfungsszenario gebastelt hatte. „Willst du mir weismachen, dass du<br />

übers Meer laufen kannst?“<br />

„Wenn du das Wasser anhältst, sind wir null Komma nichts drüben.“<br />

Das Pferd schien daran nichts Besonderes zu finden.<br />

„Ich kann das Wasser nicht anhalten.“<br />

„Vorhin hast du es aber gekonnt.“ Der Schimmel schnaubte empört.<br />

„Du hast es sogar bergauf fließen lassen.“<br />

Miri musste einen Moment überlegen, bevor sie sich erinnerte. „Du<br />

meinst den Fluss, der plötzlich rückwärts geflossen ist. Das wollte ich<br />

nicht. Das ist einfach passiert. Vermutlich war es dieses Lied.“<br />

67


„Und wessen Lied war das?“ Es klang fast ein bisschen eingeschnappt.<br />

Vielleicht nahm das Pferd an, dass sie sich absichtlich<br />

dumm stellte.<br />

Tacktack, tacktack, tacktack, klapperten die Hufe des Grauen auf den<br />

steinernen Stufen und der Hufschlag es schweren Rappen folgte ihm.<br />

„Jetzt haben sie die Treppe gefunden“, stellte der Schimmel fest.<br />

„Was soll ich denn machen?“ Obwohl Miri wusste, dass es eigentlich<br />

nur ein Spiel war, wurde sie nervös. Selbst ein Spiel wollte sie nicht<br />

verlieren.<br />

„Wenn du Musik brauchst, um Magie zu wirken, dann sing doch.“<br />

Miri versuchte, sich an das Lied zu erinnern. Der Rhythmus war<br />

kompliziert gewesen und die Melodie schien mit dem Morgenwind<br />

verweht zu sein. Aber die Worte tauchten plötzlich aus ihrer<br />

Erinnerung empor.<br />

Hör der Trommel Ruf …<br />

Plötzlich schien der Rhythmus <strong>von</strong> den Felsen widerzuhallen und das<br />

Wasser sang dazu die vergessene Melodie.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Flut?“<br />

Während sie sang, erinnerte sich Miri daran, wie die Stimme des<br />

Wassers leiser geworden und schließlich ganz verstummt war.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Flut?“<br />

<strong>Die</strong> Wellen waren <strong>von</strong> ihrem Gesang offenbar nicht beeindruckt. Sie<br />

donnerten gegen die Felsen, die den winzigen Hafen schützten, und<br />

überschütteten den Anlegesteg mit salzigem Sprühregen.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang. Lausche dem Zaubersang.<br />

68


Trommellied, rufst du den Zauber, Wellenschlag ruht!“<br />

Vielleicht musste sie den Winter herbeirufen.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Winter? Ruft sie das Eis?“<br />

In den Wellendonner mischte sich das Brausen des Nordwinds.<br />

„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Winter? Ruft sie das Eis?“<br />

Aus dickbauchigen, grauen Wolken fielen die ersten Schneeflocken.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang, lautloser Schneegesang.<br />

Trommellied, rufst du den Winter, Leben, das ruht?“<br />

„Ich wusste, dass du es kannst.“ Der Schimmel sprang mit einem<br />

kühnen Satz vom Steg. Das Eis knirschte unter seinen Hufen, aber es<br />

trug ihn tatsächlich. „Komm, schnell!. Ich bring uns rüber.“<br />

Es ist nur eine Geschichte, dachte Miri angestrengt, während sie vom<br />

Bootsanleger auf den Pferderücken kletterte. In Wirklichkeit kann mir<br />

überhaupt nichts passieren.<br />

Im flotten Vierertakt, seiner sonderbaren Gangart tanzte der<br />

Schimmel zwischen erstarrten Wellen und kantigen Felsen. Der<br />

Schnee fiel inzwischen so dicht, dass Miri die hohen Felsen an der<br />

Hafeneinfahrt kaum noch erkennen konnte. Aber sie erkannte die<br />

Stimme auf dem Anlegesteg.<br />

„Komm sofort zurück“, keifte die dunkle Königin. „Du glaubst doch<br />

nicht im Ernst, dass du mir das Windpferd stehlen kannst. Mit deinen<br />

billigen Tricks kommst du mir nicht da<strong>von</strong>.“<br />

69


„Hör einfach nicht hin“, schnaubte der Hengst. Er sprang über einen<br />

erstarrten Wellenkamm, der wie zerbrochenes Glas schimmerte.<br />

„Deine Magie ist stärker als ihre und du kannst ihr nichts stehlen, was<br />

ihr nie gehört hat.“<br />

Im gestreckten Galopp fegten sie über das erstarrte Meer. In dem<br />

Schneegestöber konnte Miri kaum weiter als bis zu ihrer eigenen<br />

Nasenspitze sehen. Sie hoffte, dass das Windpferd den richtigen Weg<br />

finden würde, obwohl es vermutlich nicht mehr sehen konnte als sie.<br />

Wenn sie die Augen zusammenkniff, war es, als würden sie auf eine<br />

flimmernde Wand zureiten, die sich erst unmittelbar vor ihnen<br />

öffnete.<br />

Dabadap, dabadap, trommelten seine Hufe. Im Ächzen und Knarren<br />

der Eisschollen, die vom Wind und der Strömung übereinander<br />

geschoben wurden, klang das magische Lied fort und fort.<br />

Recketesch, recketesch, ertönte es aus der grauweißen Wand, die<br />

sich hinter ihnen längst wieder geschlossen hatte.<br />

„Was ist das?“, wollte Miri wissen.<br />

„Was weiß ich.“ Der scharfe Galopp schien den Hengst kaum<br />

anzustrengen. „Vielleicht ein Echo <strong>von</strong> den Klippen.“<br />

Miri lauschte angestrengt. Ganz allmählich schien das Scharren näher<br />

zu kommen. „Könnte es sein, dass wir verfolgt werden.“<br />

„Quatsch!“, prustete der Schimmel und es klang so, als müsste er<br />

über diese Idee herzlich lachen. „<strong>Die</strong> dunkle Königin tut zwar immer<br />

sehr gefährlich aber im Grunde ihres Herzens ist sie feige. Sie würde<br />

es sicher nicht wagen, uns über das Eis zu folgen.“<br />

Ein heftiger Windstoß wehte den Schneeflockenvorhang beiseite und<br />

gab den Blick auf die Silhouette hochgewachsener Bäume frei.<br />

70


„Du kannst aufhören, dir Sorgen zu machen“, schnaubte das Pferd.<br />

„Wir haben es gleich geschafft.<br />

Recketesch, recketesch.<br />

Aus den Augenwinkeln sah Miri einen Schatten, der fast so groß war<br />

wie ein Pony und der im flachen Bogen auf sie zukam.<br />

„Der Hund!“, schrie sie im jähen Schreck des Erkennens. „Mach<br />

schneller. Sie hat diesen Riesenhund auf uns gehetzt.“<br />

Der Hengst streckte sich und legte noch einmal Tempo zu, doch das<br />

Scharren der Pfoten kam stetig näher.<br />

„Das schaffen wir nicht.“ Trotz des eisigen Winds traten Schweißperlen<br />

auf Miris Stirn.<br />

„Sing das Meer wieder wach“, keuchte der Hengst. „Schnell!“<br />

Wie <strong>von</strong> selbst fügten sich die Worte zu einer neuen Strophe des<br />

magischen Liedes.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie das Leben? Ruft sie die Glut?“<br />

<strong>Die</strong> Eisdecke begann zu beben.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie das Leben? Ruft sie die Glut?“<br />

Ein sanftes Rollen unter den Hufen des Schimmels wurde zu einem<br />

Schlingern.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang, Wasser und Wellensang.<br />

Trommellied, rufst du des Fließens Dammbrecherwut?“<br />

<strong>Die</strong> ersten Eisschollen strebten dem offenen Meer entgegen.<br />

71


„Sing weiter, Miri!“ Der Hengst setzte über einen Riss, aus dem<br />

dunkles Wasser emporstieg. „Ruf die Sonne oder den Frühling.“<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Frühling? Ruft sie das Licht?“<br />

Inzwischen fielen die Flocken wieder so dicht, dass Miri weder die<br />

Küste noch ihren Verfolger sehen konnte. Aber der Schnee ging<br />

allmählich in Regen über.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Frühling? Ruft sie das Licht?“<br />

Recketesch, recketeckteckteck, klang es weit hinter ihnen.<br />

„Hör den Trommelklang, sieh das Licht. Hör wie der Winter bricht.<br />

Trommellied, rufst du der Sonne wärmendes Licht?“<br />

In die letzten Klänge mischte sich ein klagender Ton, der zu einem<br />

jämmerlichen Geheul anschwoll. Als Miri zurückblickte, sah sie den<br />

Hund auf einer Eisscholle stehen, die <strong>von</strong> der Strömung rasch auf das<br />

offene Meer hinausgetrieben wurde.<br />

„Das habe ich nicht gewollt“, murmelte sie. „Der arme Hund. Meinst<br />

du, wir können ihm helfen?“<br />

„Der Köter soll sich selbst helfen.“ Das Pferd schnaubte verächt-lich.<br />

„Wer dumm genug ist, den Befehlen der Hexe zu gehorchen, muss<br />

sich nicht wundern, wenn er in Schwierigkeiten gerät. Apro-pos<br />

Schwierigkeiten, ich hoffe, du kannst schwimmen.“<br />

Entsetzt stellte Miri fest, dass die Eisscholle, auf die sich das Pferd mit<br />

einem letzten kühnen Sprung gerettet hatte, ebenfalls mit<br />

zunehmender Geschwindigkeit nach Norden getrieben wurde. <strong>Die</strong><br />

Eisdecke, über die sie gerade noch galoppiert waren, zerbarst unter<br />

dem Ansturm der Brandung, und das Ufer, das schon zum Greifen<br />

nah gewesen war, schien in der Gischt unterzugehen.<br />

72


„Achtung.“ Der Hengst senkte die Kruppe und seine Rückenmuskeln<br />

spannten sich. „Jetzt!“ Im hohen Bogen schnellte er nach vorn. Seine<br />

Vorderhufe erreichten tatsächlich die nächste Eisplatte, aber sie<br />

kippte unter ihrem Gewicht nach hinten. Im nächsten Mo-ment<br />

schlug das Wasser über ihnen zusammen. Das Pferd strampel-te mit<br />

allen vieren, um sie wieder an die Wasseroberfläche zu bringen. Miri<br />

hatte Mühe, sich gegen den Sog der Wellen auf seinem Rücken zu<br />

halten.<br />

„Rutsch runter und halt dich an meiner Mähne fest“, prustete der<br />

Hengst. „Ich zieh uns raus. Es ist nicht mehr weit.“<br />

Miri wollte ihm sagen, dass sie ihn verstanden hatte, aber eine Welle<br />

schwappte über sie hinweg, salziges Wasser drang in ihre Kehle und<br />

die klammen Strähnen der Pferdemähne glitten ihr aus der Hand.<br />

Hustend strampelte sie sich zurück an die Wasser-oberfläche.<br />

„Wo …?" Doch Pferd und Strand waren verschwunden. Ringsum sah<br />

sie nur grau-grüne Wellenberge mit schmutzig weißen Schaumkronen.<br />

„Verdammt, verdammt, ver…“<br />

<strong>Die</strong> nächste Welle bereitete ihrem Schimpfen ein jähes Ende. Das<br />

Salzwasser brannte in ihren Augen und in ihrer Kehle, dann schien es<br />

in ihrem Magen zu einem eisigen Klumpen zu gefrieren. Kälte und<br />

Angst lähmten ihre Glieder und zogen sie in die Tiefe.<br />

Warum stoppt den niemand diese idiotische Simulation? <strong>Die</strong>ser<br />

Gedanke entfachte einen winzigen Funken in Miris Geist. Wollen die<br />

mich etwa umbringen? Der Funke verwandelte die Angst in etwas<br />

Machtvoll-Hitziges. Verdammt, ich will nicht sterben! Der nasse<br />

Overall war schwer wie ein alter Schutzanzug. Mit klammen Fingern<br />

zerrte Miri am Gürtel und die Schnalle öffnete sich. Der Reißverschluss<br />

widersetzte sich ihren Bemühungen etwas länger, aber<br />

bevor sie noch einmal untergetaucht wurde, konnte sich Miri aus der<br />

73


schweren Kleidung winden. Wie eine schrumpelige, alte Haut versank<br />

der Overall in der Tiefe und Miri schwamm wild ent-schlossen vor<br />

ihrer Angst und der Kälte da<strong>von</strong>. Um sich abzulenken, schloss sie die<br />

Augen und zählte die Schwimmstöße. Siebzehn, achtzehn, neunzehn<br />

– bevor sie zwanzig denken konnte, schramm-ten ihre Knie über<br />

sandigen Boden. Sie tastet mit den Füßen nach dem Grund. Sie<br />

musste an Land kommen, bevor die nächste größere Welle sie wieder<br />

in tieferes Wasser ziehen konnte. <strong>Die</strong> Beine versagten ihr jedoch den<br />

<strong>Die</strong>nst. Auf Händen und Knien kroch sie den Strand hinauf.<br />

„Weiter“, sprach sie sich selbst Mut zu. „Immer weiter.“<br />

Der Sand kam ihr plötzlich warm und trocken vor, sie glaubte sogar,<br />

die Hitze des Sommers auf ihrer Haut zu spüren.<br />

„Weiter“, murmelte sie. „Im Schnee ist es wichtig, in Bewegung zu<br />

bleiben. Lorenz, Ben!“ Ihre Stimme hatte kaum noch Kraft. „Warum<br />

helft ihr mir denn nicht.“<br />

Weiche Halme streiften ihre Haut. Miri wollte die Augen öffnen, doch<br />

im gleichen Moment schien der Boden unter ihr wegzukippen und die<br />

Welt versank im Dunkel.<br />

74


Neuntes Kapitel<br />

Ich bin tot und der Tod ist eine Sommerwiese, das war Miris erster<br />

Gedanke, als sie wieder zu sich kam. Er ist warm, riecht nach frischer<br />

Erde und fühlt sich nicht einmal besonders unange-nehm an. Sie<br />

konnte nicht verstehen, warum die Leute so ein Auf-heben darum<br />

machten. Wenn sie noch einen Körper hatte, war er sehr schwer. So<br />

schwer, dass sie nie wieder aufstehen wollte.<br />

„Steh auf, Miri.“ <strong>Die</strong> Worte rochen nach zermalmtem Gras. „Wir<br />

müssen weiter.“ Etwas stieß gegen ihre Schulter. Sie hatte also noch<br />

einen Körper.<br />

„Vorläufig haben wir sie abgehängt, aber es ist nur eine Frage der<br />

Zeit, bis sie unsere Spur wieder aufnehmen. Nachtauge ist nicht der<br />

einzige Jäger dieser alten Hexe.“<br />

Miri erinnerte sich, dass sie vor einer unheimlichen Frau geflohen<br />

war, die ein magisches Pferd fangen wollte. Was für eine abgefahrene<br />

Geschichte! Und sie schien noch nicht zu Ende zu sein.<br />

„Hilf mir doch bitte mal hoch.“ Miri wunderte sich kaum darüber,<br />

dass sie in eine schüttere Pferdemähne griff, als sie auf der Suche<br />

nach einer helfenden Hand blind umhertastete. Wild entschlossen<br />

riss sie die Augen auf und blickte direkt in ein großes, dunkles Auge.<br />

„Ach, du bist das“, murmelte sie.<br />

„Wen hast du denn erwartet?“, entgegnete das Pferd. „Den Weihnachtsmann?“<br />

„Ben oder Lorenz“, antwortete Miri. „Oder jemand anderen, der mir<br />

sagt, dass ich meine Prüfung bestanden habe.“<br />

75


„Welche Prüfung?“, wollte das Pferd wissen.<br />

„Wenn ich mich richtig erinnere, war ich gerade auf dem Weg zu<br />

meiner Abschlussprüfung als Wildnistrainerin. Aber in dem Steinschlag<br />

muss ich eine falsche Abzweigung erwischt haben.“ Mühsam<br />

rappelte sich Miri hoch. Sie stellte fest, dass sie nur noch ihre<br />

Unterwäsche trug. Vage erinnerte sie sich daran, dass ihr Overall im<br />

Wasser verschwunden war. Ihr Körper fühlte sich so an, als wäre er<br />

aus morschen Ästen zusammengesteckt, die bei jeder Bewegung<br />

auseinanderfallen konnten, doch mit jedem Schritt ging es ein<br />

bisschen besser.<br />

„Wenn ich mich ernsthaft verletzt hätte, würde Ben die Prüfung<br />

abbrechen.“<br />

„Versteh ich zwar nicht, ist aber auch egal.“ Das Pferd schüttelte sich.<br />

„Wir müssen weiter. Es dauert sicher nicht mehr lange, bis uns die<br />

dunkle Königin wieder auf den Fersen ist. Schließlich weiß sie jetzt,<br />

wohin wir wollen.“ Er bahnte einen Weg durch die Hainbuchenhecke,<br />

die ihre Wiese gegen einen Wald abgrenzte. Da-hinter<br />

öffnete sich ein lichtes Buchengehölz. Sonnenstrahlen spielten mit<br />

den samtigen Blättern und badeten in den Farben des Sommers. Das<br />

Vorjahreslaub, das unter ihren Schritten raschelte, schimmerte in<br />

dem grüngoldenen Licht. In der Mittagshitze dufte-te die Erde süß<br />

und würzig, eine harzige Brise wehte <strong>von</strong> den nahen Bergen herunter<br />

und in der Nähe hörte Miri Wasser plätschern.<br />

Ein Bach kam ihnen entgegen. Sie folgten seinem Lauf durch Wiesen<br />

und fruchtbares Ackerland bis an den Rand eines dunklen<br />

Tannenwaldes, wo er plötzlich verschwand.<br />

„Hier muss es irgendwo sein.“ Der Hengst blickte sich suchend um,<br />

doch der Bach war nicht mehr zu sehen. „Ich bin ja nicht zum ersten<br />

Mal hier, aber an dieser Stelle sieht es jedes Mal anders aus.“ Er<br />

76


scharrte im Gras, als könne der Weg darunter versteckt sein. „Schau<br />

mal, ob du den Bachlauf wiederfindest. Solange uns das Wasser<br />

entgegenfließt, sind wir richtig.“<br />

Miri versuchte das Jaulen und Kläffen in der Ferne zu ignorieren und<br />

sah sich um. Rechts <strong>von</strong> ihnen befanden sich Getreidefelder, auf der<br />

anderen Seite lag eine Wiese mit fettem, kniehohem Gras und<br />

dahinter ein Tannenwald. Dazwischen war kein Bach zu er-kennen,<br />

obwohl sie es überall plätschern und glucksen hörte.<br />

„Natürlich!“ Miri klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „In<br />

der sumpfigen Wiese versickert der Bach. Wir müssen den Zufluss<br />

suchen.“ Sie folgte dem Wiesenrand bis zu einem kleinen<br />

Schwarzwassertümpel.<br />

„Komm schon“, rief sie den Schimmel. „Da ist es.“<br />

Ein Heulen schien ihrem Ruf zu antworten.<br />

„Das ist der Jagdhund der dunklen Königin, nicht wahr?“ Besorgt<br />

blickte sich Miri um.<br />

„Es ist nicht mehr weit“, antwortete der Hengst. „Bis er hier ist, sind<br />

wir längst in Sicherheit.“ Er stellte sich neben das Wurzelknie eines<br />

Baums, damit Miri auf seinen Rücken klettern konnte. „Steig auf.“<br />

Im Trab ging es durch ein Tannenwäldchen zu einer Senke mit einem<br />

langgestreckten See. <strong>Die</strong> dunklen Spiegelbilder der Bäume und des<br />

wolkenlosen Sommerhimmels in dem tiefen, dunklen Wasser<br />

weckten Miris Sehnsucht nach etwas, was sie bislang nur aus Büchern<br />

oder alten Filmaufzeichnungen kannte. Plötzlich wünschte sie sich,<br />

dass Ben und Lorenz diese Simulation niemals abschalten würden.<br />

Was hatte sie mit einer Welt zu schaffen, in der die Schönheit der<br />

Natur nur in Computerprogrammen überlebt hatte?<br />

77


Ihr Weg führte an Schilfwäldern, winzigen Buchten mit sandigem<br />

Boden und kristallklarem Wasser vorbei. Im Sonnenlicht blitzten<br />

silbrige Fischleiber und gelegentlich hörte Miri ein Platschen, wenn<br />

die Frösche vor der Hast der Reisenden flüchteten. <strong>Die</strong> Schönheit und<br />

die Stille rings um den Waldsee ließen Miri fast vergessen, dass sie<br />

verfolgt wurden.<br />

„Da!“ Vor einer riesigen Trauerweide, die ihre langen Äste und<br />

Zweige ins Wasser tauchte, blieb der Hengst stehen. „Direkt dahinter<br />

beginnt das Reich der Quellenhüterin. Dort sind wir fürs Erste sicher.“<br />

Miri bückte sich unter einem tief hängenden Ast und schob die<br />

dünnen Zweige beiseite. Durch die sonnenfleckigen Blätter konnte sie<br />

Wasser schimmern sehen. Sie musste nur noch über eine Wurzel<br />

steigen, die wie eine Schwelle über dem Boden lag, dann stand sie<br />

direkt am Stamm der Weide. Sie beugte sich wieder unter dem tief<br />

hängenden Ast hindurch, schob eine Handvoll Grün beiseite und …<br />

„Hoffentlich sind wir überhaupt willkommen“, brummte der Hengst,<br />

der sich nicht <strong>von</strong> der Stelle gerührt hatte „Es ist leider nicht schwer,<br />

gegen die Sitten dieses Landes zu verstoßen. Manchmal reicht es<br />

schon, ein Blatt anzuknabbern oder ein paar Grashalme<br />

niederzutreten. Wenn uns die Hüterin der Quelle grollt, finden wir<br />

den Eingang nie.“<br />

„Würde sie uns einlassen, wenn sie wüsste, dass uns ihre Schwester<br />

geschickt hat?“, fragte Miri, während sie zum dritten Mal über die<br />

Wurzelschwelle trat. Gleich darauf stand sie wieder vor dem Baum.<br />

„Offensichtlich nicht“, entgegnete der Schimmel, der ihr diesmal<br />

gefolgt war.<br />

Miri hielt inne und lauschte. Sie glaubte, in der Ferne Hundegebell zu<br />

hören und die Erde vibrierte im Rhythmus galoppierender Hufe.<br />

78


„Noch ein Versuch!“, entschied Miri. „Wenn wir den Eingang wieder<br />

nicht finden, gehst du allein. Du warst schon öfter hier. Wenn wir<br />

nicht eingelassen werden, liegt es vermutlich an mir.“ Sie wollte sich<br />

zwischen den Ästen hindurchschieben, als ihr der Schimmel sein Kinn<br />

auf die Schulter legte.<br />

„Und was machst du?“, wollte er wissen. „Glaubst du, dass du der<br />

dunklen Königin ohne meine Hilfe entkommen wirst.“<br />

„Vermutlich nicht.“ Miri schüttelte den Kopf. „Aber sie hat es eher<br />

auf dich als auf mich abgesehen. Außerdem kann ich ohne dich auf<br />

einen Baum klettern und hoffen, dass sie da oben nicht nach mir<br />

sucht. Komm jetzt. Sie sind nicht mehr weit.“<br />

Als sie diesmal die Weidenzweige aus dem Weg schob, blickte sie in<br />

einen Garten <strong>von</strong> unvorstellbarer Schönheit. Auf den Büschen und<br />

Bäumen wuchsen Früchte, die sie nicht einmal dem Namen nach<br />

kannte. Darunter blühten Blumen in allen Farben des Sommers und<br />

das Gras war so zart, dass Miri Angst hatte, es könnte unter ihren<br />

Tritten verdorren. Ein Wasserfall ergoss sich in ein Becken und direkt<br />

daneben saß eine Frau auf einem moosbedeckten Stein. Sie war<br />

schöner als die Elbenkönigin aus den Büchern ihrer Mutter. Der Saum<br />

ihres waldgrünen Kleides fiel bis auf ihre Füße herab und ihre langen,<br />

goldbraunen Haare wurden <strong>von</strong> einem Blütenkranz gekrönt.<br />

Ein kleiner Hund, dessen seidiges Fell dieselbe Farbe hatte wie das<br />

Haar der Frau, lag zu ihren Füßen und ihre zartgliedrigen Hände<br />

ruhten auf den Saiten einer Harfe. Vielleicht hatte sie gerade noch<br />

darauf gespielt. Jetzt musterte sie die Eindringlinge schweigend.<br />

Ein unsanfter Stoß traf Miri in den Rücken. „Sag was“, brummelte der<br />

Schimmel.<br />

79


„Ähm …“ Miri wurde plötzlich bewusst, wie unpassend sie mit ihrem<br />

schlabberigen T-Shirt und der verwaschenen Unterhose gekleidet<br />

war. Sie wagte kaum, die schöne Frau anzusehen, geschweige denn,<br />

80


das Wort an sie zu richten. „Tut mir leid, wenn wir stören“, stotterte<br />

sie. „Wir werden verfolgt. <strong>Die</strong> Knochensängerin meint, dass Sie uns<br />

vielleicht helfen können.“<br />

„Und wer verfolgt euch?“, erkundigte sich die Dame mit ernster<br />

Miene.<br />

„<strong>Die</strong> dunkle Königin ist hinter dem Windpferd her.“ Miri deutete auf<br />

den Schimmel, der unter dem Grau <strong>von</strong> Schweiß und Schmutz<br />

überhaupt nicht magisch aussah.“<br />

„Was hast du damit zu tun?“<br />

Es gelang Miri nicht, dem Blick der wasserhellen Augen standzuhalten.<br />

„Ich weiß nicht“, entgegnete sie. „Eigentlich bin ich nur zufällig<br />

da hineingeraten.“<br />

„Zufällig?“<br />

„Ich dachte, es wäre eine Prüfung. Aber diese alten Geschichten über<br />

dunkle Herrscherinnen und Magie …“ Ihr Erklärungsversuch endete in<br />

einem ratlosen Achselzucken.<br />

„Glaubst du nicht an Magie?“<br />

„Magie ist …“ Miri starrte angestrengt auf den Boden. Sie war noch<br />

nie eine überzeugende Lügnerin gewesen. „Wir leben doch nicht<br />

mehr in der Steinzeit. Es lässt sich alles irgendwie erklären.“<br />

„Ah, jetzt verstehe ich dein Problem. Du hast dich offenbar nicht gut<br />

genug auf diese Prüfung vorbereitet. Sonst wüsstest du über die<br />

Magie dieses Ortes besser Bescheid.“<br />

Miri lächelte verlegen. „Für die technischen Tricks der Wildnis-kuppel<br />

habe ich mich nicht besonders interessiert. Ich habe nicht gewusst,<br />

81


dass es in der Prüfung abgefragt wird. Lorenz hat es mir sicher erklärt<br />

und ich habe mal wieder nicht gut genug zugehört.“<br />

„Offenbar hast du mir auch nicht besonders gut zugehört.“<br />

Plötzlich scharrte ganz in der Nähe eine Hundepfote über den Boden<br />

und ein dumpfes Bellen schien die Jäger herbeizurufen.<br />

„Etwas scheint diesen Ort zu schützen.“ <strong>Die</strong> Stimme der Hüterin klang<br />

nachdenklich. „Ich dachte, es wäre Magie, aber vielleicht ist es auch<br />

nur ein Trick. Leider ist die dunkle Königin sehr mächtig. Ich kann ihr<br />

sicher nicht lange widerstehen.“<br />

„Ihr solltet mich einfach ausliefern, bevor noch ein Unglück<br />

geschieht.“ Mit weit aufgerissenen Augen und geblähten Nüstern<br />

starrte der Schimmel auf die Weide am Rand des Gartens. „<strong>Die</strong> alte<br />

Hexe ist eigentlich nur hinter mir her. Könnt Ihr dafür sorgen, dass<br />

Miri wohlbehalten in ihre Welt zurückkommt?“<br />

„Das kommt überhaupt nicht infrage“, protestierte Miri. „Ich werde<br />

nicht zulassen, dass sie dir etwas antut.“<br />

„Es wäre aber der einfachste Weg“, mischte sich die Hüterin ein. „Da<br />

du sowieso nicht an Magie glaubst, kann es den struppigen, alten<br />

Gaul, den du aus morschen Knochen und einem Lied er-schaffen hast,<br />

gar nicht geben. Wenn es ihn dennoch gäbe, wäre es nur ein<br />

technischer Trick, dem niemand ein Leid zufügen kann.“<br />

Entweder verstecken Sie uns beide oder wir fliehen gemeinsam.“<br />

<strong>Die</strong> Hüterin lachte spöttisch. „Zuerst verkündest du, dass es keine<br />

Magie gibt und dann erklärst du genauso entschieden, dass dieses<br />

magische Geschöpf oder der technische Trick – denn etwas anderes<br />

kann ein sprechendes Pferd kaum sein – nicht geopfert werden darf,<br />

82


um dich wohlbehalten in die Welt zurückzubringen, in der man alles<br />

erklären kann, wenn man nur gut genug zuhört.“<br />

„Na und?“ Miri ertappte sich dabei, dass sie die Unterlippe vorschob,<br />

„Helfen Sie uns oder helfen Sie uns nicht?“<br />

„Wenn du wirklich entschlossen bist, kann ich dich lehren, was du tun<br />

musst“, entgegnete die Hüterin. „Aber du musst gut zuhören. Und du<br />

riskierst, erheblich mehr über Magie zu lernen, als du zu glauben<br />

bereit bist.“<br />

83


Zehntes Kapitel<br />

Für Miri gab es einen sicheren Platz in einer Höhle hinter dem<br />

Wasserfall, aber ein Pferd konnte sich dort nicht verstecken.<br />

„Dann müssen wir dich tarnen“, überlegte Miri.<br />

„Wie soll das gehen?“ Ungläubig schüttelte der Hengst den Kopf.<br />

„Du musst wiehern und darfst auf keinen Fall reden. Wenn wir dich<br />

auch noch umfärben, kommt bestimmt keiner auf die Idee, dass du<br />

das Windpferd bist.“ Miri kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Wo ich<br />

herkomme, gibt es Haarfärbemittel. Aber hier …?“<br />

„Hier gibt es Magie“, entgegnete die Hüterin. „An welche Farbe<br />

dachtest du denn?“<br />

„Wenn ich kein Schimmel sein darf, will ich ein Fuchs werden“, entschied<br />

der Hengst. „Ein helles Rot mit einem Goldton in Mähne und<br />

Schweif würde mir gefallen.“<br />

Nach den Anweisungen der Hüterin sammelte Miri Wurzeln, Samen,<br />

Blüten und Beeren, die sie in einer Steinmulde zerstampfte und mit<br />

der lehmigen Erde vom Ufer eines Tümpels mischte. Sie band<br />

faserige Rindenstücke mit Weidenzweigen zu einem Striegel<br />

zusammen, um die Farbe aufzutragen, und lauschte dabei immer<br />

wieder nach den Geräuschen der Pfoten, Hufe oder Stiefel, die <strong>von</strong><br />

der Weide herüberklangen. Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass der<br />

Schutzzauber lange genug standhalten konnte.<br />

Miris Arm war bereits lahm, als sie die zähe Masse endlich glatt<br />

gerührt hatte. „Sind Sie sicher, dass ich kein Blut hineinmischen<br />

84


muss?“ <strong>Die</strong> Paste war klebrig, grün und schleimig wie die Algen, die<br />

den Teich hinter dem Seminarhaus überwuchert hatten. Außerdem<br />

stank sie wie eine Bioabfallbox, die seit Wochen nicht geleert worden<br />

war.<br />

„Ganz sicher.“ Lachend schüttelte die Hüterin den Kopf. „Blut-zauber<br />

und Trommelmagie ist die Leidenschaft meiner Schwester. Aber du<br />

kannst singen, während du die Farbe aufträgst. Das macht die<br />

Mischung nicht wirksamer, aber es erleichtert die Arbeit.“<br />

„Das Zeug ist ja grün!“ Entsetzt wich der Schimmel zurück. „Und es<br />

stinkt abscheulich.“<br />

„Ich habe mich genau an die Anweisungen gehalten“, erwiderte Miri.<br />

„Außerdem hätte mir die Hüterin sicher Bescheid gesagt, wenn ich<br />

etwas falsch gemacht hätte.“<br />

„Nein.“ <strong>Die</strong> Frau schüttelte den Kopf. „Ich habe dir gesagt, dass du<br />

sehr genau zuhören musst. Ich habe nicht gesagt, dass ich dir bei der<br />

Arbeit auf die Finger schaue, als wärst du ein Kind. Wenn du<br />

unachtsam warst, ist es deine Unachtsamkeit und wenn du einen<br />

Fehler gemacht hast muss dein Freund die Folgen tragen. Das sind<br />

die Regeln der magischen Welt.“<br />

„Das hätten Sie mir früher sagen müssen“, protestierte Miri. „Wenn<br />

ich gewusst hätte …“<br />

„Du hast mich nicht gefragt“, entgegnete die Hüterin knapp, und zu<br />

dem Pferd sagte sie: „Vielleicht hat deine Menschengefährtin wieder<br />

einmal nicht gut genug aufgepasst. Vertraust du ihr trotzdem? Und,<br />

was noch wichtiger ist“, mit diesen Worten wandte sie sich wieder an<br />

Miri, „vertraust du deinen eigenen Fähigkeiten?“<br />

Ratlos starrte Miri in den Eimer. „Wir sollten die Mischung an einer<br />

unauffälligen Stelle testen.“<br />

85


Ein dumpfer Schlag ließ die Blätter einer Erle beben.<br />

„Viel Zeit haben wir nicht mehr“, stellte die Hüterin trocken fest.<br />

Ergeben senkte der Schimmel den Kopf. „Fang einfach an. Es wird<br />

schon schiefgehen.“<br />

Miri tauchte den Striegel in die Paste …<br />

„Sei doch vorsichtig. Willst du mir mit deinem Hobel die Ohren abreißen?“,<br />

schimpfte das modrig-grüne Pferd. „Können wir den Kopf<br />

nicht einfach auslassen?“<br />

„Hast du schon mal einen Goldfuchs mit weißem Kopf gesehen?“,<br />

entgegnete Miri. „Stell dich nicht so an, wir müssen uns beeilen.“<br />

Ihre Verfolger hatten inzwischen schon zwei Bäume gefällt.<br />

„Offenbar weiß die dunkle Königin, dass dieser Ort <strong>von</strong> den Bäumen<br />

geschützt wird“, hatte die Hüterin ungerührt festgestellt, als nach der<br />

Erle eine Birke gefallen war. „Aber sie scheint nicht zu wissen, wie<br />

schwer die alte Weidenmutter zu treffen ist.“<br />

„Meine Ohren“, jammerte der Schimmel. „Pass auf, dass mir das<br />

Zeug nicht in die Augen läuft. Es juckt am Hintern schon wie<br />

Flohpisse.“<br />

„Das Jucken gehört dazu“, verkündete Miri.<br />

„Meine Augen! Willst du, dass ich blind werde?“<br />

Kurz entschlossen legte Miri den Striegel weg und tauchte ihre Hand<br />

in die Paste. Sie fühlte sich widerlich an und juckte auf ihrer Haut,<br />

aber so konnte sie genauer und schneller arbeiten. Bald war kein<br />

weißes Haar mehr an dem Pferd zu sehen.<br />

„Und wie geht es jetzt weiter?“, wollte Miri wissen.<br />

86


<strong>Die</strong> Hüterin saß nicht mehr auf ihrem moosbedeckten Thron.<br />

„Wo …?“<br />

„Ich bin hier.“ Der Wasserfall teilte sich wie ein Vorhang und die Frau<br />

trat mit einem Eimer darunter hervor. „Wenn die Paste trocken ist,<br />

musst du sie wieder abbürsten.“<br />

„Wie …?“, stammelte Miri. Weder die Kleider noch die Haare der<br />

Hüterin waren unter dem Wasserfall nass geworden.<br />

„Am besten schneidest du eine Handvoll junger Weidenzweige auf<br />

die gleiche Länge und bindest sie zu einem kurzen Besen.“<br />

Miri nickte gehorsam. „Eigentlich meine ich Ihre Haare und Ihre<br />

Kleider. Sie sind nicht einmal feucht.“ Ratlos schüttelte sie den Kopf.<br />

„Wie haben Sie das gemacht?“<br />

„Wenn es kein Trick war, könnte es Magie gewesen sein.“<br />

„Ah ja.“ Mit einer ungeduldigen Bewegung strich Miri eine Haarsträhne<br />

aus ihrem Gesicht. „Abbürsten, haben Sie gesagt.“<br />

„Ja“, entgegnete die Hüterin und Miri hatte den Eindruck, dass sie<br />

sich das Lachen nur mit Mühe verkneifen konnte. „Beeil dich.“<br />

Wild entschlossen schrubbte Miri die getrocknete Paste <strong>von</strong> dem<br />

Pferdehintern. Was darunter zum Vorschein kam, entsprach ganz und<br />

gar nicht ihren Vorstellungen <strong>von</strong> einem Goldfuchs. So sehr sie sich<br />

auch mühte, das Fell blieb struppig und es hatte eine grau-grüne<br />

Farbe mit rostroten Flecken.<br />

„Und“, schnaubte der Hengst aufgeregt. „Wie sehe ich aus?“<br />

„Dazu kann ich noch nicht viel sagen“, entgegnete Miri. „<strong>Die</strong> Paste ist<br />

noch nicht raus. Bleib stehen“, setzte sie rasch hinzu, als das Pferd<br />

87


seinen Hals nach hinten wenden wollte. „Je weniger du zappelst,<br />

desto schneller geht es.“<br />

Sie bürstete bis ihre Arme schwer wie Blei waren, und unter der<br />

getrockneten Paste auch noch blaugrüne und violette Stellen zum<br />

Vorschein kamen.<br />

„Hattest du dir das so vorgestellt?“ <strong>Die</strong> Stimme der Hüterin klang<br />

nicht einmal vorwurfsvoll, doch Miri spürte, wie ihr das Blut in die<br />

Wangen schoss. Der Pferdekopf fuhr herum und der Hengst starrte<br />

zuerst seine Kruppe, dann Miri mit riesigen Augen an.<br />

„Tut mir leid“, flüsterte die. „Ich fürchte, ich habe doch nicht gut<br />

genug zugehört.“<br />

Das Lachen der Hüterin klang so unbekümmert, als gäbe es kein<br />

moderfarbenes Pferd und keine dunkle Königin, die ihrem Ritter<br />

vermutlich gerade befahl, dem nächsten Baum mit seiner Axt zu<br />

Leibe zu rücken. „<strong>Die</strong> Flecken kannst du auswaschen und es ist genug<br />

Rot darin, dass vielleicht doch noch ein Fuchs aus deinem Schimmel<br />

wird. Beeil dich mit dem Ausbürsten. Dann zeig ich dir, wie es<br />

weitergeht.“<br />

Miri schuftete, als wollte sie dem Hengst die Haut <strong>von</strong> den Knochen<br />

schrubben.<br />

„Gut.“ <strong>Die</strong> Hüterin der Quelle nickte zufrieden. „Jetzt kannst du damit<br />

weitermachen.“ Das Wasser in ihrem Eimer duftete nach Honig und<br />

den blutroten Blütendolden <strong>von</strong> einem Busch neben dem Wasserfall.<br />

<strong>Die</strong> Hüterin reichte Miri ein moosgefülltes Netz aus haarfeinem,<br />

schimmerndem Garn.<br />

„Das kannst du als Schwamm benutzen.“<br />

88


Skeptisch musterte Miri den Eimer. „Und das macht einen Fuchs aus<br />

ihm?“<br />

„Nein“, antwortete die Hüterin. „Es ist nicht das Wasser, sondern<br />

deine Vorstellungskraft, die Wunder wirken kann. Du musst dir genau<br />

vorstellen, wie das Fell aussehen soll. Konzentriere dich während<br />

deiner Arbeit nur auf diese Farbe. Denk an die lehmige Erde am Bach<br />

oder an reife Haselnüsse. Magie ist immer eine Frage der<br />

Vorstellungskraft.“<br />

„Aber …“<br />

„Tu, was sie sagt“, drängte der Hengst. „Und konzentrier dich. Ich will<br />

nicht für den Rest meiner Tage als Flickenteppich herum-laufen.“<br />

Miri tauchte den Schwamm in das duftende Wasser und kramte in<br />

ihren Erinnerungen. Der rotbraune Teppich vor ihrem Bett war dem<br />

Hengst sicher zu dunkel, und der Boden vor ihrem Klassenraum war<br />

orangerot.<br />

„Nun mach schon“, drängte das Pferd. „So schwierig kann es doch<br />

nicht sein, sich ein sattes, golden schimmerndes Rotbraun vorzustellen.“<br />

Plötzlich erinnerte sich Miri an einen Abend im letzten Herbst. Sie<br />

hatte Lorenz bei seinem Rundgang durch die Kuppel begleitet. Als sie<br />

auf dem Rückweg waren, hatten die Wolken für einen Augen-blick<br />

den Blick auf die untergehende Sonne freigegeben. Wie ein feuriger<br />

Ball hatte sie den Horizont berührt.<br />

„Wenn du die Farbe der Sonne sehen willst, darfst du nicht hineinstarren“,<br />

hatte ihr Lorenz geraten. „Schau dir an, was sie zum<br />

Leuchten bringt. Da!“ Das Licht der tief stehenden Sonne hatte eine<br />

Buche in eine lodernde Fackel verwandelt. <strong>Die</strong> herbstfarbenen Blätter<br />

89


leuchteten feurig rot, und wenn der Wind darüber strich, sprangen<br />

goldene Funken aus der Glut hervor.<br />

„Das Herbstlaub der Buche“, jubelte sie. „<strong>Die</strong> Farben des Sonnenuntergangs<br />

auf ihren Blättern. Warum habe ich nicht gleich daran<br />

gedacht?“<br />

Mit festen Strichen wusch Miri die Reste ihrer Paste aus dem<br />

Pferdefell. Das Wasser färbte zunächst alles gleichmäßig schwarz,<br />

doch wo das Fell bereits getrocknet war, breitete sich ein rot-brauner<br />

Schimmer aus, und die Haarspitzen schimmerten golden wie die<br />

Funken im Feuer des Herbstlaubs.<br />

„Wie schön!“ Vor lauter Begeisterung zappelte der Hengst, als wäre<br />

er ein Fohlen. „So erkennt mich die alte Hexe bestimmt nicht.“<br />

„Mit der struppigen Mähne siehst du immer noch wie eine<br />

heruntergekommene Schindmähre aus und nicht wie das Ross einer<br />

vornehmen Dame“, stellte die Hüterin der Quelle fest. Sie zog ein<br />

silberfarbenes Messer mit sichelförmiger Klinge aus dem Beutel an<br />

ihrem Gürtel, rief den kleinen Hund herbei und schnitt eine Handvoll<br />

Haare aus seiner Rute. Damit strich sie dem Fuchs über den<br />

Mähnenkamm, und die Hundehaare verwoben sich auf rätsel-hafte<br />

Weise mit seiner dürftigen Mähne. Nachdem sie das ein paar Mal<br />

gemacht hatte, bedeckte eine dichte, seidige Mähne Stirn und Hals<br />

des Hengstes. Miri wagte nicht, zu fragen, wie sie diese Verwandlung<br />

zustande gebracht hatte.<br />

„Das ist schon viel besser.“ <strong>Die</strong> Hüterin nickte anerkennend. „Jetzt<br />

fehlt dir nur noch ein ansehnlicher Schweif.“<br />

„Und wo soll ich den hernehmen?“ Erschrocken riss der Fuchs die<br />

Augen auf, als ganz in der Nähe ein Baum zu Boden donnerte, der die<br />

Erde unter ihren Füßen beben ließ.<br />

90


„Keine Angst“, beruhigte ihn die Hüterin. „Noch haben sie den<br />

Eingang nicht gefunden. Aber es dauert bestimmt nicht mehr lange.<br />

Du solltest dich jetzt verstecken“, fuhr sie zu Miri gewandt fort.<br />

„Und was ist mit seinem Schweif?“, wollte diese wissen.<br />

<strong>Die</strong> Hüterin der Quelle nickte nachdenklich. „Bist du bereit, deinem<br />

Freund ein großes Opfer zu bringen?“<br />

„Was für ein Opfer? Blut?“ Miri griff nach dem Messer, das sie noch<br />

immer um den Hals trug. „Das können Sie gerne haben.“<br />

„Dein Blut hast du schon für ihn vergossen“, entgegnete die Hüterin<br />

mit einem geheimnisvollen Lächeln. „<strong>Die</strong>smal musst du deine<br />

Überzeugung opfern und deine Haare.“<br />

„Meine …“ Miri schluckte schwer. Sie hatte sich nie für besonders<br />

hübsch gehalten, aber auf ihr langes, volles Haar war sie immer stolz<br />

gewesen. „Egal! Schließlich dient es einem guten Zweck.“ Mit der<br />

rechten Hand packte sie das Messer und mit der linken ihren Zopf.<br />

„Stopp! Du hast mir wieder nicht richtig zugehört.“ <strong>Die</strong>smal war das<br />

Gesicht der Hüterin sehr ernst. „Bevor du deine Haare ab-schneidest,<br />

musst du deine Überzeugung aufgeben.“<br />

„Was für eine Überzeugung?“<br />

„Glaubst du wirklich, dass Haare, die du dir vom Kopf schneidest, auf<br />

der Schweifrübe eines Pferdes festwachsen?“<br />

„Ich dachte …“, stotterte Miri. „Vielleicht …“<br />

„Ein Trick?“ <strong>Die</strong> Hüterin schüttelte den Kopf. „Oh nein. Kein Trick<br />

könnte deine Haare in einen Pferdeschweif verwandeln. Entweder du<br />

akzeptierst deine magische Gabe oder du bringst dieses Opfer völlig<br />

umsonst.“<br />

91


„Nein!“ Miri stampfte zornig mit dem Fuß. „Wenn es nicht anders<br />

geht, dann glaube ich eben doch an Magie. Was muss ich tun?“ Entschlossen<br />

griff sie nach ihrem Zopf.<br />

„Zuhören.“ Besorgt blickte die Hüterin zur Weide, deren Blätter unter<br />

wuchtigen Axthieben zitterten. „Du musst genau zuhören, obwohl<br />

die Zeit knapp wird.“<br />

„Ich höre.“ Miri nickte entschieden. „Fangen Sie an.“<br />

„Nein, mein Kind.“ <strong>Die</strong> Hüterin schüttelte den Kopf. „Du sollst nicht<br />

mir zuhören, sondern dir. Wenn du deine Magie wirklich annimmst,<br />

verrät sie dir auch, was zu tun ist.“<br />

92


Elftes Kapitel<br />

Miri berührte den Zopf, der über ihre Schulter hing, ihre Finger<br />

folgten einer losen Strähne, die fast bis zur Taille reichte. Sie stellte<br />

sich vor, wie es sich anfühlen würde, wenn sie nicht mehr da wäre.<br />

Wenn sie gedankenverloren ihre Haare zurückstreichen wollte,<br />

würden ihre Hände ins Leere greifen. Jeder Windstoß wür-de ihre<br />

Kopfhaut berühren und in ihren Nacken kriechen. Aber für die<br />

Freiheit des Windpferdes wollte sie dieses Opfer bringen. Miri packte<br />

die sichelförmige Klinge fester und schloss die Augen. Sie wartete<br />

darauf, dass die Magie endlich zu ihr sprechen würde, aber bis auf die<br />

Axthiebe und ein nervöses Schnauben hörte sie nichts. Vielleicht lag<br />

es daran, dass Überzeugungen schwerer zu opfern waren als Haare<br />

oder Blut.<br />

Wenn sie noch in der Wildniskuppel war, gab es für alles, was bisher<br />

geschehen war, eine natürliche Erklärung. Aber vielleicht war sie<br />

nach dem Sturz anderswo gelandet. Vielleicht gab es Orte in der<br />

Welt, an denen andere Gesetzmäßigkeiten galten.<br />

Und was für Orte sollten das sein? Ein ausgesprochen skeptischer Teil<br />

ihres Denkens konnte sich mit dieser Vorstellung nicht an-freunden.<br />

Miri wusste keine zufriedenstellende Antwort.<br />

Du könntest so tun, als gäbe es so einen Ort, schlug sie dem<br />

skeptischen Teil in ihr vor.<br />

Warum sollte ich?<br />

Um mich da<strong>von</strong> zu überzeugen, dass es ihn nicht gibt. <strong>Die</strong>ser<br />

Schachzug war genial! Wenn du dich da<strong>von</strong> überzeugen lässt, dass es<br />

den Ort geben könnte, weiß ich, dass es nicht an dir liegt, wenn es<br />

ihn nicht gibt. An diesem Ort ist es völlig selbstverständlich, dass sich<br />

93


mein Zopf in einen Pferdeschweif verwandelt, wenn ich ihn dem<br />

Windpferd schenken will.<br />

Der skeptische Teil schwieg und Miri nahm es als ein gutes Zeichen.<br />

Sie setzte das Messer direkt über ihrem Nacken an und säbelte an<br />

ihren Haaren herum. <strong>Die</strong>sen Teil der Aufgabe hatte sie sich leichter<br />

vorgestellt. Sie hatte gedacht, dass es mit einem beherzten Schnitt<br />

getan wäre. Stattdessen durchtrennte das Messer eine Strähne nach<br />

der anderen und die Geräusche, die dabei entstanden, klangen fast<br />

so schrecklich wie die Axthiebe auf der anderen Seite der Schwelle.<br />

Es schien ewig zu dauern, bis sie endlich ihren Zopf in der Hand hielt.<br />

„Wie geht es jetzt weiter?“ Ein kühler Wind zerzauste die Fransen in<br />

ihrem Nacken.<br />

„Du musst genau hinhören“, entgegnete die Hüterin freundlich aber<br />

unnachgiebig.<br />

„Ich höre aber nichts. <strong>Die</strong>se blöde Magie sagt gar nichts zu mir.“<br />

„Wenn du ihr wirklich zuhören willst, musst du still sein.“<br />

Miri schnaubte empört. Das Pferd, das sie auf seinem Rücken hier<br />

hergeschleppt hatte, war in Gefahr. Jeden Moment konnte die Weide<br />

fallen, nichts würde die dunkle Königin dann noch hindern, ihn in ihre<br />

<strong>Die</strong>nste zu zwingen. Wie sollte sie angesichts dieser verzweifelten<br />

Lage ihre Gedanken zum Schweigen bringen?<br />

Wenn du die Meditation nicht nur gelesen, sondern auch geübt<br />

hättest, wüsstest du es, meldete sich der skeptische Teil ihres<br />

Denkens zurück.<br />

<strong>Die</strong> Meditation! Miri hatte jedes Mal mit den Augen gerollt, wenn<br />

Lorenz darauf bestanden hatte, gemeinsam zu meditieren, bevor sie<br />

in die Kuppel hinausgingen. Und er hatte ihr ebenso oft erklärt, dass<br />

94


die Ruhe der Meditation eine Grundlage der Verbindung zwischen<br />

bewusstem Denken und intuitivem Wissen war.<br />

Angestrengt konzentrierte sich Miri auf ihren Atem und die drei<br />

Leuchtkugeln in ihrem Körper. Oder waren es vier? Sie rief sich die<br />

Seite auf dem Memopad ins Gedächtnis. Es waren sieben Archetypen<br />

und drei Lichtzentren, die sie mit der leuchtenden Schnur ihres<br />

Atems verbinden musste. Aber ihre Gedanken wollten keine Ruhe<br />

geben. Ständig summten und brummten sie vor sich hin. Miri horchte<br />

genauer hin. Sie sangen tatsächlich ein Lied.<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie der Namen magische Kraft?<br />

Das Lied, mit dem sie das Pferd ins Leben zurückgerufen hatte.<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie der Namen magische Kraft?<br />

Welche Namen sollte die Trommel herbeirufen? Ihren eigenen?<br />

„Miri“, flüsterte sie, während sie über die Fransen im Nacken strich.<br />

„Ich bin Miri. Nein! Ich bin Miriel.“ Sie sagte es leise und dann noch<br />

einmal lauter, als wollte sie sich vergewissern, dass es richtig war.<br />

„Ich bin Miriel.“<br />

Hör den Trommelruf, hör den Klang. Hör auf den Lehrgesang.<br />

Trommellied, in allen Namen Zauberkraft ruht!<br />

„Ich bin Miriel“, wiederholte sie, während sie die Spange löste, die<br />

ihren abgeschnittenen Zopf zusammenhielt. „Ich bin Miriel und du<br />

bist …“ Ihr Atem wollte stocken, aber der magische Augenblick<br />

erlaubte kein Zaudern. „Ich bin Miriel und du bist Sturmtänzer.“<br />

Sturmtänzer war ein prächtiger Hengst mit feuerfarbenem Fell und<br />

goldenem Langhaar. Er hatte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem<br />

knochigen Schimmel, der dem Ruf der Trommel gefolgt war.<br />

95


„Du bist Sturmtänzer.“ Indem sie es aussprach, wurde es wahr. Ihre<br />

Hände strichen über blankes Fell, folgten dem flachen Graben der<br />

Wirbelsäule und griffen in die füllige Haarpracht eines goldenen<br />

Pferdeschweifs. Wie erstarrt stand sie da. Sie wagte nicht einmal zu<br />

atmen, aus Angst, der Luftzug könne das Wunder zunichtemachen.<br />

Doch dann bahnte sich ein wilder Triumphschrei den Weg durch ihre<br />

Kehle.<br />

„Ich kann es!“, brüllte sie. „Ich bin Miriel. Ich bin eine Magierin!“<br />

Vor Schreck machte der Hengst einen Satz, der Schweif peitschte<br />

seine Flanken. Dann drehte er sich zu ihr um. „Ich hoffe, es tut dir<br />

nicht leid, wenn du dich im Spiegel siehst“, schnaubte er. „Du siehst,<br />

ähm“, er räusperte sich. „Jedenfalls siehst du anders aus.“<br />

Miri winkte großzügig ab. „<strong>Die</strong> paar Haare tausche ich gerne gegen<br />

diese wunderschöne Welt, in der ich eine Magierin sein kann.“<br />

„Du willst also gar nicht mehr in deine Welt zurückkehren?“, erkundigte<br />

sich die Hüterin.<br />

„Also …“ Miri holte tief Luft. „Wenn es möglich ist …“<br />

„Hier ist alles möglich. Wenn du bleiben willst, musst du dich mit der<br />

dunklen Königin auseinandersetzen. Willst du es gleich hinter dich<br />

bringen?“<br />

Ächzend neigte sich die Krone der Weide.<br />

„Um Himmels willen“, keuchte Miri. „Ich muss noch so viel lernen.“<br />

Flehentlich starrte sie die Hüterin an. „Bitte nicht!“<br />

„Lauf!“ <strong>Die</strong> Hüterin deutete auf den Wasserfall. „In der Höhle bist du<br />

vor ihr sicher.“<br />

96


Das Letzte, was Miri hörte, bevor sie unter dem Silbervorhang<br />

verschwand, war das Brechen der Äste.<br />

Zunächst kam ihr die Höhle stockfinster vor, aber als sich Miris Augen<br />

an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte sie, dass der<br />

Widerschein des Sonnenlichts zauberhafte Muster an Wände und<br />

Decke malte. Wie goldene Ringe, die sich begegneten und wieder<br />

auseinanderstrebten, trieben die Lichtreflexe über den Fels. Sie stand<br />

in einem kleinen Tümpel, dessen Wasser ihr bis zu den Hüften<br />

reichte.<br />

Schon wieder Wasser, stellte sie mit einem abgrundtiefen Seufzen<br />

fest. <strong>Die</strong>smal hatte es wenigstens eine angenehme Temperatur. Am<br />

Grund des Tümpels scheuchten die Sonnenstrahlen winzige Lichter<br />

auf, die wie schillernde Seifenblasen zur Oberfläche trieben und<br />

zerplatzten. <strong>Die</strong> hintere Höhlenwand war knapp über dem Boden tief<br />

ausgewaschen, und Miri konnte wie auf einer Bank darin sitzen. Sie<br />

dachte einen Moment darüber nach, ob sie es sich in dem warmen<br />

sprudelnden Wasser nicht einfach bequem machen und warten<br />

sollte, bis sie gerufen wurde. Doch die Sorge um ihren vier-beinigen<br />

Freund ließ ihr keine Ruhe. Ganz langsam, um sich nicht zu verraten,<br />

watete sie zum Silberperlenvorhang des Wasserfalls.<br />

<strong>Die</strong> helle Nachmittagssonne brachte das niederfallende Wasser zum<br />

Leuchten. So konnte sie die Gestalten am Rand des kleinen Tümpels<br />

nur schemenhaft erkennen. <strong>Die</strong> Frau in dem grünen Kleid musste die<br />

Hüterin der Quelle sein. Neben ihr stand Sturmtänzer, Hals und Kopf<br />

waren stolz erhoben und ihre Hand lag leicht auf seinem Widerrist.<br />

<strong>Die</strong> hochgewachsene Frau in dem schwarzen Kleid konnte nur die<br />

dunkle Königin sein und die große, kantige Gestalt dahinter war<br />

bestimmt der Ritter.<br />

97


„Ich kenne die Geschichte, aber ich wüsste nicht, dass je ein Mensch<br />

das Windpferd gesehen geschweige denn geritten haben sollte.“<br />

Miri musste sich anstrengen, um die Hüterin durch das Rauschen des<br />

Wasserfalls zu verstehen.<br />

„Und was ist das für ein Pferd?“ <strong>Die</strong> Frau in Schwarz deutete auf den<br />

Fuchs.<br />

„Er gehört mir“, entgegnete die Hüterin. „Ein zuverlässiger Zelter, der<br />

dafür sorgt, dass selbst eine ungeübte Reiterin, wie ich es bin, sicher<br />

<strong>von</strong> Ort zu Ort kommt.“<br />

„Ich habe dich noch nie auf einem Pferd gesehen.“ <strong>Die</strong> Stimme der<br />

dunklen Königin klang skeptisch.<br />

„Wir haben uns ohnehin lange nicht mehr gesehen.“ <strong>Die</strong> Hüterin<br />

deutete eine Verbeugung an. „Ihr solltet mich öfter besuchen<br />

kommen.“<br />

„Du meinst, jetzt wo der Weg schon einmal frei ist.“ <strong>Die</strong> Herrin der<br />

unteren Welt lachte spöttisch. „Ich bedauere, dass wir den halben<br />

Wald fällen mussten, um den Eingang zu deinem Garten zu finden.<br />

Ich hoffe, du grämst dich nicht zu sehr darüber. Soll ich meinem<br />

Ritter befehlen, dir bei der Beseitigung des Schadens zu helfen?“<br />

„Macht Euch keine Mühe“, entgegnete die Hüterin würdevoll. „Der<br />

Wald folgt nur seinen eigenen Gesetzen. Weder Ihr noch Euer<br />

Holzfäller kann ihm Schaden zufügen.“<br />

Aus den Augenwinkeln erkannte Miri einen grauen Schatten, der am<br />

Rand des Teichs entlang schnüffelte. Als er zu der Stelle kam, wo sie<br />

ins Wasser gestiegen war, blieb er stehen. Ein dumpfes Bellen hallte<br />

wie ferner Donner durch die Höhle und Miri sah, dass der Ritter auf<br />

98


den Wasserfall deutete. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte,<br />

aber die Frau im schwarzen Kleid wandte sich ebenfalls dem Teich zu.<br />

Jetzt haben sie dich! Miri blickte sich vergeblich nach einem<br />

Fluchtweg um. <strong>Die</strong> dunkle Königin und ihr Ritter näherten sich ihrem<br />

Versteck <strong>von</strong> zwei Seiten. Am gegenüberliegenden Ufer stand<br />

Tagauge, der zottige Riesenhund und starrte unverwandt zu ihr<br />

herüber. Miri fühlte sich schon entdeckt, als plötzlich das Hündchen<br />

der Hüterin mit ohrenbetäubendem Gekläff unter einem Gebüsch<br />

hervorstürzte. Es wischte an dem anderen Hund vorbei und flüchtete<br />

jaulend unter die Röcke seiner Herrin. Lachend wandte sich die<br />

dunkle Königin ab, und der Ritter rief Tagauge zurück.<br />

„<strong>Die</strong>ser Ort ist immer für eine Überraschung gut.“ <strong>Die</strong> dunkle Königin<br />

ließ sich <strong>von</strong> ihrem Ritter in den Sattel helfen. „Sorg dafür, dass es<br />

keine unangenehmen Überraschungen werden, und denk daran,<br />

sofort einen Boten zu meinem Schloss zu schicken, wenn du etwas<br />

<strong>von</strong> dem Windpferd oder diesem Mädchen hörst.“<br />

Zustimmend neigte die Hüterin der Quelle ihr Haupt. <strong>Die</strong> ungebetenen<br />

Gäste wendeten ihre Pferde und Miri hätte schwören<br />

können, dass die alte Hexe ihren Grauen absichtlich durch ein Beet<br />

mit leuchtend gelben Blütensternen lenkte.<br />

99


Zwölftes Kapitel<br />

Wenig später waren auch Miri und Sturmtänzer wieder unterwegs.<br />

<strong>Die</strong> Hüterin der Heiligen Quelle hatte ihnen den Weg zu ihrer<br />

Schwester beschrieben, der Wächterin über den Riss zwischen den<br />

Welten.<br />

„Sie kann euch sicher helfen“, hatte sie gesagt, während Miri noch<br />

damit beschäftigt gewesen war, Hose und Hemd anzuziehen, welche<br />

ihr die Hüterin gegeben hatte. „Meine Schwester weiß genug über<br />

diese Tore, um Miri in ihre Welt zurückzuschicken. Vielleicht kennt sie<br />

sogar einen Weg, den ihr gemeinsam benutzen könnt.“<br />

Im flotten Trab ging es über eine weite Ebene. Wiesen, Felder,<br />

baumbestandene Hügel, und Obstgärten flogen an ihnen vorbei.<br />

Sturmtänzer hatte den Kopf stolz erhoben und ließ seine Mähne im<br />

Wind wehen. So oft sie an Feldarbeitern oder einem Erntewagen<br />

vorbeikamen, schnaubte er und fiel mit peitschendem Schweif in<br />

einen leichten Galopp.<br />

„Gib doch nicht so an“, schimpfte Miri, als der Fuchs an einem Garten<br />

vorübertänzelte, in dem Männer ein Gerüst für Bohnen aufrichteten.<br />

„Ebenso gut könnten wir Visitenkarten verteilen.“<br />

„Mir macht es Spaß, mich so zu zeigen“, erwiderte das Pferd. „Ich<br />

finde, ich habe noch nie so gut ausgesehen.“<br />

Miri zog die Schultern hoch. „Ich kenne nicht viele Pferde. Mir hast<br />

du immer gefallen.“<br />

„Tut es dir gar nicht leid um deine wunderschönen Haare?“ Der<br />

Schweif peitschte über Sturmtänzers Flanke und Miris Beine.<br />

100


„Ach was“, lachte sie. „Ich hab mich schon fast daran gewöhnt, dass<br />

sie jetzt kurz sind.“<br />

An die neuen Kleider konnte sie sich hingegen nur schwer gewöhnen.<br />

Das Hemd war so steif, dass es auf ihrer Haut scheuerte und<br />

die Hose schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre Beine.<br />

Ungeduldig zupfte sie daran herum.<br />

„<strong>Die</strong>ses Ding ist viel zu eng“, schimpfte sie.<br />

„Ach was“, widersprach der Fuchs. „Du hast einen schönen Hintern<br />

und der kommt in dieser Hose viel besser zur Geltung, als in dem<br />

Ding, das du vorher anhattest.“<br />

„Sie kneift aber. Außerdem stinkt sie.“ Demonstrativ rümpfte Miri die<br />

Nase. „Was ist das nur für ein Stoff?“<br />

„Das ist kein Stoff, das ist Leder.“<br />

„Leder?“ Miri schüttelte ungläubig den Kopf.<br />

„Gegerbte Tierhaut“, erwiderte das Pferd. Offensichtlich war ihm der<br />

Gedanke kein bisschen unangenehm. „In diesem Fall …“ Ohne<br />

langsamer zu werden, drehte er den Kopf nach hinten und zog die<br />

Oberlippe hoch um die Witterung zu prüfen. „Hirsch“, stellte er<br />

zufrieden fest. „Das Beste, was man hier bekommen kann.“<br />

„Haut <strong>von</strong> einem toten Tier?“ Miri schüttelte sich vor Ekel. „Bäh, igitt.<br />

Halt an. Sofort! Das will ich nicht anhaben“ Am liebsten hätte sie sich<br />

das widerwärtige Ding vom Leib gerissen, aber der Fuchs machte<br />

keine Anstalten, das Tempo zu verringern.<br />

„Und was willst du stattdessen anziehen?“, fragte er trocken. „Ich<br />

verstehe nicht, warum du so ein Theater machst. Ein totes Tier<br />

braucht seine Haut nicht mehr. Wenn du sein Fleisch isst, musst du<br />

doch seine Haut nicht verderben lassen.“<br />

101


„Ich esse kein Fleisch. Das ist ekelhaft.“ Nun war Miri ehrlich<br />

entrüstet. „In meiner Welt isst kein zivilisierter Mensch Fleisch.“<br />

„Es gibt Tiere, die Fleisch fressen. Bären und Wölfe oder Hunde und<br />

Katzen.“<br />

„In den Kuppeln gibt es keine Raubtiere, und wer unbedingt einen<br />

Hund oder eine Katze halten will, muss das Tier eben mit synthetischem<br />

Fleisch ernähren?“<br />

„Synthetisches Fleisch?“ Sturmtänzer wieherte laut. „Der ist gut. Den<br />

muss ich mir merken.“<br />

„Das ist kein Scherz.“ Miri schnaubte, als wäre sie selbst ein Pferd. „In<br />

überregionalen landwirtschaftlichen Produktionsstätten werden<br />

Bakterienkolonien gezüchtet, die aus Nährlösungen Eiweißverbindungen<br />

produzieren, die denselben Nährwert haben wie Fleisch.“<br />

„Weißt du was?“ Ein Schauer lief über den Pferdehals. „Das finde ich<br />

eklig.“<br />

Allmählich blieben die Dörfer und Felder hinter ihnen zurück,<br />

stattdessen rückten dunkle Wälder mit turmhohen Bäumen näher.<br />

„Können wir nicht endlich eine Pause einlegen“, nörgelte Miri. „Mir<br />

tut alles weh.“<br />

„Lass uns lieber noch ein Stück Straße unter die Hufe nehmen, bevor<br />

es dunkel wird.“ Der Fuchs beschleunigte seine Gangart. „Es ist schon<br />

spät und bis zur Hütte der Wächterin ist es noch weit.“<br />

„Hast du Angst, dass die dunkle Königin wieder ihr Nachtauge auf uns<br />

hetzt.“<br />

102


„Wer weiß.“ Schnaubend schüttelte Sturmtänzer die Mähne und fiel<br />

in einen kurzen Galopp. „Vielleicht hat sie längst einen gefährlicheren<br />

Jäger auf uns angesetzt.“<br />

„Und was für ein Jäger sollte das sein?“ Miri blickte sich ängstlich um,<br />

aber sie konnte nichts sehen oder hören.<br />

„Lass uns das Thema wechseln. Oder willst du das Unglück<br />

herbeireden?“ Unwillig keilte der Hengst nach einer Fliege aus.<br />

„Wenn die alte Hexe tatsächlich herausgefunden hat, was wir<br />

vorhaben, müssen wir eben schneller sein als unser Verfolger.“<br />

Sie bogen <strong>von</strong> dem Karrenweg ab und trabten einen schmaleren Pfad<br />

hügelaufwärts. Plötzlich hörte Miri, Hufschläge, die einem anderen<br />

Rhythmus folgten. Sturmtänzer schien es ebenfalls gehört zu haben.<br />

Ächzend setzte er sich wieder in Galopp.<br />

<strong>Die</strong> Sonne war schon fast hinter dem Horizont verschwunden, und<br />

die langen Schatten der Bäume verschmolzen mit der Dunkelheit der<br />

hereinbrechenden Nacht. Miri konnte kaum noch den Verlauf der<br />

Straße erkennen, und dem Pferd ging es bestimmt nicht an-ders.<br />

Trotzdem eilte Sturmtänzer den steilen Hügel in einem halsbrecherischen<br />

Tempo hinauf.<br />

„Da!“ Keuchend stand er auf der Kuppe und blickte zu einem Hügel,<br />

der so aussah, als wäre es nur ein Schattenriss auf dem tiefblauen<br />

Abendhimmel. „Da drüben ist es.“<br />

„Was denn?“, fragte Miri. Doch dann sah sie selbst, dass der Hügel<br />

<strong>von</strong> einem Turm gekrönt wurde, der dem Wahrzeichen der Wildniskuppel<br />

zum Verwechseln ähnlich sah.<br />

„Zwischen diesem und dem anderen Hügel liegt eine Schlucht, die wir<br />

den Riss zwischen den Welten nennen“, schnaubte der Hengst. „Ein<br />

103


schmaler Steg führt über die Schlucht und wenn die Sonne den<br />

Horizont berührt, führt er in eine andere Welt.“<br />

„In irgendeine andere Welt oder in meine Welt?“, fragte Miri.<br />

Sturmtänzer schüttelte den Kopf. „Frag die Wächterin. Sie wird<br />

wissen, wie es funktioniert. Schließlich ist es ihr Job, aufzupassen,<br />

dass keiner Dummheiten damit macht.“<br />

„In unserer Welt gibt es den Turm mit dem Hügel und der Schlucht<br />

auch“, entgegnete Miri. „<strong>Die</strong> Wiese am Rand der Schlucht nennen wir<br />

den Ort der höchsten Herausforderung und die Brücke ist der<br />

Engpass. In Wirklichkeit gibt es gar keine Schlucht, nur einen alten<br />

Entwässerungsgraben, der nicht mal zwei Meter tief ist. Es sind<br />

lediglich Projektionen, die ihn so gefährlich aussehen lassen.<br />

„Ich denke, bei uns ist die Schlucht echt“, antwortete der Hengst. Sie<br />

schwiegen beide und lauschten dem Abendgesang der Vögel.<br />

Plötzlich stampfte Sturmtänzer mit dem Huf.<br />

„Weiter“, schnaubte er. „Wir müssen die Hütte der Wächterin finden,<br />

bevor es dunkel ist.“<br />

Eine steile Rinne, die aussah, als wäre sie <strong>von</strong> Schmelzwasser geformt<br />

worden, führte auf dem kürzesten Weg bergab. Mit steifen<br />

Vorderbeinen und tiefer Kruppe tastete sich der Fuchs in den<br />

Einstieg.<br />

„Stopp!“ Miri schrie entsetzt auf, als der Pferdekopf nach unten<br />

wegtauchte. Sie fühlte sich wie auf einer Rutschbahn. Erschrocken<br />

tänzelte der Hengst zurück.<br />

„Mach doch nicht so viel Lärm“, schimpfte er. „Ich muss mich konzentrierten.<br />

Es ist schwer genug, auf vier Beinen heil da hinunterzukommen.“<br />

104


„Müssen wir überhaupt da runter“, protestierte Miri. „Vielleicht gibt<br />

es ja einen weniger gefährlicheren Weg.“<br />

„Aber das ist der Schnellste. Und die Jäger …“<br />

„Im Wald habe ich nichts mehr gehört. Vielleicht haben sie die<br />

Verfolgung aufgegeben.“<br />

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“<br />

„Ich will trotzdem nicht da runter. Lass mich wenigstens absteigen,<br />

bevor du dir den Hals brichst.“<br />

„Bleib sitzen“, brummte Sturmtänzer. „Ich finde auch einen weni-ger<br />

steilen Weg.“<br />

Unter den Bäumen war es schon so dunkel, dass sie nur langsam<br />

vorankamen.<br />

„Meine Schweifrübe juckt“, brummelte der Hengst, als er aus einem<br />

Tannendickicht auf eine kleine Lichtung trat. „Das ist kein gutes<br />

Zeichen.“<br />

„Hast du etwas gesehen?“, flüsterte Miri.<br />

Sturmtänzer schüttelte den Kopf. „Es ist nur …“<br />

Als sie das Donnern eisenbeschlagener Hufe hörten, war es schon<br />

fast zu spät. Miri spürte die schwere Hand des schwarzgekleideten<br />

Ritters bereits auf ihrer Schulter. Ein jäher Satz, der sie sie fast <strong>von</strong><br />

Sturmtänzers Rücken katapultiert hätte, brachte sie gerade noch<br />

rechtzeitig außer Reichweite. Das nachtschwarze Streitross war gut<br />

trainiert und im Gegensatz zu Miri saß der Ritter fest im Sattel. Bevor<br />

Sturmtänzer zwischen Tannen und dornigem Ge-strüpp einen<br />

Durchlass fand, hatte der Ritter sein Pferd gewendet. Er preschte<br />

105


ihnen entgegen, als gälte es, einen Gegner im Lanzen-gang aus dem<br />

Sattel zu werfen.<br />

„Duck dich!“, rief Sturmtänzer.<br />

Miri tauchte unter dem ausgestreckten Arm des Mannes hindurch.<br />

„Halt dich fest!“ Sturmtänzers Rücken wölbte sich, er schnellte mit<br />

einem Satz über die Brombeerhecke und donnerte im ge-streckten<br />

Galopp den Hügel hinunter.<br />

Miri beugte sich tief über den Hals des Pferdes. Sie krallte sich in die<br />

flatternde Mähne, ihre Knie lagen fest in der flachen Kuhle hinter<br />

seinen Vorderbeinen und ihr Hintern berührte den Pferde-rücken<br />

kaum noch. Sie wagte nicht, darüber nachzudenken, was passieren<br />

würde, wenn Sturmtänzer bei diesem Tempo stürzte. Obwohl er nass<br />

geschwitzt war und Schaumflocken aus seinem Maul flogen,<br />

beschleunigte er noch einmal, als der Boden für einen Moment<br />

flacher wurde und danach umso steiler bergan führte. Miri kannte<br />

diesen Weg. In ihrer Welt führte er direkt zum Ort der höchsten<br />

Herausforderung.<br />

„Vorsicht!“<br />

Ein Schatten schoss hinter einem Dickicht hervor. Sturmtänzer wich<br />

dem zottigen Hund mit knapper Not aus. Er keilte nach dem neuen<br />

Verfolger aus, aber der Hund duckte sich flach auf den Boden und die<br />

Hufe zischten über ihn hinweg. Das Manöver hatte wertvolle<br />

Sekunden gekostet und das Klirren der eisenbe-schlagenen Hufe kam<br />

ihnen gefährlich nah. Aus dem gleichmäßigen Dreiertakt wurde ein<br />

hartes Stakkato. Auf kurzen Strecken war das Streitross dem<br />

zierlicheren Fuchs überlegen. Der Gegner holte rasch auf.<br />

„Festhalten!“ Als der Ritter direkt neben ihnen war, brach<br />

Sturmtänzer zur Seite aus. Miris Knie rutschten nach oben, und wenn<br />

106


der Hengst nicht seinen Kopf hochgerissen hätte, wäre sie im hohen<br />

Bogen über seinen Hals geflogen. Der harte Pferdeschädel prallte<br />

gegen ihre Schulter und beförderte sie unsanft an ihren Platz zurück.<br />

„Wie weit noch?“, schrie Miri. Sie war blind vom Wind, den Blättern<br />

und Zweigen, die ihr jetzt ins Gesicht peitschten, ihre Beine zitterten<br />

vor Anstrengung, ihre Arme waren taub und die Luft brannte in ihren<br />

Lungen.<br />

Der Hengst antwortete nicht. Miri glaubte zu spüren, wie mit jedem<br />

weiteren Galoppsprung ein Teil seiner Lebenskraft aus den<br />

gewaltigen Muskeln in die Erde floss.<br />

„Halt!“ <strong>Die</strong> Angst um den Gefährten gab ihrer Stimme neue Kraft.<br />

Wenn es ihr nicht gelang, diesen Irrsinn zu stoppen, würde er sich zu<br />

Tode rennen. „Bleib stehen. Sofort!“<br />

Zwischen den Bäumen konnte Miri ein ausgefranstes Stück Nachthimmel<br />

erkennen. Sie hatten die Kuppe des Hügels erreicht. <strong>Die</strong><br />

letzten Baumstämme flogen an ihnen vorbei, eine Wiese öffnete sich<br />

vor ihnen und dahinter stieg das Gelände zu einem schroffen Gebirge<br />

mit fernen, schneebedeckten Gipfeln und einer turm-gekrönten<br />

Felskuppe an. Aber zwischen dem Wald und den Felsen lag der<br />

Abgrund, der im Dämmerlicht des späten Abends tat-sächlich<br />

verteufelt echt aussah. Und Sturmtänzer rannte gerade-wegs darauf<br />

zu.<br />

„Stopp!“, brüllte Miri noch einmal. „Willst du uns umbringen?“<br />

Der Hengst schien sie nicht einmal zu hören. Nur noch vier Sprünge<br />

oder fünf. Er setzte über ein Wurzelende hinweg und die Zeit schien<br />

daran hängen zu bleiben. Miris Herz hämmerte viele Male gegen ihr<br />

Brustbein, während seins nur einen Schlag tat. Sie spürte jeden<br />

Muskel, den er anspannen musste, um seinen Rücken auf-zuwölben<br />

und Spannung für den nächsten Galoppsprung aufzu-nehmen. Seine<br />

107


Vorderhufe lösten sich vom Boden, griffen weit und hoch hinaus. Sein<br />

Rücken streckte sich, Sturmtänzer schnellte dem Nachthimmel<br />

entgegen, als wolle er der Erdschwere für immer entkommen. Am<br />

Scheitelpunkt seiner Flugbahn krümmte sich sein Rücken erneut, er<br />

senkte den Kopf über seine ausgestreckte Vorderhand. Das war der<br />

richtige Moment. Miri griff mit der rechten Hand fest in die Mähne<br />

und holte gleichzeitig mit der linken aus. Sie beugte sich weit vor, ihre<br />

flache Hand schlug dem Hengst ins Gesicht und im gleichen<br />

Augenblick zerriss die zer-dehnte Zeit mit einem schrillen Misston.<br />

Sturmtänzer warf er-schrocken den Kopf in die Höhe und erstarrte<br />

mitten in der Bewegung. Miris Beine verloren den Halt und ihr Körper<br />

wurde jäh zur Seite gerissen. Sie versuchte noch, sich mit beiden<br />

Armen an den Pferdehals klammern, aber eine Tonnenlast zerrte an<br />

ihrem Körper, der Boden sackte unter ihren Füßen weg und ihr<br />

Verstand weigerte sich, den Ereignissen weiter zu folgen.<br />

108


Dreizehntes Kapitel<br />

Als Miri zu sich kam, hörte sie ganz in ihrer Nähe ein Klirren, als<br />

würde Metall gegen Metall scheuern. Sie blickte erschrocken auf,<br />

doch sie konnte nur Grashalme und dahinter eine Hütte erkennen.<br />

Eine Lampe unter der Dachtraufe beleuchtete die Hausecke und zwei<br />

Menschen, die sich dort gegenüberstanden. Wo das flackern-de Licht<br />

nicht hinreichte, war es so dunkel, als wäre inzwischen die Nacht<br />

hereingebrochen.<br />

„Geh mir aus dem Weg“, polterte eine Männerstimme, die an ihren<br />

Mentor erinnerte. Lorenz würde nie so grob mit jemandem reden.<br />

„Wofür hältst du dich eigentlich?“, entgegnete eine Frau. „Glaubst<br />

du, du kannst mich auf meinem eigenen Grund und Boden herumkommandieren!“<br />

„Dein Grund und Boden ist ein königliches Lehen“, spottete der<br />

Mann. „Und im Namen unserer Königin befehle ich dir…“<br />

„Im Namen unserer Königin?“, unterbrach ihn die Frau. „Ist die Erbin<br />

unseres Herrn und Königs endlich gefunden und in ihre Rechte<br />

eingesetzt worden?“<br />

„Spiel nicht die Närrin“, schnaubte der Mann. „<strong>Die</strong> Rolle kleidet dich<br />

nicht.“<br />

„Ah, du bist also hier, um mir im Namen der Regentin Befehle zu<br />

erteilen.“ Miri hörte die Frau lachen. „Was will sie denn diesmal <strong>von</strong><br />

mir?“<br />

„Sie ist auf der Suche nach dem Windpferd.“<br />

„Das höre ich nicht zum ersten Mal.“<br />

109


„Einer jungen Cantadora ist es gelungen, die Knochen wiederzubeleben.“<br />

„Das ist in der Tat etwas Neues.“<br />

„Das Mädchen ist mit dem Pferd geflohen.“<br />

„Erstaunlich, dass sie nicht nur Nachtauge und Tagauge, sondern<br />

auch dem Klingenknecht der alten Hexe zu entkommen ist.“<br />

„Hüte deine Zunge“, zischte der Mann.<br />

Miri duckte sich tiefer. <strong>Die</strong> zornige Stimme machte ihr Angst.<br />

„Ich habe die beiden bis hierher verfolgt. Sie müssen an deiner Hütte<br />

vorbeigekommen sein.“<br />

„Vielleicht sind sie über die Brücke in eine andere Welt geflohen“,<br />

schlug die Frau vor.<br />

„Sollten Sie die Brücke tatsächlich ohne deine Erlaubnis passiert<br />

haben?“<br />

„Glaubst du, das Windpferd muss jemanden um Erlaubnis fragen, um<br />

<strong>von</strong> einer Welt in die nächste zu reisen?“<br />

„Ist das wirklich so?“, brummelte es neben Miris Ohr. „Meinst du, wir<br />

sollten…“<br />

„Pst“, zischte Miri, doch es war zu spät. Der schwarze Ritter war<br />

bereits auf sie aufmerksam geworden.<br />

„Was ist das für ein Pferd?“, wollte er wissen.<br />

„Das da?“ Aus ihrer Position konnte Miri nur ahnen, dass sich die<br />

Frau nach ihnen umwandte, als wollte sie nachsehen, wo<strong>von</strong> der<br />

110


Ritter sprach. „Das ist Auris. Du solltest ihn eigentlich kennen. Wir<br />

haben uns auf dem Schlachtfeld oft genug gegenübergestanden.“<br />

„Müsste er nicht …“<br />

„Ich habe längst aufgehört, seine Jahre zu zählen“, entgegnete die<br />

Wächterin rasch. „Der alte Bursche bekommt <strong>von</strong> mir sein Gnadenbrot,<br />

solange er es beißen kann.“<br />

„Erstaunlich, wie gut er für sein Alter noch aussieht“, sinnierte der<br />

Ritter.<br />

<strong>Die</strong> Frau winkte ab. „Bei Tageslicht darfst du ihn nicht anschauen. Er<br />

ist inzwischen ein rechter Klepper geworden.“<br />

„Er erinnert mich an das Pferd deiner Schwester.“<br />

„Das ist nicht weiter erstaunlich.“ <strong>Die</strong> Wächterin schien nie um eine<br />

Ausrede verlegen zu sein. „Sie stammen aus derselben Herde.“<br />

„Und wer ist das Mädchen, zwischen seinen Vorderhufen dem es<br />

allen Bemühungen zum Trotz nicht gelingt, im Boden zu versinken?“<br />

Der Schreck überrollte Miri wie eine glutheiße Welle.<br />

„Bist du kurzsichtig geworden oder muss ich mir eine neue Lampe<br />

anschaffen?“ Lachend schüttelte die Wächterin den Kopf. „Das ist ein<br />

junger Bursche, der bei mir das Kriegshandwerk erlernen will.“<br />

111


„Was macht er dann auf dem Boden?“ Offenbar glaubte ihr der Ritter<br />

kein Wort.<br />

„Er ist vom Pferd gefallen und noch nicht wieder aufgestanden.“ Sie<br />

zog die Schultern hoch, als wäre damit alles gesagt.<br />

„Willst du nicht nachsehen, ob er den Sturz unversehrt überstanden<br />

hat?“ Seiner schweren Rüstung zum Trotz schwang sich der Ritter<br />

mühelos aus dem Sattel.<br />

„Wenn er sich wehgetan hätte, würden wir ihn schreien hören.“<br />

„Wir sollten uns trotzdem vergewissern.“ Der Ritter stapfte<br />

geradewegs auf Miri zu.<br />

„Halt!“ <strong>Die</strong> Wächterin trat ihm in den Weg. „<strong>Die</strong>ses Land wurde mir<br />

<strong>von</strong> unserem Herrn und König zum Lehen gegeben. Niemand betritt<br />

es ohne meine Erlaubnis.“<br />

„Wenn du glaubst, ich würde dich um Erlaubnis bitten …“<br />

Miri hörte ein metallisches Klirren. Dann spiegelte sich das Licht der<br />

Laterne im Schwert des Ritters.<br />

„Oh ja, das glaube ich.“<br />

Noch einmal schabte Metall über Metall. Kampfbereit standen sich<br />

der Mann und die Frau gegenüber.<br />

„Sie können doch jetzt nicht miteinander kämpfen“, flüsterte Miri.<br />

„Natürlich können sie das“, brummelte es dicht neben ihrem Ohr.<br />

„Sie sind Krieger. Wenn sie sich nicht einigen können, kämpfen sie<br />

miteinander. Für gewöhnlich hat der Sieger Recht.“<br />

„Sie könnten sich verletzen.“ Es erschien Miri unvorstellbar, dass<br />

Menschen Waffen gegeneinander erheben sollten.<br />

112


„Sie könnten sogar sterben“, schnaubte das Pferd. „<strong>Die</strong> Wächterin<br />

trägt keine Rüstung. Das macht sie zwar verletzlicher, aber gleichzeitig<br />

auch beweglicher. Der Ritter hat eine größere Reichweite, aber<br />

wenn er den Kampf nicht in den ersten Minuten für sich entscheidet,<br />

bekommt er vermutlich Probleme mit der Kondition. Wenn ich Geld<br />

hätte, würde ich es…“<br />

„Bist du verrückt?“, zischte Miri. „Ich will nicht, dass sie unseretwegen<br />

kämpfen. Gewalt ist keine Lösung.“ Entschlossen rappelte sie<br />

sich auf.<br />

„Stopp!“ Sturmtänzer erwischte gerade noch rechtzeitig den Saum<br />

ihres Hemdes.<br />

Der Ritter wich mit einem kaum merklichen Nicken zurück. „Es wird<br />

nicht nötig sein, Blut zu vergießen.“ Der Ritter steckte sein Schwert<br />

zurück in die Scheide. „Unsere Herrin wird morgen früh persönlich<br />

herkommen, um sich da<strong>von</strong> zu überzeugen, dass mit deinem<br />

Knappen alles seine Richtigkeit hat.“<br />

„<strong>Die</strong> Sachwalterin unseres verstorbenen Herrn und Königs ist mir<br />

jederzeit willkommen“, entgegnete die Wächterin würdevoll. „Es<br />

wundert mich nur, dass sie nichts Besseres zu tun hat, als einen<br />

Bauernjungen und ein altes Streitross zu begutachten.“<br />

„Sie sorgt sich eben um ihre Untertanen.“ Der Ritter griff nach dem<br />

Zügel seines Pferdes und wandte sich der Brücke zu. „Um<br />

Missverständnissen vorzubeugen, werde ich auf der Brücke Wache<br />

halten“, sagte er laut genug, dass Miri und Sturmtänzer ihn verstehen<br />

konnten. „Der Hund behält derweil die Straße im Auge.“<br />

„<strong>Die</strong> Wächterin nickte. „Mips, Auris, rein mit euch“, rief sie Miri und<br />

Sturmtänzer zu. „Solange sich zwielichtiges Gesindel auf der Straße<br />

herumtreibt, will ich euch nachts nicht hier draußen sehen.“<br />

113


Der Hengst trabte zu dem Schuppen neben der Hütte. Miri folgte ihm<br />

wortlos.<br />

Im Stall gab es eine große, offene Box und eine Futterkammer, die<br />

mit einem Riegel und einem schweren Vorhängeschloss gesichert<br />

war. Wohlig grunzend ließ sich Sturmtänzer im duftenden Stroh<br />

nieder und wälzte sich ausgiebig. Miri kletterte derweil auf den<br />

Heuboden und warf Futter für ihn herunter.<br />

„Wie soll es jetzt weitergehen?“, fragte sie <strong>von</strong> oben.<br />

„Das wollte ich euch auch gerade fragen.“<br />

Miri wäre vor Schreck fast <strong>von</strong> der Leiter gefallen, als die Wächterin<br />

plötzlich in der Tür stand. Sie hatte die Frau gar nicht kommen hören.<br />

„Ich weiß nicht.“ Miri schüttelte den Kopf.<br />

„Und wenn du es dir aussuchen könntest?“<br />

„Ich wünschte, die Prüfung wäre zu Ende und jemand würde mir erklären,<br />

wie es möglich ist …“ Ratlos zog Miri die Schultern hoch. „Ich<br />

würde gerne wissen, wie das alles hier geht. Ich meine …“ Sie<br />

schüttelte den Kopf. „Ist das jetzt ein technischer Trick, den ich noch<br />

nicht kenne oder …“. Sie beendete auch diesen Satz nicht. Es kam ihr<br />

unpassend vor, in Gegenwart dieser pragmatischen Frau <strong>von</strong> Magie<br />

zu sprechen.<br />

<strong>Die</strong> Wächterin musterte Miri schweigend. Dann nickte sie. „Meine<br />

Schwestern sagen, dass du aus Bens Welt kommst. Der hat auch <strong>von</strong><br />

einer Prüfung geredet. Am Ende hat er es doch vermasselt.“<br />

„Ben?“ Miri blickte die Frau mit großen Augen an. Es konnte doch<br />

kein Zufall sein, dass der andere Prüfling denselben Namen trug wie<br />

114


der Leiter der Wildniskuppel. „Mein Ausbilder heißt Ben. Er hat <strong>von</strong><br />

einem Schwert erzählt aber ich hätte nicht geglaubt …“<br />

„Dass diese Geschichte wahr ist?“, beendete die Wächterin Miris<br />

Satz. „Ben war kurz nach dem Tod unseres Königs hier. Da dieser<br />

keinen Erben hinterlassen hatte, gab es Streit um die Nachfolge.<br />

Ausgerechnet einem Fremden, der mit unserer Welt gar nichts zu<br />

schaffen haben wollte, zeigte sich das Schwert des Lichts. Ben hätte<br />

nur zugreifen müssen.“ Mit einem kummervollen Seufzen schüttelte<br />

sie den Kopf. „Inzwischen hat sich die dunkle Königin auf dem Thron<br />

breitgemacht, und es bräuchte eher einen kampf-erprobten Helden<br />

als ein junges Mädchen, um sie und ihre <strong>Die</strong>ner zu vertreiben. Bist du<br />

gekommen, um das Schwert des Lichts zu suchen und die alte Hexe<br />

herauszufordern?“<br />

„Ich, ähm, nein!“ Miri schüttelte den Kopf. „Ich bin hier, um …“. Sie<br />

zog die Schultern hoch. „Eigentlich weiß ich gar nicht, warum ich hier<br />

bin. Ich weiß nicht einmal, wie ich hergekommen bin. Ich wollte zu<br />

meiner Abschlussprüfung in die Wildniskuppel. In der Schleuse war<br />

plötzlich ein Loch im Boden und dann war ich hier.“<br />

„Aber du bist eine Magierin“, stellte die Wächterin mit Nachdruck<br />

fest. „Du könntest diese Hexe herausfordern.“<br />

„Bei uns gibt es keine Magie“, widersprach Miri. „Und ich bin keine<br />

Magierin.“<br />

Sturmtänzer riss den Kopf aus der Krippe und prustete, als hätte er<br />

sich verschluckt. „Du hast meine Knochen wachgesungen und dein<br />

Blut für mich gegeben. Du hast mir eine neue Gestalt geschenkt und<br />

deine Haare für mich geopfert. Wie nennt man die Leute, die so<br />

etwas zustande bringen, in eurer Welt?“<br />

115


„In unserer Welt geht das alles gar nicht“, antwortete Miri achselzuckend.<br />

„Eigentlich geht es auch nicht, durch ein Loch im Boden in<br />

eine andere Welt zu fallen.“<br />

„Meinst du nicht, dass es etwas zu bedeuten hat, wenn es auf einmal<br />

doch geht?“, überlegte die Wächterin. „Vielleicht bist du hier, um<br />

diese alte Hexe endlich zu verjagen.“<br />

„Dann müsste ich zuerst gegen ihren Ritter kämpfen, nicht wahr?“<br />

„Es gibt gefährlichere Gegner“, entgegnete die Wächterin achselzuckend.<br />

„Im Kampf gegen so einen Klotz musst du eigentlich nur in<br />

Bewegung bleiben und darauf achten, dass er dich nicht in eine Ecke<br />

drängt.“<br />

„Ich will nicht kämpfen.“ Miri schüttelte den Kopf. „Gewalt ist keine<br />

Lösung.“<br />

„Wer sagt das?“, wollte die Wächterin wissen.<br />

„Das sagt …“ Miri musste einen Moment nachdenken. „Alle sagen<br />

das“, stellte sie schließlich fest. „Früher haben die Menschen dauernd<br />

gegeneinander gekämpft. Gegen die Natur haben sie auch gekämpft<br />

und deshalb wurde unsere Zivilisation beinahe vernichtet. Wir<br />

können nur überleben, wenn wir auf Gewalt und Ausbeutung<br />

verzichten.“<br />

„Ah, ja.“ <strong>Die</strong> Wächterin sah nicht so aus, als wäre es Miri gelungen,<br />

sie zu überzeugen. „In diesem Fall ist es wohl am besten, wenn wir<br />

dich in deine Welt zurückschaffen, bevor dich die dunkle Königin<br />

erwischt.“<br />

„Oh ja, bitte.“<br />

„Du musst nur durch ein offenes Tor spazieren, die Durchgänge<br />

öffnen sich immer bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Da die<br />

116


Büttel der alten Hexe das Tor auf der Brücke bewachen, solltest du<br />

das im Schloss benutzen.“<br />

„Wenn ich zum Schloss will, muss ich doch auch über die Brücke.“<br />

Miri bezweifelte, dass das eine gute Idee war.<br />

„Es gibt auch einen Weg durch die Schlucht.“<br />

„Mitten in der Nacht.“ Miri seufzte. „Das klingt reichlich halsbrecherisch.“<br />

„Ich könnte dich ein Stück begleiten“, schlug die Wächterin vor, doch<br />

Sturmtänzer schüttelte den Kopf.<br />

„Ich werde Miri zum Schloss bringen“, schnaubte er. „Ich kenne den<br />

Weg.“<br />

Nachdenklich nickte die Wächterin. „Aber denk daran, dass du das<br />

Schloss auf keinen Fall betreten darfst“, ermahnte sie den Hengst.<br />

„Das Schwert des Lichts ist bereits in der Hand dieser alten Hexe.<br />

Wenn sie dich auch noch in ihre Gewalt bringt, gibt es niemand, der<br />

sie noch daran hindern könnte, Tore zu öffnen, die besser geschlossen<br />

bleiben.“<br />

Der Schimmel schnaubte zustimmend.<br />

„Ruht euch noch ein paar Stunden aus“, schlug die Wächterin vor.<br />

„Ich wecke euch, wenn der Mond hoch genug steht, um euch den<br />

Weg zu leuchten.“<br />

117


Vierzehntes Kapitel<br />

Miri wusste nicht, wo sie war, als sie aus dem sonderbaren Traum<br />

allmählich in die Realität zurückkehrte. Das Bett knisterte unter ihren<br />

Bewegungen und roch nach Getreide. Eine Decke lag kratzig und<br />

schwer auf ihrer Wange, jemand rüttelte an ihrer Schulter.<br />

„Aufstehen!“, kommandierte eine Frauenstimme. „Euer Weg ist weit,<br />

und die Nacht dauert nicht ewig.“<br />

Im Schein einer Stalllaterne blickte Miri in ein Gesicht, das ihr<br />

gleichzeitig fremd und sehr vertraut vorkam. <strong>Die</strong> Augen waren <strong>von</strong><br />

feinen Fältchen umkränzt, aber sie hatten dieselbe Farbe wie ihre.<br />

Der linke Mundwinkel zog sich beim Lächeln etwas nach unten und<br />

ein silberdurchwirkter Zopf lag über der linken Schulter der Frau. So<br />

könnte sie in zwanzig Jahren aussehen. Miri tastete nach ihrem Zopf,<br />

um zu prüfen, ob sie ihn neu flechten musste, doch ihre Hand griff ins<br />

Leere. Im Traum hatte sie ihn einem Pferd geschenkt.<br />

„Wo bin ich?“ Wie ein Stehaufmännchen schoss Miri hoch. „Und was<br />

ist passiert?“ Plötzlich fiel ihr ein, dass sie Wildnisassistentin werden<br />

wollte. „Habe ich meine Prüfung bestanden?“<br />

„<strong>Die</strong> schwerste Prüfung liegt noch vor dir.“<br />

<strong>Die</strong> Frau drückte Miri eine hölzerne Schale und einen Löffel in die<br />

Hand.<br />

„Iss, solange es noch warm ist.“<br />

Der Geruch trieb Miri das Wasser im Mund zusammen, vorsichtig<br />

kostete sie den Eintopf. Sellerie, Lauch, Möhren und Kartoffeln,<br />

stellte sie fest, aber die faserig-zähen Streifen konnte sie nicht<br />

identifizieren. „Was ist da drin?“<br />

118


„Gemüse und Lamm“, antwortete die Frau. „Ich vermute allerdings,<br />

dass dieses Lamm schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte. Es ist<br />

immer noch nicht weich. Ich hoffe, man kann es essen.“<br />

„Lamm?“ Entsetzt starrte Miri in die Suppenschale.<br />

„Oder Hammel. Lass es einfach…“<br />

Im hohen Bogen spuckte Miri den Brocken ins Stroh.<br />

„So übel ist es wirklich nicht“, meinte die Frau achselzuckend.<br />

„Aber es ist Fleisch <strong>von</strong> einem echten Tier“, entgegnete Miri. Voller<br />

Ekel schüttelte sie sich.<br />

„Dort wo sie herkommt, werden nur Bakterien gegessen.“ Das Pferd<br />

konnte tatsächlich reden.<br />

„Wir essen keine Bakterien“, erwiderte Miri. „Wir essen Proteine, die<br />

<strong>von</strong> Bakterienkulturen erzeugt werden, anstatt Tiere zu töten. Das ist<br />

nämlich barbarisch.“<br />

„Dann lass das Fleisch übrig.“ Grundsatzerklärungen schienen die<br />

Frau nicht zu beeindrucken.<br />

Nach dem Essen waren Miri und Sturmtänzer aufgebrochen. <strong>Die</strong><br />

Kriegerin hatte sie bis zu dem Pfad begleitet, der in die Schlucht<br />

hinabführte, dann war sie zu ihrer Hütte zurückgekehrt.<br />

In Miris Welt gab es zwischen dem Waldrand und den steinigen<br />

Ausläufern der Hügel einen Graben, der höchstens zwei Meter tief<br />

war. Manchmal wurde er durch optische Tricks und Projektionen in<br />

eine tiefe Schlucht verwandelt, die ein Klient überqueren musste. Auf<br />

den ersten Blick sah dieser Ort der Stelle mit dem Graben zum<br />

119


Verwechseln ähnlich. Allerdings schien es hier tatsächlich eine<br />

Schlucht zu geben, in der sich ein Mensch oder Pferd zu Tode stürzen<br />

konnte. Sturmtänzer und Miri kletterten seit geraumer Zeit über<br />

steinige Wege und Schotterhalden steil bergab.<br />

Der Mond stand direkt über ihnen, als sie den Boden der Schlucht<br />

erreichten. In seinem Licht sah das enge Tal wie verzaubert aus. Der<br />

Bach, der unter einem Felsen hervorquoll, war so klar, dass Miri<br />

zwischen den Steinen Fische erkennen konnte, die reglos in der<br />

Strömung standen. Moosbedeckte Felsen und dicke Farnpolster<br />

luden zur Rast ein, doch Miri wollte lieber gleich weitergehen.<br />

„Ich weiß nicht, wie lange wir noch Licht haben.“ Der Mond hatte den<br />

höchsten Punkt seiner Bahn bereits überschritten. „Der Auf-stieg<br />

wird sowieso kein Zuckerschlecken.“<br />

„Ich will nur ein bisschen grasen“, entgegnete das Pferd. „So etwas<br />

Köstliches ist mir lange nicht mehr vor die Nüstern gekommen und<br />

das Wasser musst du unbedingt probieren.“<br />

Miri schöpfte einen Schluck Wasser. Obwohl der elektro-magnetische<br />

Schutzschild der Wildniskuppel den Bach gereinigt haben musste,<br />

konnte sie sich kaum dazu überwinden, Wasser zu trinken, das über<br />

den offenen Boden geflossen war.<br />

„Na los“, ermunterte sie der Hengst. „Glaubst du, ich wollte dich<br />

vergiften?“<br />

Vorsichtig leckte Miri ein paar Tropfen <strong>von</strong> ihrer Hand. Das Wasser<br />

schmeckte nach Erde und Felsen. Gierig schöpfte sie mehr da<strong>von</strong>, um<br />

den brennenden Durst zu löschen, den sie vorher gar nicht bemerkt<br />

hatte.<br />

„Wir sollten weitergehen“, seufzte sie.<br />

120


Sturmtänzer sah nicht so aus, als hätte er ihr zuhört. Er hatte seine<br />

Nase ins Gras getaucht und rupfte einen Busch nach dem anderen ab.<br />

Miri zupfte einen zarten Halm aus dem Grasbüschel zu ihren Füßen.<br />

Skeptisch schnupperte sie an dem winzigen Tropfen, der sich an dem<br />

Riss bildete. Er roch nach einem Sommertag unter freiem Himmel in<br />

einer Welt, die keinen kranken Boden und keinen giftigen Regen<br />

kannte.<br />

„Wir müssen weiter“, stellte sie fest, doch es klang selbst in ihren<br />

Ohren nicht überzeugend.<br />

„Lass uns warten, bis sich die Wolken verzogen haben“, erwiderte<br />

Sturmtänzer. „Wir brauchen mehr Licht. Sonst ist es in diesem<br />

Steilhang zu gefährlich.“<br />

„Wolken?“ Ungläubig blickte Miri zu dem schmalen Streifen Himmel,<br />

den sie vom Grund der Schlucht sehen konnten. Der Nachtwind<br />

wehte gerade einen Wolkenschleier über die Mond-scheibe und<br />

dann noch einen. Immer dichter drängten sich die Wolkenschafe aus<br />

den Liedern ihrer Kindheit auf der Himmels-weide zusammen. Mit<br />

einem Seufzer der Resignation ließ sie sich auf ein dickes, weiches<br />

Farnpolster fallen.<br />

Schlaf, Kindlein, schlaf, sang der Wind.<br />

Brambabam, brambabam. Miri lauschte dem vertrauten Rhythmus<br />

im Herzschlag der Erde. Eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei,<br />

klackerten die Steine im Bach dazu.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Kraft?“<br />

Miri konnte ihre eigene Stimme im Plätschern des Wassers und im<br />

Wehen des Windes hören. Ein schmerzliches Sehnen zerrte an der<br />

Leichtigkeit ihres Traums.<br />

121


„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Kraft?“,<br />

hörte sie sich singen.<br />

Es ist nicht weiter als eine Armlänge <strong>von</strong> dir entfernt, flüsterte die<br />

Stimme der Hüterin durch ihren Traum. Du musst dich nur danach<br />

ausstrecken. Es ist deine Magie.<br />

„Hör den Trommelruf, hör den Klang. Folg ich dem Zaubersang?<br />

Trommellied, folg ich der Sehnsucht? Hab ich den Mut?“<br />

In ihrem Traum verwandelte sich Miri in eine sternenweiße Stute.<br />

„Ich hab’s geschafft!“ Mit einem triumphierenden Wiehern bäumte<br />

sie sich auf und ihr neuer Körper machte wilde Bocksprünge.<br />

„Hoho“, brummelte es neben ihr. „Immer langsam mit den jungen<br />

Pferden.“ Eine warme Schnauze berührte ihre Schulter und prustete<br />

sachte in ihre Mähne. „Hübsch siehst du aus. Deine Mähne<br />

schimmert wie Silber und dein Schweif … - Woah!“ Sturmtänzer<br />

wieherte tief und kehlig. „Hast du einen schönen Hintern.“ Er legte<br />

seinen Hals leicht über ihren Rücken und zwickte ihr spielerisch in die<br />

Kruppe.<br />

Mit einem erschrockenen Quietschen keilte Miri nach ihm aus, und<br />

als ihre Hufe wieder den Boden berührten, nahm der Pferdeleib ohne<br />

ihr Zutun den Rhythmus der Erdtrommel auf.<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Herbstwind? Ruft sie den Sturm?<br />

Im Takt des magischen Liedes zog sich ihr Körper zusammen wie eine<br />

Feder, ihre Hinterhufe griffen an den Vorderbeinen vorbei und<br />

trommelte den Rhythmus in die Erde: Padab! Dann streckte sich der<br />

Körper wieder, ihre Vorderhufe lösten sich vom Boden und griffen<br />

weit aus, als wollten sie den Wind einfangen. Sie preschte über den<br />

weichen Boden einer Wiese<br />

122


Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Herbstwind? Ruft sie den Sturm?<br />

Brampadab, brampadab. Immer schneller galoppierte Miri durch das<br />

Land ihrer Sehnsucht. <strong>Die</strong> frühlingsgrüne Wiese blieb hinter ihr<br />

zurück. Brampadab. Durch einen feuerfarbenen Herbstwald und über<br />

schneebedeckte Hänge.<br />

Hör den Trommelruf, hör den Klang. Muskel- und Knochensang.<br />

Trommellied, singt in der Seele, braust durch das Blut.<br />

Miri erwachte erst, als ein kalter Wind über ihren Nacken strich. Sie<br />

wollte ihre Decke höher ziehen, aber es gab keine Decke. Ihre Finger<br />

tasteten nicht über ein Laken, sondern über Blätter, die nach<br />

Sommer und Erde dufteten.<br />

„Wo …?“<br />

Feuchtwarmer Atem streifte ihr Ohr. „<strong>Die</strong> Wolken sind weg. Wir<br />

können weiter.“ Ein riesiger Schädel näherte sich ihrem Gesicht.<br />

„Habe ich geschlafen?“ Erschrocken fuhr Miri hoch. „Der Turm! <strong>Die</strong><br />

Kriegerin hat gesagt, dass wir ihn vor Sonnenaufgang erreichen<br />

müssen. Wie sollen wir das schaffen?“<br />

„Du hast nur ein paar Minuten geträumt. Schau doch.“ Er blickte zum<br />

Himmel. „Der Mond steht noch immer über uns, und wenn wir uns<br />

beeilen, sind wir so schnell wie der Wind an deinem Turm. Ich hoffe,<br />

du hast nicht vergessen, wie es geht.“<br />

„Vergessen? Was sollte ich denn vergessen haben.“<br />

„Dass du dich in ein Pferd verwandeln kannst.“<br />

„Ein Pferd?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie soll das denn gehen.“<br />

123


„Wie es geht, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass du es kannst. Du<br />

hast da<strong>von</strong> geträumt.“<br />

„Woher weißt du das?“, wunderte sich Miri.<br />

„Hast du oder hast nicht?“<br />

„Ach, im Traum kann ich alles mögliche“, seufzte Miri. „Aber in<br />

Wirklichkeit …“<br />

„Das kommt auf deine Wirklichkeit an“, widersprach der Hengst.<br />

„Wenn du dir im Traum einen Pferdekörper vorstellen kannst, kannst<br />

du das auch in der Wirklichkeit.“<br />

„Ich kann mir eine ganze Menge vorstellen. Aber…“<br />

„Darum geht es doch.“ Sturmtänzer stampfte auf den Boden. „Was<br />

glaubst du denn, was Magie ist? Hokuspokus? Tränke, Sprüche oder<br />

Zauberstabfuchteleien? Magie ist das, was du dir in einem Traum<br />

ausmalen und mit der Kraft deines Willens wahr machen kannst.“<br />

„Wenn es so einfach wäre …“ Miri blickte zu dem steilen Pfad hinauf.<br />

Sturmtänzer konnte sie unmöglich auf seinem Rücken dort<br />

hinaufschleppen. Wenn sie einen Pferdekörper hätte … - Sie wagte es<br />

nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.<br />

„Und wenn es tatsächlich so einfach wäre?“, brummelte der Hengst.<br />

„Lass es doch auf einem Versuch ankommen.“ Spielerisch schnappte<br />

er nach ihrer Schulter. „Komm, wir laufen um die Wette. Solange du<br />

trübsinnig herumstehst, klappt es bestimmt nicht.“<br />

Miri hatte noch nie mit einem Pferd Nachlaufen gespielt.<br />

„Halt dich in meiner Mähne fest, damit du Schritt halten kannst.“<br />

124


Sie grub ihre Finger tief in die goldenen Strähnen. Sturmtänzers<br />

Begeisterung zog sie einfach mit. Sie fühlte sich beinahe schwere-los,<br />

als sie Seite an Seite über dem Bach setzten.<br />

Brambabam, brambabam. Seine Hufe trommelten das magische Lied<br />

wach. Eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei patschten ihre Füße<br />

neben ihm her.<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Kraft?<br />

Ihr Lachen erinnerte sie an die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit.<br />

Alles war damals möglich gewesen. In der Welt ihrer Kinderträume<br />

gab es keine Grenzen<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Kraft?<br />

Sie rannten schneller und immer schneller.<br />

Hör den Trommelruf, hör den Klang. Folge auf den Zaubersang.<br />

Zauberkind, folg deiner Sehnsucht. Trau deinem Mut.<br />

Ihr Rücken zog sich zusammen wie eine Feder, kräftige Beine schoben<br />

sich tief unter ihren Schwerpunkt, ihre Vorderhufe griffen weit aus<br />

und fanden sicheren Halt in dem brüchigen Gestein. Weiter und<br />

immer weiter. Mühelos trug sie ihr neuer Körper über eine<br />

Geröllhalde zu einem steilen Pfad.<br />

125


Fünfzehntes Kapitel<br />

Sturmtänzer galoppierte voraus und Miri musste sich sputen, um den<br />

Anschluss nicht zu verlieren. Leichtfüßig wie Gämsen er-klommen sie<br />

einen Steilhang, Seite an Seite fegten sie über eine Geröllhalde, und<br />

ihre Hufe schienen den unsicheren Boden kaum zu berühren. Erst als<br />

Miri wieder auf ebener Erde stand, wagte sie es, darüber<br />

nachzudenken, was passiert war.<br />

„Bin ich wirklich …“, stotterte sie.<br />

„Willst du es nicht endlich glauben?“ Sturmtänzer versetzte ihr einen<br />

freundschaftlichen Nasenstüber. „Wir sind oben. Was für Beweise<br />

brauchst du denn noch?“<br />

„Vielleicht muss ich mich nur daran gewöhnen.“ Mit einem verlegenen<br />

Lächeln wollte Miri die Schultern hochziehen, stattdessen<br />

wandte ihr Körper den beweglichen Hals nach hinten und kratzte mit<br />

klappernden Zähnen das Fell auf ihre Kruppe.<br />

„Muss ich jetzt für immer ein Pferd bleiben?“, wollte Miri wissen, und<br />

Sturmtänzer antwortete mit einem Schnauben, das in ihren Ohren<br />

wie ein Seufzen klang.<br />

„Bedauerlicherweise kannst kein Pferd bleiben. Sobald du die Gestalt<br />

fallen lässt, bist du wieder ein Mensch.“<br />

Miri wollte gar nicht wissen, was sie tun musste, um eine Gestalt<br />

fallen zu lassen. Sie hatte keine Lust schon wieder Mensch zu sein.<br />

„Wo müssen wir denn hin?“, fragte sie stattdessen, und ihre Hufe<br />

fingen fast ohne ihr Zutun an, auf der Stelle zu traben.<br />

„Da.“ Sturmtänzer deutete mit dem Kopf zu dem Turm, den Miri auch<br />

aus ihrer Welt kannte. Hier stand er hinter einer Mauer mit hohen<br />

126


Zinnen und Schießscharten. Vielleicht war das Gemäuer einmal eine<br />

stolze Burg gewesen. Jetzt sah es trostlos und ver-lassen aus. Das Tor<br />

war geschlossen, an den Fahnenmasten wehten keine Banner und<br />

aus den Kaminen stieg kein Rauch auf.<br />

„Sieht so aus, als ob niemand zuhause wäre“, stellte Miri fest.<br />

„Vermutlich ist die Hausherrin lieber allein.“ Der Hengst schnaubte<br />

verächtlich. „Ihre <strong>Die</strong>ner und Hausmädchen sind alle weggelaufen.“<br />

„Ich kann nicht einmal einen Wächter sehen.“<br />

„Siehst du hier etwas, das man bewachen müsste?“<br />

Auf den Felsen wuchsen weder Büsche noch Bäume. Vielleicht lag es<br />

am Mondlicht, dass Miri zwischen Staub und Steinen nicht das<br />

kleinste bisschen Grün entdecken konnte.<br />

„Es sieht trostlos aus“, stellt sie fest.<br />

„Früher war es ein grünes Land. Doch mit der dunklen Königin ist ein<br />

Fluch eingezogen.“<br />

„Brrr!“ Miri schüttelte sich. „Was für ein ungemütlicher Ort. Komm,<br />

lass uns erledigen, was getan werden muss, damit wir hier wieder<br />

fortkommen.“<br />

„Wir haben noch Zeit“, brummelte der Hengst. „Kurz vor Sonnenaufgang<br />

wird die dunkle Königin das Schloss verlassen, um rechtzeitig<br />

an der Brücke zu sein. Wenn sie weg ist, gehst du rein,<br />

erkundigst dich nach dieser Magierin, lässt dir das andere Tor zeigen<br />

und gehst in deine Welt zurück.“<br />

„Und was wird aus dir?“, wollte Miri wissen.<br />

127


„Ach …“ Der Hengst scheuerte seine Schnauze am rechten<br />

Vorderbein. „Wenn du wieder zu Hause bist, gehe ich in die Berge<br />

zurück. Da oben wird mich die alte Hexe kaum suchen, und wenn sie<br />

mich sucht, wird sie mich nicht finden.“<br />

„Das will ich nicht“, Miri stampfte mit dem Huf auf die trockene Erde.<br />

„Entweder wir reisen gemeinsam in meine Welt oder wir bleiben<br />

beide hier.“<br />

„Das ist nicht möglich“, schnaubte Sturmtänzer. „Du hast doch<br />

gehört, was die Kriegerin gesagt hat.“<br />

„Sie hat gesagt, dass ich das magische Schwert des Lichts brauche,<br />

um dich in meine Welt mitzunehmen. Und das Schwert ist da drin.“<br />

Miri schnickte mit dem Kopf zu dem düsteren Gemäuer hinüber.<br />

„Vergiss es.“ Der Hengst schüttelte den Kopf. „Es hat die dunkle<br />

Königin viel Mühe gekostet, dieses Schwert in ihre Gewalt zu bringen.<br />

Sie wird es sicher nicht freiwillig herausgeben.“<br />

„Hat sie es immer bei sich?“<br />

„Nein, sie lässt es im Schloss. Ich habe gehört, dass es <strong>von</strong> einem<br />

steinernen Wächter bewacht wird.“<br />

„Meinst du, der ist gefährlicher als dieser schwarze Ritter?“<br />

„Bestimmt. Bisher hat keiner diesen Krieger je gesehen. Oder die, die<br />

ihn gesehen haben, sind nicht zurückgekehrt, um <strong>von</strong> ihm zu<br />

berichten.“<br />

„Hm …“<br />

„Es geht nicht“, wiederholte der Hengst. „Wir machen es so, wie es<br />

die Wächterin gesagt hat. Wenn die alte Hexe das Schloss verlässt,<br />

gehst du hinein, lässt dir das Tor zeigen und ver…“<br />

128


„Wie komme ich ungesehen in das Schloss?“, unterbrach sie ihn.<br />

„Wenn die dunkle Königin weg ist, kannst du ein…“<br />

„Nicht erst, wenn sie weg ist“, schnaubte Miri. „Jetzt.“<br />

„Miri, das ist…“<br />

„… meine Prüfung“, beendete sie den Satz an seiner Stelle.<br />

„Du bist verrückt.“ Der Hengst schüttelte den Kopf, als müsste er eine<br />

Fliege verscheuchen. „Komm. Ich zeig dir, wie es gehen kann.“<br />

Sie verließen die Straße und folgten einem vielfach gewundenen<br />

Pfad, der in die Hügel hinaufführte. Im flotten Galopp ging es über<br />

eine ebene Fläche, die aussah, als wäre sie früher eine Wiese oder<br />

ein Acker gewesen. Jetzt war alles trocken, der Wind hatte jeden<br />

Krümel fruchtbare Erde da<strong>von</strong>getragen und nur die Steine zurückgelassen.<br />

„Hinter dem Schloss gibt es einen Garten“, erklärte Sturmtänzer. „Für<br />

einen Menschen ist die Mauer unüberwindlich, aber in diesem<br />

Körper kannst du einfach darüber springen.“<br />

Als sie einen kleineren Hügel umrundet hatten, erkannte Miri, dass<br />

sie sich dem Schloss <strong>von</strong> hinten näherten.<br />

„Ist das der Garten?“ Auf den ersten Blick sah es aus wie ein weiteres<br />

Schotterfeld, das an drei Seiten <strong>von</strong> einer hüfthohen Mauer<br />

eingefasst war. Erst als sie genauer hinsah, erkannte sie darin größere<br />

Steine, die mit Moos überzogen waren. In ihrem Schatten wuchsen<br />

bleiche Pilze und vor der gegenüberliegenden Mauer standen hohe<br />

Gewächse mit weißen Blüten. Mitten in dem sonderbaren Garten<br />

stand eine Bank und unter einem knorrigen alten Baum gab es einen<br />

129


Brunnen. Vielleicht hatte der Fluch, <strong>von</strong> dem Sturmtänzer<br />

gesprochen hatte, den Baum verdorren lassen. Den fremdartigen<br />

Pflanzen schien er jedenfalls nichts anhaben zu können Sie strotzten<br />

vor Kraft und reckten sich dem Mondlicht entgegen.<br />

„Es ist der Kräutergarten der dunklen Königin“, sagte Sturmtänzer.<br />

„Ich will gar nicht wissen, was sie da alles gepflanzt hat.“<br />

„Ich weiß nicht, ob ich über die Mauer springen kann.“ Miri starrte<br />

mit geblähten Nüstern zu dem Garten hinüber. „Vielleicht sollte ich<br />

besser als Mensch hinüberklettern. <strong>Die</strong> Ranken sehen so aus …“<br />

„<strong>Die</strong>se Mistdinger darfst du auf keinen Fall berühren.“ Der Hengst<br />

zog die Oberlippe hoch, als wäre ihm ein schlechter Geruch in die<br />

Nüstern gestiegen. „Wenn die dich erwischen, kann dich keiner<br />

retten. Sie halten dich fest, überwuchern dich und brechen dir<br />

sämtliche Knochen. Wenn du Glück hast, ersticken sie dich vorher.“<br />

„Oh!“ Unwillkürlich trat Miri einen Schritt zurück. „Und du meinst<br />

wirklich…“<br />

„Nein“, sagte Sturmtänzer, bevor sie den Satz zu Ende bringen<br />

konnte. „Ich meine, dass du warten solltest, bis die Hexe fort ist.“<br />

Miri schnaubte unwirsch. „Weißt du was?“ Sie fixierte die Mauer.<br />

„Ich versuche es einfach. Ich habe in den letzten vierundzwanzig<br />

Stunden schon schwierigere Aufgaben gelöst.“<br />

„Dann los!“<br />

Miri wieherte erschrocken, als ihr der Hengst in die Kruppe biss. Mit<br />

wirbelnden Hufen donnerte sie geradewegs auf die Mauer zu, doch je<br />

näher sie kam, desto höher und klotziger schien das Hindernis vor ihr<br />

aufzuragen.<br />

„Du schaffst das“, wieherte Sturmtänzer, so laut er konnte. „Spring!“<br />

130


Miris Pferdekörper zog sich zusammen und konzentrierte seine ganze<br />

Kraft auf eine winzige Stelle zwischen ihren Hufen. Sie richtete sich<br />

auf, zog ihre Vorderbeine eng an die Brust und schnellte in die Höhe.<br />

Im weiten Bogen flog sie über die Mauer. Erst im letzten Moment<br />

dachte sie daran, dass sie die Vorderbeine ausstrecken musste, um<br />

sicher zu landen. Trockene Erde und Steine spritzten unter ihren<br />

Hufen da<strong>von</strong>, als sie die Hinterbeine untersetzte. Dabei stolperte sie,<br />

und sie wäre wohl gestürzt, wenn nicht der alte Apfelbaum dort<br />

gestanden hätte. Miri griff nach einem der Äste, um sich abfangen<br />

und …<br />

Abfangen? Sie hatte tatsächlich wieder Hände. Sie war wieder ein<br />

Mensch.<br />

Schwer atmend lehnte sich Miri gegen den verdorrten Stamm. Jetzt<br />

musste sie nur noch ins Schloss gelangen, das Zauberschwert finden,<br />

ein Ungeheuer besiegen, die unrechtmäßige Königin zum Teufel<br />

jagen und das Land <strong>von</strong> ihrem Fluch erlösen, bevor alle glücklich und<br />

zufrieden sein würden.<br />

„Und wenn sie nicht gestorben sind …“ Miri kicherte. Was für eine<br />

abgefahrene Geschichte! Es kam ihr schon fast natürlicher vor, an<br />

Magie zu glauben, als über die technischen Tricks nachzudenken, die<br />

ihr das Gefühl gaben, in einem Pferdekörper durch Schluchten und<br />

über Schotterhalden zu galoppieren.<br />

Obwohl der Mond schon so tief stand, dass ein Teil des Gartens im<br />

Schatten der Schlossmauer lag, erkannte Miri eine schmale,<br />

vergitterte Pforte. Vermutlich würde sie durch diese Tür in das<br />

nächtliche Schloss gelangen. Sie wollte schon hinübereilen, als sie ein<br />

metallisches Quietschen hörte. Rasch duckte sich Miri hinter den<br />

Brunnen. Aus ihrem Versteck beobachtete sie, wie die Tür<br />

aufschwang. Jemand betrat den Garten. A die Gestalt den Schatten<br />

131


der Schlossmauer verließ, erkannte Miri, dass es ein Mann war.<br />

Schulterlange, schüttere Haare hingen wirr um seinen Kopf, seine<br />

dünnen Beine steckten in einer zweifarbigen Hose, und ein Hemd mit<br />

132


unten Zipfeln spannte über seinem Bauch. Suchend blickte er sich<br />

um. Er kam ein paar Schritte auf Miri zu, starrte angestrengt über die<br />

Mauer, wandte sich kopfschüttelnd ab und stapfte zu dem toten<br />

Apfelbaum. Ächzend ließ er sich auf die Bank plumpsen, die unter<br />

seinem Gewicht bedrohlich knarrte.„Ich sollte mit dem Trinken<br />

aufhören“, sagte er leise. „Selbst das dünne Bier, das neuerdings auf<br />

dem Gesindetisch steht, bekommt mir nicht mehr.“ Er tätschelte<br />

einen Ast, mit dem sich der Baum auf die Bank zu stützen schien.<br />

„Weißt du, was ich da draußen gesehen habe?“ Er schüttelte noch<br />

einmal den Kopf, als könne er es selbst nicht glauben. „Ein Einhorn.<br />

Ehrlich. Ich hab nicht schlafen können und bin auf der Mauer<br />

spazieren gegangen. Da hab ich es auf dem Hügel stehen sehen.<br />

Zuerst hab ich gedacht, ich hätte mich getäuscht. Wenn der Vollmond<br />

auf die Steine scheint, sehen sie manchmal wie eine feindliche Armee<br />

aus. Warum sollten sie nicht auch einmal wie ein Einhorn aussehen.<br />

Aber dann hat es sich bewegt. Ich habe gesehen, wie es über die<br />

Mauer gesprungen ist. Und jetzt ist es weg.“ Sanft strich er über das<br />

tote Holz. „Nach all den Jahren ist die Hoffnung noch immer nicht<br />

tot.“<br />

Miri kauerte reglos hinter dem Brunnen. Ihr rechter Fuß war<br />

eingeschlafen, aber sie wagte es nicht, ihn zu bewegen. Wenn der<br />

Mann sie entdeckte, würde er sicher Alarm schlagen. Oder er würde<br />

ihr helfen. Sie musste das Risiko eingehen.<br />

„Sie haben sich das nicht eingebildet“, flüsterte Miri aus ihrem<br />

Versteck. „Das war zwar kein Einhorn, sondern nur ein Pferd. Aber es<br />

ist wirklich in den Garten gesprungen.“<br />

Erschrocken fuhr der Mann herum.<br />

„Ich muss aufhören zu trinken“, murmelte er. „Und ich muss mir<br />

abgewöhnen, mit Dingen zu reden, die mir eigentlich nicht antworten<br />

können.“<br />

133


„Es tut mir leid.“ Miri richtete sich langsam auf. „Ich wollte Ihnen<br />

keine Angst einjagen.“<br />

„Wer bist du?“ Der Mann starrte sie ungläubig an. „Und wie bist du<br />

hier hereingekommen?“<br />

„Ich, ähm …“ Miri versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln, aber<br />

es fühlte sich nicht ganz richtig an. „Über die Mauer.“<br />

„Das ist nicht möglich“, antwortete der Mann. Dabei sah er so aus, als<br />

wäre es nur noch eine Frage <strong>von</strong> Sekunden, bevor er die Wachen<br />

rufen würde.<br />

„Ich war das Pferd, das Sie gesehen haben. Ich kann …“, verlegen zog<br />

sie die Schultern hoch. „Na ja, diesmal ist es mir gelungen, aber ich<br />

weiß nicht, ob ich das immer kann.“<br />

„Bist du eine Magierin?“, wollte der Mann wissen.<br />

„Ich weiß nicht. Dort, wo ich herkomme, ist das alles anders.“<br />

„Bist du hier, um die dunkle Königin herauszufordern?“<br />

„Sie will meinen Freund einfangen. Eigentlich ist er nur ein Pferd,<br />

aber er kann reden und ich habe ihm versprochen …“ Sie wusste<br />

beim besten Willen nicht, wie sie erklären sollte, dass sie nur ein<br />

kostbares Schwert stehlen und mit Sturmtänzer in eine Welt fliehen<br />

wollte, in der er vor dem Zugriff der dunklen Königin sicher war. „<strong>Die</strong><br />

Kriegerin sagt, dass es hier eine Magierin gibt, die mir weiterhelfen<br />

kann.“<br />

„Eine Magierin?“ Der Mann schnaufte verächtlich. „Außer den hohen<br />

Herrschaften, meiner Lächerlichkeit und der alten Köchin gibt es hier<br />

niemanden. Angeblich versteht sie etwas <strong>von</strong> den magischen<br />

Künsten, aber das wirkt sich leider nicht auf die Qualität des Essens<br />

und noch viel weniger auf das Bier aus.“<br />

134


„Können Sie mich bitte trotzdem zu ihr führen?“<br />

„Wenn du meinst.“ Er zog die Schultern hoch. „Aber sei leise. Wenn<br />

uns die dunkle Königin erwischt, ist es um dich und vermutlich auch<br />

um mich geschehen.“<br />

135


Sechzehntes Kapitel<br />

Der Mann führte Miri in einen überdachten Gang, der zum Innen-hof<br />

der Burg offen war. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein<br />

zweigeschossiges Wohnhaus, das sich mit der Giebelwand gegen die<br />

Burgmauer lehnte, als wäre es im Lauf der Zeit müde geworden. Der<br />

Turm, den es auch in ihrer Welt gab, schien das Haus <strong>von</strong> der<br />

anderen Seite zu stützen. Von ihrer Warte konnte Miri nicht<br />

erkennen, ob es eine Verbindung zwischen den Gebäuden gab oder<br />

ob sie nur dicht nebeneinanderstanden.<br />

Obwohl Sturmtänzer gesagt hatte, dass die Bediensteten da<strong>von</strong>gelaufen<br />

waren, wunderte sich Miri, dass nicht wenigstens ein<br />

Wächter am Tor oder auf den Zinnen stand.<br />

„Wohnt hier überhaupt noch jemand?“, wollte Miri wissen.<br />

„Pst!“ Beschwörend legte der Mann den Zeigefinger an seine Lippen.<br />

„Sie wohnt ganz allein in diesem Schloss. <strong>Die</strong> Küchenhexe und ich<br />

zählen nicht. Höchstens noch der Ritter. Wenn er da ist, wohnt er<br />

natürlich auch hier.“ Er deutete auf die Gebäude, die wie riesige<br />

Bauklötze in dem mondlosen Hof lagen.<br />

„Sie?“ Miri schüttelte irritiert den Kopf. „Meinen Sie damit die dunkle<br />

Königin?“<br />

„Pst!“ zischte er noch einmal. „Innerhalb dieser Mauern vermeiden<br />

wir es, ihren Namen zu nennen. Es ist nicht klug, ihre Aufmerksamkeit<br />

zu erregen. Komm schnell.“ Der alte Mann hastete da<strong>von</strong>.<br />

Miri wollte ihm folgen, doch als sie aus dem dunklen Kreuzgang in<br />

den Burghof trat, fauchte ein eisiger Windstoß um eine Ecke und<br />

136


jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Erschrocken blieb sie<br />

stehen.<br />

„Mach schon“, flüsterte ihr Führer. „Beeil dich!“ Er wedelte mit den<br />

Armen.<br />

Miri holte noch einmal tief Luft und eilte mit langen Schritten über<br />

den Hof. <strong>Die</strong> Eule, die hoch über der Burg ihre einsamen Kreise zog,<br />

bemerkte sie erst, als sie ihren Schrei hörte. Eine lähmende Kälte<br />

fuhr Miri in die Glieder, ihr Atem stockte und ihr Körper schien sich in<br />

einen Stein zu verwandeln. Mit einer Kraft, die sie dem alten Mann<br />

nicht zugetraut hätte, packte dieser ihr Hand-gelenk und zerrte sie in<br />

den Turm, der in dieser Welt nichts weiter als ein Treppenhaus zu<br />

sein schien. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, konnte<br />

Miri wieder Atem schöpfen.<br />

„Ich hab dir doch gesagt, dass du dich beeilen sollst“, schimpfte der<br />

Mann. „Jetzt weiß sie, dass du da bist.“<br />

Weiter oben hörte Miri eine Tür klappen.<br />

„Schnell.“ Der Mann drängte sie in einen dunklen Gang. „Ganz hinten<br />

geht es hinunter in den Weinkeller. Vielleicht ...“<br />

Energische Schritte näherten sich dem Treppenhaus.<br />

„Zu spät“, zischte der Mann. „Versteck dich da.“ Er schob sie in eine<br />

Nische hinter der Tür und zog einen schweren, staubigen Vor-hang<br />

vor ihrer Nase zu.<br />

„Wo schleichst du mitten in der Nacht herum?“ <strong>Die</strong> eisige Frauenstimme<br />

jagte Miri einen Schauer über den Rücken. „Bist du auf dem<br />

Weg in den Weinkeller?“<br />

„Ich, ähm …“ Der Vorhang beulte sich Miri entgegen, als der Mann<br />

einen Schritt zurückwich. „Ich flehe Euch an, werte Herrin, ver-zeiht<br />

137


einem alten Narren, der des Nachts nur noch wenig Schlaf findet. Ich,<br />

ähm. Ja.“<br />

„Du bist wirklich ein Narr.“ <strong>Die</strong> Frauenstimme lachte freudlos. „Sonst<br />

wüsstest du, dass die Fässer da unten längst leer sind.“<br />

„Wie Ihr befehlt, Herrin.“<br />

<strong>Die</strong> Beule knapp über Miris Knie ließ vermuten, dass sich der Mann<br />

verbeugte.<br />

„Mit wem hast du geschwatzt?“, wollte die dunkle Königin wissen.<br />

„Ich, ähm …“ Der Mann räusperte sich umständlich. „Mit<br />

niemandem. Manchmal rede ich mit mir selbst.“<br />

Schweigen.<br />

„Wie Ihr bereits gesagt habt. Ich bin alt und närrisch.“<br />

„Und wo ist das Mädchen?“<br />

„Welches Mädchen?“, keuchte der Mann.<br />

„Willst du mich für dumm verkaufen?“<br />

Erschrocken trat er noch einen weiteren Schritt zurück und landete<br />

dabei auf Miris Fuß. <strong>Die</strong> musste sich auf die Zunge beißen, um nicht<br />

laut aufzuschreien.<br />

„Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie du in den Garten<br />

gegangen bist“, fuhr die dunkle Königin fort. „Wenig später bist du<br />

zurückgekommen. Du warst nicht allein.“<br />

„Ich, ähm …“, stotterte der Mann. „Es muss an diesem verflixten<br />

Mond liegen. Ich dachte sogar, ich hätte ein Einhorn gesehen.“<br />

138


„Und?“<br />

„Nichts.“<br />

„Wie bedauerlich“, seufzte die dunkle Königin. „Es wäre zu schön<br />

gewesen, wenn wir das Pferd und das Mädchen nicht nur in unseren<br />

Träumen gesehen hätten.“<br />

„Glaubt Ihr, dass das Mädchen, <strong>von</strong> dem Ihr geträumt habt, die Erbin<br />

unseres verstorbenen Herrn und Königs ist?“<br />

„Vielleicht ist sie es. Vielleicht auch nicht“, erwiderte die Frau. „Ich<br />

würde sie so oder so gerne kennenlernen. Immerhin war sie mächtig<br />

genug, das Windpferd wach zu singen und dumm genug, es mir zu<br />

stehlen.“<br />

„Wenn sie der letzte Spross des alten Stammes ist, könnte sie den<br />

Fluch lösen, der auf diesem Land liegt“, überlegte der Narr.<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin lachte grimmig. „Glaubst du denn, sie könnte dem<br />

steinernen Wächter das magische Schwert entreißen? Niemals“,<br />

beantwortete sie ihre Frage selbst. „Aber wenn es mir gelingt, das<br />

Mädchen zu töten, werden sich das Schwert und das Windpferd nicht<br />

länger meinen Wünschen widersetzen. Ihr Tod macht mich zur<br />

rechtmäßigen Herrscherin und gibt mir die Macht, dieses Land <strong>von</strong><br />

dem Fluch zu erlösen.“<br />

Erst als der muffige Geruch des Vorhangs bereits an ihren Gaumen<br />

klebte, merkte Miri, dass sie den Worten der Hexe mit offenem<br />

Mund gelauscht hatte.<br />

„Glaubt Ihr, es könnte jemals wieder so wie früher sein?“<br />

„Oh ja. <strong>Die</strong>ses Land wird wieder erblühen, und die zahllosen Gäste<br />

werden unseren Hof als einen Hort der Kunst und Kultur preisen. <strong>Die</strong><br />

besten Musikanten und Dichter werden ihre Kunst vortragen und du<br />

139


wirst nicht länger in einem zerschlissenen Kittel uralten Possen<br />

hinterherjagen. Dein Narrenkleid wird mit deinen geist-reichen<br />

Scherzen und klugen Pointen um die Wette strahlen.“<br />

„Und das könnte alles durch den Tod eines gewöhnlichen Mädchens<br />

aus einer fremden Welt …“<br />

„Nein, so einfach ist es nicht. Ein hirnloser Akt der Grausamkeit kann<br />

den Fluch nicht lösen. Wir dürfen kein unschuldiges Blut ver-gießen.<br />

Wir müssen sicher sein, dass sie wirklich der letzte Spross des<br />

verdorrten Baumes ist.“<br />

„Und wie können wir uns in dieser Frage Gewissheit verschaffen?“<br />

Ein gallenbitterer Geschmack stieg in Miris Kehle hoch. <strong>Die</strong> alte Hexe<br />

wollte sie ermorden und der Hofnarr würde sie für ein vages<br />

Versprechen verraten. Miri tastete die Wand nach einem Flucht-weg<br />

ab, aber ihre Finger fanden nur einen Haken aus Metall, der vielleicht<br />

den Vorhang zusammenhalten sollte, wenn der Flur ge-lüftet wurde.<br />

Vorsichtig versuchte sie, den Haken zu lockern, er ließ sich tatsächlich<br />

bewegen. Wenn es ihr gelingen würde, dieses Ding aus der Wand zu<br />

drehen, hätte sie eine Waffe. Dann müsste sie nur noch mit lautem<br />

Gebrüll aus ihrem Versteck hervorstürmen und die dunkle Königin als<br />

Geisel nehmen. Niemand würde es wagen, ihr dann noch etwas<br />

zuleide zu tun.<br />

„Ich weiß es nicht“, entgegnete die Hexe mit einem kummervollen<br />

Seufzen. „Hast du sie in der Begleitung des Windpferdes gesehen?<br />

Oder hast du vielleicht sogar gehört, dass sie mit ihm spricht?“<br />

„Nein Herrin. Aber ich habe gesehen, dass sie …“ Der Narr senkte<br />

seine Stimme. Ohne ein Wort zu verstehen, wusste Miri, dass die<br />

beiden einen teuflischen Plan ausheckten. Ihr Herz schlug wie eine<br />

Trommel und hinter dem dicken Vorhang war es plötzlich heiß.<br />

140


„Dann ist sie es bestimmt und sie glaubt tatsächlich ...“ <strong>Die</strong> Hexe<br />

kicherte hämisch.<br />

Miri musste etwas tun. Angreifen oder wegrennen. Jetzt. Sofort. Aber<br />

ihre Beine waren wie gelähmt und ihre Knie so weich wie Pudding.<br />

„Sie ahnt nichts <strong>von</strong> der Gefahr, in der sie schwebt“, entgegnete der<br />

Narr. „Sie vertraut mir vollkommen. Wenn Ihr wollt, kann ich Euch<br />

auf der Stelle zu ihr führen.“<br />

Miri ertappte sich bei den Gedanken, dass sie einfach ohnmächtig<br />

werden wollte. Spätestens dann mussten Ben und Lorenz dieses<br />

verflixte Programm stoppen. Bevor sie die Idee in die Tat um-setzen<br />

konnte, hörte sie, wie sich die Schritte des alten Mannes entfernten.<br />

<strong>Die</strong> Frau folgte ihm.<br />

„Warte“, schallte die Stimme der Frau durch das Treppenhaus. „Hier<br />

muss irgendwo ein magisches Halfter hängen, das selbst das wildeste<br />

Pferd gefügig macht. Wenn ich das finde, wird sie uns weder in dieser<br />

noch in ihrer natürlichen Gestalt Ärger machen. Ah, da.“<br />

Als die Eingangstür hinter der dunklen Königin und ihrem Narren<br />

zuschlug, stolperte Miri hinter dem Vorhang hervor. Fast hätte sie<br />

laut gelacht und einen Freudentanz aufgeführt. Aber dafür war keine<br />

Zeit. Sie musste die Küche finden und die Magierin, die ihr sagen<br />

konnte, wie sie das magische Schwert an sich bringen konnte, das ihr<br />

und Sturmtänzer den Weg in ihre Welt öffnen würde.<br />

141


Siebzehntes Kapitel<br />

Plötzlich öffnete sich direkt neben Miri eine Tür.<br />

„Hier rein“, wisperte eine Frauenstimme. Der Duft <strong>von</strong> ofen-frischem<br />

Brot schwappte Miri entgegen und hinter der stämmigen Gestalt<br />

erkannte sie einen offenen Kamin, in dem noch Feuer brannte.<br />

„Ich muss …“<br />

Bevor Miri ihren Satz beenden konnte, hatte die Frau sie in die Küche<br />

gezogen und die Tür hinter ihr geschlossen.<br />

„<strong>Die</strong> Königin und der Hofnarr…“<br />

„Ich weiß“, unterbrach die Frau ihre Erklärung. „Er hat sie in den<br />

Garten gelockt. Gute Idee. Das verschafft uns immerhin genug Zeit,<br />

damit wir ein sicheres Versteck für dich finden können.“<br />

Miri sah sich ratlos in der Küche um. Der Tisch mit seinen zwei<br />

Bänken, der offene Kamin und die Gestelle mit blank gescheuerten<br />

Töpfen und Pfannen waren ungeeignet, um sie vor den Blicken der<br />

blutrünstigen Hexe zu verbergen. „Hier kann ich mich nirgends verstecken.“<br />

<strong>Die</strong> niedrige Tür neben dem einzigen Fenster führte vermutlich<br />

in eine Vorratskammer, aber auch dort wäre sie nicht lange<br />

sicher. „Können Sie mir zeigen, wie ich in den Keller komme?“<br />

<strong>Die</strong> Frau schüttelte den Kopf. „<strong>Die</strong> Thronräuberin weiß schon, dass<br />

sie betrogen wurde. Sie ist auf dem Weg hierher.“<br />

„Schnell, zeigen Sie mir, wo der Keller ist.“<br />

„Setz dich da hin und sei still. Ich muss einen Moment nachdenken.“<br />

„Aber…“<br />

142


„Still jetzt!“ <strong>Die</strong> Frau mit der fleckigen Schürze über dem form-losen<br />

Kleid strahlte eine Autorität aus, die es unmöglich machte, zu<br />

widersprechen. „Ich muss mich konzentrieren.“<br />

Miri hörte, wie die Eingangstür ins Schloss geschlagen wurde.<br />

„Oh ja, so könnte es gehen.“ <strong>Die</strong> korpulente Frau fixierte Miri mit der<br />

strengen Miene einer Mathelehrerin. „Du kannst dich verwandeln,<br />

nicht wahr?“<br />

„Ich, ähm …“ Ratlos schüttelte Miri den Kopf. „Ich weiß nicht.“<br />

„Schnell: Kannst du dich in ein Tier verwandeln oder kannst du es<br />

nicht?“<br />

„Vorhin war ich ein Pferd. Aber …“<br />

„Gut.“ <strong>Die</strong> Frau nickte zufrieden. „<strong>Die</strong>smal muss es etwas Kleineres<br />

sein. Ein Pferd in der Küche würde auffallen.“<br />

„Ich weiß doch gar nicht, wie …“<br />

„Ich helfe dir dabei. Kannst du dir ein kleines, unauffälliges Tier<br />

vorstellen? Eine Maus.“<br />

Miri nickte. Eine frühere Freundin hatte zwei Mäuse gehabt und die<br />

Mädchen hatten Stunden vor dem Terrarium zugebracht und den<br />

putzigen Tieren beim Scharren, Knabbern, Klettern, Rennen und<br />

Spielen zugesehen. Miri erinnerte sich genau an die riesigen, schwarz<br />

glänzenden Augen und die zuckenden Barthaare. Selbst die<br />

beweglichen Pfötchen, die eine Nuss oder ein Stück Brot blitz-schnell<br />

hin und her drehten, konnte sie vor ihrem geistigen Auge sehen.<br />

Unter dem säuerlichen Brotgeruch erschnupperte Miri etwas Wildes,<br />

Scheues. <strong>Die</strong> Hand der Magierin berührte sie zwischen den<br />

Schulterblättern. Ihr Körper krümmte sich und der hölzerne Tisch<br />

143


wurde immer größer. „Wehr dich nicht dagegen“, raunte ihr die Frau<br />

ins Ohr.<br />

Der Fußboden schien Miri entgegenzustürzen. Mit einer gedankenschnellen<br />

Drehung brachte sie alle vier Pfoten nach unten, eine<br />

geschmeidige Bewegung, die wie eine Welle durch ihren Rücken und<br />

den beweglichen Schwanz rollte, federte sie die Landung ab. Harte<br />

144


Schritte näherten sich der Tür. Miri zuckte erschrocken zusammen,<br />

doch bevor sie sich mit einem gewagten Satz auf das Wandbord mit<br />

den Tellern retten konnte, fühlte sie sich <strong>von</strong> einer festen Hand<br />

gepackt und hochgehoben.<br />

„So geht es auch.“ <strong>Die</strong> Frau setzte Miri auf ihren Schoß und strich ihr<br />

mit gleichmäßigen Bewegungen über Kopf und Rücken. Ein Brummen<br />

wie <strong>von</strong> einem kleinen Motor übertönte alle anderen Geräusche und<br />

Miri stellte verwundert fest, dass es aus ihrer Kehle kam.<br />

Im nächsten Augenblick wurde die Tür so schwungvoll aufgerissen,<br />

dass sie gegen die Wand bollerte.<br />

„Wo ist das Mädchen?“<br />

Aus ihrer Perspektive sah Miri die schlanke, hochgewachsene Frau in<br />

dem engen, weißen Kleid nur bis zur Hüfte. Über dem dünnen Kleid<br />

trug sie einen Mantel in den Farben des Nachthimmels und ihre<br />

Haare, die bis über ihre Taille offen herabhingen, waren so schwarz<br />

wie das Gefieder einer Krähe.<br />

„Welches Mädchen?“ <strong>Die</strong> Neugier in der Stimme der Köchin klang<br />

nicht ganz echt.<br />

„Willst du mich für dumm verkaufen?“<br />

„Das würde ich nie wagen. Wenn ich mich nicht irre, habt ihr ge-rade<br />

mit unserem Hofnarren im Garten nach dem Mädchen gesucht. Habt<br />

ihr sie da draußen nicht gefunden?“<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin schnaubte zornig. „Angeblich ist sie in der Gestalt<br />

einer weißen Stute über die Mauer gesprungen und unter dem<br />

verdorrten, alten Baum wollte sie auf ihn warten. Ich habe sogar das<br />

magische Halfter mit hinausgenommen, um dieses Pferdchen zu<br />

zähmen. Aber als wir in den Garten kamen, war keins mehr da.“<br />

145


„Es wird nie da gewesen sein. Ihr wisst doch, wie sehr dieser alte Narr<br />

dem Alkohol zugetan ist. Wenn dann noch das Mondlicht in den<br />

Garten fällt, sieht er allerhand, was außer ihm keiner sehen kann. Am<br />

nächsten Morgen erzählt er dann die abenteuerlichsten<br />

Geschichten.“<br />

„<strong>Die</strong> meisten Geschichten haben einen wahren Kern.“ Misstrauisch<br />

sah sich die Frau in der Küche um. Dabei streifte ihr Blick die Katze<br />

auf dem Schoß der Köchin. „Was ist das für ein Tier?“ Ihre Augen<br />

funkelten wie die Kohlen im Herdfeuer.<br />

Miri spürte, wie sich die Haare an ihrem Schwanz aufrichteten.<br />

„Eine Katze“, antwortete die andere Frau achselzuckend. „Sie sorgt<br />

dafür, dass die Mäuse in der Küche und der Vorratskammer nicht<br />

überhandnehmen.“<br />

„Und warum sehe ich sie heute zum ersten Mal?“<br />

„Ihr bemüht Euch nur selten zu mir in die Küche herunter“, entgegnete<br />

die Magierin mit der Andeutung einer Verbeugung.<br />

„Wie redest du eigentlich mit mir?“ <strong>Die</strong> schwarze Königin machte<br />

eine Handbewegung als wolle sie eine Fliege verscheuchen. <strong>Die</strong> Geste<br />

verwandelte sich in einen Knall, und plötzlich tropfte Blut auf Miris<br />

Pfote herab. Mit einem erschrockenen Fauchen sprang sie auf den<br />

Boden und in das Fach neben der Feuerstelle, wo das Brennholz<br />

gestapelt war.<br />

„Verzeiht mir, Herrin“, sagte die Frau. „Es wird nicht wieder<br />

vorkommen.“ Eine blutige Schramme zog sich über ihre rechte<br />

Wange.<br />

„Ich habe keine Zeit, noch länger Gespenster zu jagen“, entgegnete<br />

die Dame kühl. „Ich werde morgen früh vor Sonnenaufgang an der<br />

146


Brücke erwartet. Vielleicht sollte ich dich sicherheitshalber zu dem<br />

Narren ins Verlies sperren, damit keiner <strong>von</strong> euch auf dumme<br />

Gedanken kommt.“<br />

Miri machte sich ganz klein, damit die dunkle Königin nicht auf die<br />

Idee kommen sollte, sie auch mit einzusperren. Aber die schien es<br />

sich sowieso schon anders überlegt zu haben und rauschte hinaus.<br />

Mit einem ohrenbetäubenden Knall fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.<br />

„Alte Hexe“, zischte die Köchin. Sie spuckte in ihre Hand und wischte<br />

über die Schramme. Unter dem Blut war ihre Haut unversehrt. „Was<br />

du kannst, kann ich schon lange.“<br />

Miris Körper wollte sich wieder aufrichten. Hastig kletterte sie aus<br />

dem Holzfach, bevor er seine gewohnte Gestalt und seine normale<br />

Größe annehmen konnte.<br />

„Wie haben Sie das gemacht?“ Miri klopfte sich den Staub und die<br />

Holzspäne <strong>von</strong> den Hosen.<br />

„Ich?“ Lachend schüttelte die Magierin den Kopf. „Ich habe nichts<br />

gemacht. Ich habe dir nur meine Kraft geliehen. Verwandlungen sind<br />

anstrengend.“<br />

„Ich meine den Kratzer in Ihrem Gesicht?“<br />

„Bei so einer Schramme ist Hexenspeichel die beste Medizin.“<br />

<strong>Die</strong>ses Thema wollte Miri lieber nicht vertiefen. „Meinen Sie, die<br />

dunkle Königin hat den alten Mann tatsächlich eingesperrt?“, erkundigte<br />

sie sich stattdessen.<br />

„Willst du nachsehen?“ <strong>Die</strong> Augen in dem runden Gesicht blitzten<br />

vergnügt. „Ich kann dir erklären, wo das Verlies ist, und wo dieses<br />

Weib den Schlüssel aufbewahrt. Du wartest, bis sie ins Bett ge-<br />

147


gangen ist, schleichst in ihr Schlafzimmer, holst den Schlüssel und<br />

lässt den Narren frei. Das wäre eine wunderbare Geschichte.“<br />

Verwirrt schüttelte Miri den Kopf. „Dazu bin ich aber nicht hergekommen.“<br />

„Und warum bist du hier?“<br />

„<strong>Die</strong> Kriegerin hat mich geschickt“, erinnerte sich Miri. „Ich soll Sie<br />

nach dem zweiten Tor zu meiner Welt und nach dem magischen<br />

Schwert fragen.“<br />

<strong>Die</strong> Magierin legte ihre Stirn in skeptische Falten. „Hat sie das wirklich<br />

gesagt?“<br />

„Fast“, Miri lächelte entschuldigend. „Sie hat gesagt, dass Sie mir<br />

zeigen können, wo das Tor ist, durch das ich in meine Welt zurückkehren<br />

kann. Wenn Sie mir außerdem noch helfen, das leuchtende<br />

Schwert zu finden, kann ich Sturmtänzer mitnehmen.“<br />

„Du willst die dunkle Königin herausfordern?“ <strong>Die</strong> Frau starrte sie<br />

fassungslos an.<br />

„Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.“ Mit einem verlegenen Lachen<br />

zog Miri die Schultern hoch. „Ich habe gehört, dass das Schwert hier<br />

im Schloss versteckt ist. Vielleicht könnte ich es …“<br />

„Stehlen?“, beendete die Magierin den Satz an ihrer Stelle.<br />

Miri spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Ich, ähm … - Ich<br />

kann Sturmtänzer nur mit in meine Welt nehmen, wenn ich das<br />

Schwert habe. Wenn ich ihn hierlasse, fängt ihn die dunkle Königin,<br />

und wenn sie zu ihrem magischen Schwert noch ein magisches Pferd<br />

hat, kann sie <strong>von</strong> einer Welt in die andere reisen.“<br />

148


„Das Schwert des Lichts und das Windpferd sind mächtige<br />

Verbündete. Glaubst du, dass du mit dieser Macht verantwortungsvoller<br />

umgehen würdest als die dunkle Königin?“<br />

Miri schnaubte empört. „Zwischen mir und ihr gibt es hoffentlich<br />

Unterschiede.“<br />

„Als sie zum ersten Mal hier herkam, war sie dir sehr ähnlich.“ <strong>Die</strong><br />

Magierin musterte Miri nachdenklich. „Aber das ist lange her und du<br />

bist ja nicht hier, um dir <strong>von</strong> einer alten Frau alte Geschichten<br />

erzählen zu lassen. Wenn ich dir helfen soll, musst du mir beweisen,<br />

dass du meiner Hilfe würdig bist.“<br />

„Wie soll ich Ihnen das beweisen?“, fragte Miri ungeduldig.<br />

„Hast du die Kraft, den verdorrten Baum zu neuem Leben zu erwecken?“<br />

<strong>Die</strong> Magierin stand auf und ging zum Kamin. „Da!“ Sie<br />

streckte Miri einen dürren Zweig entgegen.<br />

„Was soll ich denn damit?“<br />

„Er stammt <strong>von</strong> dem Apfelbaum im Garten. Wer diesen Zweig zum<br />

Blühen bringt, kann auch den Fluch lösen, der auf dem Land lastet.“<br />

Miri hatte keine Ahnung, wie sie einen Zweig erblühen lassen sollte,<br />

dessen Knospen schon lange verdorrt waren. Selbst die Rinde fühlte<br />

sich trocken und leblos an. Wenn sie wirklich eine Magierin wäre,<br />

müsste sie sich einfach nur vorstellen, wie das tote Holz <strong>von</strong> neuem<br />

Leben durchströmt wurde. Der Duft des Frühlings würde plötzlich<br />

durch die Küche wehen und das Unmögliche wahr werden. Während<br />

sie den Zweig in ihren Fingern hin und her drehte, füllten sich die<br />

harten Knospen mit neuer Hoffnung. Winzige Harztropfen quollen<br />

zwischen den Schuppen hervor und die Spitzen färbten sich grün.<br />

Miri gab den Zweig zurück, als sich die erste Blüte öffnete.<br />

149


„Du bist so schön.“ Zärtlich liebkoste die Frau die durchscheinen-den<br />

Blütenblätter. „Du bist ein Versprechen, das sich vielleicht nie erfüllt.<br />

Aber der Anfang ist gemacht und die meisten Wunder sind am<br />

Anfang so klein, dass man sie fast übersieht.“ Verstohlen wischte die<br />

Magierin eine Träne fort, sie räusperte sich und wandte sich wieder<br />

Miri zu. „Ich weiß nicht viel über das Schwert. Aber ich kann dir den<br />

Weg zum Turm der weisen Alten zeigen. Wenn sie dir nicht raten<br />

kann, gibt es in dieser Welt keinen Rat für dich.“<br />

150


Achtzehntes Kapitel<br />

Miri hatte die Stufen nicht mitgezählt. Erst als sie merkte, dass sie mit<br />

bleischweren Füßen die Wendeltreppe hinaufkeuchte, fiel ihr auf,<br />

dass sie längst oben sein müsste. Das Wohnhaus war zwei oder drei<br />

Stockwerke hoch und der Turm ein oder zwei Etagen höher. Wenn sie<br />

in ihrer Schule die fünf Stockwerke bis zum Physiksaal hinaufrannte,<br />

war sie nie so außer Atem wie jetzt.<br />

Mit puddingweichen Knien blieb sie stehen. Seit sie durch das Loch<br />

im Boden in diese sonderbare Welt gefallen war, fühlte sich Miri zum<br />

ersten Mal völlig ratlos. Es ging weder vorwärts noch zurück, und es<br />

war niemand da, den sie fragen konnte. Am liebsten hätte sie sich auf<br />

die kalten Stufen gehockt und geheult. Stattdessen ballte sie ihre<br />

Hand zur Faust und versetzte der Wand einen Hieb.<br />

„Ach, pienz dich doch ins Koma!“ Ihre Stimme hallte wie in einem<br />

Brunnenschacht. „Solange du genug Luft hast, um rumzuflennen,<br />

hast du auch genügend Luft zum Weiterlaufen. Los jetzt!“ Mit zusammengebissenen<br />

Zähnen stapfte sie weiter.<br />

„Bald bin ich oben“, sprach sie sich keuchend Mut zu. Angestrengt<br />

starrte sie auf die nächste Stufe. „Ich kann nämlich zaubern und ich<br />

weiß, dass es nur noch zwölf Schritte sind. Elf, zehn, neun …“<br />

Obwohl Miri jede Stufe mitgezählt hatte, wäre sie fast gegen die Tür<br />

gelaufen, die ihr den Weg versperrte. Das Holz war so dunkel, dass es<br />

beinahe schwarz aussah, den steinernen Türrahmen ver-zierte ein<br />

Band aus verschlungen Zeichen, und es gab keine Klinke. Sie hob die<br />

Hand und wollte klopfen. Doch bevor sie das Türblatt berührte, hielt<br />

sie erschrocken inne. Das Holz hatte sich vor ihren Augen bewegt.<br />

Nicht wie ein Vorhang, der im Wind wehte, oder eine schlechte<br />

Holografie. Es kräuselte sich wie die Oberfläche eines Sees oder die<br />

151


Haut eines Tieres, das vor einer Berührung zurückschreckte. Verwirrt<br />

schüttelte Miri den Kopf. Vielleicht war es nur ein Schatten gewesen.<br />

Sie hob die Hand, diesmal sah sie ge-nau hin. Tatsächlich! <strong>Die</strong> feinen<br />

schwarzen Linien der Maserung zogen sich dichter zusammen. und<br />

die helleren Spiegel dazwischen blitzten kurz auf, als sich die hölzerne<br />

Oberfläche kräuselte. Was für eine abgefahrene Geschichte! Statt<br />

ihrer Seminarunterlagen hätte sie lieber Märchenbücher lesen sollen,<br />

um sich auf die Prüfung vorzubereiten. Vielleicht hätte sie dort einen<br />

Hinweis gefunden, wie sie sich einer lebendigen Tür zu erkennen<br />

geben musste. Miri strich mit einem Finger behutsam über das Holz.<br />

Es war warm und gab unter dem leichten Druck nach. Wie Haut, die<br />

gleichzeitig fest und nachgiebig war, zitterte es unter ihrer Berührung.<br />

Vielleicht war die Tür kitzlig. Mit sanftem Druck legte Miri<br />

ihre Handfläche auf das Türblatt, das Zittern hörte auf.<br />

„Ich bin Miriel“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich habe mich verlaufen<br />

und suche jemanden, der mir den Heimweg zeigen kann.“<br />

Nichts rührte sich.<br />

„Ich brauche Hilfe. Bitte. Ich suche ein magisches Schwert, um<br />

Sturmtänzer vor der dunklen Königin in Sicherheit zu bringen. <strong>Die</strong><br />

Magierin sagt, dass ich hier oben eine weise alte Frau finde, die mir<br />

verraten kann, wo ich dieses verflixte Schwert finde.“<br />

Keine Reaktion.<br />

„Eigentlich ist das nur meine Abschlussprüfung“, versuchte sie es<br />

noch einmal. „Aber die Hexe da unten will mich umbringen, und ich<br />

will nicht sterben. Selbst wenn es nur in einer Geschichte ist.“<br />

<strong>Die</strong> Tür rührte sich nicht.<br />

„Bitte.“ Tränen überfluteten die Staumauer ihrer Selbstbeherrschung.<br />

„Lass mich doch bitte ein.“<br />

152


Lautlos schwang die Tür zurück und gab den Blick in ein sonnendurchflutetes<br />

Zimmer frei. Nach dem Halbdunkel im Treppenhaus<br />

war Miri beinahe blind und stand wie erstarrt auf der Schwelle.<br />

„Hallo Miri. Schön, dass du endlich da bist.“ <strong>Die</strong> Stimme aus dem<br />

Zentrum des Lichts klang weder jung noch alt und erinnerte Miri an<br />

eine Geborgenheit, die sie nie erlebt hatte. „Komm und setzt dich zu<br />

mir. Ich habe lange auf dich gewartet.“<br />

„Wer sind Sie?“ Als sich Miris Augen an die Helligkeit gewöhnt<br />

hatten, erkannte sie die Umrisse eines Sessels vor einem hohen<br />

Fenster. Eine Frau in einem schmucklosen, grauen Kleid saß darin.<br />

„Ich habe so viele Namen, dass es auf einen mehr nicht ankommt.<br />

Wie möchtest du mich denn nennen?“ Im gleißenden Licht konnte<br />

Miri das gütige Lächeln in dem runzligen Gesicht nur erahnen.<br />

„Großmutter“, platzte es aus Miri heraus. Als Kind hatte sie sich eine<br />

Großmutter gewünscht, die mehr Zeit mit ihr verbrachte, als die<br />

reiselustige Mutter ihrer Mutter. <strong>Die</strong> Umrisse des Sessels verschwammen<br />

im Licht eines Regenbogens, als Miri die Tränen fortblinzelte.<br />

„Einverstanden. Das ist ein guter Name. Dann bin ich jetzt deine<br />

Großmutter.“<br />

Eine Wolke verdunkelte die Sonne, und jetzt konnte Miri die Frau in<br />

dem Ohrenbackensessel genau erkennen. Ihre weißen Haare waren<br />

zu einem Knoten geschlungen, und die Falten rings um die<br />

hellwachen Augen erinnerten Miri an einen Winterapfel.<br />

„Darf ich dich etwas fragen, Großmutter?“<br />

„Dazu bist du doch hergekommen.“<br />

153


„Ja schon, aber …“ Miri knabberte an der Unterlippe. Sie durfte nicht<br />

vergessen, dass auch die Märchengroßmutter zu ihrer Prüfung<br />

gehörte. „Wie viele Fragen habe ich überhaupt?“<br />

„Ist das ein Rätsel?“ <strong>Die</strong> alte Frau kicherte vergnügt. „Nach allem, was<br />

dir schon begegnet ist, vermute ich, dass du mehr Fragen als Haare<br />

auf dem Kopf hast.“<br />

Verlegen tastete Miri nach den spärlichen Resten des Zopfes.<br />

„Welche ist denn deine wichtigste Frage?“, erkundigte sich die<br />

Großmutter.<br />

„Wie komme ich wieder in meine Welt zurück?“<br />

„Das ist ganz einfach. Du musst nur warten, bis sich das magische Tor<br />

zwischen dem alten Apfelbaum und dem Brunnen öffnet. Wenn du es<br />

im Augenblick des Sonnenaufgangs durchschreitest, kommst du<br />

sofort nach Hause.“<br />

„Aber ich will Sturmtänzer mitnehmen.“<br />

„Das Windpferd ist ein Geschöpf dieser Welt. Du kannst ihn nicht<br />

einfach mitnehmen.“<br />

„Er ist mein Freund und er fürchtet sich vor der dunklen Königin.“<br />

„Er hat schon hier gelebt, bevor diese Mauern errichtet wurden. Er ist<br />

der Sohn der Erde und des Windes. Niemand kann ihn halten, wenn<br />

er nicht bleiben will, und niemand könnte ihm je seinen Willen<br />

aufzwingen. Ich bin sicher, er kann sehr gut auf sich selbst aufpassen.“<br />

„Hm …“ <strong>Die</strong> Antwort gefiel Miri nicht. In ihren Träumen hatte sie am<br />

liebsten auf dem Rücken eines Pferdes die unberührte Natur eines<br />

fernen, fremden Landes durchstreift. Inzwischen hatte sie sich damit<br />

154


abgefunden, dass es in ihrer Welt keine Pferde gab, aber jetzt, wo sie<br />

Sturmtänzer kennengelernt hatte, wollte sie ihn nicht mehr<br />

hergeben.<br />

„Kann ich dann einfach hierbleiben“, überlegte sie laut.<br />

„Nein.“ <strong>Die</strong> Großmutter schüttelte entschieden den Kopf. „Du kannst<br />

kommen und dich <strong>von</strong> der Mühe des Lebens erholen oder deine<br />

Freunde besuchen. Du findest hier in schwierigen Zeiten Rat oder<br />

Inspiration, um eine große Herausforderung zu bestehen. Aber dein<br />

Leben findet in deiner Welt statt. Zu uns kannst du nur zurückkehren,<br />

wenn du uns vorher verlässt.“<br />

„Hm …“ <strong>Die</strong>se Antwort gefiel Miri auch nicht besser, aber sie ahnte,<br />

dass die alte Frau Recht hatte. Um nicht weiter darüber nachdenken<br />

zu müssen, wechselte sie das Thema. „<strong>Die</strong> Kriegerin hat gesagt, dass<br />

es hier ein Zauberschwert gibt, das die Macht hat, Sturmtänzer in<br />

meine Welt zu bringen. Und die Magierin hat ge-sagt, dass du mir<br />

verraten kannst, wo ich dieses Schwert finde.“<br />

„Ach Miri“, seufzte die Großmutter. „<strong>Die</strong>ses Schwert ist sehr mächtig.<br />

Wer über seine Magie und über die Schnelligkeit des Windpferdes<br />

gebietet, kann alle Pforten öffnen, die die Welten <strong>von</strong>einander<br />

trennen. Es wäre aber erheblich klüger, wenn diese magischen Tore<br />

verschlossen blieben.“<br />

„Und wenn ich verspreche, dass ich das Schwert nur dieses eine Mal<br />

benutze, um Sturmtänzer und mich vor der dunklen Königin in<br />

Sicherheit zu bringen.“<br />

„Dann würde ich dich fragen, woher du weißt, dass er in deiner Welt<br />

sicher ist.“<br />

Miri zog die Schultern hoch. „Ich glaube nicht, dass sie uns folgen<br />

kann. Wenn diese garstige Hexe das Windpferd nicht bräuchte, um in<br />

155


eine andere Welt zu kommen, wäre sie doch nicht hinter ihm her wie<br />

der Teufel hinter einer armen Seele.“<br />

<strong>Die</strong> Großmutter lachte, dass ihr Tränen über die Wangen rollten. „Es<br />

ist nett, mit dir zu plaudern, aber wir sollten dabei nicht die Zeit aus<br />

den Augen verlieren. Wenn die Sonne am Himmel steht, kannst du<br />

diese Welt weder allein noch mit deinem vierbeinigen Freund<br />

verlassen.“<br />

„Wo finde ich das magische Schwert?“, wollte Miri wissen.<br />

„Willst du es wirklich riskieren?“<br />

Miri nickte entschlossen.<br />

„Selbst wenn ich dir sage, dass es gefährlich ist, soviel Macht in den<br />

Händen zu halten?“<br />

„Ich werde kein dummes Zeug damit machen“, versprach Miri.<br />

„Ich weiß, dass du das Schwert des Lichts niemals zwingen wirst,<br />

deinem Ehrgeiz oder Stolz zu dienen.“ <strong>Die</strong> alte Frau seufzte. „Aber<br />

was wirst du tun, wenn denen, die dir lieb und teuer sind, Gefahr<br />

droht?“<br />

„Was meinst du damit?“ Ungeduldig schüttelte Miri den Kopf. „Wenn<br />

du willst, schwöre ich dir bei meiner Se…“<br />

„Nein!“ Mit einer herrischen Geste unterbrach die Großmutter Miris<br />

Rede. „Du darfst keinen Eid leisten, den du ohnehin brechen musst,<br />

wenn die Zeit dazu gekommen ist. Egal, welchen Weg du wählst, du<br />

gehst mit meinem Segen. Wenn sich das Schwert des Lichts <strong>von</strong> dir<br />

finden lässt, wird es dir auch sagen, was zu tun ist. Und wenn du<br />

genau hinhörst …“<br />

156


„Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich diesmal ganz genau<br />

zuhören werde.“<br />

„Es steht unter den Schutz eines mächtigen Wesens. Sobald du<br />

danach greifst, fällst du unter ein Gesetz, das älter ist als die<br />

Erinnerungen der Menschheit.“<br />

„Was für ein Gesetz ist das?“ Ungeduldig trat Miri <strong>von</strong> einem Fuß auf<br />

den anderen.<br />

„Wer zur Waffe greift, muss bereit sein, zu töten oder zu sterben.“<br />

„Na ja …“ Miri versuchte es mit einem zuversichtlichen Lächeln, aber<br />

sie war nicht sicher, ob es einigermaßen glaubwürdig ausfiel. „Ich<br />

hoffe, es wird nicht ganz so dramatisch.“<br />

<strong>Die</strong> Großmutter betrachtete sie lange. „Geh den Weg zurück, den du<br />

gekommen bist“, sagte sie. „Auf der einhundertvierundvierzig-sten<br />

Stufe befindet sich eine Tür, die sich öffnet, wenn du dich als Freund<br />

zu erkennen gibst und das Losungswort in der Sprache des schönen<br />

Volkes aussprichst. <strong>Die</strong> Tür führt dich an den Gemächern der dunklen<br />

Königin vorbei in den Thronsaal, wo das Schwert aufbe-wahrt wird.“<br />

„Danke, Großmutter.“ Miri wirbelte herum und war schon fast an der<br />

Tür, als sie noch einmal innehielt. „Leb wohl“, sagte sie feier-lich.<br />

„Wenn ich jemals hierher zurückfinde, erzähle ich dir, wie die<br />

Geschichte ausgegangen ist.“<br />

„Ach Miri.“ Schmunzelnd schüttelte die alte Frau den Kopf. „Geh und<br />

mach das Beste aus deiner Geschichte. Du bist jung und du denkst<br />

vermutlich erst wieder an mich, wenn du das nächste Mal meinst,<br />

dass es weder vorwärts noch zurückgeht.“<br />

„Versprochen, ich komme bestimmt gelegentlich wieder vorbei.“<br />

157


Lächelnd wiegte die Großmutter ihren Kopf hin und her. „Vergiss<br />

nicht, dass Helden nicht immer nur mutig, sondern manchmal auch<br />

klug handeln müssen, um siegreich aus einer Prüfung hervorzugehen.“<br />

158


Neunzehntes Kapitel<br />

„Hundertachtunddreißig, hundertneununddreißig …“ Miri zählte ihre<br />

Schritte gewissenhaft. „Hundertdreiundvierzig, hundertvierundvierzig.“<br />

Jetzt musste sie nur noch das richtige Wort aussprechen, um<br />

die magische Tür erscheinen zu lassen.<br />

„Ich muss mich als Freund zu erkennen geben und das Losungswort<br />

in der Sprache des schönen Volkes sagen“, murmelte sie. „Das<br />

schöne Volk sind die Elben und ihre Sprache ist Sindarin.“ Miri kannte<br />

die Bücher über den Ringkrieg. <strong>Die</strong> Geschichte hatte ihr so gut<br />

gefallen, dass sie sogar versucht hatte, die Elbensprache zu lernen.<br />

Nach den ersten Lektionen hatte sie das schwierige Unter-fangen<br />

jedoch wieder aufgegeben, und jetzt erinnerte sie sich nur noch an<br />

eine Handvoll Wörter.<br />

„Ein Rätsel“, erinnerte sie sich plötzlich. An der Pforte <strong>von</strong> Moria<br />

musste der Zauberer nur das elbische Wort für „Freund“ aussprechen,<br />

um das magische Tor zu öffnen. „Es ist Mellon. Mellon<br />

bedeutet ‚Freund‘.“<br />

Miri trat einen Schritt zurück und betrachtete die Wand. „Mellon“,<br />

sagte sie leise und dann noch einmal laut und gebieterisch: „Mellon!“<br />

Zuerst geschah nichts. Dann kam es ihr plötzlich so vor, als würde der<br />

Kalkputz schmelzen wie Zuckerguss. <strong>Die</strong> Steine, aus denen der Turm<br />

erbaut war, wurden sichtbar und durch die Fugen schien das Licht<br />

einer Kerze oder Fackel in das dämmrige Treppenhaus.<br />

„Mellon. Mellon!“ Miri wiederholte das Wort so oft, bis sie den Raum<br />

mit dem steinernen Sitz und den brennenden Fackeln völlig klar<br />

sehen konnte.<br />

159


„Mellon", flüsterte Miri noch einmal. Dann holte sie tief Luft, schloss<br />

die Augen und trat mit zwei raschen Schritten durch die Wand. Sie<br />

hatte es tatsächlich geschafft! Vor Begeisterung wäre ihr fast ein<br />

Jauchzer entschlüpft, aber in Gedanken rief sie sich energisch zur<br />

Ordnung.<br />

„Wenn du das Schwert hast, kannst du immer noch den Sekt<br />

kaltstellen“, murmelte sie.<br />

„Du erstaunst mich immer wieder.“<br />

Miri wirbelte erschrocken herum.<br />

Ein Schatten tauchte aus der Türnische auf und verwandelte sich in<br />

die hochgewachsene Frau mit den langen, schwarzen Haaren. „Du<br />

hast den Weg in die Turmstube gefunden und der weisen Alten das<br />

Geheimnis dieses Raums entlockt. Respekt.“ Mit einem schmalen<br />

Lächeln hob die dunkle Königin die Hände zum Applaus. „Jetzt bist du<br />

zurückgekommen und willst mich bestehlen. Passt das zu deinem Bild<br />

einer edlen Heldin?“<br />

Miri sah sich nach einem Fluchtweg um. Wo sie eben durch die magische<br />

Öffnung gegangen war, stand sie jetzt vor einer massiven,<br />

steinernen Wand. Links <strong>von</strong> ihr war die zweiflügelige Tür, wo die<br />

dunkle Königin auf sie gewartet hatte. Auf der anderen Seite erkannte<br />

sie zwei Fenster, einen Thron und eine Statue, die im<br />

flackernden Licht der Fackeln beinahe lebendig aussah. Sie war<br />

größer und breiter als ein gewöhnlicher Mensch. Ihre Beine waren<br />

gekrümmt als hätten sie Mühe, den massigen Rumpf zu tragen und<br />

die Arme hingen fast bis zum Boden herab. Das Profil mit der flachen<br />

Nase und dem gewaltigen Kiefer sah einem Affen ähnlicher als einem<br />

Menschen. In der linken Hand hielt die Statue eine Keule, mit der<br />

rechten umfasste sie eine Schwertklinge. Der schwarz umwickelte<br />

Griff ragte aus der gewaltigen Hand hervor.<br />

160


„Würdest du mir glauben, dass ich genau wie du eine Gefangene<br />

dieser Geschichte bin?“ In der Stimme der dunklen Königin schwang<br />

eine Traurigkeit mit, die Miri aufhorchen ließ. „Ich würde nichts<br />

lieber tun, als diesen trostlosen, alten Kasten zu verlassen. Ich sehne<br />

mich wie du oder Sturmtänzer nach einem Leben in Freiheit.“ Sie<br />

senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Wenn wir uns zusammentun,<br />

können wir es schaffen. Du hast Mut, er hat schnelle Beine und ich<br />

weiß, was zu tun ist.“<br />

„Nein.“ Mit der Hexe wollte Miri keine gemeinsame Sache machen.<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin lachte spöttisch. „<strong>Die</strong> anderen haben dich ganz<br />

schön eingewickelt. Nein, ich behaupte nicht, dass sie dich angelogen<br />

haben. Aber sie betrachten die Geschichte nur <strong>von</strong> ihrer Seite<br />

aus. Würdest du mir glauben, dass ich aus derselben Welt komme<br />

wie du?“<br />

Miri starrte sie ungläubig an.<br />

„Ich stamme aus der Zeit vor der globalen Katastrophe, die du den<br />

‚großen Rums‘ nennst. Ich war damals schon eine Magierin, ich<br />

wusste es nur nicht. Genau wie du. Ich dachte, es seien nur Träume,<br />

aber in Wirklichkeit kam ich Nacht für Nacht als Schatten in diese<br />

Welt. Ich durchstreifte die Klippen und Buchten der Knochensängerin,<br />

das fruchtbare Ackerland der Hüterin und die Wälder der<br />

Kriegerin. Als meine Welt in einer Sturmflut unterging, kam ich für<br />

immer hierher. Damals war das Schloss noch ein Hort der Stärke in<br />

einem immergrünen Land. Ich verdingte mich als Küchen-mädchen<br />

und die Köchin erkannte bald, dass ich nicht nur für die<br />

Zuckerbäckerei Talent hatte. Sie hat mich ausgebildet und war wie<br />

eine Mutter für mich. Doch als sich der König in mich verliebte, war<br />

es aus mit unserer Freundschaft. Mit rasender Eifersucht hat sie mich<br />

verfolgt und es würde mich nicht wundern, wenn sie dafür gesorgt<br />

hätte, dass er …“ Mit einem traurigen Seufzen winkte sie ab. „Das ist<br />

161


Schnee <strong>von</strong> gestern. Mit unserem König starb auch sein Land, aber<br />

alle gaben mir die Schuld daran. Zuerst hetzten sie gegen mich, dann<br />

flohen sie, weil sie sich vor mir fürchteten. Nur Tagauge, Nachtauge<br />

und der schwarze Ritter schlugen sich auf meine Seite. Der alte Narr<br />

und die Magierin blieben, um auf den wahren Erben unseres Herrn<br />

und Königs zu warten, der mich vertreiben und den Fluch lösen<br />

würde. Und jetzt …“ Sie breitete die Arme aus, als würde sie ihr<br />

Schicksal zusammen mit dem des ganzen Landes in Miris Händen<br />

legen.<br />

„Ich weiß nicht“, stammelte die. Dann schüttelte sie den Kopf. „Es<br />

fällt mir schwer, Ihre Geschichte zu glauben.“<br />

„Wie ich vermutet hatte“, entgegnete die dunkle Königin mit einem<br />

affektierten Augenaufschlag. „Ich würde gerne den Narren und die<br />

Magierin rufen, damit du sie fragen kannst. <strong>Die</strong>se Küchenhexe biegt<br />

die Tatsachen so lange zurecht, bis sie ihr in den Kram passen. Aber<br />

der Narr sagt üblicherweise die Wahrheit. Leider sind die beiden<br />

spurlos verschwunden und ich habe keine Ahnung, in welchem<br />

Rattenloch sie sich versteckt haben.“<br />

„Ich dachte, sie haben den alten Mann ins Verlies gesperrt?“<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin winkte ab. „Als es offensichtlich wurde, dass seine<br />

Geschichte <strong>von</strong> dem gefangenen Einhorn frei erfunden war, hat er<br />

Fersengeld gegeben. Ich vermute, er hat sich irgendwo im Keller<br />

versteckt und die Küchenhexe wird ihm gefolgt sein. Wenn sie<br />

hungrig sind, kommen sie <strong>von</strong> selbst wieder zurück.“<br />

„Dann sind wir beide hier allein“, stellte Miri erschrocken fest.<br />

„Ganz allein. Niemand würde es wissen, wenn wir die Gelegenheit<br />

beim Schopf greifen und in unsere Welt zurückkehrten. Gemeinsam<br />

finden wir den Weg vielleicht sogar ohne die Hilfe des Wind-pferdes.“<br />

162


„Vorhin wollten Sie mich noch umbringen“, entgegnete Miri. „Und<br />

jetzt sind wir auf einmal beste Freundinnen?“<br />

„Eher Verbündete in einer prekären Lage.“ Mit einem gezierten<br />

Lachen warf sie den Kopf in den Nacken. „Ich wusste, dass du dich<br />

hinter dem Vorhang versteckst. Ich wollte dich mit dem Theater so<br />

beeindrucken, dass dir jede Lösung recht wäre. Aber ich habe dich<br />

wohl unterschätzt. Also, was wirst du jetzt tun? Willst du dir das<br />

Schwert nehmen, den Golem töten und mit mir…“<br />

„Ich soll jemanden töten?“ Entsetzt starrte Miri die dunkle Königin<br />

an. „Das können Sie vergessen. Das werde ich niemals tun. Gewalt ist<br />

keine Lösung.“<br />

„Ach Liebes.“ <strong>Die</strong> Frau streckte die Hand nach Miri aus, als wolle sie<br />

ihr über den Kopf streichen. „Du bist so rührend naiv. Glaubst du,<br />

dieses Ungeheuer gibt dir das Schwert freiwillig? Keine Angst, du<br />

kannst es leicht überwinden. Er ist stark, aber langsam.“<br />

Fassungslos starrte Miri die Frau an. „Das ist doch alles gar nicht<br />

wahr“, murmelte sie.<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin lachte schallend. „Einiges ist wahr, anderes ist<br />

nicht ganz wahr und manches ist gelogen. Kannst du die Wahrheiten<br />

<strong>von</strong> den Lügen unterscheiden? Mach schnell. <strong>Die</strong> Nacht ist bald zu<br />

Ende.“<br />

Miris Gedanken wirbelten durcheinander: Ich kann Sturmtänzer nur<br />

mitnehmen, wenn ich das Schwert habe, und um es zu be-kommen,<br />

muss ich dem Gesetz der Schwerter gehorchen. Aber vielleicht ist das<br />

gar nicht wahr. Vielleicht hat sie ja gelogen!<br />

Miri streckte die Hand nach der Waffe aus. Wie <strong>von</strong> selbst schien der<br />

Griff in ihre Hand zu springen. <strong>Die</strong> Klinge klirrte leise, als Miri das<br />

Schwert aus seiner Halterung zog. Plötzlich spürte sie Widerstand.<br />

163


„<strong>Die</strong>be!“ Wie ein Donnergrollen hallte der Ruf durch den Saal. Der<br />

Kopf des unheimlichen Wesens ruckte zu ihr herum, rot glühende<br />

Augen musterten sie. „Alarm! <strong>Die</strong>be sind in den Thronsaal eingedrungen.“<br />

Seine Stimme klang wie das Knarren eines Mahlwerks.<br />

164


Mit einem energischen Ruck zerrte Miri das Schwert aus der Hand<br />

des Golems. Er brüllte und steckte seine Hand in der Achselhöhle, als<br />

hätte sie ihm Schmerzen zugefügt. Miri taumelte einen Schritt zurück.<br />

Er konnte keinen Schmerz empfinden. Er war eine Stein-gussfigur.<br />

Dass er sprechen und sich bewegen konnte, war nur ein Trick. Oder<br />

Magie!<br />

<strong>Die</strong> winzigen Augen funkelten zornig. Plötzlich riss der Golem seine<br />

Keule hoch. Miri wollte rasch zurückweichen, doch dabei stieß sie<br />

gegen den Thron. Das Gelächter der dunklen Königin brandete gegen<br />

ihren Verstand. Sie riss das Schwert in dem Moment hoch, als die<br />

Keule herabsauste, gleichzeitig drehte sie sich unter dem Waffenarm<br />

des Gegners weg. Es schmerzte in ihren Ohren, als Stein über Metall<br />

schrammte. Miri rechnete damit, dass das ma-gische Schwert unter<br />

der Wucht des Aufpralls aus ihrer Hand geprellt und zerschmettert<br />

würde. Stattdessen erhob das steiner-ne Wesen ein<br />

ohrenbetäubendes Gebrüll und barg den rechten Arm an seiner<br />

Brust.<br />

In wilder Freude über den Sieg riss Miri das Schwert in die Luft. Der<br />

Triumphschrei blieb ihr jedoch in der Kehle stecken, als sie er-kannte,<br />

dass nicht nur die Keule, sondern auch die Hand des Gegners über<br />

den Boden polterte. Fassungslos starrte sie auf den verstümmelten<br />

Arm. Kein Tropfen Blut floss aus der Wunde.<br />

„Worauf wartest du noch“, kreischte die dunkle Königin. „Schlag ihm<br />

den Kopf ab.“<br />

„Nein!“, brüllte Miri, als könne sie damit ungeschehen machen, was<br />

sie dem Golem bereits angetan hatte. „Ich werde niemanden töten.“<br />

<strong>Die</strong> Lippen in dem steinernen Gesicht verzogen sich zu einem bösen<br />

Lächeln. „Dann töte ich dich. So lautet das Gesetz der Waffen.“<br />

165


Miri drängte sich an dem steinernen Sitz vorbei und wich Schritt für<br />

Schritt zurück, um der Tür unauffällig näher zu kommen.<br />

Mit der bloßen Faust schlug der Golem die klobige Armlehne aus dem<br />

Thron. Prüfend schwang er seine neue Waffe durch die Luft.<br />

„Du oder ich.“ Sein Lachen klang wie das Scheppern <strong>von</strong> Steinen in<br />

einer Blechdose. „Das ist die Regel. Wer nach dem Schwert greift,<br />

muss bereit sein, zu töten, sonst wird er getötet.“<br />

Miri täuschte einen Ausfall vor und das steinerne Wesen wich tatsächlich<br />

zurück. Mit zwei Schritten war sie bei der Tür. Sie riss ihre<br />

Waffe hoch, doch bevor sie den Streich gegen die hölzernen<br />

Türblätter führen konnte, sprangen die beiden Flügel auf. Atemlos<br />

stolperte sie in den dunklen Korridor.<br />

„Bleib hier“, brüllte der Golem. „Du musst mit mir kämpfen. Das ist<br />

die Regel.“<br />

„Nein!“ Miri packte das Schwert fester und rannte den Gang ent-lang<br />

ins Treppenhaus.<br />

„Bleib hier!“ Der Boden schwankte unter ihren Füßen. Es krachte und<br />

splitterte als würde das steinerne Wesen Möbel zerschlagen oder die<br />

Holztäfelung <strong>von</strong> den Wänden reißen.<br />

Miri nahm sich nicht einmal die Zeit, einen Blick über die Schulter zu<br />

werfen. So schnell sie konnte, hastete sie die Treppe hinunter und<br />

über den dunklen Burghof.<br />

166


Zwanzigstes Kapitel<br />

Fensterscheiben klirrten, Ziegel schepperten übers Dach und<br />

zerschellten im Hof, der Boden schwankte unter Miris Füßen.<br />

Das kann nicht sein! <strong>Die</strong> Kuppeln sind erdbebensicher. An diesem<br />

Gedanken hielt sie sich eisern fest, als die Festungsmauer wie unter<br />

dem Hieb eines gewaltigen Hammers erbebte. Neben dem Tor klaffte<br />

plötzlich ein handbreiter Riss, eine Zinne schwankte, wie betrunken.<br />

Mit einem Ächzen, das beinahe menschlich klang, kippte sie vornüber<br />

und donnerte ins Dach eines Wachhäuschens. Ein Wiehern übertönte<br />

das Grollen und Bersten.<br />

„Sturmtänzer!“ Miri war so erleichtert, seine Stimme zu hören, dass<br />

ihr die Tränen in die Augen schossen.<br />

„Komm raus!“, wieherte das Pferd. „Was immer du da angestellt hast<br />

…“<br />

„Nichts.“ Das Tor musste offensichtlich an schweren, eisernen Ketten<br />

herabgelassen werden, aber Miri mühte sich vergeblich mit der<br />

Winde ab. „Ich habe gar nichts angestellt.“<br />

„Egal. Komm raus, bevor alles zusammenfällt.“<br />

Miri hielt in der sinnlosen Anstrengung inne und musterte die Kette.<br />

Wenn das Zauberschwert Stein schneiden konnte …<br />

„Geh vom Tor weg!“ Miri riss das Schwert hoch, holte weit aus und<br />

schlug mit aller Kraft zu. Funken sprühten, die armdicke Kette<br />

peitschte gegen die Wände der beiden Tortürme und die Hand-kurbel<br />

wirbelte rundherum. Ein Zittern lief durch das Tor, an der oberen<br />

Kante öffnete sich ein Spalt, der rasch breiter wurde. Dann donnerte<br />

die Zugbrücke herab.<br />

167


Miri hörte einen vertrauten Rhythmus. Tack tackatack tack.<br />

Schlitternd kam der Hengst am Rand der zerschellten Brücke zum<br />

Stehen. „Komm schon. Wir müssen hier weg.“<br />

Miri packte die Mähne und schwang sich auf den Pferderücken. Im<br />

gleichen Moment wirbelte Sturmtänzer herum und preschte die<br />

Straße hinunter. Hinter ihnen krachte und donnerte es, als würde die<br />

Welt untergehen.<br />

„Was ist passiert?“, wollte er wissen. „Was hast du getan?“<br />

„Nichts“, entgegnete Miri. „Das Schwert steckte in einer Stein-figur,<br />

als ich es nehmen wollte, wurde sie lebendig.“<br />

„Hast du den Golem besiegt?“<br />

„Er hat mich angegriffen. Ich wollte nicht …“<br />

„Hast du ihn besiegt?“, fragte Sturmtänzer noch einmal.<br />

„Er wollte mich töten.“<br />

„Hast du ihn getötet.“<br />

„Nein!“, brüllte Miri. „Ich kann doch nicht …“<br />

„Du hast das Schwert gestohlen“, keuchte der Hengst, während er<br />

auf das nachtschwarze Band der Schlucht zu galoppierte. „Ich<br />

bezweifle, dass es uns jetzt noch etwas nützt.“<br />

„Ich habe es nicht gestohlen“, protestierte Miri.<br />

„Du hast es dem Golem weggenommen und bist damit fortgelaufen.<br />

Das nennt man in dieser Welt stehlen.“<br />

168


„Er hätte mich getötet. Oder ich hätte ihn töten müssen.“ Tränen<br />

rannen über Miris Wangen, aber das konnte auch daran liegen, dass<br />

ihr der Wind eisig ins Gesicht blies.<br />

„Ja“, schnaubte der Hengst. „So lautet das Gesetz.“<br />

„Ich töte nicht.“ Trotzig zog Miri die Nase hoch. „Gewalt ist keine<br />

Lösung.“<br />

„<strong>Die</strong>ses Gesetz ist so alt wie dein Volk“, entgegnete Sturmtänzer<br />

ungerührt. „Solange du es nicht akzeptierst, kannst du dein Erbe in<br />

dieser Welt nicht antreten.“<br />

„Es kann aber doch nicht sein, dass ich ...“<br />

„Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf.“ Sturmtänzers Stimme klang<br />

traurig. „An dieser Prüfung sind etliche vor dir gescheitert.“<br />

„Aber …“<br />

„Es ist vorbei. Ich bring dich zurück. <strong>Die</strong> Sonne wird bald auf-gehen.“<br />

Im gestreckten Galopp preschte Sturmtänzer dem ersten Licht des<br />

Tages entgegen. Als die Straße steiler wurde, wechselte er in den<br />

Paso, der kaum langsamer aber wesentlich bequemer zu sitzen war.<br />

Tackatackatack, klapperten seine Hufe über den steinigen Grund.<br />

Miri schloss die Augen, atmete den warmen Duft des Fells, spürte<br />

den leichtfüßigen Bewegungen nach und ihrer Traurigkeit. <strong>Die</strong>s<br />

würde ihr letzter Ritt sein.<br />

Hinter einer Felsgruppe kam die Brücke in Sicht. <strong>Die</strong> Hütte der<br />

Kriegerin war verschwunden. Auf der anderen Seite würde es also<br />

auch keine dunkle Königin und keinen Golem geben.<br />

„Bedauerlicherweise gibt es da drüben auch keine Pferde“,<br />

brummelte Sturmtänzer als hätte er ihre Gedanken belauscht.<br />

169


„Willst du nicht einfach mitkommen“, bat Miri. „In der Wildniskuppel<br />

würde es dir sicher gefallen und du müsstest dich nicht vor<br />

der dunklen Königin verstecken.“<br />

„Das hier ist meine Welt und da drüben ist deine“, antwortete<br />

Sturmtänzer. „Von nun an können wir uns nur noch im Land der<br />

Träume begegnen.“ Am Fuß eines kleinen Hügels blieb er stehen,<br />

damit Miri absitzen konnte.<br />

Mit einem tiefen Seufzer drückte sie ihr tränenfeuchtes Gesicht in<br />

seine Mähne.<br />

„Geh jetzt“, brummelte er. „Das Tor wird sich gleich öffnen. Aber sei<br />

vorsichtig. Es würde mich nicht wundern … - Oh! Da ist sie ja schon.<br />

Unsere Überraschung.“<br />

Miri folgte seinem Blick. Mitten auf der Brücke stand der Ritter in der<br />

schwarzen Rüstung. Mit schweren Schritten kam er ihnen ent-gegen<br />

und der große, zottige Hund an seiner Seite sah überhaupt nicht<br />

mehr freundlich aus.<br />

„Schluss mit den Spielchen, Prinzessin Miriel.“ Fordernd streckte ihr<br />

der Mann seine Hand entgegen. „Das Windpferd gegen deine<br />

Freiheit.“ Sein mächtiger Bass dröhnte wie fernes Gewittergrummeln.<br />

„Du lieferst den Hengst aus und ich lass dich gehen.“<br />

„Nein.“ Miri trat schützend vor Sturmtänzer. „Das ist nicht irgendein<br />

Pferd, sondern mein Freund. Er will deiner Herrin nicht dienen.“<br />

Der Ritter blickte nach Osten. „Viel Zeit hast du nicht, dir das noch<br />

einmal zu überlegen. <strong>Die</strong> Sonne kann jeden Moment aufgehen. Wenn<br />

der erste Sonnenstrahl auf diese Brücke fällt, öffnet sich genau an<br />

dieser Stelle ein Tor. Du musst es nur durchschreiten, um in deine<br />

Welt zurückzukommen. Aber wie willst du das machen, wenn ich da<br />

stehe, wo du hinmusst?“ Er zog ein Schwert aus der Scheide auf<br />

170


seinem Rücken und setzte die Spitze auf den Boden. „Willst du dir<br />

den Übergang erkämpfen?“<br />

Miri schüttelte den Kopf. „Bitte lassen Sie uns einfach gehen.“ Ein<br />

blassgelber Saum ließ die Hügel im Osten erstrahlen.<br />

„Aber sicher.“ Er ließ das Schwert mit der handbreiten Klinge einen<br />

Bogen durch die Luft beschreiben. Danach landete es so sanft auf<br />

seiner Schulter als hätte es das Gewicht einer Feder. „Gib mir das<br />

Pferd und du darfst gehen, wohin du willst.“<br />

„Ich habe Ihnen doch schon gesagt …“<br />

„Du willst kämpfen? Wie ich sehe, bist du inzwischen bewaffnet.“ Er<br />

brachte sein Schwert in Position und trat einen Schritt näher. „So<br />

oder so, entscheide dich. <strong>Die</strong> Sonne wartet nicht auf dich.“<br />

Sturmtänzer legte sein Kinn auf Miris Schulter. „Sorg dafür, dass er<br />

weiterredet“, brummelte er. „Wenn ich ‚jetzt‘ sage, springst du auf<br />

meinen Rücken. Ich bring uns da hinüber. Solange er nicht ahnt, dass<br />

es das magische Schwert des Lichts ist, das du dir geschnappt hast,<br />

haben wir eine Chance.“<br />

„Gibt es keinen anderen Weg?“, fragte Miri den Ritter. Sie hörte<br />

Sturmtänzer mit den Hufen scharren und herumtänzeln, als wäre er<br />

plötzlich sehr nervös. „Ich meine“, fuhr sie achselzuckend fort,<br />

„Gewalt ist doch eigentlich nie eine Lösung.“<br />

Der Ritter lachte schallend.<br />

„Jetzt!“ Sturmtänzer duckte sich wie eine Katze. Miri griff in seine<br />

Mähne, schwang sich auf seinen Rücken und im nächsten Moment<br />

wäre sie fast hinten übergekippt. Wie <strong>von</strong> einem Katapult geschossen<br />

stürmte der Hengst los. Es ging steil bergab und Miri hatte Mühe sich<br />

auf ihrem unsicheren Sitz zu halten.<br />

171


„Atmen!“, schnaubte Sturmtänzer, bevor er mit einem kühnen Satz<br />

<strong>von</strong> einer Kuppe zur nächsten sprang. Er schlitterte einen steilen<br />

Abhang hinunter und hielt geradewegs auf die Schlucht zu.<br />

172


Miri bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Sturmtänzer würde<br />

hoffentlich nicht versuchen, da hinüberzuspringen.<br />

„Das Lied“, keuchte der Hengst. „Denk an unser Lied.“<br />

Aus den Augenwinkeln sah Miri, den Hund <strong>von</strong> der Seite heranstürmen.<br />

Er hatte den kürzeren Weg und er kam schnell näher.<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Freiheit? Ruft sie den Weg?<br />

Tackatacka tackatacka tack, klapperten Sturmtänzers Hufe dazu.<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Freiheit? Ruft sie den Weg?<br />

Der erste Splitter der Sonnenscheibe schob sich über den Kamm<br />

eines Hügels. Feuerfarbenes Licht sickerte in das Grau des frühen<br />

Tages und spülte die Reste der Nacht aus der Schlucht zwischen den<br />

Welten.<br />

Hör der Trommel Ruf. Hör den Klang. Kriegstanz und Jagdgesang.<br />

Trommelweg führt in die Freiheit oder den Tod.<br />

Miri krallte sich mit einer Hand in die Mähne, mit der anderen<br />

umklammerte sie das Schwert. Es waren noch vier oder fünf<br />

Galoppsprünge bis zum Rand der Schlucht, Sturmtänzer hatte eine<br />

überstehende Felsplatte als Absprung gewählt. Von rechts jagte der<br />

Hund heran. Sturmtänzer musste einen Bogen beschreiben und seine<br />

Sprünge verkürzen, um den richtigen Absprung zu finden. Sein<br />

Rücken krümmte sich. Noch zwei Sprünge. Der Hund schnellte vom<br />

Boden weg. Wie ein Geschoss flog er auf sie zu. Ihr eigener Schrei<br />

gellte Miri in den Ohren, als die Klauen über ihren Ober-schenkel<br />

schrammten. Das Schwert fiel ihr aus der Hand, als Sturmtänzers<br />

Hinterhand unter dem Aufprall wegrutschte. Er versuchte, sich zu<br />

fangen und noch einmal unterzusetzen, doch sei-ne Hufe traten ins<br />

Leere. Ross und Reiterin überschlugen sich und schlitterten über die<br />

173


Felskante. <strong>Die</strong> Welt versank in einem Sturz, der nie mehr enden<br />

wollte.<br />

174


Einundzwanzigstes Kapitel<br />

„Miri? Wie bist du hier hergekommen?“ Das war die Stimme <strong>von</strong><br />

Lorenz, sie klang beinahe ärgerlich vor Sorge. „Ich wollte dich am<br />

Gleiter abholen, um dir zu sa...“ Mitten im Satz hielt er inne. „Wie<br />

siehst du überhaupt aus? Was hast du mit deinen Haaren gemacht?<br />

Bist du okay?“<br />

Miri wollte versichern, dass alles in bester Ordnung war, aber ihr<br />

Mund war trocken und ihre Zunge fühlte sich an, als wäre Moos<br />

darauf gewachsen. Sie rang ihren erstarrten Zügen ein Lächeln ab<br />

und blinzelte orientierungslos in die kleine, weiße Sonne, die ihr ins<br />

Gesicht schien.<br />

„Hast du dir wehgetan? Soll ich einen Arzt rufen?“<br />

„Nein, nein.“ Mit Lorenz‘ Hilfe rappelte sie sich hoch. Ihr Körper<br />

fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt und mit Paketband<br />

verschnürt worden. „Ich bin nicht verletzt.“ War sie nicht eben noch<br />

in einer anderen Welt gewesen? Miri erinnerte sich, dass sie in einer<br />

Pfütze ausgerutscht und gestürzt war. Aber hinter dieser Erinnerung<br />

gab es ein Pferd, das mit ihr geredet hatte.<br />

„Was ist denn passiert?“, wollte sie wissen.<br />

„Ein Erdstoß hat den Gleiter durcheinander gerüttelt“, berichtete<br />

Lorenz. „Es waren noch zwei Frauen in der Kabine. <strong>Die</strong> habe ich nach<br />

dir gefragt. Sie haben gesehen, wie du dein Memopad eingepackt<br />

hast, dann war der Strom weg. Als das Licht wieder brannte, warst du<br />

spurlos verschwunden. Wo bist du denn gewesen?“<br />

„Keine Ahnung.“ Allmählich konnte Miri ihren Körper wieder spüren.<br />

Er fühlte sich steif und zerschunden an, schien aber nicht ernst-haft<br />

175


verletzt zu sein. „Der Boden war nass“, sagte sie, bevor Lorenz noch<br />

weitere Fragen stellen konnte. „Ich hatte es mal wieder zu eilig und<br />

bin ausgerutscht. Hat die Prüfung schon begonnen?“<br />

Lorenz schüttelte den Kopf. „Dich brauchen wir schon dazu. Ben und<br />

Ruth sind drüben im Seminarhaus. Merl ist mit einem früheren<br />

Gleiter gekommen und hat einen Klienten mitgebracht.“<br />

„Ian, nicht wahr?“<br />

Lorenz nickte.<br />

„Hast du eine Ahnung, was ich mit diesem Stockfisch anfangen soll?“,<br />

plauderte Miri, um sich über die beunruhigende Lücke in ihrer<br />

Erinnerung hinwegzuretten. Als sie sah, dass Lorenz miss-billigend die<br />

Stirn runzelte, winkte sie ab. „Egal. Er ist da, die an-deren sind auch<br />

da, und ich sollte sie nicht länger als nötig warten lassen, sonst<br />

werden die Prüfungsfragen schwerer.“ Ihre Worte sollten so klingen,<br />

als wäre nichts Besonderes passiert. Sie musste im Gleiter<br />

eingeschlafen sein. Sicher hatte sie <strong>von</strong> dieser anderen Welt nur<br />

geträumt. Und <strong>von</strong> dem Pferd. Sie erinnerte sich sogar an seinen<br />

Namen. Sturmtänzer. Mit langen Schritten eilte Miri durch den<br />

Tunnel mit den alten Steinplatten, der das Verwaltungsgebäude mit<br />

dem Seminarhaus verband. Lorenz folgte ihr schweigend.<br />

Als sie das Haus betraten, kam es Miri so vor, als würden ihr die<br />

früheren Wildnistrainer und Wildnistherapeuten aus ihren Bildern<br />

heraus aufmunternd zulächeln. In dem schützenden Glas über den<br />

Bildern konnte sie sich selbst mit struppig-kurzen Haaren und ihrem<br />

graugrünen Overall sehen. Hatte sie nicht eben noch ein Leinenhemd<br />

und eine Hose aus Tierhaut getragen?<br />

Lorenz drängte sie zu der Treppe, die in die erste Etage mit dem<br />

Seminarraum führte. <strong>Die</strong> aufgeregten Stimmen hörte Miri schon <strong>von</strong><br />

unten. Sie konnte nicht verstehen, worüber Ben, Ruth und Merl<br />

176


edeten, aber es schien eine hitzige Diskussion zu sein. Merl fiel Ben<br />

sogar ins Wort. Als sie die Tür öffnete, verstummten die Ge-spräche.<br />

Sechs Augenpaare richteten sich auf sie. Nur der rot-haarige, junge<br />

Mann, der abseits <strong>von</strong> den anderen am Fenster stand, starrte<br />

angestrengt ins Dunkel hinaus.<br />

Ben, der Leiter der Wildniskuppel, beendete das unangenehme<br />

Schweigen. „Guten Abend, Miri.“ Mit ausgestreckten Armen kam er<br />

auf sie zu. „Erzählst du uns, was dich aufgehalten hat, oder willst du<br />

zuerst den amtlichen Teil des Abends hinter dich bringen?“<br />

„Es war nichts Aufregendes“, entgegnete sie achselzuckend. „Der<br />

Gleiter hatte eine Störung.“ Sie war froh, dass Ruth die hohe Kerze in<br />

der Mitte des Raums schon angezündet und die Decken-beleuchtung<br />

gedimmt hatte. Im Dämmerlicht konnte man ihre un-gewohnte Frisur<br />

übersehen.<br />

Miri blickte sich verstohlen im Seminarraum um. Er kam ihr ver-traut<br />

und gleichzeitig sehr fremd vor. Kostbare alte Decken und echte<br />

Tierfelle hingen an den Wänden. Ruth hatte die Kerze in der blauen<br />

Metallschale mit einem Blütenkranz geschmückt. Acht Sitz-kissen<br />

lagen darum im Kreis. Auf dem Kissen im Südwesten ruhte eine<br />

Sandrose aus der Wüste, die ihren Gründervater Steven alles über die<br />

Suche nach der Vision des eigenen Lebens gelehrt hatte. <strong>Die</strong> Pfeife<br />

mit dem kunstvoll geschnitzten Kopf aus einem ziegel-roten Stein<br />

hatte eine seiner Schülerinnen nach Europa gebracht. Sie lag auf dem<br />

Kissen im Südosten. Alle anderen Plätze waren frei.<br />

„Schreiten wir also zur Prüfung.“ Ben deutete auf den Sitzkreis, aber<br />

niemand rührte sich. Es dauerte einen Augenblick bis Miri realisierte,<br />

dass alle auf sie warteten.<br />

„‘Tschuldigung.“ Mit roten Ohren schlich sie zum Schülerplatz im<br />

Süden.<br />

177


Ruth räusperte sich. „Denkst du bitte daran, dass die Wahl des<br />

richtigen Platzes ein Bestandteil dieser Prüfung sein könnte.“<br />

Lorenz deutete auf das Kissen unter dem großen Fenster im Osten.<br />

„Tut mir leid.“ Miri eilte zu dem Ehrenplatz, der den Lehrern ihrer<br />

Tradition vorbehalten war, und wartete ungeduldig auf die erste<br />

Frage. Als es stattdessen immer stiller wurde, rutschte sie nervös auf<br />

ihrem Kissen hin und her. Schließlich hielt sie es nicht länger aus.<br />

„Was wollt ihr denn jetzt wissen?“, fragte sie kläglich.<br />

„Nichts“, antwortete Ben. Sie konnte sehen, dass er Mühe hatte,<br />

ernst zu bleiben. „Wir warten darauf, dass du diese Runde in einer<br />

traditionellen Weise eröffnest.“<br />

„Wie denn?“ Miri wusste noch immer nicht, was sie tun sollte.<br />

„Wie wäre es mit einer gemeinsamen Meditation.“<br />

„Soll ich die Ram-Meditation anleiten.“ Wie gut, dass sie sich ihre<br />

Notizen auf der Herfahrt noch einmal durchgelesen hatte. „Nur den<br />

ersten Teil oder bis zu den Blüten?“<br />

„<strong>Die</strong> kennen wir doch alle.“ Ben winkte ab. „Ich würde lieber eine<br />

Archetypen-Meditation machen.“<br />

Ausgerechnet! Miri hatte das Gefühl, als würde ihr jemand das Kissen<br />

unterm Hintern wegziehen. Aber sie ließ sich nichts an-merken.<br />

„Gut.“ Sie richtete sich auf und blickte in die Flamme der Kerze. „Setz<br />

dich gerade hin und schau in das Licht. Es ist ein Symbol für das Licht,<br />

das in allen und in allem lebt“ Sie würde die Meditation trotzdem<br />

anleiten. Für einen Fehler konnte ihr Ben nur ein paar Punkte<br />

abziehen. Wenn sie jedoch zugeben würde, dass sie sich an die<br />

Meditation kaum erinnern konnte, wäre alles gelaufen, und sie<br />

müsste in einem halben Jahr noch einmal zur Prüfung antreten.<br />

178


„Lass deinen Blick weich und weit werden, so, dass du das Licht im<br />

Fokus behältst und in der Peripherie den Kreis wahrnehmen kannst.“<br />

Auch Miris Aufmerksamkeit wanderte im Kreis rundum. Zuerst zu<br />

Großvater Stevens Platz im Südosten. Anschließend in den Süden, wo<br />

sie kurz bei Ian verweilte, dem schweigsamen jungen Mann mit den<br />

fuchsroten Haaren und dem traurigen Gesicht. Der Platz im<br />

Südwesten war bis auf die Gebetspfeife mit den tanzen-den Delfinen<br />

leer, aber Miri kannte ihre frühere Besitzerin <strong>von</strong> den Bildern in der<br />

Eingangshalle. <strong>Die</strong> alte Dame mit den hellwachen, freundlichen<br />

Augen schien in diesem Moment bei ihnen im Kreis zu sitzen. Auf der<br />

anderen Seite der Flamme saß Ruth auf dem traditionellen<br />

Frauenplatz im Westen. Sie schien Miris Aufmerksamkeit zu spüren,<br />

blickte kurz auf und nickte ihr freundlich zu. Im Nordwesten saß Merl,<br />

im Norden Ben und im Nordosten direkt neben ihr war der Platz <strong>von</strong><br />

Lorenz. Hinter seiner Maske der Ruhe spürte Miri eine innere<br />

Anspannung.<br />

„Erlaube deinen Augenlidern schwer zu werden und schließ deine<br />

Augen“, fuhr Miri fort. „Wenn Gedanken auftauchen, dann betrachte<br />

sie wie eine Wolke am Sommerhimmel und lass sie wieder<br />

gehen.“<br />

Wenn sie sich richtig erinnerte, war der Anfang für die beiden<br />

Meditationen gleich. Im Bauch musste sie das Bild einer Kugel aus<br />

Licht entstehen lassen, die mit jedem Atemzug wärmer und heller<br />

wurde. <strong>Die</strong> nächste Lichtkugel entstand unter dem Herzen und wurde<br />

so hell und warm, dass sie den gesamten Brustraum aus-füllte. <strong>Die</strong><br />

dritte Lichtkugel war nur ein Punkt in den Köpfen der<br />

Meditationsteilnehmer, der heller, aber nicht größer werden sollte.<br />

Auch in den Köpfen sollte es mit jedem Atemzug heller und klarer<br />

werden, doch in Miris Kopf wurde es stattdessen dunkler. Verdammt!<br />

179


„… und wenn sich ein Gedanke zwischen dich und das helle, klare<br />

Licht in deinem Kopf drängen will …“<br />

„Ram“, flüsterte Lorenz neben ihr.<br />

Miri atmete erleichtert auf. „Dann macht das nichts, weil wir an<br />

dieser Stelle gemeinsam ein offenes Ram singen. Wir beginnen alle<br />

zusammen mit einem Summton in der Brust.“<br />

Ein zarter Klang schien aus der Flamme im Zentrum ihres Kreises<br />

aufzusteigen. Leise und beinahe andächtig mischten sich die Stimmen<br />

der Menschen darunter. Fast wie <strong>von</strong> selbst wurde aus dem<br />

vielstimmigen Summen die Silbe „Ram“. Miri erkannte den warmen<br />

Bariton <strong>von</strong> Merl und Bens kräftigen Bass. Der junge Mann, der mit<br />

Merl gekommen war, räusperte sich umständlich bevor er mit einem<br />

harten, unsicheren Ton in das Klingen hineinstolperte. Ruths Sopran<br />

schwang sich über den gemeinsamen Ton hinaus, als wollte sie das<br />

Sternenlicht einfangen. Nur die Stimme <strong>von</strong> Lorenz tönte kaum aus<br />

dem gemeinsamen Gesang hervor. Er stützte schwache Töne, fügte<br />

fehlend ein und knüpfte alle offenen Enden in das wunderbare<br />

Gewebe ihres machtvollen Lieds. Miri spürte, wie ihr Herz immer<br />

weiter wurde. Erschrocken zuckte sie zusammen, als etwas kaltes<br />

Starres ihren rechten Arm streifte. Unauffällig drückte ihr Lorenz zwei<br />

handtellergroße Schalen in die Hand und wenig später fand der<br />

vielstimmige Gesang einen harmonischen Schlusston. Siebenmal<br />

schallte der Klang der Zimbeln durch den Raum. Erst als er verweht<br />

war, krochen die Schatten der Sorge wieder aus den Ecken hervor, in<br />

denen sie sich vor dem magischen Lied versteckt hatten.<br />

Jetzt musst du sie durch die sieben Chakren zu den Archetypen<br />

führen, <strong>von</strong> denen du keine Ahnung hast, flüsterte eine hämische<br />

Stimme durch Miris Gedanken. Nur Mut. Aufgeben kannst du, wenn<br />

bei dem schwarzen Loch in deiner Erinnerung angekommen bist.<br />

180


Noch gab es keinen Grund, aufzugeben. Immerhin erinnerte sich Miri<br />

daran, dass sie zuerst den Archetyp des wilden Mannes oder der<br />

wilden Frau im Wurzelchakra aufsuchen musste.<br />

„Folge deinem Atem bis hinab in dein Wurzelchakra.“ Miri wunderte<br />

sich darüber, wie sicher ihre Stimme klang, obwohl sie noch nicht<br />

wusste, was sie als Nächstes sagen würde. „Reise auf dem Strom<br />

deines Atems immer tiefer hinab bis in die Heimat des wilden<br />

Mannes oder der wilden Frau und öffne dich dieser Begegnung. Einer<br />

Begegnung mit der archetypischen Kraft in dir, die dich mit allem<br />

verbindet, was lebt: mit der Erde und mit allen Kräften der Erde, mit<br />

den Menschen, Tieren, Pflanzen und Steinen. Verbinde dich mit der<br />

Kraft der Erde und lass dich zu deinem inneren wilden Mann oder zu<br />

deiner wilden Frau führen.“<br />

Ein Windstoß fuhr durch die geschlossenen Fenster und wehte den<br />

Duft <strong>von</strong> Salz und Wasser herein. Miri fand sich plötzlich auf einer<br />

Klippe wieder. In der Nähe hörte sie das Rauschen der Wellen, und<br />

sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass hinter ihr die<br />

windschiefe Hütte der Knochensängerin stand.<br />

„Du hast eine weite Reise gemacht. Du hast viel erlebt, einiges<br />

verloren, anderes gewonnen.“ Langsam kamen die Schritte der alten<br />

Frau näher. „Es ist dir sogar gelungen, deine Magie zu entdecken. Bist<br />

du zufrieden mit dir, junge Cantadora? Hast du deine Prüfung<br />

bestanden?“<br />

„Ich glaube nicht“, entgegnete Miri. Hier hatte sie ihren vier-beinigen<br />

Gefährten gefunden, doch sie hatte ihn wieder verloren. „Ich muss<br />

irgendwo einen Fehler gemacht haben.“<br />

„Bei mir nicht. Für eine Anfängerin hast du dich gut gehalten. Aber du<br />

kannst noch mal bei meiner Schwester vorbeigehen. Ihre Magie ist<br />

181


machtvoll und ein bisschen komplizierter als meine. Vielleicht hast du<br />

bei ihr etwas verpfuscht.“<br />

Miri hörte ein Kichern, dann verschwanden die Berge und die Hütte.<br />

Sie fand sich auf einem Rad wieder, das langsam um die Flamme<br />

einer Kerze kreiste.<br />

„Wenn du dich <strong>von</strong> deiner wilden Frau oder <strong>von</strong> deinem wilden Mann<br />

verabschiedet hast, folgst du deinem Atem bis hinauf in dein<br />

Nabelchakra. Hier wohnt dein innerer Heiler oder deine Heilerin. Ihr<br />

Element ist das Wasser.“<br />

Als Miri die sonnendurchflutete Lichtung mit dem dunklen Tümpel<br />

und dem schimmernden Wasserfall erreichte, war die Hüterin der<br />

Quelle gerade damit beschäftigt, ihrem Hündchen das struppige<br />

Winterfell auszukämmen.<br />

„Wie schön, dass du uns besuchen kommst.“ Ihr Lachen klang wie<br />

eine zauberhafte Melodie. „Du siehst gut aus. Du bist größer<br />

geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben und du hast die<br />

Statur einer jungen Kriegerin. Nur deine Haare brauchen wohl noch<br />

etwas Zeit, um sich an die neue Miri zu gewöhnen.“<br />

„Ich will nicht unhöflich sein, aber ich muss gleich wieder weg.“ Mit<br />

einem verlegenen Lächeln zog Miri die Schultern hoch. „Darf ich<br />

Ihnen noch eine Frage stellen?“<br />

„Welches Geheimnis könnte ich dir jetzt noch verraten?“<br />

„Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“<br />

„Was meinst du damit?“<br />

Unter dem amüsierten Blick der schönen Frau fühlte sich Miri<br />

plötzlich sehr dumm. „Was weiß denn ich. Vielleicht habe ich zu<br />

182


unkonzentriert gearbeitet oder ich war nicht mit dem nötigen Ernst<br />

bei der Sache oder …“<br />

„Ach Miri.“ Lachend schüttelte die Hüterin der Quelle den Kopf. „Was<br />

du erschaffen hast, ist schön geworden. Wenn du wissen willst, ob es<br />

schön genug ist, musst du nur der Stimme deiner Magie lauschen.<br />

Wenn du unbedingt etwas falsch gemacht haben willst, musst du zu<br />

meiner Schwester gehen. Sie ist sehr streng und findet bestimmt<br />

etwas, das du zumindest noch verbessern könntest.“<br />

Miri konnte sich gerade noch <strong>von</strong> der Hüterin der Quelle verabschieden,<br />

bevor sich das Plätschern des Wasserfalls verlor. Für<br />

einen Augenblick sah sie sich selbst auf dem Rad sitzen, das sich<br />

immer schneller um das Licht der Kerze drehte. Sie lauschte ihrer<br />

eigenen Stimme, die <strong>von</strong> weit herzukommen schien.<br />

„Mit deinem Atem wanderst du weiter zu deinem Sonnengeflecht.<br />

Hier lebt der Archetyp des Kriegers oder der Kriegerin in dir. Sein<br />

Schild ist ein Symbol dafür, dass du dich schützen kannst, der Speer<br />

hilft dir, dein Ziel ins Auge zu fassen und das Schwert sorgt für<br />

Klarheit, indem es alle Verwirrungen und Verwicklungen mit einem<br />

Schnitt durchtrennt.“<br />

„Da bist du ja wieder.“ Miri hatte die Frau nicht kommen hören.<br />

„Herzlichen Glückwunsch, kleine Schwester. Du hast das magische<br />

Schwert tatsächlich gefunden. So weit kommen nur die wenigsten.“<br />

„Ich habe meine Prüfung versiebt.“ Miri ließ den Kopf hängen. „Das<br />

Schloss ist eingestürzt und Sturmtänzer ist auch weg.“<br />

<strong>Die</strong> Kriegerin nickte. „Manchmal muss man etwas verlieren, um es zu<br />

finden. Solange der Turm in beiden Welten existiert, kannst du<br />

183


dorthin zurückzugehen. In den Scherben deiner Träume findest du<br />

den Samen für eine neue Welt.“<br />

„Aber der Golem hat gesagt, dass ich ihn töten muss“, begehrte Miri<br />

auf. „Ich will niemanden töten. Gewalt ist keine Lösung.“<br />

„Im Tod liegt sehr viel Kraft und nur eine starke Königin bringt ihrem<br />

Land Segen.“<br />

Der König oder die Königin waren die Archetypen des Herzchakras.<br />

Immer schneller wirbelte das feurige Rad um die flackernde<br />

Kerzenflamme.<br />

„Nur in der Hand einer starken Königin wird die magische Waffe zum<br />

Schwert des Lichts, das Klarheit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit in die<br />

Welt trägt.“<br />

Das Schwert des Lichts, der leere Thron …? Ehe Miri die Gedanken zu<br />

fassen bekam, zersprang das feurige Rad. Ian fuhr mit einem<br />

gellenden Schrei hoch.<br />

184


Zweiundzwanzigstes Kapitel<br />

„D-d d-d-d-d-d.“ Der junge Mann mit den fuchsroten Haaren<br />

fuchtelte mit beiden Armen und deutete dabei immer wieder auf<br />

Miri. In seiner Aufregung brachte er kein Wort über die Lippen. Merl<br />

redete beschwichtigend auf ihn ein und Ruth versuchte, seine<br />

gestikulierenden Hände einzufangen. Miri hörte, dass sie dabei ein<br />

Kinderlied summte. Ben bezog vor der Tür Stellung, damit Ian in<br />

einem wahnhaften Anfall nicht plötzlich da<strong>von</strong>laufen konnte.<br />

Miri starrte auf den nächtlich dunklen Wald. In der gläsernen Scheibe<br />

konnte sie sehen, dass eine Träne über ihre Wange rann.<br />

„Miri?“ Sie fühlte eine schwere Hand warm und beruhigend auf<br />

ihrem Arm liegen.<br />

„Jetzt weiß ich, was ich falsch gemacht habe.“<br />

„Du hast gar nichts falsch gemacht“, widersprach Lorenz. „Es war<br />

Merls Fehler. Es war seine Idee, Ian heute Abend mitzubringen. Er<br />

dachte, es würde ihm Mut machen, zu sehen, wie du dich deiner<br />

Prüfung stellst und…“<br />

„Es ist nicht wegen Ian“, unterbrach ihn Miri. „Es ist wegen der<br />

dunklen Königin und dem Schwert.“<br />

„Das leuchtende Schwert?“ Miri merkte erst jetzt, dass Ben zu ihnen<br />

getreten war. „Hast du es gefunden? Bist du tatsächlich auf der<br />

anderen Seite gewesen.<br />

Miri nickte. „Ich muss noch mal dahin. Jetzt weiß ich, was ich tun<br />

muss, um Sturmtänzer vor der dunklen Königin zu retten.“<br />

„Wer ist dieser Sturmtänzer?“, wollte Lorenz wissen.<br />

185


„Ein Pferd.“<br />

Bei diesen Worten ging ein Ruck durch Ians Körper. Sein Gezappel<br />

endete so plötzlich, wie es begonnen hatte, und zum ersten Mal<br />

blickte er Miri geradewegs in die Augen. Er klappte den Mund auf, als<br />

wollte er etwas sagen. Doch dann schlug er plötzlich die Augen<br />

nieder, sein Körper sackte in sich zusammen und er schaukelte mit<br />

ruckartigen Bewegungen hin und her.<br />

„Was für ein Pferd?“, fragte Ben an Ians Stelle.<br />

„Ein Goldfuchs“, antwortete sie. „Ein Hengst. Er kann reden und die<br />

dunkle Königin denkt, dass er das magische Windpferd ist. Wenn sie<br />

ihn erwischt, kann sie die Tore zwischen den Welten öffnen. Ich<br />

fürchte, das wäre nicht gut.“<br />

„Nein“, seufzte Ben. „Das wäre gar nicht gut.<br />

„Wo<strong>von</strong> redet ihr eigentlich?“, polterte Lorenz. „Habt ihr heimlich<br />

Bowle genascht?“ Er sollte scherzhaft klingen, aber die steile Falte<br />

über seiner Nasenwurzel verriet, dass er dieses Thema überhaupt<br />

nicht komisch fand.<br />

Ben schien den Einwand nicht gehört zu haben. „<strong>Die</strong> dunkle Königin<br />

hat das Schwert des Lichts, nicht wahr?“<br />

Miri nickte stumm.<br />

„Lass doch den Unfug.“ Ruth rieb mit beiden Händen über ihre<br />

Oberarme, als ob ihr kalt wäre. „Wir sind uns darüber einig, dass Miri<br />

alles Nötige über unsere Arbeit weiß. An ihrer Facharbeit und der<br />

Theorie gab es nichts auszusetzen, und ich meine, dass wir ihre<br />

praktische Prüfung gelten lassen sollten. Schließlich kann sie nichts<br />

dafür, dass Ian …“ Sie beendete den Satz nicht.<br />

Merl und Lorenz nickten zustimmend.<br />

186


Nur Ben schüttelte den Kopf. „<strong>Die</strong> Prüfung ist noch nicht zu Ende.<br />

<strong>Die</strong>ses Schwert ...“<br />

„Ich muss nur noch mal schnell zum Turm laufen“, fiel es Miri ein.<br />

„Ich bin sicher …“<br />

„Kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte Lorenz schroff. „Ich will<br />

nicht, dass du jetzt noch da draußen rumstolperst.“<br />

„Du tust ja so, als ob es da eine echte Wildnis gäbe“, stellte Merl<br />

kopfschüttelnd fest. „Warum sollte Miri nicht gehen, wenn sie ihre<br />

Geschichte da draußen rundmachen.“<br />

„Weil sie völlig durch den Wind ist“, entgegnete Lorenz knapp.<br />

„Wozu sollte es gut sein, sie in diesem Zustand durch den Wald<br />

geistern zu lassen.“<br />

Keiner achtete mehr auf Miri. Verstohlen blickte sie zur Tür. <strong>Die</strong><br />

anderen waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie vielleicht nicht<br />

gleich merken würden, wenn sie sich einfach da<strong>von</strong>stahl.<br />

Merl winkte ab. „Das Mädchen ist klar im Kopf, sie hat ein Ziel und sie<br />

kennt den Weg. Was soll ihr denn passieren? Wir schicken Leute da<br />

raus, die so verpeilt sind, dass wir sie nicht einmal in einer<br />

Wohnkuppel frei herumlaufen lassen würden.“<br />

„Es ist inzwischen stockfinster und eine Nachtwanderung steht nicht<br />

auf dem Programm.“<br />

Miri biss die Zähne zusammen, um nicht zu explodieren. Es war ihre<br />

Geschichte. Sie hatte alle Aufgaben bestanden und das Windpferd<br />

zum Freund gewonnen. Nur die Konfrontation mit der dunklen<br />

Königin stand noch aus. Sie hatte sich <strong>von</strong> dem Golem und dem<br />

magischen Schwert ablenken lassen. Aber es gab noch eine Chance.<br />

Sie musste nicht in ihr alltägliches Leben in einer Welt ohne Pferde<br />

187


zurückkehren, ohne Sturmtänzer wenigstens noch einmal<br />

wiedergesehen zu haben. <strong>Die</strong>se Chance würde sie nicht ungenutzt<br />

verstreichen lassen, weil Lorenz Angst hatte. Angst? Wovor<br />

eigentlich?<br />

„Ist das schon der Altersstarrsinn“, spottete Merl. „Du bist doch sonst<br />

nicht so unflexibel. Warum…“<br />

„Weil ich ihr Mentor bin und weil ich sage, dass sie hierbleibt. Basta.“<br />

Miri hatte Lorenz noch nie so zornig erlebt.<br />

Ruth sagte gar nichts dazu, sondern betrachtete einen Wand-teppich,<br />

als würde sie ihn heute zum ersten Mal sehen.<br />

Ian summte ein Kinderlied und drehte sich in winzigen<br />

Trippelschritten um die eigene Achse. Sogar Merl, der sonst nie um<br />

eine pfiffige Antwort verlegen war, wich einen Schritt zurück. Einen<br />

Augenblick war nichts, außer Ians Lied und das Knistern der<br />

Kerzenflamme zu hören.<br />

„Habt ihr Miri nicht zugehört?“, mischte sich Ben ein. „Sie hat das<br />

Schwert gefunden, das ich jahrelang vergeblich gesucht habe. Glaubt<br />

ihr, es ist ein Zufall, dass es ausgerechnet an dem Abend wieder<br />

aufgetaucht ist, an dem drei Generationen <strong>von</strong> Wildnis-trainern hier<br />

versammelt sind. Der Ritter, der das Schwert be-wacht …“<br />

„Wir kennen die Geschichte.“ Lorenz‘ Gesicht verfärbte sich rot. „Du<br />

hast sie schließlich oft genug erzählt. Aber da<strong>von</strong> wird sie nicht<br />

wahr.“<br />

„Müsst ihr diesen Streit ausgerechnet heute aufwärmen.“ Entschlossen<br />

trat Ruth zwischen die beiden. „Das ist Miris Abend und ich<br />

denke …“ Offenbar interessierte es weder Lorenz noch ihren Mann,<br />

was sie dachte.<br />

188


„Warum arbeitest du überhaupt noch hier, wenn die Geschichten<br />

keine Bedeutung für dich haben“, fauchte Ben.<br />

Weil er Angst hat, dachte Miri. Sie war wütend auf sich selbst, weil<br />

sie nicht gegangen war, als keiner auf sie geachtet hatte. Nun stand<br />

Bens Frau neben ihr und blickte sie direkt an.<br />

„Wollen wir schon runtergehen und das Abendessen vorbereiten?“,<br />

schlug sie vor. „Solange die Männer Grundsatzdiskussionen führen,<br />

können wir uns ein bisschen nützlich machen.<br />

Miri wollte sich nicht nützlich machen. Sie wollte ihren vierbeinigen<br />

Freund noch einmal sehen.<br />

„Ich arbeite hier, weil ich daran glaube, dass Geschichten heilen<br />

können“, erklärte Lorenz grimmig. „Es spielt keine Rolle, ob sie nur<br />

für einen einzigen Menschen oder für die ganze Welt wahr sind. Aber<br />

du kannst deine Geschichte nicht für andere wahr machen.“<br />

„Du bist also da<strong>von</strong> überzeugt, dass es die dunkle Königin, das<br />

Schwert des Lichts und das Windpferd nur in Miris oder meiner<br />

Fantasie gibt“, fuhr Ben in einem ruhigeren Ton fort.<br />

„Ja.“<br />

„Dann lass uns zusammen zu dem Turm gehen und herausfinden, ob<br />

die Geschichte nur für uns beide wahr ist, oder ob es da wirklich<br />

etwas gibt, was im Moment noch keiner <strong>von</strong> uns versteht.“<br />

„Können wir damit nicht warten, bis es hell ist“, brummte Lorenz.<br />

„Ich muss jetzt gehen“, widersprach Miri. „Wenn die Sonne aufgeht,<br />

ist es zu spät.“<br />

189


„Eigentlich ist es ganz einfach“, überlegte Ben. „Miri will noch mal<br />

zum Turm gehen, Merl und ich sind dafür, Lorenz ist dagegen. Zwei<br />

zu eins für die Nachtwanderung.“<br />

„Nein“, entgegnete Ruth. „Ich kenne diese Geschichten schon so<br />

lange wie dich. Du solltest sie endlich ruhen lassen. Ich glaube, dass<br />

sie zu der Vergangenheit dieses Ortes gehört, und die Welt hat sich<br />

verändert. Wir brauchen keine Schwerter mehr und keine Krieger.“<br />

„Zwei Stimmen dafür und zwei dagegen“, stellte Merl fest.<br />

„D-drei d-dafür.“<br />

Miri blickte erstaunt auf, als ihr bewusst wurde, dass es Ian gewesen<br />

war, der das gesagt hatte.<br />

„I-i-i-ich …“ Es kostete ihn beinahe übermenschliche Mühe, dieses<br />

Wort aus seiner Kehle zu pressen. Angestrengt schnappte er nach<br />

Luft und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf einen Punkt, der<br />

jenseits der vielen Gesichter zu liegen schien.<br />

Merl streckte die Hand nach ihm aus, als wollte er sie dem jungen<br />

Mann beruhigend auf die Schulter legen, doch Ian stieß ihn brüsk<br />

beiseite.<br />

„Ich m-m-m-m-meine“, stotterte er, „dass M-m Miri gehen soll. Aber<br />

ich w-w-w, ich w-will m-m-m m-mitgehen u-u u-und St-t-turmtänzer<br />

s-s s-s s-s-sehen. M-m-m-m-m-merl hat m-mir g-gesagt, d-d-dass sie<br />

m-m-meinen An-a-a m-meinen Antrag n-n-nicht m-mehr ablehnen k-<br />

k k-k-können. B-b b-b-bitte. I-ich h-habe n-n-n-noch n-nie ein Pf… -<br />

ein Pf-pf…“ Er zog eine Grimasse, als müsse er seinen Kiefer<br />

einrenken bevor er weitersprechen konnte. „Ich h-habe n-noch nie<br />

ein Pf… - s-s-s-s-so ein T-t-t, s-so ein Tier g-gesehen.“<br />

190


„Wenn du darauf bestehst, dass deine Persönlichkeit ausgelöscht<br />

wird, ist es egal, ob du heute ein Pferd siehst oder nicht. Du wirst<br />

dich sowieso nicht daran erinnern“, schnappte Merl.<br />

„Ich w-w-w-w w-w-w… Ich w-w-will t-t-tr-trotzdem m-m-m-mit.“<br />

„Na dann“, stellte Ben augenzwinkernd fest. „Drei zu zwei für die<br />

Nachtwanderung. Ich hoffe, die Bowle wird es uns verzeihen.“<br />

Miri ging voraus, sie kannte die Pfade durch den alten Wald. Ben war<br />

direkt hinter ihr, mit etwas Abstand folgten Lorenz und Merl. Ruth<br />

war gar nicht erst mitgekommen und Ian blieb immer wieder zurück,<br />

weil er an einer Blume riechen oder einen Baum streicheln musste.<br />

Miri wunderte sich, dass er das Seminarhaus tatsächlich verlassen<br />

hatte, obwohl er sich sonst vor der Dunkelheit fürchtete.<br />

Es ist nicht die Dunkelheit, es sind die Geister. Heute Nacht haben<br />

sich die Geister versteckt. Im Nebel ist es ihnen zu hell.<br />

Woher kam dieser Gedanke? Und was für ein Nebel sollte das sein?<br />

Verwirrt schüttelte Miri den Kopf.<br />

Schweigend stapfte sie weiter. Der Weg führte leicht bergauf. Bald<br />

würden sie den Waldrand erreichen und dort würde sich zeigen … -<br />

Miri blieb so plötzlich stehen, dass Ben sie fast über den Haufen<br />

gerannt hätte.<br />

„Und wenn da oben gar nichts ist?“, fragte sie eher sich selbst als<br />

jemand anderen.<br />

Ben antwortete ihr trotzdem. „Dann wirst du vermutlich auch für den<br />

Rest deines Lebens nach der Tür suchen, die sich für jeden Menschen<br />

nur ein einziges Mal öffnet.“<br />

191


„Sollten wir vielleicht besser umkehren?“, flüsterte Miri.<br />

„Ja, vielleicht.“<br />

Miri lauschte den Stimmen, die allmählich näher kamen. Sie hörte,<br />

dass Merl und Lorenz immer noch heftig diskutierten, obwohl sie sich<br />

Mühe gaben, leise zu reden. Lorenz wäre es sicher recht, wenn sie<br />

umkehren würden. Aber der Gedanke, dass sie Sturmtänzer dann nie<br />

wieder sehen würde, ließ Miris Kehle rau und eng werden.<br />

Das Schlaflied, das Ian für eine Mäusefamilie sang, die zwischen den<br />

Wurzeln einer jungen Tanne wohnte, übertönte die Stimmen der<br />

beiden Streithähne.<br />

„Ich gehe weiter“, entschied Miri.<br />

Vom Turm antwortete ihr der Ruf eines Käuzchens.<br />

192


Dreiundzwanzigstes Kapitel<br />

Der Weg führte immer steiler bergan und Miri schritt mit ihren<br />

langen Beinen so kräftig aus, dass die anderen weit hinter ihr<br />

zurückgeblieben waren, als sie den Fuß des Hügels endlich er-reichte.<br />

Da die Projektoren nicht eingeschaltet waren, sah der Ort<br />

unspektakulär aus. <strong>Die</strong> unüberwindliche Schlucht war nur ein lang<br />

gezogener Entwässerungsgraben mit einem halbmeterbreiten Steg<br />

und anstelle schneebedeckter Berggipfel waren hinter dem Turm die<br />

schimmernden Kuppelwände zu sehen.<br />

<strong>Die</strong> Enttäuschung trieb ihr Tränen in die Augen. „Was hattest du denn<br />

erwartet?“, sagte sie halblaut zu sich selbst. „Eine Kulisse für den<br />

Showdown?“<br />

Reglos stand sie am Rand des Grabens. Sie spürte den Wind auf ihrer<br />

schweißnassen Haut. Er wurde <strong>von</strong> einem Hochleistungs-rechner<br />

mithilfe komplizierter Maschinen erzeugt, genau wie der Regen oder<br />

die Sonnenaufgänge in der Wildniskuppel. Alles waren nur Illusionen.<br />

Eine Projektionsfläche für die archaischen Träume durchgeknallter<br />

Typen.<br />

Sie erinnerte sich an die Worte der Kriegerin: „Solange der Turm in<br />

beiden Welten existiert, kannst du dorthin zurückzugehen. In den<br />

Scherben deiner Träume findest du den Samen für eine neue Welt.“<br />

Vielleicht war der Turm der Schlüssel zu diesem Rätsel.<br />

Miri schüttelte den Kopf. An diesem Turm gab es nichts Rätselhaftes.<br />

Er war nur eine Hülle. <strong>Die</strong> Verpackung für eine Technik, die Träume<br />

so echt aussehen ließ, dass es wehtat, wenn sie zu Ende waren.<br />

Der Same für eine neue Welt!<br />

193


Dichter Nebel stieg aus dem Graben auf und weckte die Erinnerung<br />

an eine uralte Melodie.<br />

Hör der Trommel Klang. Ruft sie die Schwelle, ruft sie den Weg?<br />

Rätselhafte Worte aus einem halb vergessenen Traum.<br />

Hör der Trommel Klang. Ruft sie die Schwelle, ruft sie den Weg?<br />

D-d d-d-d-d d-da“, hörte sie Ian rufen. „D-d-der N-n d-der Nebel.“<br />

Hör der Trommel Ruf. Trau der Kraft. Spür deine Meisterschaft.<br />

Trommellied führt dich zur Schwelle, zeigt dir den Weg.<br />

„Krieg dich wieder ein, Ian“, antwortete Merl. „Da ist nichts. Gar<br />

nichts.“<br />

Das Lied und der Nebel schienen vor den Stimmen in die Schlucht<br />

zurückzuweichen. Miri wusste, was sie zu tun hatte. <strong>Die</strong> Erinnerung<br />

an den Gesang der Sterne über der Bucht mit dem knochenweisen<br />

Sand bahnte ihr den ersten Schritt.<br />

„Und jetzt?“, hörte sie Lorenz sagen. „Kann mir vielleicht einer erklären,<br />

warum wir hier herumstehen?“<br />

<strong>Die</strong> Erinnerung an die schweren Flechten in ihrer Hand und an das<br />

Schaben der Messerklinge in ihrem Nacken zeigte Miri den zweiten<br />

Schritt.<br />

„Wo ist Miri?“, fragte Ben. „Hab ihr gesehen, wohin …“<br />

„Es gibt wahrhaftig gefährlichere Gegner!“ <strong>Die</strong> Erinnerung an das<br />

herausfordernde Lachen der Kriegerin führte Miri auf die Brücke. <strong>Die</strong><br />

Welt, in der sie zuhause war, blieb hinter ihr zurück.<br />

194


„Sie ist auf der Brücke“, hörte sie Lorenz rufen. „Komm zurück. Da<br />

drüben gibt es nur Steine und alte Geschichten.“<br />

Sein Schmerz traf Miri mitten ins Herz, aber die junge Königin ließ<br />

sich nicht beirren.<br />

„In ihrem Wollen versöhnt die Königin die wilde Schönheit der<br />

unteren mit der Weisheit der oberen Kräfte.“ Erst als sie bereits<br />

mitten auf der Brücke stand, wurde Miri bewusst, dass es ihre Lippen<br />

gewesen waren, die diese Worte geflüstert hatten.<br />

„Lass sie“, hörte sie Ben sagen. „Das ist ihre Geschichte. Sie muss<br />

selbst herausfinden, welche Rolle sie darin spielen will.“<br />

„Wer bin ich?“, fragte Miri den Nebel.<br />

Wie im Spiegel einer dunklen Scheibe sah sie sich im schmucklosen<br />

graugrünen Overall an der Tür des Gleiters stehen. Sie sah sich im<br />

stillen Wasser eines Teichs, in einem goldgefassten Spiegel und im<br />

schützenden Glas über den Portraits <strong>von</strong> den Pionieren der Wildnisarbeit.<br />

„Wer bin ich?“, fragte Miri noch einmal.<br />

„Du bist alle und keine <strong>von</strong> ihnen“, antwortete der Narr. „Du bist die,<br />

die du sein willst. Aber du musst dich entscheiden.“<br />

Der Narr sagt immer die Wahrheit, auch wenn es eine unbequeme<br />

Wahrheit ist, erinnerte sich Miri. Mit dem nächsten Schritt trat sie<br />

durch alle Bilder hindurch. Sie überquerte die Brücke und stand in<br />

einer Welt aus Nebel.<br />

„Und du musst wissen, was du hier finden willst.“ <strong>Die</strong> Stimme der<br />

Magierin klang ernst. „Es ist deine Geschichte. Du entscheidest,<br />

welche Herausforderungen dir auf der anderen Seite begegnen und<br />

ob du siegreich daraus hervorgehen willst.“<br />

195


Miri wusste, dass sie der dunklen Königin noch einmal gegenübertreten<br />

musste, wenn sie Sturmtänzer wiedersehen wollte.<br />

Auf dem Weg zum Turm stolperte Miri über lose Steine und<br />

Mauerreste. In den Trümmern würde sie die Gegnerin sicher nicht<br />

finden. Sie tastete sich zu einer Mauerecke, die der Zeit getrotzt<br />

hatte. <strong>Die</strong> Wand mit dem leeren Fensterbogen lehnte sich gegen den<br />

Turm, als würde sie dort Halt suchen. Miri spähte durch das Fenster,<br />

aber zwischen den hohen Wänden war es dunkel wie in einer Gruft.<br />

Ehe ihre Vernunft protestieren konnte, turnte sie auf den<br />

Fenstersims und sprang auf der anderen Seite hinunter. Dabei trat sie<br />

gegen einen Stein. Er rollte über den Boden und hopste eine Treppe<br />

hinunter.<br />

Klack, klack, klack, klack-klack. Miri kam es so vor, als wolle er mit<br />

diesem Höllenlärm jeden wissen lassen, dass sie wieder da war.<br />

„So ein Quatsch!“, sagte Miri laut genug, um sich selber Mut zu<br />

machen. „Wen sollte es denn interessieren, ob ich da bin oder nicht.“<br />

„Mich“, antwortete eine Stimme, die wie das Mahlwerk einer alten<br />

Getreidemühle klang. „Ich habe lange auf dich gewartet.“<br />

Miri wollte sich mit einem Satz aus dem Fenster retten, doch eine<br />

grobe Hand packte ihren Knöchel und zerrte sie zurück in das Innere<br />

der Ruine.<br />

„Lass es uns endlich zu Ende bringen“, knirschte der Golem. „Da!“<br />

Eine steinerne Faust drückte ihr den Schwertgriff in die Hand. „Ich<br />

habe es für dich aufbewahrt.“<br />

Das rote Funkeln seiner Augen war das einzige, was Miri warnte. Sie<br />

drehte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, um der<br />

196


herabsausenden Keule auszuweichen. „Du bist ja irre!“ Sie packte das<br />

Schwert fester.<br />

„Vielleicht bin ich das. Aber ich kenne das Gesetz der Krieger.“ Seine<br />

Keule zielte genau auf Miri, doch im Eifer des Gefechts hatte der<br />

Wächter zu weit ausgeholt und der Schlag donnerte gegen die Decke.<br />

Putz und Steine prasselten herab, als Miri den Waffenarm des<br />

Gegners unterlaufen wollte, um zu der Treppe zu gelangen.<br />

„Oh nein! Du entkommst mir nicht noch einmal.“<br />

Ein Ellbogenstoß traf Miri in den Rücken und schleuderte sie gegen<br />

eine Wand. <strong>Die</strong> Atemluft staute sich in ihren Lungen, wie ein nasser<br />

Sack plumpste sie zu Boden und für einen Moment verlor sie die<br />

Orientierung. Als das Dröhnen in ihrem Kopf einsetzte, sah sie einen<br />

schwachen Lichtschimmer, wie <strong>von</strong> einem dünnen Streifen<br />

Tageslicht, der seinen Weg in die Finsternis gefunden hatte. Sie hörte<br />

das Scharren, als der Golem die Keule wieder erhob. Mit der Kraft der<br />

Verzweiflung stemmte sich Miri hoch und der Licht-schein folgte ihr.<br />

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriffen hatte, dass die<br />

Helligkeit <strong>von</strong> dem Schwert in ihrer Hand ausging.<br />

„Mit dir habe ich doch gar keinen Streit“, rief Miri. „Ich suche deine<br />

Herrin. Ich will auch nicht mit ihr kämpfen, sondern reden.“<br />

Der Golem schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Herrin. Ich diene<br />

dem Schwert des Lichts.“<br />

„Ich will dein Schwert nicht“, beteuerte Miri, doch der steinerne<br />

Wächter schien ihr nicht einmal zuzuhören.<br />

„Du hast mich herausgefordert“, brüllte er. „Also töte mich oder<br />

stirb. So lautet das Gesetz.“ Seine Keule sauste herab.<br />

197


Miri versuchte nicht einmal, dem Hieb auszuweichen. Sie riss das<br />

leuchtende Schwert hoch, traf die Keule, kurz bevor diese den<br />

höchsten Punkt ihrer Bahn erreichte, und zerschmetterte sie, als<br />

wäre es ein morscher Ast. Der steinerne Wächter ließ das nutzlose<br />

Griffstück fallen. Seine Arme schwangen nach vorn und zerrten Miri<br />

in eine mörderische Umarmung. Gerade noch rechtzeitig brachte sie<br />

ihre Klinge zwischen sich und den Gegner.<br />

Im Tod liegt viel Kraft! <strong>Die</strong>ser Satz hallte wie ein Donnerschlag durch<br />

ihr Denken, als das magische Schwert den steinernen Panzer<br />

durchstieß.<br />

Aber Gewalt ist keine …<br />

Ein Schrei, wie <strong>von</strong> berstenden Felsen, brandete gegen Miris<br />

Trommelfell. Sie spürte den Schmerz, der den steinernen Leib zerriss.<br />

Das brennende Schwert schien ihr eigenes Herz zu durch-bohren.<br />

Ihre Kraft und ihr Wollen verbrannten zu Asche. Sie stürzte immer<br />

schneller. Ihr Körper zerbrach. <strong>Die</strong> Angst vor der Dunkelheit und dem<br />

ewigen Schweigen war alles, was sie noch mit dem Leben verband.<br />

Ein Seufzen. Erleichterung. Endlich frei!<br />

„Du musst auf dem alten Weg in deine Welt zurückkehren“, flüsterte<br />

die Stimme des Golems. „Geh da hinunter.“<br />

„Warum?“ Wie gebannt starrte Miri zu dem Treppenabsatz hin-über.<br />

Kälte, Dunkelheit und der Geruch <strong>von</strong> feuchter Erde krochen über die<br />

Schwelle.<br />

„Nur durch den Tod gelangst du in die Welt, <strong>von</strong> der du träumst.“<br />

Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Geh nur. Geh!“<br />

Es dauerte eine Weile, bis es Miri bewusst wurde, dass der Haufen<br />

Schutt und Staub, in dem sie kniete, die Überreste des Golems<br />

waren. Ungläubig starrte sie auf das Schwert in ihren Händen. Sein<br />

198


Licht verblasste und es wurde wieder zu einer gewöhnlichen Waffe<br />

aus Stahl. Eine gewöhnliche Waffe? Wie das Echo des Wahnsinns<br />

hallte ihr Lachen <strong>von</strong> den kahlen Wänden wider, gleichzeitig strömten<br />

Tränen über ihre Wangen.<br />

„Ich habe ihn getötet.“ <strong>Die</strong>ser Gedanke war so ungeheuerlich, dass<br />

ihr Verstand in so oft wiederholte, bis er sinnlos geworden war. „Ich<br />

habe ihn getötet.“ Ein fühlendes Wesen war durch ihre Hand<br />

gestorben.<br />

„Tod und Leben sind zwei verschiedene Seiten derselben Medaille“,<br />

flüsterte die Stimme der Knochensängerin durch ihre Gedanken.<br />

„Manche Wunden kann nur die Hand des Todes heilen“, fuhr die<br />

Hüterin der Quelle fort.<br />

<strong>Die</strong> Kriegerin schnaubte verächtlich. „Manchmal ist Gewalt eben<br />

doch eine Lösung.“<br />

„Der Golem ist nicht umsonst gestorben“, entschied die junge<br />

Königin. Sie würde in die Unterwelt hinabsteigen, um nach der Welt<br />

zu suchen, <strong>von</strong> der er gesprochen hatte. „Aus den zerbrochenen<br />

Träumen wird etwas Neues entstehen“, flüsterte Königin Miriel, und<br />

es wurde wahr, indem sie es aussprach.<br />

199


Vierundzwanzigstes Kapitel<br />

Hohe schmale Stufen führten in die unterirdischen Räume der Ruine<br />

hinab. Nach wenigen Schritten war es bereits stockdunkel.<br />

„Könntest du nicht wieder leuchten?“ Miri schüttelte das Schwert,<br />

doch auf diese Weise brachte sie es nicht wieder zum Leuchten. Sie<br />

steckte die Waffe in ihren Gürtel, damit sie beide Hände benutzen<br />

konnte, um die lichtlose Welt zu ertasten. Am Ende der Treppe lag<br />

ein Gang, der so schmal war, dass sie mit aus-gestreckten Armen<br />

beide Wände berühren konnte. Sie zählte ihre Schritte, als sie bei<br />

zwölf angekommen war, ertastete sie auf beiden Seiten einen engen<br />

Durchbruch, aber sie beschloss, weiter-hin dem Hauptgang zu folgen.<br />

Bei Schritt Nummer siebenundzwanzig erreichte sie eine Wand aus<br />

gleichmäßig geformten Steinen. Ihre Finger fanden eine wulstige<br />

Einfassung, die sich wie ein Türrahmen anfühlte. Wenn es hier je<br />

einen Durchgang gegeben hatte, war er wohl schon vor Jahren<br />

verschlossen und vermauert worden. Hier ging es jedenfalls nicht<br />

weiter.<br />

Enttäuscht tappte Miri zu den Abzweigungen zurück. Sie tastete sich<br />

zuerst nach links. Anscheinend war der Gang <strong>von</strong> seinen Er-bauern in<br />

aller Eile aus dem Felsen gehauen worden. Der Stein unter Miris<br />

Fingern fühlte sich rau an, und sie musste gebückt gehen, wenn sie<br />

sich nicht den Kopf anstoßen wollte. Beim vierten Schritt stieß sie mit<br />

dem Schienbein gegen ein Hindernis. Sie ertastete eine steinerne<br />

Kiste, die mit verschlungenen Ornamenten verziert war. Auf den<br />

Deckel dieser Kiste entdeckten ihre Finger den Faltenwurf <strong>von</strong> Stoff,<br />

der ebenfalls aus Stein gemeißelt war. Sie wanderten über ein<br />

aufwendig verziertes Kleid und knochige Hände weiter zu …<br />

200


Miri zuckte zurück, als hätte sie sich an dem steinernen Totenschädel<br />

verbrannt. Das war ein Sarg. Sie stand in einem Grab. Der<br />

Gedanke jagte ihr einen Schauder über den Rücken.<br />

„Sei bloß nicht albern!“, ermahnte sie sich streng, doch im nächsten<br />

Moment hätte sie sich vor Schreck fast auf die Zunge gebissen.<br />

Ihre Stimme hatte ein unheimliches Echo geweckt. „Sss, sssssei<br />

blosss, sssssei“, zischte es aus den Ecken und draußen im Haupt-gang<br />

polterte es: „Albärrr …“<br />

Miri konnte das Rascheln und Flüstern hören, obwohl sie ihre Hände<br />

auf die Ohren gepresst hatte. Reglos wartete sie darauf, dass die<br />

Stille in die unterirdischen Gänge zurückkehren würde. Doch was<br />

einmal erwacht war, schien so schnell keine Ruhe mehr zu finden.<br />

Selbst als das Echo längst verhallt war, knisterte es, als würden große<br />

Käfer über die Steine scharren. Etwas berührte ihren Fuß, und Miri<br />

wäre am liebsten schreiend da<strong>von</strong>gelaufen.<br />

Sie fühlte ihr Herz im Hals schlagen, als sie sich in den gegenüberliegenden<br />

Gang tastete. Er endete ebenfalls in einer kleinen<br />

Grotte mit einem steinernen Sarkophag. Auf dem Deckel ruhte die<br />

Skulptur eines Mannes, der seine leblosen Hände über der Brust<br />

gefaltet hatte, als würde er etwas festhalten. Vielleicht war es der<br />

König, der dieses Land einst regiert hatte. Ein leises Seufzen ließ Miri<br />

aus ihren Betrachtungen hochschrecken. Obwohl es stock-dunkel<br />

war, fühlte sie sich plötzlich beobachtet und sie hörte ein Geräusch,<br />

das fast wie Atmen klang. Miri nahm ihren ganzen Mut zusammen.<br />

„Ist da jemand?“, fragte sie die Dunkelheit.<br />

Nur das Echo antwortete ihr. „Jemand, eman, geh man.“<br />

Als es wieder still war, hörte Miri ein Flüstern wie <strong>von</strong> einer<br />

menschlichen Stimme. Es kam aus dem Fußboden.<br />

201


„Hallo?“, rief Miri noch einmal. „Hier muss jemand sein. Da redet<br />

doch jemand.“ Auf Händen und Knien tastete sie den Boden ab.<br />

„Geh weiter hinunter“, antwortete die Stimme eines Mannes. „Mach<br />

schnell, bevor es zu spät ist.“<br />

„Wer sind Sie?“ Miris Finger suchten fieberhaft nach einem Riss oder<br />

einer Fuge im Boden, aber sie fanden nur massiven Fels. „Warum<br />

zeigen Sie sich nicht?“<br />

Keine Antwort.<br />

Miri kehrte in den Hauptgang mit den scharrenden Käferfüßen und<br />

dem boshaften Echo zurück. Nach kurzem Zögern wandte sich nach<br />

rechts.<br />

„Zehn, elf, zwölf …“ Irritiert blieb sie stehen. Hier sollte die Treppe<br />

sein. Stattdessen bog der Gang nach rechts ab und führte steil nach<br />

unten. „Vermutlich muss ich da hinunter.“<br />

So ein Quatsch! In Wirklichkeit gibt es diese Höhle genauso wenig wie<br />

Magie oder Pferde, meldete sich plötzlich die Stimme der Vernunft<br />

zurück. Du musst dir nur bewusst machen, dass du in Wirklichkeit gar<br />

nicht hier bist. Wahrscheinlich sitzt du im Seminarraum und<br />

meditierst.<br />

„Sturmtänzer …“ Miri wollte sich an ihrer Sehnsucht nach dem<br />

Freund festhalten, doch die Stimme in ihrem Kopf lachte sie aus.<br />

Vergiss ihn! Er war ein Teil deiner Prüfung wie der Golem und das<br />

leuchtende Schwert. In deiner Welt gibt es keine Magie und keine<br />

Pferde.<br />

„Aber ich habe ihm versprochen …“<br />

202


Wach endlich auf. Sie zu, dass du aus dieser Geschichte wieder<br />

rauskommst, bevor du so verrückt wirst wie Ian.<br />

„Ich will Sturmtänzer wenigstens noch einmal sehen, um mich <strong>von</strong><br />

ihm zu verabschieden“, entschied Miri.<br />

Woher willst du denn wissen …<br />

Doch Miri gab vor, die neunmalkluge Stimme nicht mehr zu hören.<br />

In Gedanken versunken tastete sie sich den Gang entlang. Nur am<br />

Rand ihres Bewusstseins registrierte sie, dass er weiter bergab führte<br />

und allmählich schmaler und niedriger wurde. Irgendwann musste<br />

sich Miri auf alle viere niederlassen, um überhaupt weiterzukommen.<br />

Der Boden war nass, Wasser tropfe <strong>von</strong> den Wänden,<br />

sammelte sich in Pfützen und vereinigte sich in einem Rinnsal, das zu<br />

einem kleinen Bach wurde. Je schneller das Wasser durch den<br />

niedrigen Tunnel floss, desto langsamer kam Miri voran.<br />

Sie überlegte, ob es nicht vernünftiger wäre, zurück zu kriechen, aber<br />

in dem engen Gang konnte sie sich nicht einmal mehr umdrehen.<br />

Natürlich könnte sie rückwärts bis sie zu einer Stelle robben, die breit<br />

genug war, um zu wenden. Aber dabei hätte sie nichts gewonnen.<br />

„Los weiter“, trieb sie sich voran. „Und beschwer dich nicht. Ein<br />

bisschen Anstrengung hat noch keinem geschadet. Dir wird schon<br />

nichts passieren.“<br />

Ganz sicher? Ausgerechnet jetzt meldete sich die skeptische Stimme<br />

in ihren Gedanken zurück. Deine Abenteuer und Helden-taten waren<br />

nur ein Spiel, aber das ist die Wirklichkeit.<br />

„Es geht auch in Wirklichkeit darum, bis zum Äußersten und dann<br />

noch einen Schritt weiterzugehen“, hielt sie dagegen.<br />

203


Menschen, die einen falschen Schritt machen, können in Wirklich-keit<br />

sterben. Wer sollte dich denn finden, wenn du hier stecken bleibst?<br />

„Bestimmt würden Ben und Lorenz nach mir suchen und …“<br />

Es ist dieses Schwert, das alles so schwer macht, flüsterte die<br />

Stimme. Du hast doch gehört, was Lorenz gesagt hat. Das ist nicht<br />

deine Geschichte. Lass es einfach hier liegen, dann kann auch keiner<br />

mehr Unfug damit machen.<br />

„Es hat mich so viel Mühe gekostet und Sturmtänzer …“<br />

Beinahe zärtlich strich Miri über die Waffe. <strong>Die</strong> Klinge war lang und<br />

schlank, der Griff schmucklos und mit einem Band umwickelt, das<br />

sich gleichzeitig hart und geschmeidig anfühlte. Es schien nichts<br />

Besonderes daran zu sein. Im Vergleich zu dem Messer, das Lorenz<br />

ihr ab und zu geliehen hatte, kam ihr das Schwert geradezu lächerlich<br />

leicht vor. Aber hier unten war es ihr überall im Weg. Wenn sie es in<br />

der Hand hielt, kam sie nur mühsam vorwärts, und wenn sie es in den<br />

Gürtel steckte, geriet es ihr dauernd zwischen die Beine.<br />

Lass es hier, wiederholte die Stimme in ihrem Kopf. In deiner Welt<br />

gibt es keine Schwerter und keine Gesetze, die dich dazu zwingen, zu<br />

töten.<br />

Behutsam bettete Miri die Waffe in die Rinne, die das Wasser aus<br />

dem Fels gewaschen hatte.<br />

„Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du hier bleibst“, flüsterte sie.<br />

„Ruth hat doch auch gesagt, dass unsere Welt keine Schwerter mehr<br />

braucht.“<br />

Als sie weiterkrabbeln wollte, schien der Fels unter ihr zu ächzen.<br />

„Nimm es mit“, knarrte er mit der Stimme des Golems. „Jetzt bist du<br />

seine Hüterin. Und in dieser Welt ist es nicht mehr sicher.“<br />

204


Miri gehorchte der Stimme nur zu gerne.<br />

Inzwischen war aus dem Gang eine Röhre geworden, in der sich Miri<br />

auf dem Bauch kriechend weiter bewegen musste. Immer wieder<br />

schob sie das Schwert voran und zog sich dann hinterher. Glücklicherweise<br />

ging es steil bergab. Den Gedanken, dass der Weg in einer<br />

Sackgasse enden könnte, verdrängte sie entschlossen.<br />

„Wenn es nicht weitergehen würde, könnte das Wasser auch nicht<br />

abfließen“, sprach sie sich selbst Mut zu. Aber dem Wasser reich-ten<br />

dafür winzige Ritzen und Spalten.<br />

„Denk einfach nicht darüber nach!“ Entschlossen schob sie sich<br />

voran. „Es gibt immer eine Lösung.“<br />

Wenig später stieß das Schwert gegen eine massive Felswand. Miri<br />

musste es beiseitelegen und daran vorbeikriechen, um in der<br />

Dunkelheit die scharfe Rechtskurve zu ertasten. Sie zog die Waffe<br />

unter ihrem Bein heraus, fädelte sie um die Ecke und gab ihr einen<br />

Stoß. Das Schwert schepperte über den unebenen Grund, schien<br />

unterwegs noch ein paar Steine mitzureißen und klirrte noch einmal,<br />

bevor es irgendwo viel weiter unten liegen blieb.<br />

„Da ist bestimmt der Ausgang“, sprach sie sich selbst Mut zu. Aber<br />

die Dunkelheit und die Stille schienen jeden Funken Hoffnung im<br />

Keim zu ersticken. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich um die Kurve zu<br />

winden. Ein scharfkantiger Stein zerriss ihren Overall und schrammte<br />

schmerzhaft über ihre Haut. Dann steckte sie plötzlich fest.<br />

„Verdammt!“, fluchte sie, um der Tränen Herr zu werden, die ihr in<br />

die Augen schossen. „Das muss doch hier irgendwie weitergehen.“<br />

Doch alles Drehen und Wenden sorgte nur dafür, dass sie sich noch<br />

weniger bewegen konnte. Es kam ihr so vor, als würde sich der Fels<br />

205


immer enger um sie schließen. Von einem Moment auf den anderen<br />

war sie schweißüberströmt und die Luft wurde knapp.<br />

„Weiteratmen, Miri.“ Sie glaubte, die Stimme <strong>von</strong> Lorenz zu hören.<br />

„Zähl dich wieder runter. Zehn, neun, acht …“<br />

Wütend knirschte sie mit den Zähnen. „Ich werde hier rauskommen“,<br />

versprach sie sich selbst. „Es gibt immer einen Weg.“<br />

Ihre Füße fanden Halt an einem kleinen Vorsprung und sie schob sich<br />

mit einem kraftvollen Stoß voran. Steine gaben unter ihrem Gewicht<br />

nach, sie kippte vornüber, schlitterte eine steile Geröll-halde hinunter<br />

und kam in einem Haufen Schotter zu liegen. Luft! Ein Windhauch<br />

strich über ihre Haut und sie konnte endlich wieder etwas sehen.<br />

Rings herum ragten steile Felswände in einen dämmrig grauen<br />

Himmel. Wie die Sitzreihen einer Arena schlossen sie eine halbwegs<br />

ebene Fläche <strong>von</strong> der Größe eines ihrer Klassenräume ein. Vor den<br />

dunklen Klippen gegenüber schien sich etwas zu bewegen. Auf den<br />

ersten Blick sah es aus wie der rötliche Widerschein eines<br />

verlöschenden Lagerfeuers. Doch dann erkannte Miri, das fuchs-rote<br />

Pferd, das mit hängendem Kopf in der trostlosen steinernen Welt<br />

stand.<br />

„Sturmtänzer!“<br />

„Miri?“ Der Fuchs riss den Kopf hoch. Ein derber Strick war um seinen<br />

Hals geknotet. „Lauf! Bring dich in Sicherheit.“<br />

Das Seil führte zu einem zentnerschweren Felsbrocken.<br />

„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Im Nu war sie auf den Beinen, um<br />

dem vierbeinigen Freund zu Hilfe zu eilen.<br />

Der Hengst scheute vor ihrer Berührung zurück, soweit es der Strick<br />

erlaubte. „Lauf weg“, schnaubte er. „Das ist eine Falle.“<br />

206


„Ganz recht.“ Das war die Stimme des Ritters. „Aber jetzt sitzt ihr<br />

wenigstens gemeinsam drin.“ Mit einem grimmigen Lachen trat der<br />

Mann hinter den mannshohen Steinen am Ende der Felswand hervor.<br />

207


Fünfundzwanzigstes Kapitel<br />

„Vielleicht.“ Ohne ihren Blick <strong>von</strong> dem Ritter abzuwenden, nestelte<br />

Miri an dem Knoten herum, doch er lockerte sich nicht. „Vielleicht<br />

aber auch nicht.“<br />

„Du hast dir Zeit gelassen.“ Der Mann in der schwarzen Rüstung kam<br />

langsam näher. Sein Schwert trug er schräg über dem Rücken und der<br />

Griff ragte über seine rechte Schulter. „Ich hatte schon bezweifelt, ob<br />

du überhaupt noch kommen würdest. Aber unsere Herrin war sicher,<br />

dass du der Versuchung nicht widerstehen könntest, ihr das<br />

Windpferd zum zweiten Mal zu stehlen.“<br />

„Ich kann ihr nichts stehlen, was ihr nicht gehört“, entgegnete Miri.<br />

„Lass ihn frei. Sturmtänzer will deiner Herrin nicht dienen.“<br />

„Du bist kaum in der Lage, irgendwelche Forderungen zu stellen“,<br />

spottete der Ritter. „<strong>Die</strong>ses Spiel hast du verloren. Aber du kannst<br />

noch deine eigene Haut retten. Gib mir das Schwert.“ Fordernd<br />

streckte er die Hand aus.<br />

„Ich hab es nicht mehr.“ Aus den Augenwinkeln sah sie dort, wo sie<br />

gelandet war, etwas metallisch schimmern. Aus Angst, die Aufmerksamkeit<br />

des Mannes möglicherweise auf das verlorene Schwert<br />

zu lenken, wagte sie jedoch nicht, genauer hinzusehen.<br />

„Das kannst du einem erzählen, der seine Suppe im Nachttopf kocht.“<br />

Lachend schüttelte der Ritter den Kopf. „Wo ist es?“<br />

„Es ist in die Schlucht gefallen.“ Miri zerrte verzweifelt an dem<br />

Knoten. Inzwischen war der Ritter so nah, dass Miri die feinen<br />

Ziselierungen auf seiner Rüstung erkennen konnte.<br />

208


„Gib nicht auf“, flüsterte sie dem Pferd zu. „Noch haben wir nicht<br />

verloren.“ Während sie so tat, als würde sie ängstlich vor dem<br />

übermächtigen Gegner zurückweichen, näherte sich Miri der Stelle,<br />

wo sie die Waffe vermutete.<br />

„Hat sich die junge Heldin in eine piepsende Maus verwandelt?“<br />

Plötzlich richtete der Ritter seinen Bihänder auf Miri. Sie hatte nicht<br />

einmal gesehen, wie er ihn aus der Scheide gezogen hatte. „Aus der<br />

Schlucht ist das magische Schwert zu seinem Wächter zurückgekehrt<br />

und letzte Nacht ist es mitsamt dem Golem verschwunden. Willst du<br />

immer noch behaupten, dass du nicht weißt, wo es ist?“<br />

„Ich …“ Schritt für Schritt tastet sich Miri nach hinten. „Keine<br />

Ahnung.“ Plötzlich hörte sie ein leises Klirren. Ohne den Gegner aus<br />

den Augen zu lassen, bückte sie sich und der Griff der Waffe schien<br />

ihr wie <strong>von</strong> selbst in die Hand zu springen.<br />

Mit einer Schnelligkeit, die Miri dem schwer Gerüsteten nie zugetraut<br />

hätte, stand er plötzlich vor ihr. Sie sah seine Waffe blitzen, ein<br />

derber Schlag traf ihre Brust und ließ sie taumeln. Zum Glück hatte er<br />

nur mit der flachen Seite der Klinge zugeschlagen.<br />

„Du hast es also doch. Dann sind wir in dieser Angelegenheit schon<br />

einen Schritt weiter.“<br />

Der Ritter setzte nicht gleich nach, sondern wartete, bis Miri wieder<br />

sicheren Stand hatte. Mit zitternden Händen nahm sie das Schwert<br />

hoch.<br />

„Du willst also kämpfen.“ Er nickte anerkennend. „Das ist mir auch<br />

lieber.“ Im nächsten Moment stürmte er brüllend auf sie los. Das<br />

gewaltige Schwert kreiste über seinem Kopf. bevor er jedoch<br />

zuschlagen konnte, brachte sich Miri hinter einen hüfthohen Felsen<br />

in Sicherheit.<br />

209


„Willst du tanzen oder kämpfen“, spottete er. Langsam umkreiste der<br />

Ritter den Felsen und Miri tat dasselbe. Vielleicht konnte sie in einem<br />

weiten Bogen zu Sturmtänzer rennen, den Strick einfach<br />

durchschneiden, aufsitzen und da<strong>von</strong>galoppieren. Plötzlich hörte sie<br />

in ihrem Rücken Steine den Hang hinunterrutschen. Ein ängstliches<br />

Schnauben folgte dem Klappern und das Stampfen <strong>von</strong> Hufen. <strong>Die</strong><br />

Angst um den vierbeinigen Freund packte Miri mit eisiger Hand.<br />

Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie den Gegner<br />

nicht aus den Augen lassen durfte.<br />

Sie sah den nächsten Angriff kommen und wollte ihm ausweichen,<br />

doch das Schwert schien ihre Hand zu führen. Es zerrte sie gleichzeitig<br />

nach vorne und nach oben, Metall klirrte auf Metall. <strong>Die</strong><br />

Waffen schienen sich ineinander zu verbeißen. Miri wurde <strong>von</strong> einem<br />

Funkenregen geblendet. Plötzlich brach der Widerstand der<br />

gegnerischen Klinge. Miri stolperte, der Ritter griff nach ihrer Schulter<br />

und wollte sie in eine mörderische Umarmung zu ziehen. Wie ein<br />

Raubtierzahn blitzte die abgebrochene Klinge in seiner Hand. Bevor<br />

sich die tödliche Falle schließen konnte, riss Miri die Arme hoch und<br />

ließ sich einfach fallen. Mit einer Rolle rückwärts kam sie auf die<br />

Füße. Der Ritter stand schon fast wieder über ihr. Miri riss ihre<br />

Waffenhand hoch und drehte sich zur Seite. Metall schrammte über<br />

Metall. <strong>Die</strong> schimmernde Klinge nahm den Schwung des Angreifers<br />

auf und führte seine Hand nach unten. Wie eine Stahlfeder schnellte<br />

Miri aus der halben Drehung zurück und rammte dem Gegner das<br />

linke Knie in die Seite. Sie sah ihn taumeln. Mit einem hastigen<br />

Ausfallschritt wollte er sich abfangen, aber das Gewicht seiner<br />

Rüstung zog ihn nach unten. Er donnerte schwer zu Boden, und im<br />

nächsten Moment deutete die Spitze des Zauber-schwertes auf seine<br />

Kehle.<br />

„Ergib dich“, keuchte Miri. <strong>Die</strong> Klinge glühte so hell wie ihr Zorn.<br />

210


Der Ritter schnaubte verächtlich. „Ich ergebe mich nur einem<br />

würdigen Gegner.“<br />

„Ich habe dich besiegt“, protestierte Miri. Das Licht ihrer Klinge<br />

wurde bei diesen Worten sichtlich blasser.<br />

„Besiegt bin ich erst, wenn mein Blut die Erde tränkt“, lachte der<br />

Ritter. „Du kannst mich nicht besiegen. Gewalt ist für dich doch keine<br />

Lösung.“ Blitzschnell warf er sich herum, fegte ihre Klinge beiseite<br />

und stemmte sich hoch. Miri wollte zurückweichen, doch die Klinge<br />

zuckte wie <strong>von</strong> selbst in die Höhe und traf mit der flachen Seite den<br />

ungeschützten Nacken des Gegners. <strong>Die</strong> Wucht des Treffers warf ihn<br />

erneut auf die Knie.<br />

„Tu es!“, Er beugte seinen Nacken. „Bring es endlich zu Ende.“<br />

„Nein“, entgegnete Miri. „Gewalt ist keine Lösung.“<br />

„Du kannst diesen Kampf nur gewinnen, wenn du das Gesetz der<br />

Schwerter respektierst.“<br />

Miri schüttelte den Kopf. „So kommen wir nicht weiter. Fällt dir denn<br />

gar keine vernünftige Lösung ein?“<br />

„Eigentlich habe ich keinen Streit mit dir“, entgegnete der Ritter. „Ich<br />

befolge nur die Befehle meiner Herrin. Da du mich besiegt hast, steht<br />

es dir frei, mich zu töten, meiner Waffen zu berauben oder einen<br />

Treueeid <strong>von</strong> mir zu fordern.“<br />

„Würdest du mir diesen Treueeid leisten?“<br />

„Ich diene der Herrin dieses Landes. Da du mich im Kampf besiegt<br />

hast, musst du wohl die rechtmäßige Herrscherin sein.“<br />

„Und du versprichst mir, dass du dich auch an diesen Eid hältst?“<br />

211


„Bei meiner Kriegerehre.“<br />

Miri streckte ihm die Hand entgegen. „Wenn es so einfach ist …“<br />

„Glaubst du wirklich, dass es so einfach sein könnte?“<br />

Der Schreck fuhr Miri in alle Knochen, als sie die Stimme erkannte.<br />

Nun wusste sie, wessen Schritte sie vorhin gehört hatte.<br />

„Verdammte Hexe!“ Wild entschlossen riss Miri ihre Waffe hoch und<br />

wirbelte herum. Als sie sah, dass die dunkle Königin Zügel in der Hand<br />

hielt, die zu einer Kandare in Sturmtänzers Maul führten, erstarrte sie<br />

mitten in der Bewegung.<br />

„Mit diesem Halfter kann ich mir jedes Pferd gefügig machen. Ich<br />

glaube, ich hatte es schon einmal erwähnt.“<br />

Sturmtänzer senkte ergeben den Kopf, als die dunkle Königin den<br />

Zügel schüttelte.<br />

Sie lächelte zufrieden. „Wenn keiner die Nerven verliert, finden wir<br />

sicher eine Lösung, mit der wir alle leben können, nicht wahr?“<br />

Miri atmete tief ein und zwang sich zu einem Lächeln. Es gab nichts<br />

mehr zu verhandeln. <strong>Die</strong> dunkle Königin würde ihre Bedingungen<br />

diktieren und Miri musste tun, was <strong>von</strong> ihr verlangt wurde.<br />

„Ich habe nicht vor, hier zu versauern.“ In den hautengen Hosen und<br />

den hohen Stiefeln mit breiten Stulpen sah die dunkle Königin sehr<br />

jung und beinahe verwegen aus. Mit dem langen Zopf, der ihr über<br />

die Schulter fiel, hätte sie fast ein dunkles Spiegelbild der Miri sein<br />

können, die ihre Haare noch nicht geopfert hatte.<br />

Als ihr dieser Gedanke bewusst wurde, rümpfte Miri empört die<br />

Nase. Niemals würde sie sich in ein Mieder zwängen, das eng genug<br />

war, um ihre Brüste aus dem Ausschnitt hervorquellen zu lassen.<br />

212


„Wir hätten uns gemeinsam auf die Suche nach einer netteren Welt<br />

machen können, aber dir scheint mehr an dieser Schutthalde als an<br />

meiner Gesellschaft zu liegen.“ Gelangweilt spielte sie mit einer<br />

kurzen Reitgerte herum.<br />

Sturmtänzer wollte zurückweichen, aber ein harter Ruck am Zügel<br />

ließ ihn erstarren.<br />

„Glaubst du nicht auch, dass wir beide glücklicher sind, wenn wir<br />

unsere Plätze tauschen?“<br />

„Lassen Sie zuerst Sturmtänzer frei.“ Der Anblick des vierbeinigen<br />

Freundes, dem der Schweiß über Hals und Brust rann, traf Miri<br />

mitten ins Herz. „So dürfen Sie nicht mal ein gewöhnliches Pferd<br />

behandeln.“<br />

„Was du nicht sagst.“ <strong>Die</strong> dunkle Königin lachte schrill. „So behandle<br />

ich jeden, der mir nicht gehorcht und die Methode hat sich noch<br />

immer bewährt. Zumal mir dieses Pferd nicht einmal besonders<br />

ungewöhnlich vorkommt.“<br />

Mit dem goldverzierten Halfter sah Sturmtänzer in der Tat wie ein<br />

gewöhnliches Pferd aus und genauso gebärdete er sich auch. Mit<br />

aufgerissenem Maul und rollenden Augen tänzelte er hin und her<br />

aber er machte nicht einmal den Versuch, sich loszureißen.<br />

„Steh endlich still, du dummes Vieh.“ <strong>Die</strong> dunkle Königin zog die<br />

Gerte über seine Kruppe und zerrte gleichzeitig am Zügel.<br />

Schnaubend riss der Fuchs den Kopf hoch.<br />

Miri keuchte, als hätte der Schlag sie selbst und nicht das Pferd<br />

getroffen.<br />

„Eigentlich müsste ich gekränkt sein, weil dich dieses Vieh offensichtlich<br />

mehr interessiert als meine Geschichte.“ Es sah komisch aus,<br />

213


als die erwachsene Frau ihre Unterlippe vorschob als würde sie<br />

schmollen. Aber ihre Augen funkelten dabei so gefährlich, dass es<br />

Miri keine Mühe bereitete, sich das Lachen zu verkneifen.<br />

„Andererseits schätze ich es, wenn es jemand wagt, mir die Wahrheit<br />

zu sagen.“ Das Lächeln wirkte nicht echt. „Außerdem hast du<br />

mich daran erinnert, dass meine Zeit knapp ist. Dir liegt viel an<br />

diesem Pferd, nicht wahr?“<br />

Miri wusste, dass es nicht klug war, mit offenen Karten zu spielen,<br />

aber die dunkle Königin schien sowieso schon alles zu wissen. „Ja.“<br />

Sie nickte. „Bitte, lassen Sie ihn gehen.“<br />

<strong>Die</strong> Frau nickte nachdenklich. „Wie wäre es mit einem Tausch. Du<br />

gibst mir mein Schwert zurück und ich lasse Sturmtänzer frei.“<br />

„Auf diesen Handel dürft Ihr Euch nicht einlassen, Königin Miriel“,<br />

warnte der Ritter. „Wer das Schwert des Lichts besitzt …“<br />

„Halt du dich da raus“, fauchte die dunkle Königin. „Wer sich <strong>von</strong><br />

einem Mädchen die Ehre abschneiden lässt, sollte seine Ratschläge<br />

besser für sich behalten.“ Und zu Miri gewandt fuhr sie fort: „Bist du<br />

damit einverstanden?“<br />

Ratlos schüttelte die den Kopf. „Was wollen Sie denn damit? Ich<br />

dachte, Sie brauchen das Schwert und das Windpferd, um in eine<br />

andere Welt reisen zu können.“<br />

„Aber nein. Wer hat dir denn dieses Märchen erzählt?“, schnurrte die<br />

dunkle Königin. „Das Schwert öffnet dem, der die geheimen Pfade<br />

kennt, alle magischen Tore. Auf dem Rücken des Wind-pferdes<br />

könnte ich ohne Aufenthalt in die entlegensten Welten reisen. Aber<br />

wenn dich eine Trennung so schmerzt, nehme ich die Mühe gerne auf<br />

mich. Gib mir das Schwert, dann werde ich auf Nimmerwiedersehen<br />

verschwinden.“<br />

214


„Nein!“, protestierte der Ritter. „Ihr dürft dieser Hexe kein Wort<br />

glauben, Königin Miriel. Sie wird Euch betrügen, wie sie bisher noch<br />

jeden betrogen hat.“<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin lachte böse. „Hüte deine Zunge, Waffenknecht.<br />

Ich weiß nicht, ob deine neue Herrin so nachsichtig mit dir ist, wie ich<br />

es war.“<br />

„Wenn Sie nur das Schwert brauchen, um in eine andere Welt zu<br />

reisen, warum sind Sie dann immer noch hier?“, wollte Miri wissen.<br />

„Weil ihr das Schwert nie gedient hat“, antwortete der Ritter an der<br />

Stelle seiner früheren Herrin. „Der Golem durfte es nur dem<br />

aushändigen, der ihn im Kampf besiegt.“<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin funkelte ihn zornig an. „Strapaziert meine Ge-duld<br />

nicht zu sehr.“ <strong>Die</strong> Gerte zeichnete schaumweiße Striemen auf den<br />

schweißnassen Pferdehals. Sturmtänzer wollte sich wiehernd<br />

aufbäumen, doch ein harter Ruck am Zügel hielt ihn zurück.<br />

„Bitte nicht“, flehte Miri. „Sie bekommen das Schwert. Aber lassen<br />

Sie ihn gehen.“<br />

„Eins nach dem anderen.“ Fordernd streckte die dunkle Königin ihre<br />

Hand aus.<br />

Entschlossen packte Miri die Klinge und streckte der anderen Frau<br />

das Heft entgegen.<br />

„Ich wusste doch, dass du ein braves Mädchen bist.“ <strong>Die</strong> dunkle<br />

Königin ließ die Gerte fallen, packte das Schwert und schwang sich<br />

auf den Pferderücken.<br />

Sturmtänzer machte einen erschrockenen Satz nach vorn.<br />

215


„Bleib hier.“ Miri wollte den Zügel greifen, aber Sturmtänzer scheute<br />

vor ihr zurück. „Das ist nicht fair!“<br />

„Das Leben ist niemals fair“, spottete die dunkle Königin. „Und das<br />

Spiel ist erst zu Ende, wenn alle Karten aufgedeckt sind.“ Sie trat dem<br />

Pferd in die Seiten, dass es aus dem Stand angaloppierte, und lenkte<br />

es mit harter Hand auf die Straße zu dem einsamen Turm.<br />

„Verdammt, verdammt, verdammt!“ Schreien und Stampfen machte<br />

es nicht besser. <strong>Die</strong> Hexe hatte nicht nur das Windpferd, sondern<br />

auch das Schwert des Lichts in ihre Gewalt gebracht. Jetzt konnte sie<br />

ungehindert <strong>von</strong> einer Welt in die nächste reisen, und Miri war<br />

schuld daran. Ein gellender Pfiff gefolgt vom Klappern eisenbeschlagener<br />

Hufe ließ sie herumfahren.<br />

„Ich werde sie aufhalten, Königin Miriel.“ Seiner schweren Rüstung<br />

zum Trotz schwang sich der Ritter behände in den Sattel. „Ich werde<br />

Euch, Euer Ross und Schwert zurückzubringen oder bei dem Versuch<br />

sterben.“<br />

Schnaubend setzte sich das Streitross in Trab.<br />

„Halt!“, brüllte Miri. „Nimm mich mit. Bitte.“<br />

„Nein.“ Der Ritter wandte sich nicht einmal um. „<strong>Die</strong>se Frau ist<br />

gefährlich und ich will Euch nicht in Gefahr bringen.“ Er gab seinem<br />

Rappen die Zügel frei und galoppierte da<strong>von</strong>. Badarom, badarom,<br />

donnerten die Hufe und die Silberbeschläge des Zaumzeugs klirrten<br />

im Takt dazu: klapklapp, klapklapp.<br />

„Verdammt!“ Miri stampfte noch einmal auf den Boden, doch es<br />

änderte nichts daran, dass sie sich völlig hilflos fühlte.<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Morgen? Ruft sie das Licht?<br />

216


Der Gesang tönte durch ihre trüben Gedanken, als wollte er sich<br />

daran erinnern, dass die Brücke mit dem magischen Tor frei war.<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Morgen? Ruft sie das Licht?<br />

Sie sollte endlich Vernunft annehmen und in ihre Welt zurückkehren.<br />

Hör das Sonnenlied, hör den Klang. Lausche dem Erdgesang.<br />

Tommelruf zeigt dir die Wege. Fürchte dich nicht.<br />

Leiser werdendes Hufgeklapper wies ihr den Weg zu dem Turm.<br />

„Zeigt dir die Wege. Fürchte dich nicht!“, schienen sich die Worte im<br />

Morgenlied einer Amsel zu wiederholen.<br />

„Was willst du mir damit sagen?“<br />

Keckernd flog der Vogel zur Kuppe des Hügels hinauf.<br />

„Wenn ich deine Flügel hätte, wüsste ich auch, wie ich da hinaufkomme“,<br />

schimpfte Miri.<br />

„Fürchte dich nicht!“ Eisig blies ihr der Wind in den Nacken, bevor er<br />

weiterwehte und den Nebel über der Schlucht aufwirbelte.<br />

„Wenn ich so leicht wäre, dass ich auf dem Rücken des Windes reiten<br />

könnte“, überlegte Miri halblaut. „Oder wenn ich die Flügel eines<br />

Vogels hätte …“<br />

„Fürchte dich nicht“, brummten die Steine unter ihren Füßen.<br />

<strong>Die</strong> Flügel eines Vogels …<br />

Sie hatte schon zweimal eine andere Gestalt angenommen.<br />

217


„Fürchte dich nicht“, hallte es <strong>von</strong> den Felsen wider.<br />

<strong>Die</strong> Magierin hatte ihr geholfen, sich in eine Katze zu verwandeln.<br />

„Fürchte dich nicht“, klang es leise aus dem Nebel.<br />

Am Grund der Schlucht hatte sie keine Hilfe gebraucht, um zu einer<br />

Stute zu werden.<br />

„Fürchte dich nicht“, lockte der steile Pfad, der geradewegs zu dem<br />

Turm hinaufführte.<br />

Miri erinnerte sich an den wunderbaren Körper, der sie in atemberaubendem<br />

Tempo über Hänge und Klippen getragen hatte. Mit<br />

kraftvollen Schlägen pumpte ihr Herz Blut in die Muskeln, die sich im<br />

Rhythmus des magischen Lieds zusammenzogen und wieder<br />

streckten.<br />

Klaklack, klaklack, trommelten ihre Hufe.<br />

218


Sechsundzwanzigstes Kapitel<br />

Plötzlich roch die Luft nach welkem Gras und modrig-süßen Blüten.<br />

Mit einem Sprung setzte Miri über die Felskante. Dahinter war der<br />

Boden eben und ihre Hufe mussten nicht länger auf steilen Abhängen<br />

oder rutschigen Klippen Halt suchen. Sie flog der ver-schwommenen<br />

Linie am Fuß eines flachen Hangs entgegen.<br />

Von links näherte sich Hufgetrappel. <strong>Die</strong> schärferen Sinne ihres<br />

Pferdekörpers unterschieden den akzentuierten Achter-Rhythmus<br />

unbeschlagener Hufe <strong>von</strong> dem rumpelnden Dreiertakt des Streitrosses.<br />

Offenbar hatte der schwarze Hengst Boden gutmachen<br />

können. Der Geruch <strong>von</strong> Angst stieg Miri in die Nüstern, als der<br />

feuerfarbene Hengst hinter dem Turm auftauchte. Er trug den Kopf<br />

hoch, die Mähne flatterte wie eine goldene Fahne und seine Hufe<br />

schienen den Boden kaum zu berühren. Aber der Rappe war dicht<br />

hinter ihm.<br />

<strong>Die</strong> dunkle Linie verwandelte sich allmählich in eine dornenüberrankte<br />

Mauer. <strong>Die</strong> Reiterin mit dem leuchtenden Schwert lenkte<br />

den Fuchs genau darauf zu und gab ihm den Kopf frei. Sturmtänzer<br />

streckte sich zum Galopp, aber auf dem freien Feld war der Rappe im<br />

Vorteil. Seine Sprünge wurden immer länger. Sein Reiter beugte sich<br />

im Sattel nach vorn und streckte einen Arm nach dem Zügel des<br />

anderen Pferdes aus. Doch die Reiterin schien zu ahnen, was er<br />

vorhatte. Als der Kopf des Rappen auf einer Höhe mit Sturmtänzers<br />

Schulter war, trat die Reiterin nach ihm. Das Tier wich mit einem<br />

jähen Satz zur Seite aus, sein Reiter verlor den Halt und stürzte.<br />

Keuchend blieb der Rappe neben ihm stehen.<br />

Nun waren nur noch Sturmtänzer und Miri im Rennen. Sie<br />

galoppierte ihm in einem flachen Winkel entgegen, aber sie war noch<br />

219


viel zu weit entfernt, um ihn vor der Mauer abfangen zu können. Sie<br />

sah, wie er die Mauerkrone anvisierte und noch einmal Tempo<br />

zulegte.<br />

Dann eben anders! Miri wäre fast über ihre eigenen Hufe gestolpert,<br />

als sie in eine enge Rechtskurve einschwenkte. Hoch und klotzig ragte<br />

das Hindernis vor ihr auf. Sie blinzelte den Schweiß aus ihren Augen.<br />

<strong>Die</strong> gewaltigen Muskeln in ihrer Brust verkrampften sich.<br />

Das ist zu hoch, zu weit für einen Sprung, protestierte ihr<br />

Pferdekörper. Ich werde sterben.<br />

Ich habe es schon einmal getan, erinnerte sich Miri. Noch drei kurze<br />

Galoppsprünge, tief untersetzen, die ganze Kraft auf den Punkt<br />

zwischen meinen Hufen und …<br />

Sie schnellte steil in die Höhe. Viel zu schnell kam die Mauer näher.<br />

Der Pferdeinstinkt befahl ihr, Kopf und Hals zur Seite zu reißen, um<br />

mit der Schulter auf das Hindernis zu prallen. Miri zwang sich dazu,<br />

den Kopf noch weiter vorzurecken und die Vorderbeine eng an die<br />

Brust zu pressen. Blätter streiften ihr Fell, dann ver-schwand die<br />

Mauerkrone aus ihrem Sichtfeld. Hastig streckte sie die Vorderbeine<br />

aus. Der Aufprall fuhr ihr durch Mark und Bein.<br />

Mit knapper Not wich Miri einem moosbedeckten Stein aus. Neben<br />

dem verdorrten Baum kam sie schließlich zum Stehen. Ihre Muskeln<br />

zitterten so, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.<br />

Der Hufschlag, der rasch näher kam, gab ihr die Kraft den Kopf zu<br />

heben, und sie sah Sturmtänzer über die Mauer fliegen. Schaumflocken<br />

bedeckten seine Brust, und seine Augen waren weit aufgerissen.<br />

Er landete auf einem verdorrten Rasenstück, und seine<br />

Vorderbeine wären fast unter ihm weggeknickt. Mit einem groben<br />

Ruck am Zügel riss ihn die dunkle Königin wieder hoch und trieb ihn<br />

auf den schmalen Durchgang zwischen Baum und Brunnen zu.<br />

220


„Sturmtänzer!“ Mit einem hellen Wiehern trat Miri aus dem Schatten<br />

des Baums hervor.<br />

Der Fuchshengst scheute und brach so heftig zur Seite aus, dass er<br />

seine Reiterin beinahe abgeworfen hätte. Wie versteinert stand er da<br />

und starrte sie an, als wäre sie ein Gespenst.<br />

„Schmeiß die Hexe runter“, wieherte Miri. „Wir müssen hier weg.“<br />

Sturmtänzer antwortete nicht. Er wehrte sich auch nicht, als die<br />

dunkle Königin am Zügel zerrte und gleichzeitig die flache Seite der<br />

schlanken Klinge über seine Kruppe zog.<br />

„Vorwärts, du blödes Vieh“, fauchte sie. „Das Tor! Wir müssen da<br />

durch. Ksch! Fort mit dir.“ Sie wedelte mit der Waffe in Miris<br />

Richtung. Offenbar hielt sie die Schimmelstute für ein ganz gewöhnliches<br />

Pferd.<br />

Sturmtänzer dachte nicht daran, ihrem Drängen zu folgen. Mit<br />

angstvoll aufgerissenen Augen wich er vor Miri zurück.<br />

Angst vor ihr? Unmöglich! Schnaubend schüttelte Miri den Kopf.<br />

Dabei sah sie neben ihrer Kruppe ein Schimmern wie <strong>von</strong> der<br />

Simulation der Nordlichter, die in der Vorweihnachtszeit auf die<br />

Wände der Rhein-Main-Kuppel projiziert worden waren. Etwas<br />

berührte ihr Fell wie mit Spinnenbeinen, ein unangenehmes Kribbeln<br />

rann über ihren Rücken und ihre Beine hinab. Mit einem Galoppsprung<br />

wollte sie sich vor dem geisterhaften Licht in Sicherheit<br />

bringen, doch als sie ihre Vorderbeine hochreißen wolle, wäre sie<br />

beinahe vornüber gekippt und sie ruderte mit beiden Armen, um<br />

ihren Menschkörper wieder auszubalancieren.<br />

„Du?“ Fassungslos starrte die dunkle Königin zu ihr herunter. „Wie<br />

kommst du … - Egal! Geh mir aus dem Weg!“ Sie fasste die Zügel<br />

221


kürzer und wollte Sturmtänzer mit Tritten und Schlägen vorwärtstreiben.<br />

Wiehernd bäumte sich der Hengst auf.<br />

„Das dürfen Sie nicht!“ Beherzt rannte Miri an den wirbelnden<br />

Vorderhufen vorbei, packte den linken Zügel und riss ihn der Frau aus<br />

der Hand.<br />

„Elendes Miststück!“ <strong>Die</strong> dunkle Königin führte einen wuchtigen<br />

Schwertstreich nach der Gegnerin. Der Hengst drehte sich gleichzeitig<br />

um seine eigene Achse und der Schlag ging daneben. „Blöder<br />

Gaul!“ Sie schlug mit der Zügelhand nach seinem Kopf.<br />

Sturmtänzer machte einen Satz nach vorn. Seine Kruppe streifte Miri,<br />

sie stolperte und musste den Zügel wieder loslassen.<br />

„Bleib stehen!“, brüllte sie. „Sturmtänzer bleib.“ Sie konnte sehen,<br />

dass er den Kopf nach ihr umwenden wollte, aber seine Reiterin trieb<br />

ihn weiter, dem schimmernden Tor entgegen.<br />

„Sie darf nicht entkommen“, schallte eine Männerstimme durch den<br />

Garten. „Du musst sie aufhalten.“ Miri hörte das Tor quietschen,<br />

dann näherten sich schwere Schritte und ein angestrengtes Keuchen.<br />

Sie nahm sich nicht die Zeit, um sich wenigstens mit einem Blick<br />

da<strong>von</strong> zu überzeugen, dass es tatsächlich der Ritter war, der einen<br />

anderen Weg in den Garten genommen hatte.<br />

So schnell sie konnte, rannte Miri hinter dem bockenden Hengst her.<br />

Der linke Zügel schleifte über den Boden, aber sie kam nicht einmal in<br />

seine Nähe. <strong>Die</strong> dunkle Königin bemerkte zu früh, dass die verfolgt<br />

wurde. Eine Stiefelspitze zischte an Miris Kopf vorbei und im<br />

nächsten Moment bohrte sich die Hacke tief in die empfindliche<br />

Flanke des Pferdes.<br />

„Nicht!“ Miri ächzte, als hätte der Tritt sie und nicht Sturmtänzer<br />

getroffen. Sie sah, wie sich die Muskeln unter dem schweißnassen<br />

222


Fell vor Schmerz verkrampften. In ihrem Magen schien sich etwas zu<br />

verknoten und jeder Gedanke wurde zu Eis. Sie sah, dass sich die<br />

dunkle Königin vornüber beugte, um den verlorenen Zügel wieder<br />

aufzunehmen und hörte den Ritter herbeihasten.<br />

„Vorwärts du Mistvieh!“, keifte die dunkle Königin.<br />

„Oh nein!“ Der Knoten in Miris Magen explodierte. Mit zwei Schritten<br />

war sie neben dem Pferd. <strong>Die</strong>smal griff sie nicht nach dem Zügel,<br />

sondern nach dem Bein der Reiterin. „Runter mit dir, du alte Hexe“,<br />

fauchte sie.<br />

Sturmtänzer scheute zurück, Miri hielt den Knöchel der dunklen<br />

Königin fest umklammert, und die beiden Frauen gingen gemeinsam<br />

zu Boden. Miri prallte mit dem Rücken auf etwas Hartes, gleich-zeitig<br />

traf sie der Ellbogen ihrer Gegnerin unter den Rippen. Für einen<br />

Moment wurde ihr schwarz vor Augen, dann sah sie ein grell-weißes<br />

Licht aufblitzen.<br />

„Nein!“ Eine kantige, schwarze Gestalt schob sich in Miris Blick-feld,<br />

und der Blitz traf den Arm, den der Ritter zur Abwehr erhoben hatte.<br />

Miri rollte zur Seite, der Mann schwankte, stolperte nur knapp an ihr<br />

vorbei und brach neben ihr in die Knie. Wie gebannt starrte sie auf<br />

seine Rüstung. Der Blitz hatte eine Schramme in das Schulter-stück<br />

gerissen. Ein blutiges Rinnsal sickerte daraus hervor.<br />

„Sie …“ Mit zitternden Händen deutete Miri auf die Wunde. „Sie sind<br />

verletzt.“<br />

„Das sieht schlimmer aus, als es ist.“ Er lachte grimmig.<br />

„Wir müssen …“<br />

„Nein.“ Der Ritter wehrte ihre Hände ab. „Es gibt Dringlicheres zu<br />

tun. Euer Schwert und das Windpferd ...“ Er deutete auf die Frau, die<br />

223


Sturmtänzer wieder eingefangen hatte. „Wenn sie entkommt, war<br />

alles umsonst.“<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin hielt auf den schimmernden Bogen zwischen<br />

Brunnen und Baum zu. In der rechten Hand hatte sie das Schwert und<br />

in der linken den Zügel, an dem sie Sturmtänzer hinter sich herzerrte.<br />

Mit einem Satz war Miri wieder auf den Füßen. „Bleib stehen,<br />

Sturmtänzer.“ Sie rannte auf ihn zu und wedelte dabei mit den<br />

Armen. „Du darfst nicht da durchgehen.“<br />

Er blieb tatsächlich stehen, aber er starrte sie dabei an, als würde er<br />

sie zum ersten Mal sehen. Mit einem zornigen Fluch versuchte die<br />

dunkle Königin, das Pferd zur Eile zu treiben, aber Miri hatte sie<br />

schon eingeholt.<br />

Mit beiden Händen packte sie die Schwerthand der Gegnerin. „Lass<br />

los!“<br />

Schnaubend wich der Fuchshengst zurück.<br />

„Lass du los“, fauchte die dunkle Königin, ihre Stiefelspitze traf Miris<br />

Schienbein.<br />

Sturmtänzer riss ihr den Zügel aus der Hand, doch das Manöver<br />

brachte ihn dem magischen Tor gefährlich nah.<br />

„Bleib stehen“, kreischte Miri, während sie gleichzeitig versuchte, das<br />

Schwert aus der Hand ihrer Gegnerin zu winden. „Du darfst nicht …“<br />

<strong>Die</strong> Frau lachte schallend. „Bleib stehen“, äffte sie Miri nach. „Komm<br />

zurück zu mir, mein Pferdchen.“ Sie packte Miris Haare und riss ihren<br />

Kopf mit einem jähen Ruck nach hinten. „Er versteht dich nicht, mein<br />

Täubchen“, zischte sie. „Solange er mein Halfter trägt, ist er so dumm<br />

wie jedes gewöhnliche Pferd.“<br />

224


Der Schmerz in ihrem Nacken wollte Miri in die Knie zwingen, aber<br />

ihre Hände hielten das Handgelenk der Gegnerin fest umklammert.<br />

Sie sah Sturmtänzer mit rollenden Augen und peitschendem Schweif<br />

weiter zurückweichen. Seine Kruppe berührte bereits das steinerne<br />

Rund des Brunnens.<br />

Nach rechts, dachte Miri. Dreh dich nach rechts! Stattdessen folgte<br />

der Hengst der Rundung in die andere Richtung. Direkt hinter ihm<br />

schien ein schimmerndes Gewebe wie ein Vorhang <strong>von</strong> dem<br />

leuchtenden Bogen herabzuhängen.<br />

„Sturmtänzer!“ Der erste Sonnenstrahl des neuen Tages weckte die<br />

Farbe des Feuers in dem schweißnassen Fell. „Bleib hier.“<br />

Aber er konnte sie nicht hören. Und wenn er sie hörte, konnte er<br />

nicht verstehen, was sie ihm sagen wollte. Wenn sie es zuließ, dass er<br />

den schimmernden Vorhang durchschritt, würde sie ihn für immer<br />

verlieren.<br />

Dem Zug in ihrem Nacken zum Trotz warf sich Miri mit aller Macht<br />

nach vorn. Sie rammte ihrer Gegnerin den Ellbogen in die Brust<br />

während sie sie gleichzeitig mit beiden Händen <strong>von</strong> sich stieß. Sie sah<br />

die dunkle Königin nach hinten stolpern und mit den Armen rudern.<br />

Pass auf, dass sie dir nicht in den Rücken fällt, warnte eine besorgte<br />

Stimme in ihrem Kopf. Immerhin ist sie bewaffnet und …<br />

Miri befahl der Stimme, zu schweigen. Jede Sekunde war kostbar. Sie<br />

drängte sich zwischen Sturmtänzer und den Vorhang aus blauem<br />

Licht. <strong>Die</strong> feinen Haare in ihrem Nacken richteten sich auf und ein<br />

eisiger Luftzug ließ sie frösteln. Sturmtänzer schien die<br />

elektrostatischen Entladungen ebenfalls zu spüren. Schnaubend<br />

wollte er zur Seite ausweichen, aber da war der Baumstamm. Wenn<br />

er nur einen Schritt vorwärtsgehen würde, könnte Miri ihn aus dem<br />

Engpass heraus in den Garten manövrieren. Sie warf sich mit aller<br />

225


Kraft gegen das Pferd, aber Sturmtänzer bewegte sich keinen<br />

Millimeter. Er zitterte am ganzen Leib, seine Muskeln waren steinhart<br />

und seine Kruppe sank immer tiefer, als wollte er jeden Moment mit<br />

einem Satz losschießen, ohne zu wissen, wohin.<br />

Solange er dieses Halfter trägt, ist er so dumm wie jedes gewöhnliche<br />

Pferd, flüsterte die besorgte Stimme. Miri drängte sich an<br />

Sturmtänzer vorbei und wollte gerade nach dem Zügel greifen, als sie<br />

plötzlich ein grell-weißes Licht aufblitzen sah. Gerade noch rechtzeitig<br />

duckte sie sich unter dem Schwertstreich weg. <strong>Die</strong> dunkle Königin<br />

packte die Zügel und zerrte das Pferd herum. Miris Denken erstarrte<br />

vor Schreck, doch ihr Körper schien zu wissen, was zu tun war. Sie<br />

wischte unter Sturmtänzers Hals durch. Der Hengst wollte sich in<br />

dem engen Durchgang nach rechts drehen, um dem energischen<br />

Ruck zu folgen, doch Miri riss ihm das Halfter vom Kopf. Wiehernd<br />

stieg Sturmtänzer auf die Hinterhand, die Gebissstange klirrte dabei<br />

über die Steine.<br />

Sturmtänzer hielt verblüfft inne. „Wie …?“<br />

„Mach, dass du da wegkommst“, brüllte Miri. „Vorwärts!“<br />

Mit einem Bocksprung brachte sich der Hengst in Sicherheit.<br />

„Was, zum Teufel …“, fluchte die dunkle Königin. Ungläubig starrte<br />

sie auf das leere Halfter. „Verdammt!“ Sie riss das Schwert hoch und<br />

fixierte Miri.<br />

„Das dürft Ihr nicht tun“, brüllte der Ritter. Aber er war zu weit weg,<br />

um Miri noch einmal zu Hilfe zu eilen.<br />

<strong>Die</strong> dunkle Königin schien zum Äußersten entschlossen. Miri wollte<br />

sich mit einem raschen Schritt außer Reichweite bringen, doch sie<br />

prallte mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Dabei bekam sie<br />

einen Ast zu fassen, der wohl so morsch war, dass er bei der bloßen<br />

226


Berührung abbrach. Miri riss die Arme hoch, um den Schwert-streich<br />

abzuwehren. Sie spürte den Aufprall bis in die Schultern aber der<br />

Knüppel hielt wenigstens dem ersten Treffer stand.<br />

„Haltet durch, ich bin gleich bei Euch!“<br />

Als die dunkle Königin den Ritter herbeistürmen sah, ließ sie <strong>von</strong> ihrer<br />

Gegnerin ab und wandte sich zur Flucht.<br />

„Sie darf nicht entkommen“, brüllte der Ritter.<br />

Miri folgte ihr. Dabei hob sie den Knüppel hoch über ihren Kopf. Ihre<br />

Gegnerin wandte ihr den Rücken zu. Es wäre ein Leichtes, sie<br />

niederzuschlagen.<br />

„Schnell“, keuchte der Ritter. „Ihr müsst …“<br />

„Nein!“ Miri schleuderte den Ast weit <strong>von</strong> sich.<br />

Das Schwert blitzte, das magische Gewebe zerriss mit einem<br />

hässlichen Geräusch und im nächsten Moment war die dunkle<br />

Königin verschwunden.<br />

<strong>Die</strong> ersten Strahlen der Morgensonne ließen das Portal verblassen.<br />

227


Siebenundzwanzigstes Kapitel<br />

„Muss ich jetzt für immer hierbleiben?“ Ungläubig starrte Miri auf<br />

den leeren Platz zwischen Baum und Brunnen, wo eben noch die<br />

dunkle Königin gestanden hatte. Sie hoffte fast darauf, dass der Ritter<br />

oder Sturmtänzer ja, sagen würde. Hier gab es alles, wonach sie sich<br />

immer gesehnt hatte. Pferde, Magie, Abenteuer, Wälder, Wiesen,<br />

Berge und darüber den freien Himmel und den Wind, der keine<br />

giftigen Regenwolken herantrieb. <strong>Die</strong>smal war sie nicht im Traum<br />

hier hergekommen. Sie war aus dem Seminarhaus zu dem Hügel mit<br />

dem alten Turm gelaufen. Lorenz, Ben und Merl hatten gesehen, wie<br />

sie über den Steg auf die andere Seite gegangen war.<br />

„Ich fürchte fast …“ In den Zügen des Ritters spiegelten sich Bedauern<br />

und Sorge. „Ich weiß es nicht.“ Er schüttelte den Kopf.<br />

Ben und Lorenz würden ihr fehlen, genau wie Ruth, Merl und die<br />

Klienten, die sich in den kümmerlichen Resten einer Wildnis aus lang<br />

vergangenen Tagen heimischer fühlten als in den gepflegten Parks<br />

unter den Wohnkuppeln.<br />

„Wollt Ihr denn überhaupt wieder zurückkehren, Königin Miriel?“<br />

„Ja.“ Miri wunderte sich über die Festigkeit ihrer Stimme.<br />

„Das Tor auf der Brücke verschwindet etwas später aber ich fürchte,<br />

das nützt Euch nichts. Ihr müsstet schneller sein als der Wind, um<br />

noch rechtzeitig …“<br />

„Ich bin schneller als der Wind“, wieherte Sturmtänzer. „Sitz auf,<br />

Miri. Ich bring dich hinunter, bevor die Sonne den Weg in die<br />

Schlucht gefunden hat.“<br />

228


Bevor sie etwas dazu sagen konnte, fühlte sich Miri <strong>von</strong> kräftigen<br />

Händen gepackt und auf den Pferderücken gehoben. „Sorg dafür,<br />

dass unsere Königin sicher nach Hause kommt.“ Ein aufmunternder<br />

Klaps auf die Kruppe ließ den Hengst fast in die Knie gehen.<br />

„Festhalten“, schnaubte Sturmtänzer. „Mach die Knie zu, konzentrier<br />

dich auf deinen Hintern und vergiss nicht, zu atmen.“<br />

Miri hatte sich auf dem Pferderücken noch nicht zurechtgesetzt, als<br />

Sturmtänzer lospreschte.<br />

Illustration 10: Ritt über die Brücke<br />

229


„Warte“, schrie sie. „Ich muss doch erst …“<br />

Der scharfe Gegenwind riss ihr die Worte <strong>von</strong> den Lippen.<br />

„Weiteratmen“, schnaubte der Hengst. „Oder besser noch: Sing!“<br />

Padabam, padabam. Seine Hufe trommelten den Dreier-Rhythmus in<br />

die trockene Erde.<br />

Dudupdudup, dudup, schlug Miris Herz den passenden Takt dazu.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Sturmwind? Ruft sie den Weg?“<br />

Sturmtänzers Körper zog sich zu einem gewaltigen Sprung<br />

zusammen.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Sturmwind? Ruft sie den Weg?“<br />

<strong>Die</strong> Mauer flog unter ihnen hinweg.<br />

„Hör der Trommel Ruf, hör den Klang, magischer Erdgesang.<br />

Trommellied öffnet die Tore, zeigt dir den Weg.“<br />

Im gestreckten Galopp preschte Sturmtänzer den Hügel hinunter. <strong>Die</strong><br />

Felsen und das dürre Gestrüpp, die ihren Weg säumten,<br />

verschwammen im Licht des frühen Morgens.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?“<br />

<strong>Die</strong> Schatten am Wegrand wurden düster als würde Sturmtänzer<br />

nicht dem Tag, sondern der anbrechenden Nacht entgegenjagen.<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?“<br />

230


Das Gelände wurde eben. Als Miri sich aufrichtete, um nach der<br />

Brücke Ausschau zu halten, erstarb der Gesang auf ihren Lippen.<br />

Über der Schlucht lag dichter Nebel.<br />

Tackatack, tacka, tackatackatack. Sturmtänzer parierte durch.<br />

Suchend drehte er sich hin und her. „Warum singst du nicht weiter?“<br />

keuchte er. „Wie soll ich uns sicher über diese Brücke bringen, wenn<br />

du nicht singst.“<br />

„Siehst du hier irgendwo eine Brücke?“, entgegnete Miri ratlos.<br />

„Nein.“<br />

„Oder einen leuchtenden Vorhang?“<br />

„Hier gibt es weder eine Brücke noch ein magisches Tor“, nickte<br />

Sturmtänzer. „Du musst sie herbeisingen.“<br />

„Wie soll ich das denn machen?“<br />

„Was weiß ich.“ Mit einem unwilligen Schnauben schüttelte der<br />

Hengst den Kopf. „Du bist die Cantadora.“<br />

„Aber ich kann doch nicht …“<br />

„Muss ich dich daran erinnern, dass du uns sogar einen Weg über das<br />

Meer herbeigesungen hast.“ Sturmtänzer prustete. Es klang, als<br />

würde er sie auslachen. „Eine Brücke über diese Schlucht kann nicht<br />

viel schwieriger sein. Aber du musst dich beeilen. Das Licht der Sonne<br />

findet die Brücke auch dann, wenn wir sie im Nebel nicht sehen.“<br />

„Und wenn ich es nicht schaffe?“ Das Schlucken fiel Miri so schwer,<br />

als hätte sie plötzlich einen dicken Kloß im Hals stecken.<br />

„Dann musst du wahrscheinlich doch hierbleiben.“<br />

231


„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?“,<br />

begann Miri noch einmal. Der Gesang klang in ihren eigenen Ohren<br />

dünn und verzagt. „Hör der Trommel Ruf …“, sie schüttelte den Kopf.<br />

„Es geht nicht.“<br />

„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?“<br />

Eine unsichere Stimme klang zuerst leise und dann immer lauter zu<br />

ihnen herüber.<br />

„Folg dem Zauberlied, dem Gesang. Folge dem Trommelklang.<br />

Ruft er dich, ruft er die Brücke, ruft er das Tor.“<br />

„<strong>Die</strong> Stimme kenne ich“, flüsterte Miri. „Das ist Ian. Aber ich kann ihn<br />

nicht sehen.“<br />

„Folg dem Zauberlied, dem Gesang“, wiederholte die Stimme aus der<br />

anderen Welt. „Folge dem Trommelklang. Hörst du ihn, siehst du die<br />

Brücke, siehst du das Tor.“<br />

„Da.“ Miri deutete auf den Schatten, der sich hinter der nebel-grauen<br />

Wand abzeichnete. „Das könnte die Brücke sein.“<br />

„Ich sehe gar nichts“, entgegnete Sturmtänzer. „Aber es reicht ja,<br />

wenn einer <strong>von</strong> uns …“<br />

„Stopp! Warte noch.“ Energisch zog Miri an seiner Mähne. „Ich bin<br />

nicht sicher, ob da wirklich etwas ist.“<br />

„Wenn ich noch länger warte, ist es zu spät.“<br />

„Glaub dem Trommellied. Trau dem Klang.<br />

Der Weg ist nicht mehr lang.“<br />

Ians Stimme schien weiter in den Nebel hinauszutreiben.<br />

232


„Folg dem Lied. Mutige Schritte finden das Tor.“<br />

„Du hast gut reden“, murmelte Miri. „Du musst ja nicht über eine<br />

unsichtbare Brücke laufen.“ Trotz der Kälte, die mit den Nebelschwaden<br />

aus der Schlucht gekrochen kam, glühten ihre Wangen vor<br />

Aufregung. Ein rhythmisches Stampfen und Klatschen schallte aus der<br />

anderen Welt herüber.<br />

Mutige Schritte finden das Tor, klang es in Miris Gedanken nach.<br />

„Lass mich absitzen“, entschied sie. „Zu Fuß finde ich die Brücke.“<br />

Der Nebel war so dicht, dass Miri nicht einmal mehr den Boden vor<br />

ihren Füßen erkennen konnte. Trotzdem ging sie weiter.<br />

„Ich bin nicht mehr das dumme Mädchen, das durch ein Loch im<br />

Boden fällt“, murmelte sie. „Ich bin Königin Miriel.“ Unter ihren<br />

Tritten löste sich ein Stein. Miri hörte ihn fallen. Klack, klack,<br />

klackklack. Das Geräusch verlor sich in der bodenlosen Tiefe. „Ich bin<br />

Königin Miriel“, wiederholte sie, während sie sich blind voran-tastete.<br />

„Du bist zu langsam.“ Ungeduldig scharrte der Hengst mit den Hufen.<br />

„Bevor du die Brücke findest, ist das Tor verschwunden.“<br />

„Ich bin Königin Miriel“, sagte Miri zum dritten Mal und sie befahl<br />

ihren Beinen, weiter auszuschreiten. „Ich bin die Herrin beider<br />

Welten.“ Dumpf hallte ihr nächster Schritt <strong>von</strong> hölzernen Planken<br />

wider. Dicht hinter ihr klapperten Sturmtänzers Hufe.<br />

„Da-da d-d-d-da …“ Plötzlich war Ians Stimme so nah, dass Miri<br />

glaubte, sie müsse nur die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren.<br />

„Hör endlich mit dem Theater auf, Ian.“ Merl schien weiter rechts zu<br />

stehen. „Da ist nichts. Da ist nur Nebel.“<br />

233


„Hast du Ruth erreicht?“ Lorenz hörte sich so an als stünde er kurz<br />

davor, zu explodieren. „Irgendwie muss dieser blöde Nebel-generator<br />

doch zu stoppen sein.“<br />

„Tut mir leid.“ Vor Miris geistigem Auge tauchte das Gesicht <strong>von</strong> Ben<br />

auf. „Ich hab noch keine Verbindung. <strong>Die</strong>se Störung …“<br />

<strong>Die</strong> Stimmen trieben wieder da<strong>von</strong>.<br />

„Ich hab hier ebenfalls kein Netz“, hörte sie Merl noch sagen. Dann<br />

klangen nur noch ihre eigenen Schritte und die Hufschläge <strong>von</strong><br />

Sturmtänzer durch den Nebel.<br />

„Ich bin Königin Miriel.“ Miri wiederholte diesen Satz wie ein Mantra.<br />

„Ich bin die Herrin beider Welten.“<br />

Plötzlich schien die Luft zu knistern. Miris Haare wurden in die Höhe<br />

geweht, obwohl kein Luftzug zu spüren war. „Das Tor“, flüsterte sie.<br />

Ihre Fingerspitzen ertasteten ein Hindernis, das sich gleichzeitig<br />

elastisch und unnachgiebig anfühlte wie eine straff gespannte<br />

Membran.<br />

„Geh weiter“, brummelte Sturmtänzer dicht hinter ihr. „Es sind nur<br />

noch ein paar Schritte.“<br />

„Aber das Schwert …“<br />

„Weiter!“ Ein Pferdemaul berührte ihre Schulter. „Geh weiter. Und<br />

denk an dein Lied.“<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?<br />

Leise summte Miri die Melodie. Wie <strong>von</strong> selbst schienen sich die<br />

Worte in ihren Gedanken zusammenzufügen.<br />

Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?<br />

234


Sie wagte den nächsten Schritt und dann noch einen. <strong>Die</strong> Membran<br />

legte sich wie eine zweite Haut über ihr Gesicht. Für einen Moment<br />

hatte Miri das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.<br />

Klingt der Trommelklang durch die Nacht, weckt er die alte Macht,<br />

sang der Wind.<br />

<strong>Die</strong> Luft, die plötzlich in ihren Lungen strömte, duftete nach Gras und<br />

Tannen und nach dem Rauch eines Lagerfeuers, nach dem Eis eines<br />

fernen Gletschers, nach feuchter Erde und dem Salz des Meeres.<br />

„Hier ist es so schön.“ Miri fühlte sich leicht und gleichzeitig voller<br />

Kraft. Sie musste nur die Arme ausbreiten, dann würde sie der Wind<br />

aus der anderen Welt da<strong>von</strong>tragen.<br />

Folge ihm, hallte es <strong>von</strong> den Felswänden der Schlucht herauf. Tritt<br />

aus dem Nebel endlich hervor.<br />

„Weiter“, schnaubte Sturmtänzer.<br />

„Aber in meiner Welt gibt es keine Pferde.“ Miri ballte die Fäuste.<br />

Ihre Füße waren bleischwer. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um einen<br />

Schritt und dann noch einen zu machen. Etwas in ihr schien zu<br />

zerreißen.<br />

„Sturmtänzer …“ Tränen rannen über ihre Wangen aber sie blieb<br />

nicht stehen.<br />

Klingt der Trommelklang durch die Nacht, weckt er die alte Macht,<br />

sangen die Steine unter ihren Füßen.<br />

Trommelklang ruft dich nach Haus, fielen die Stimmen <strong>von</strong> Wind und<br />

Wasser mit ein.<br />

235


Achtundzwanzigstes Kapitel<br />

„Miri!“ Lorenz zerrte sie in eine ungestüme Umarmung. „Verflixt<br />

noch mal. Wo hast du denn gesteckt, Mädchen?“<br />

Der Holzknopf seiner Jacke schrammte über Miris Wange. „Aua!“ Sie<br />

tat so, als müsse sie sich vergewissern, dass sie bei der ruppigen<br />

Begrüßung keine Verletzung da<strong>von</strong>getragen hatte, dabei wischte sie<br />

verstohlen die Tränen fort.<br />

„Ist ja auch egal. Hauptsache, du bist wieder da.“<br />

Ein Schlag auf die Schulter ließ Miri fast in die Knie gehen.<br />

Ben drängte sich ebenfalls herbei. „Hast du das Schwert ge-funden?“<br />

Sein Blick fiel auf ihre leeren Hände und Miri sah die Hoffnung in den<br />

Augen des alten Mannes erlöschen.<br />

„Ich habe es gefunden und den steinernen Wächter besiegt.“ Ihre<br />

Stimme klang rau. „<strong>Die</strong> dunkle Königin hat mir das Schwert aber<br />

wieder gestohlen. Sie ist damit in eine andere Welt geflohen, und ich<br />

habe sie nicht daran gehindert, weil …“, sie holte tief Luft. Vor den<br />

Männern wollte nicht heulen. „Weil Gewalt keine Lösung ist.<br />

Außerdem war mir die Sicherheit eines Freundes wichtiger.“<br />

Seufzend schüttelte Ben den Kopf. „<strong>Die</strong>ses Schwert …“<br />

„Lass sie doch endlich mit deinem Schwert in Ruhe“, polterte Lorenz,<br />

und zu Miri gewandt fuhr er mühsam beherrscht fort: „Völlig klar,<br />

dass dir dein Freund wichtiger war. Magst du uns etwas <strong>von</strong> diesem<br />

Freund erzählen oder wollen wir erst runtergehen?“<br />

„Der Wind hat mir ein Lied erzählt <strong>von</strong> einem Pferdchen wunderschön.“<br />

236


Wie elektrisiert fuhr Miri herum, als sie Ian singen hörte.<br />

„Es ist spät“, fuhr Lorenz fort. „Es ist schon nach Mitternacht.“<br />

„Er weiß, was meinem Herzen fehlt“, sang Ian und dabei näherten<br />

sich seine Hände behutsam einem feuerfarbenen Pferdekopf mit<br />

einer langen goldenen Mähne.<br />

„Wer ist denn dieser Freund?“, erkundigte sich Lorenz in dem Tonfall,<br />

den er normalerweise für besonders verstörte Klienten reserviert<br />

hatte.<br />

„D-d-darf ich dich a-a a-anfassen?“ flüsterte Ian.<br />

„Sturmtänzer!“ Miri riss sich los. Bis zu dem jungen Mann und dem<br />

schattenhaften Pferd waren es nur ein paar Schritte. Ungestüm warf<br />

sie ihre Arme um den Pferdehals und vergrub ihr Gesicht in der<br />

Mähne. Dass sie Ian dabei unsanft zur Seite gestoßen hatte, fiel ihr<br />

erst etwas später auf. „Tut mir leid“, murmelte sie.<br />

„Frauen“, schnaubte Sturmtänzer, und zu Ian: „Natürlich darfst du<br />

mich auch anfassen.“<br />

„Miri?“ <strong>Die</strong> Stimme <strong>von</strong> Lorenz klang auf einmal wieder sehr besorgt.<br />

„Was treibt ihr denn da?“ Merl steckte sein Mobilkom in die Tasche<br />

und kam zögerlich näher. „Und mit wem redet ihr über-haupt?“<br />

„D-da ist ein Pf-pf, ein Pfe, ein Pferd“, antwortete Ian. „K-k-k-k k-k-kaka.“<br />

Er schüttelte ungeduldig den Kopf und holte noch einmal tief<br />

Luft. „S-siehst d-du es nicht?“<br />

„Siehst du da ein Pferd?“, wandte sich Merl an Miri.<br />

Sie nickte stumm.<br />

237


„Darüber würde ich mir Sorgen machen“, sagte Merl zu den beiden<br />

anderen Männern. Dann winkte er ab. „Egal. Hauptsache, wir haben<br />

Miri wieder. Wenn sie jetzt auch einen an der Waffel hat, passt sie<br />

nur umso besser in unseren erlauchten Kreis. Los Mädels, lasst uns<br />

nachsehen, ob Ruth noch ein Stückchen Pizza für uns übrig ge-lassen<br />

hat. Mir knurrt seit geraumer Zeit der Magen. Und wenn es schon<br />

nach Mitternacht ist, können wir auch gleich noch Ians Geburtstag<br />

feiern. Ich wette, er brennt schon darauf, zum letzten Mal seine<br />

Persönlichkeitsauslöschung zu beantragen.“<br />

Summend strich Ian über das glatte Pferdefell, wickelte eine Strähne<br />

des seidigen Langhaars um seinen Finger und folgte den Linien der<br />

Muskulatur. Ohne auch nur einen Augenblick in seiner Bewegung<br />

innezuhalten, schüttelte er den Kopf. „D-d-das k-k-ka-kannste v-<br />

vergessen, M-merl.“<br />

238


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