Siegelwelt-Chroniken - Die Feuerprobe / von Beate Weirich
Der Initiationsweg einer jungen Frau https://tintenweberei.com
Der Initiationsweg einer jungen Frau
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<strong>Die</strong> <strong>Siegelwelt</strong>-<strong>Chroniken</strong> Band 6<br />
<strong>Beate</strong> Paul<br />
<strong>Feuerprobe</strong><br />
Armadillo Collection<br />
2012
<strong>Die</strong> <strong>Siegelwelt</strong>-<strong>Chroniken</strong> Band 6: <strong>Feuerprobe</strong><br />
Lektorat: Christine Hochberger<br />
Umschlagillustration: Fern <strong>Weirich</strong><br />
©2012 Armadillo-Collection: Fern <strong>Weirich</strong><br />
© 2012 der Texte: <strong>Beate</strong> Paul<br />
© 2012 der Illustrationen: Fern <strong>Weirich</strong><br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
2
Einige Worte zuvor<br />
<strong>Die</strong> alten Helden haben ausgedient. Wer die Erde der Zukunft mit<br />
Egomanen, herzlosen Kampfmaschinen bestückt, beweist nicht viel<br />
Phantasie und spricht der Menschheit die Fähigkeit ab, lernfähig zu<br />
sein. <strong>Die</strong> Autorin hat ihren fesselnden Roman mit Heldinnen und<br />
Helden einer anderen Art ausgestattet, wie die junge Miri, die sich<br />
voller Kraft, Herz, Mut und Klugheit durch ihren Initiationsweg<br />
kämpft.<br />
Haben die „Heldenreise“ <strong>von</strong> Paul Rebillot, die Initiationsarbeit der<br />
„School of Lost Borders“ und der Weg der Heldenarchetypen<br />
irgendetwas in einem Endzeitszenario zu suchen? Warum nicht!<br />
<strong>Die</strong>se Wege sind zukunftsweisend, da sie den Menschen seinem<br />
tatsächlichen Wesen näher bringen. Sie helfen ihm, der zu werden,<br />
als der er geboren wurde und der er immer schon war. Und diese<br />
Wege sind im Kern uralt. Ihre Wurzeln finden sich in den ältesten<br />
Mythen und Ritualen der Menschheit. Sie haben das Potenzial, auch<br />
noch in Jahrhunderten wirksam zu sein.<br />
Ich schreibe diese Zeilen auf einer Decke sitzend, neben einer<br />
indianischen Schwitzhütte. Ich bereite gerade eine Gruppe <strong>von</strong><br />
Männern auf ihre Initiationserfahrung vor. Ihr Weg ist es, zu sterben<br />
und neu geboren zu werden. Wie die Heldin dieser Geschichte sind<br />
sie auf verschiedenen Ebenen unterwegs. Einer-seits ist alles nur<br />
Fiktion, Spiel, so tun als ob. Andererseits ist alles real. <strong>Die</strong> Ängste sind<br />
real, die Widerstände, die kraftvollen Energien in der Psyche jedes<br />
Einzelnen sind real. Und diese Art der Realität kleidet sich gerne in<br />
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mythische Bilder, in archetypische Figuren. Jeder dieser Männer<br />
gestaltet und erlebt seine persönliche „<strong>Feuerprobe</strong>“.<br />
Bei der Lektüre dieses Romans habe ich oft geschmunzelt, weil mir<br />
die eine oder andere Szene sehr vertraut vorkam. Nicht, weil ich sie<br />
in anderen Geschichten gelesen hätte, sondern weil sie sich so oder<br />
so ähnlich auch in den magischen Räumen einer Visionssuche oder<br />
Heldenreise ereignen. Auch dort werden die Helden <strong>von</strong><br />
sprechenden Tieren begleitet, zauberkräftige Waffen helfen ihnen,<br />
das Ungeheuer auf der Schwelle zu überwinden und den Schatz zu<br />
erringen, mit dem sie in die alltägliche Welt zurück-kehren.<br />
Ich wünsche diesem Buch viele begeisterte Leserinnen und Leser.<br />
Vielleicht motiviert es sogar den einen oder anderen, sich selbst auf<br />
die Socken zu machen.<br />
Wasserburg, 24. Mai 2012<br />
Franz Mittermair<br />
4
Zum besseren Verständnis<br />
Miris Welt ist uns zwar nicht völlig fremd, aber auch nicht ver-traut.<br />
<strong>Die</strong> Zivilisation, wie wir sie kennen, wurde durch Erdbeben,<br />
Vulkanausbrüche, Überschwemmungen und eine tödliche Seuche<br />
fast völlig ausgelöscht. Buchstäblich im letzten Moment haben die<br />
Überlebenden begonnen unter der Führung der Regenbogenkrieger<br />
eine neue Welt aufzubauen.<br />
Im Jahr 2136 leben die meisten Bewohner der Rhein-Main-Region<br />
unter riesigen Biokuppeln. Sie haben sich darauf geeinigt, auf jede<br />
Form <strong>von</strong> Gewalt zu verzichten. Natürlich gibt es immer noch<br />
Konflikte, doch es gibt auch kreative Lösungen.<br />
In den Außenbereichen am Rand der Kuppeln leben die Schrotthändler,<br />
die mit alten Trucks und Maschinen in die Ebenen hinausfahren,<br />
um Metall-Lagerstätten zu suchen. Da die Menschen nicht<br />
nur auf Gewalt sondern auch auf jede Form der Ausbeutung<br />
verzichten, werden keine natürlichen Erzvorkommen mehr ausgebeutet<br />
und die Kuppelstädte sind auf Metallfunde aus der Zeit vor<br />
dem „großen Rums“ angewiesen.<br />
Andere Menschen haben sich zu Clans zusammengeschlossen, die als<br />
Nomaden über die Ebenen ziehen, um der Stimme der Erd-mutter zu<br />
lauschen. In den Liedern der Sterne und im Herzschlag des<br />
Erddrachen suchen sie nach der Magie, die die vielen ausgestorbenen<br />
Tier- und Pflanzenarten zurückbringt.<br />
5
<strong>Die</strong> achtzehnjährige Miriel Rosen arbeitet in der Wildniskuppel,<br />
einem ehemaligen Park aus der Zeit vor dem „großen Rums“, der<br />
heutzutage für Psychotherapie und Selbsterfahrung genutzt wird.<br />
Nach ihrer Ausbildung zur Wildnisassistentin ist sie auf dem Weg zu<br />
ihrer Abschlussprüfung …<br />
<strong>Beate</strong> Paul<br />
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Erstes Kapitel<br />
„Bitte treten Sie <strong>von</strong> der Rampe zurück und verlassen Sie die<br />
gekennzeichneten Bereiche. Der Gleiter ist besetzt“, tönte eine gelangweilte<br />
Frauenstimme durch die Station. Miri dachte nicht daran,<br />
zurückzutreten. <strong>Die</strong> junge Frau mit dem straff geflochtenen Zopf<br />
drängte sich an einem übergewichtigen Anzug-Fatzke vorbei. Er hatte<br />
einer Nobel-Tussi und zwei alten Frauen den Vortritt gelassen. Jetzt<br />
dachte er offenbar angestrengt darüber nach, ob er der<br />
Lautsprecherstimme gehorchen, oder noch einsteigen sollte.<br />
„Bitte treten Sie zurück“, wiederholte die Stimme mit gleichbleibender<br />
Höflichkeit. „Der nächste Gleiter der Linie 'Grün‘ vierzehn,<br />
Rhein-Main-Zentrum Südost erreicht die Station in neun-zehn<br />
Minuten. Zu den Stationen einhundertachtunddreißig, Jesper-Juul-<br />
Schule, und einhundertsiebenundzwanzig …“<br />
Miri wollte nichts über Fahrpläne oder alternative Linien wissen. Sie<br />
wollte nur den Überlandgleiter in die Wildniskuppel nicht ver-passen.<br />
Ausgerechnet an ihrem großen Tag durfte sie nicht zu spät kommen.<br />
Mit zwei Sätzen überquerte sie die grün gefärbten Stein-gussplatten<br />
in der Einstiegszone und quetschte sich zwischen den Türflügeln<br />
hindurch. Als diese den Widerstand spürten, öffneten sie sich mit<br />
einem Geräusch, das wie ein vorwurfsvolles Räuspern klang.<br />
„Achtung“, sagte ein Zwillingsbruder der Frau <strong>von</strong> der Stationsdurchsage.<br />
„<strong>Die</strong>ser Wagen ist besetzt. Bitte gehen sie nach vo…“ Der<br />
Mann aus dem Lautsprecher klang so, als hätte er sich ver-schluckt.<br />
Mit einem leisen Zischen glitten die Türen übereinander und der<br />
Gleiter nahm langsam Fahrt auf.<br />
Miri blickte auf den Boden zu ihren Füßen, um den vorwurfsvollen<br />
Blicken ihrer Mitfahrer nicht zu begegnen, während sie nach vorne<br />
7
ging. <strong>Die</strong> Sicherheitsprogramme waren nicht unfehlbar. Irgendwo<br />
würde sie bestimmt noch einen freien Sitz finden.<br />
„Bitte nehmen Sie Platz“, empfing sie der Lautsprecher im nächsten<br />
Wagen. „Aus Gründen der Sicherheit ist es nicht gestattet, während<br />
der Fahrt …“ <strong>Die</strong> Durchsage endete mit einem Misston, der fast wie<br />
ein Ächzen klang. „<strong>Die</strong>ser Gleiter ist besetzt“, fuhr der Sprecher<br />
wenig später fort. Offenbar hatte ihm die Überwachungskamera<br />
verraten, dass ein Passagier zu viel an Bord war. „Bitte steigen Sie an<br />
der Station einhundertachtunddreißig, Jesper-Juul-Schule, aus und<br />
warten Sie auf den nächsten Gleiter der Linie 'Grün' vierzehn, Rhein-<br />
Main-Zentrum Südost.“<br />
„Dann komme ich aber zu spät“, schimpfte Miri.<br />
„Pst, Frau Elbenkönigin.“ Ein pechschwarzer Lockenkopf tauchte<br />
zwischen den Sitzreihen auf. „Komm schnell. Wir schmuggeln dich an<br />
Herrn Kontrollski vorbei.“<br />
„Hallo Wulf.“ Obwohl sie ihm unter normalen Umständen aus dem<br />
Weg gegangen wäre, steuerte Miri eilig auf ihn zu. „Ist bei dir noch<br />
was frei?“<br />
„Nicht für jeden. Aber für so hohen Besuch rücken wir gerne<br />
zusammen.“<br />
Miri hörte jemanden kichern. Noch bevor sie hinter der hohen Lehne<br />
etwas sehen konnte, wusste sie, dass es Sarah war. Das hübsche<br />
Mädchen mit den großen, braunen Augen war seit zwei Jahren Wulfs<br />
Freundin.<br />
„Setz dich auf meinen Schoß.“<br />
„Ich?“ Miri starrte ihn entsetzt an.<br />
8
„Ne, lass mal“, entgegnete Wulf. „Du hast ja immer noch keine Airbags<br />
und einen Hintern wie ein Junge. Ich hab lieber was Griffige-res<br />
im Arm.“<br />
Sarah kletterte auf seinen Schoß und kicherte albern, als Wulf an<br />
ihren Brüsten herumtatschte.<br />
Miri setzte sich auf den freigewordenen Platz und seufzte. Vor zwei<br />
Jahren hatten sie und Sarah noch um die scharfsinnigsten Argumente<br />
im philosophischen Forum im Wettstreit gelegen. Doch seit sie <strong>von</strong><br />
diesem gut aussehenden Wichtigtuer erwählt worden war, schien sie<br />
ihr Gehirn nicht mehr zum Denken zu benutzen.<br />
„Wohin des Weges?“, erkundigte sich Sarah. „So wie du aussiehst,<br />
willst du sicher nicht zum Abtanzen.“<br />
„Volltreffer.“ Lachend schüttelte Miri den Kopf. Bereits der Ge-danke,<br />
dass sie auf dem Weg in eine Tanz-Arena sein könnte, war absurd.<br />
Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie neben Prinzessin Sarah<br />
bestenfalls das Aschenputtel geben konnte. „Ich fahr in die<br />
Wildniskuppel“, sagte sie, bevor die ehemalige Klassenkameradin das<br />
Gespräch auf den neuesten Mode- oder Musiktrend bringen konnte.<br />
„Oh je!“ Wulf schüttelte den Kopf. „Machst du das immer noch?“<br />
„Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten habe ich meine Ausbildung<br />
nicht geschmissen“, entgegnete sie schnippisch. „Heute ist<br />
Abschlussprüfung. Wenn auf der Zielgeraden nicht noch was quer<br />
läuft, bin ich morgen die jüngste Wildnisassistentin, die Ben je ausgebildet<br />
hat.“<br />
„Da wird nichts quer laufen“, sagte Sarah beschwichtigend. „Klarer<br />
Fall. Du schaffst das.“<br />
9
„Na ja, aber …“ Wulf rümpfte die Nase. „Wildnisassistentin?“ Er<br />
dehnte das Wort, als hätte es einen schlechten Geschmack. „Mal<br />
ehrlich. Mit eurer Wildniskuppel lockt ihr doch heutzutage keinen<br />
mehr aus der Bude.“<br />
Miri schnaubte verächtlich, widersprach ihm aber nicht. Schließlich<br />
wusste sie auch, dass die Belegzahlen in den letzten Jahren kontinuierlich<br />
gesunken waren.<br />
„Ich bin in der Abenteuerkuppel“, berichtete Wulf. „Geniale Tech-nik,<br />
Wahnsinnstricks, ständig neue Szenarios und jede Menge Komfort.<br />
Alle Kurse sind ausgebucht. Keiner muss sich mit Gestörten abgeben,<br />
die schon für die Persönlichkeitsauslöschung gebucht sind. Im<br />
Sommer geht mein Kurs in die letzte Runde, dann bin ich Adventure-<br />
Instructor. Aber ich mach gleich weiter. Bis zum Adventure-Coach<br />
schaffe ich es dieses Jahr sicher noch.“<br />
„Pfft.“ Miri blies die Backen auf. „Adventure-Coach! Das macht auf<br />
jeden Fall was her.“<br />
„Du solltest es wenigstens mal ausprobieren“, riet ihr Sarah. „Ich find‘<br />
die Workshops gut und unser Wölfchen hat’s echt drauf.“<br />
Mit einem abgrundtiefen Seufzer verdrehte „Wölfchen“ die Augen.<br />
„Geh wenigstens mal zum Besuchertag“, fügte Sarah noch hinzu.<br />
„Nein, danke.“ Miri schüttelte den Kopf. „Mir ist der Wald lieber als<br />
ein Piratenschiff oder eine nachgebaute Polarlandschaft.“<br />
„Wir haben auch Waldszenarios“, sagte Wulf. „Willst du die Termine?“<br />
„Ach lass mal. Ich steh auf echte Bäume, nicht auf die Holo-Variante.“<br />
10
„<strong>Die</strong> Hologramme kannst du <strong>von</strong> echten Bäumen nicht unterscheiden“,<br />
beteuerte Sarah. „Ich war mal…“<br />
Wulf fiel ihr ins Wort. „Vergiss es. Wenn dir deine Mutter den Namen<br />
einer Elbenkönigin aufgedrückt hätte, müsstest du auch erst in<br />
Hasenköddeln stehen, bevor du glaubst, dass du im Wald bist. Wer<br />
Miriel heißt, kann vermutlich gar nichts anderes als eine<br />
Wildnistrainerin werden.“<br />
„Och Wulf …“ Sarah kicherte und Miri bemühte sich, nicht hinzuhören.<br />
Wulf hatte sie schon immer wegen ihres Namens aufgezogen.<br />
Als ob sie ihre Mutter dazu angestiftet hätte, sie mit dem<br />
Elbennamen „Sternentochter“ zu strafen. Dabei hatte Wulf bestimmt<br />
keinen Grund, darüber zu spotten. Schließlich hieß er nicht<br />
nur Wulf, was ungewöhnlich genug gewesen wäre, seine Eltern<br />
hatten ihn auch noch nach einem Krieger aus einer märchenhaften<br />
Vorzeit „Beowulf“ genannt.<br />
„Sollen wir Daumen drücken?“, erkundigte sich Sarah. „Ist das heute<br />
die Theoretische?“<br />
„<strong>Die</strong> Praktische“, antwortete Miri. „Und Daumendrücker kann ich<br />
heute Abend sicher gut brauchen. Ben hat gesagt, dass er mir die<br />
Prüfungsaufgabe selbst stellen will.“<br />
„Oha!“ In gespieltem Entsetzen riss Wulf die Augen auf. „Er wird dich<br />
bestimmt auf die Suche nach dem legendären Schwert schicken, das<br />
er bei seiner Visionssuche gefunden und durch eine klitzekleine<br />
Unachtsamkeit gleich wieder verloren hat.“<br />
„Wulf!“ Sarah hielt ihm den Mund zu. „Mach ihr doch keine Angst.<br />
Ein großer Jedimeister stellt seinem Padawan keine Aufgaben, die er<br />
nicht auch bewältigen kann. Außerdem müssen wir gleich raus.“<br />
Sie drängte sich an Miri vorbei und Wulf folgte ihr.<br />
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„Mach’s gut, Elbenkönigin“, rief er zum Abschied so laut, dass es das<br />
ganze Abteil hören konnte. „Vergiss unser dummes Geschwätz und<br />
lass dir <strong>von</strong> den Spirits genau erklären, was du tun musst, um die<br />
Welt zu retten.“<br />
12
Zweites Kapitel<br />
Miri atmete erleichtert auf, als die beiden draußen waren. Früher<br />
hatte sie Wulf gemocht. Er war der Älteste und sie die Jüngste in der<br />
Ausbildungsgruppe gewesen. Trotzdem hatten sie immer gerne und<br />
gut zusammen gearbeitet. Sie hatten sogar da<strong>von</strong> geträumt,<br />
gemeinsam eine Jugendgruppe zu leiten. Mitten in der Vorbe-reitung<br />
zu ihrer Visionssuche hatte Wulf die Ausbildung abge-brochen. Bei<br />
einem Ausflug in die echte Wildnis jenseits der sicheren<br />
Kuppelwände hatte er mit ihrem Mentor einen fürchter-lichen Streit<br />
vom Zaun gebrochen und danach war er einfach nicht mehr<br />
gekommen. Wulf hatte ihr nie erzählt, was passiert war, und Lorenz<br />
hatte ebenfalls geschwiegen.<br />
Egal! Miri kramte ihr Memory-Pad aus dem Rucksack. Der Wildnis-<br />
Trainings-Ordner versteckte sich unter dem Schattenriss eines<br />
galoppierenden Pferdchens. Behutsam strich Miri über die Figur,<br />
bevor sie den Ordner öffnete. Bei der ersten Trancereise hatte sie<br />
entdeckt, dass ihr Krafttier ein Pferd war. Seither wünschte sie sich<br />
nichts sehnlicher, als einmal einem echten Pferd zu begegnen.<br />
Bedauerlicherweise gab es seit dem großen Rums, der alles<br />
vernichtete hatte, was nicht rechtzeitig in eine Bio-Kuppel geflüchtet<br />
war, keine Pferde mehr.<br />
„Bleib beim Thema!“, ermahnte sie sich. „Was könnte Ben in einer<br />
zweistündigen Prüfung <strong>von</strong> einer angehenden Wildnisassistentin<br />
verlangen?“ Sie hatte die Einladung erst vor drei Tagen in ihrem<br />
elektronischen Postfach gefunden. In Ermangelung einer besseren<br />
Idee, rief sie die Nachricht noch einmal auf.<br />
Abschlussprüfung Miriel Rosen, Freitag, 25. Mai 2136, 19.30 Uhr.<br />
Darunter hatte ihr Mentor ein paar persönliche Zeilen geschrieben:<br />
13
Merl und Ian kommen auch zur Prüfung. Ben hat sie eingeladen.<br />
Wenn du willst, können wir uns um sieben im Seminarhaus treffen,<br />
um den Raum gemeinsam herzurichten. Lorenz.<br />
Miri hatte vergeblich versucht, herauszufinden, was der Sozial-trainer<br />
und sein jüngster Klient in der Prüfung zu schaffen hatten. Lorenz<br />
hatte ihr nichts verraten. Es war naheliegend, dass sie einen echten<br />
Klienten anleiten und die Übung anschließend mit ihm auswerten<br />
sollte. Aber ausgerechnet Ian? Seit zwei Jahren kam Merl einmal im<br />
Monat mit dem sonderbaren jungen Mann in die Wildniskuppel. Seit<br />
zwei Jahren hatte sie ihn noch kein Wort reden hören. Nur mit den<br />
Steinen, Pflanzen und Tieren redete er in einem sonderbaren<br />
Singsang, den außer ihm kein Mensch verstand. Wenn sie sich im<br />
Eingangsbereich oder in der Schleuse begegneten, erwiderte er<br />
weder ihre Grüße noch ihre Blicke. Sie hatte herausgefunden, dass<br />
Ian mit vierzehn zum ersten Mal eine Persönlichkeitsauslöschung<br />
beantragt und seinen Antrag seither pünktlich jedes halbe Jahr<br />
bestätigt hatte. Wenn sie sich richtig erinnerte, würde er bald<br />
einundzwanzig sein, dann konnten die Behörden seinen Antrag nicht<br />
länger ablehnen. Hoffentlich er-wartete niemand <strong>von</strong> ihr, dass sie ihn<br />
<strong>von</strong> der Idee abbringen könnte, sich einer medizinischen Behandlung<br />
zu unterziehen, mit der besonders unglückliche oder zornige<br />
Menschen in zufriedene Idioten verwandelt wurden.<br />
Der Stadtgleiter erreichte die Endstation, Miri stieg in die Überlandlinie<br />
um. Seufzend stellte sie fest, dass sie noch immer keinen<br />
Blick in ihre Unterlagen geworfen hatte, aber ihr blieb noch etwas<br />
mehr als eine halbe Stunde Fahrzeit in einem fast leeren Gleiter.<br />
Entschlossen öffnete Miri den Ordner. <strong>Die</strong> Baumzeremonien unter<br />
Punkt eins hatte sie oft genug selbst gemacht, Medizinradübungen<br />
würde hoffentlich keiner <strong>von</strong> dem schweigsamen Klienten verlangen<br />
und Übernacht-Zeremonien sicher auch nicht. Miri erinnerte sich<br />
14
noch gut an Ians Geschrei, als Merl ihn einmal nicht pünktlich bei<br />
Sonnenuntergang im Seminarhaus abgeliefert hatte. An dem Symbol,<br />
unter dem die Meditationen gespeichert waren, blieb Miris Finger<br />
hängen. Sie hatte lange keine Meditation mehr angeleitet.<br />
Während sich Miri den Aufbau verschiedener Meditationen ins<br />
Gedächtnis rief, flogen im trüben Licht des Sommerabends flache<br />
Kuppeln vorbei, in denen Gemüse angebaut wurde. Der grüngoldene<br />
Widerschein einer größeren Obstbau-Kuppel verriet ihr, dass der<br />
Gleiter in zwölf Minuten die Wildniskuppel erreichen würde. Sie<br />
schaltete ihr Memory-Pad aus, stopfte es in den Rucksack und starrte<br />
in die trostlose Landschaft, ohne etwas zu sehen. Erst als sie sich<br />
dabei ertappte, dass sie mit einem tiefen Seufzer aus-atmete, wurde<br />
ihr bewusst, dass sie die Luft angehalten hatte. Kopfschüttelnd lachte<br />
sie das besorgte Gesicht in der dicken Scheibe aus.<br />
„Wovor fürchtest du dich, Miri-Mäuschen“, sagte sie zu ihrem<br />
Spiegelbild. „<strong>Die</strong> Ram-Medi hast du schon hunderttausendmal<br />
gemacht und bei der Archetypen-Meditation lässt du einfach die<br />
Blumen weg und gehst durch die Chakren nach oben. Wilder Mann,<br />
wilde Frau im Wurzelchakra, Heiler, Heilerin im Bauch, Krieger,<br />
Kriegerin im Sonnengeflecht …“<br />
Das Bild einer lachenden Frau in archaischen Kleidern mit einem<br />
langen, schlanken Schwert drängte sich in ihre Gedanken. <strong>Die</strong><br />
Kriegerin, die das Schwert des Lichts ergreift, sobald Klarheit und<br />
Gerechtigkeit bedroht werden.<br />
Ben hatte den angehenden Wildnisassistenten erzählt, dass er<br />
diesem Schwert bei seiner Visionssuche tatsächlich begegnet war.<br />
„Obwohl ich in dem Moment wusste, dass es meine Aufgabe war, das<br />
Schwert in unsere Welt zurückzubringen, habe ich nicht ge-wagt, es<br />
15
auch nur zu berühren.“ Tränen hatten in seinen Augen ge-schimmert,<br />
als er ihnen das Ende seiner Geschichte erzählte. „Ich habe später<br />
noch oft versucht, das leuchtende Schwert wieder-zufinden, aber der<br />
Zugang zu dem Ort zwischen den Welten blieb für mich verschlossen.<br />
Es gibt auf dem Weg eines jeden Menschen Türen, die sich nur ein<br />
einziges Mal öffnen.“<br />
Miri erinnerte sich, dass Wulf mit einem dummen Witz über<br />
Multifunktionswerkzeuge und Universalschlüssel in das ehr-fürchtige<br />
Schweigen geplatzt war. Um die Peinlichkeit zu über-spielen, hatte er<br />
gefragt, wo er diese Tür finden würde, aber Ben hatte nur nachsichtig<br />
gelächelt.<br />
„Du musst nicht danach suchen“, hatte er gesagt. „Wenn das Schwert<br />
einen <strong>von</strong> euch ruft, findet euch auch die Tür.“<br />
Ben war kein junger Mann mehr. Im vergangenen Winter war er vier<br />
Wochen lang krank gewesen. Vielleicht hatte er entschieden, dass es<br />
an der Zeit war, jemandem zu verraten, wo er diese Tür suchen<br />
musste und da sie als Einzige <strong>von</strong> ihrer Ausbildungsgruppe übrig<br />
geblieben war …<br />
„Quatsch!“, sagte sie halblaut zu ihrem Zwilling in der Fensterscheibe.<br />
„Wenn er das tun wollte, hätte er sicher nicht Merl und Ian<br />
zu deiner Prüfung eingeladen.“ Seufzend wandte sie sich wieder den<br />
Meditationen zu, die sie jedes Mal schneller vergessen als gelernt<br />
hatte.<br />
Nach der Kriegerin kam die Königin im Herzchakra, der Narr in der<br />
Kehle, der Magier oder die Magierin in der Stirn und der oder die<br />
weise Alte im Scheitelchakra.<br />
„Behalt das wenigstens für die nächsten paar Stunden“, ermahnte sie<br />
sich. „Auch wenn dich Ben nicht ausgerechnet mit Ian eine<br />
Meditation machen lassen wird.“<br />
16
Der Gleiter folgte einer lang gezogenen Linkskurve, um dem<br />
unsicheren Sumpfboden am Rheinufer auszuweichen. Hinter einem<br />
Schotterhügel kam die Wildniskuppel in Sicht. Noch sechs Minuten.<br />
Durch das Schimmern der Kuppelwände konnte Miri schroffe<br />
Berggipfel und das satte Grün <strong>von</strong> Tannen erkennen. Doch die Berge<br />
existierten nur im Computerprogramm der Projektoren, die den<br />
ehemaligen Park aus der Zeit vor dem großen Rums in ein weites,<br />
wildes Land verwandelten.<br />
Der Gleiter wurde langsamer, als er sich der Kuppel näherte. Gleich<br />
würde der Leuchtbalken über dem Tor <strong>von</strong> Rot auf Grün wechseln.<br />
<strong>Die</strong> beiden Türflügel würden sich langsam in die meterdicken<br />
Steingusswände schieben, aus denen die Schleuse vor mehr als<br />
hundert Jahren erbaut worden war und dann …<br />
Erschrocken zuckt Miri <strong>von</strong> der Fensterscheibe zurück. Aus den<br />
Augenwinkeln hatte sie eine Bewegung bemerkt. Dabei gab es im<br />
lebensfeindlichen Ödland außerhalb der Kuppeln nicht allzu viel, was<br />
sich bewegen konnte. <strong>Die</strong> schmierig grüne Oberfläche eines Tümpels<br />
kräuselte sich wie bei einem nahenden Erdbeben. Dann war wieder<br />
alles still. <strong>Die</strong> Wildniskuppel war keine fünfhundert Meter mehr<br />
entfernt. Hinter dem schweren Metalltor wären sie auch vor einem<br />
Erdbeben sicher, aber der Gleiter hatte bereits aufgesetzt und kroch<br />
im Schritttempo auf den Eingang zu, als hätten sie alle Zeit der Welt.<br />
Miri spürte, wie ihre Kehle eng wurde. <strong>Die</strong> Luft schien sich<br />
elektrostatisch aufzuladen. Sie kribbelte auf ihrer Haut, ließ ihre<br />
Haare knisterten und hinterließ einen verbrannten Geschmack auf<br />
ihrem Gaumen. <strong>Die</strong> beiden Frauen weiter hinten schienen nichts <strong>von</strong><br />
alledem zu merken. Sie plauderten und lachten miteinander. Plötzlich<br />
bäumte sich der Gleiter auf, als wolle er abheben. Ein Schlag wie <strong>von</strong><br />
einem gewaltigen Hammer donnerte ihn auf den Boden zurück. Von<br />
einem Moment auf den anderen war es stockdunkel. Ein<br />
unsichtbares Ungeheuer schien seine Klauen in die Hülle zu schlagen,<br />
Glas zerbarst und Miri wurde im hohen Bogen durch die Luft<br />
17
geschleudert. Sie hörte jemanden schreien, dann prallte sie mit dem<br />
Rücken gegen etwas Hartes, im gleichen Moment verstummte der<br />
Schrei. Sie wagte nicht, zu atmen.<br />
Kann es sein, dass Sterben so schnell geht? Ein sonderbares Geräusch<br />
erwachte in der Dunkelheit. Miri registrierte verblüfft, dass es ein<br />
hysterisches Kichern war, das aus ihrer Kehle kam. Gleichzeitig<br />
rannen ihr Tränen übers Gesicht. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass<br />
es nur so dunkel war, weil sie die Augen fest zusammengekniffen<br />
hatte. Sie kicherte wieder, verschluckte sich dabei, und konnte gar<br />
nicht mehr aufhören zu lachen, bis sie sich die Seiten halten musste,<br />
weil sie keine Luft mehr bekam. Bevor sie es wagte, die Augen zu<br />
öffnen, wappnete sie sich gegen den Anblick einer entsetzlichen<br />
Katastrophe.<br />
Aber da war nichts. Keine Toten, keine Verwundeten, kein Gleiter. So,<br />
als hätte es ihn nie gegeben. Erstaunt stellte Miri fest, dass ihr nichts<br />
wehtat. Ihr Rücken war steif, aber sie konnte sich aufrichten und ihre<br />
Beine trugen sie Schritt für Schritt dem Steingusswall mit den hohen<br />
Metalltüren entgegen.<br />
„<strong>Die</strong> wilde Frau im Wurzelchakra, die Heilerin im Bauch und die<br />
Kriegerin im Solarplexus“, wiederholte sie. Sie wollte auf keinen Fall<br />
darüber nachdenken, was da gerade passiert war. Es war sowieso<br />
wichtiger herauszufinden, wie sie ohne Gleiter in die Schleuse kam.<br />
Lorenz wusste vermutlich, wie das Schleusentor manuell geöffnet<br />
werden konnte, er wusste schließlich sonst auch alles über die<br />
Wildniskuppel. Sie zog das Interkom aus ihrer Brust-tasche und<br />
aktivierte es, um ihn anzurufen. Auf dem Display blinkte ein rotes<br />
Dreieck, kein Netz. Hoffentlich gab es an der Schleuse eine<br />
Kommunikationseinrichtung. Während sie noch darüber nach-dachte,<br />
glitten die schweren Torflügel ächzend in die Steinguss-wände, als<br />
stünde nicht ein hilfloses junges Mädchen, sondern ein Gleiter mit<br />
zertifizierter Kennnummer davor.<br />
18
<strong>Die</strong> Station kam Miri gleichzeitig vertraut und sonderbar fremd vor.<br />
Hastig presste sie das Armband mit ihrem Ident-Chip gegen das<br />
Lesegerät am Eingang zum Verwaltungsgebäude. Mit einem Klacken<br />
wurde die Tür entriegelt, Licht flammte auf und erhellte den Gang bis<br />
zu Frau Sanders Schreibtisch. Erstaunt stellte Miri fest, dass dieser so<br />
leer war, als hätte sich die alte Dame in einen längeren Urlaub<br />
verabschiedet. <strong>Die</strong> Lesepads, die sonst auf dem Tresen und den<br />
beiden Tischen lagen, waren in einem der Regale gestapelt. <strong>Die</strong><br />
Monitore mit Filmberichten über die Wildniskuppel waren dunkel,<br />
selbst die Kontrollleuchten der Intrakomgeräte brannten nicht. Ein<br />
faustgroßer Eisklumpen bildete sich in Miris Magen. Sie lauschte in<br />
den Flur, der an zwei Besprechungszimmern und einem Büro vorbei<br />
zum Treppenhaus führte. Nichts. Kein Geräusch, das darauf schließen<br />
ließ, dass es außer ihr noch jemanden hier gab. Nur das Summen der<br />
Pumpen, die das Wasser durch die Kuppelgeneratoren trieben, klang<br />
vertraut. Vielleicht hatte Frau Sander wirklich Urlaub, aber Miri<br />
konnte sich nicht vorstellen, was Ben, seine Frau Ruth und Lorenz<br />
dazu veranlasst haben könnte, die Kuppel sich selbst zu überlassen.<br />
Vielleicht war ihnen etwas zugestoßen. Erst jetzt entdeckte sie den<br />
Zettel, der neben dem Tresen auf dem Boden lag. Eine<br />
handtellergroße Ecke, die aussah, als wäre sie aus einem Buch<br />
gerissen worden.<br />
Hallo Miri, stand da in der schwungvollen Handschrift ihres Mentors.<br />
Komm rüber ins Seminarhaus. Wir warten dort auf dich. Gruß,<br />
Lorenz. Ratlos betrachtete Miri die Nachricht. Plötzlich entdeckte sie,<br />
dass auf der Rückseite noch vier Wörter standen: Pass auf dich auf!<br />
19
Drittes Kapitel<br />
Miri kannte sich in der Wildniskuppel gut genug aus, um sich im<br />
Dämmerlicht der Notbeleuchtung zurechtzufinden. Sie ging an Frau<br />
Sanders Tresen vorbei, den Gang entlang, hinten rechts durch die<br />
schwere Holztür in den Schleusenbereich. Mit dem Identchip öffnete<br />
sie die vordere Schleusentür. Eigentlich sollte jetzt das Licht angehen,<br />
aber es blieb dunkel. Obwohl Miri wusste, dass der Gang genau vier<br />
Meter lang und zwei Meter breit war, konnte sie sich nicht dazu<br />
überwinden, die Schwelle zu überschreiten. Der bloße Gedanke,<br />
ihren Fuß auf die uralten Steinplatten mit den un-leserlichen<br />
Inschriften zu setzten, schnürte ihr die Kehle zu. Ein Kribbeln kroch<br />
über ihren Rücken bis zum Haaransatz hinauf. Irgendetwas war hier<br />
nicht in Ordnung. Sie ertappte sich sogar bei dem Gedanken, mit dem<br />
nächsten Gleiter zurückzufahren.<br />
„Quatsch!“ Miri schüttelte den Kopf. „Vielleicht gehört das schon zur<br />
Prüfung.“ Entschlossen trat sie über die Schwelle und patschte in eine<br />
Pfütze. Auf dem Boden einer Schleuse gab es keine Pfützen. Hinter<br />
ihr schloss sich die Tür, es war stockdunkel und so still in dem kurze<br />
Gang, dass Miri ihr eigenes Herz schlagen hörte.<br />
„Los jetzt! Weiter!“, befahl sie ihren Füßen. „Auf den paar Metern bis<br />
zur nächsten Tür könnt ihr euch beim besten Willen nicht verlaufen.“<br />
Nach drei Schritten stand das Wasser so hoch, dass es über den Rand<br />
ihrer Schuhe schwappte. Vielleicht war die Bodenreinigungs-anlage<br />
defekt. <strong>Die</strong>ser Gedanke erschien Miri so tröstlich, dass sie vor<br />
Erleichterung beinahe laut gelacht hätte. Doch ein zweiter Gedanke<br />
ließ das Lachen in ihrer Kehle verdorren. Nur ein sehr komischer<br />
Zufall konnte den Reiniger und die Beleuchtung ausge-rechnet an<br />
ihrem Prüfungstag außer Betrieb setzen.<br />
20
Vorsichtig tastete sich Miri an der Wand entlang. Bis zum zweiten<br />
Chiplesegerät konnte es nicht mehr weit sein. Sie hoffte, dass es<br />
seine Arbeit tun und die hintere Tür entriegeln würde. Auf der<br />
anderen Seite würde sicher wieder alles in Ordnung sein.<br />
Tap-tap-tap … - Das Platschen schien <strong>von</strong> einer erheblich höheren<br />
Decke zurückzuhallen und der Gang kam Miri heute viel länger vor.<br />
Außerdem führte er leicht bergauf. Am Ende der Pfütze war der<br />
Untergrund uneben. Ein Stein löste sich unter ihren Tritten und<br />
klackerte gegen die Wand. Ihre Füße ertasteten eine Kante, da-hinter<br />
führte der Weg steil bergab. Irritiert blieb sie stehen. Offenbar hatte<br />
sie es doch geschafft, sich in einem vier Meter langen Gang zu<br />
verirren. <strong>Die</strong> glatte Steingussmauer war einer unbehauenen<br />
Felswand gewichen, eisiges Wasser rann über ihre Füße und Miri<br />
lauschte dem fernen Tosen eines größeren Wasserlaufs. Plötzlich<br />
kam es ihr vor, als würde der Boden unter ihren Füßen nachgeben.<br />
Hastig wollte sie einen Schritt zurückweichen, doch im selben<br />
Moment kippte die Steinplatte nach vorn. Das Glucksen verwandelte<br />
sich in ein Brausen, Schleifen und Scheppern. Steine rollten über ihre<br />
Füße und prallten gegen ihre Kniekehlen. Wasser spritzte ihr ins<br />
Gesicht. Miri stemmte sich mit aller Kraft gegen die Flut, doch sie<br />
konnte der Gewalt nicht standhalten. Das Wild-wasser zerrte sie mit.<br />
Miri wusste, dass sie sich irgendwie auf den Füßen halten musste. Sie<br />
versuchte, mit dem Wasser mitzurennen, aber nach wenigen<br />
Schritten prallte sie gegen einen Felsen, der hüfthoch aus dem<br />
Wasser ragte. Vor Schmerz wurde ihr übel, ihre Knie gaben nach und<br />
Miri wurde gegen die Wand gebeutelt. Ihr Rücken prallte so hart<br />
gegen eine Felskante, dass ihr die Luft wegblieb.<br />
Durch eine steile Rinne spülte der unterirdische Fluss seine Beute<br />
immer tiefer in den Schoß der Erde.<br />
An einer Klippe geriet die rasende Fahrt ins Stocken, doch bevor sich<br />
Miri neu orientieren konnte, wurde sie <strong>von</strong> der nächsten Flut-welle<br />
21
gepackt und über die Abbruchkante geschwemmt. Kopfüber stürzte<br />
sie in die Dunkelheit und einen Herzschlag später platschte sie in<br />
tiefes, kaltes Wasser.<br />
„Hilfe!“, brüllte sie, nachdem sie wieder aufgetaucht war und sich<br />
strampelnd und rudernd an der Oberfläche hielt. „Verdammt noch<br />
mal, hört mich denn keiner?“<br />
Doch sie wartete vergeblich auf eine Antwort.<br />
„Hilfe.“ Ihr Zorn trieb mit den eisigen Wellen da<strong>von</strong>. „Holt mich doch<br />
hier raus. Bitte.“ Miris Stimme erstickte in einem Schluchzen.<br />
„Ist da wer?“ Der Ruf hallte <strong>von</strong> den Wänden der Höhle wider und<br />
schien <strong>von</strong> allen Seiten gleichzeitig zu kommen.<br />
Eine Welle der Erleichterung spülte ihre Panik fort. Ben und die<br />
anderen hatten sie gefunden.<br />
„Hallo?“<br />
„Ich bin hier!“, wollte Miri antworten, doch ein Schluckauf riss ihr die<br />
Worte <strong>von</strong> den Lippen.<br />
„Keiner.“ Schlurfende Schritte entfernten sich. „Wer soll denn auch<br />
hier hergekommen sein?“ <strong>Die</strong> Stimme klang wie das Murmeln eines<br />
Baches. „Du wirst langsam alt, Knochensängerin. Alt und<br />
schwachsinnig.“<br />
„Ich!“, versuchte es Miri noch einmal, diesmal klang es wie ein<br />
Krächzen. „Ich bin hier.“<br />
<strong>Die</strong> Schritte hielten inne. „Hallo?“<br />
„Hier. Ich bin hier. Im Wasser.“ Tränen der Erleichterung strömten<br />
Miri über die Wangen. „Bitte holen Sie mich raus.“<br />
22
„Wer bist du?“ Ein zitternder Lichtschein wanderte über die Decke<br />
und kam langsam näher. „Und warum schreist du denn so? Kannst du<br />
nicht schwimmen? Ach nein, du musst ja schwimmen können. Sonst<br />
könntest du nicht mehr schreien. Komm hier rüber.“ Über einem<br />
Felsen tauchte die Flamme einer Kerze auf. „Da kannst du aus der<br />
Badewanne klettern.“<br />
Mit zwei Zügen durchquerte Miri das Becken, das im Schein der Kerze<br />
recht klein und wenig bedrohlich aussah. Direkt neben dem Felsen,<br />
auf den sich das Flämmchen niedergelassen hatte, bildeten die<br />
ausgewaschenen Steine eine Art Treppe oder Trittleiter. Der nasse<br />
Overall hing jedoch schwer an ihren Schultern und Miri schaffte es<br />
erst im zweiten Anlauf, sich auf den Rand des Beckens zu stemmen.<br />
„Lass mich mal sehen, was dieser launische Bach heute zu mir<br />
heruntergespült hat.“<br />
Im flackernden Schein der Flamme sah Miri zwei dunkle Augen, die<br />
sie skeptisch musterten. Sie starrten, ohne zu blinzeln und ruckten<br />
<strong>von</strong> hier nach dort wie die eines Vogels. <strong>Die</strong> Augen schienen sich in<br />
einem Netz aus Runzeln und Falten verfangen zu haben, aus denen<br />
die gewaltige Nase einer steinalten Frau ragte. Ihre schütteren Haare<br />
hingen in wirren Strähnen über ihren Schultern und ihr Körper<br />
steckte in einem formlosen Kleid.<br />
„Bisschen jung, findest du nicht“, sagten die schmalen Lippen zu<br />
niemand Bestimmtem. „Was soll ich denn damit anfangen?“ Ihr<br />
Mund sah verkniffen und grimmig aus, gleichzeitig schienen die<br />
schwarzbraunen Augen vor Vergnügen zu funkeln.<br />
„Sie müssen gar nichts mit mir anfangen.“ Mit einem zornigen Ruck<br />
schwang Miri ihr Bein über die Felskante. „Ich will in die Wildniskuppel<br />
zu meiner Prüfung. Aber ich habe mich wohl verlaufen.“ Sie<br />
stütze sich auf den Beckenrand und wollte sich langsam auf der<br />
23
anderen Seite herunterlassen. Stattdessen plumpste sie der Alten wie<br />
ein nasser Sack vor die Füße.<br />
<strong>Die</strong>se kicherte, als hätte Miri etwas ungeheuer Komisches gesagt<br />
oder getan. „Ah so, eine Prüfung! Na, dann komm mal mit.“<br />
Miri musste sich anstrengen, um mit der alten Frau Schritt zu halten.<br />
Sie folgten einem engen, gewundenen Gang, der immer weiter<br />
hinabführte. Winzige Kristalle glitzerten an den Wänden. Sie schienen<br />
das Licht der Kerze einzufangen und tausendfach zurückzuspiegeln,<br />
sodass Miri Schwellen und Stufen rechtzeitig erkennen konnte.<br />
Geschickter als sie es <strong>von</strong> der alten Frau erwartet hätte, kletterte<br />
diese über einen Felsen, der den Ausgang versperrte. Miri folgte ihr.<br />
Draußen war es kaum heller, die Dunkelheit roch nach feuchtem<br />
Sand, und der Wind trieb einen salzigen Duft herbei. Winzige Lichter<br />
ließen den samtschwarzen Himmel funkeln. Sterne! Miri hatte nie<br />
zuvor etwas so Schönes gesehen.<br />
„Komm schon.“ <strong>Die</strong> alte Frau steckte die Kerze in eine Lampe aus<br />
geflochtenen Zweigen. „Es ist nicht mehr weit.“<br />
Als sie aus dem Schutz der Felsen hervortraten, zerrte der Wind an<br />
Miris nassen Haaren. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre<br />
Körperwärme den Overall bereits getrocknet hatte. Sie sah den<br />
Schein der Laterne über einen schmalen Pfad talwärts wanken und<br />
beeilte sich, zu ihrer Führerin aufzuschließen.<br />
„Sagen Sie“, begann Miri, „wo…“<br />
<strong>Die</strong> Frau bedeutete ihr, zu schweigen. „Da drüben ist meine Hütte.“<br />
Sie wies in die weglose Dunkelheit. „Am Feuer plaudert es sich<br />
gemütlicher.“<br />
24
„Ich wüsste trotzdem gerne, wo ich hier gelandet bin“, versuchte es<br />
Miri noch einmal, als die Frau ihre Laterne am Rand einer Klippe<br />
abstellte und mit beiden Händen das straff gespannte Seil neben den<br />
abschüssigen Felsstufen packte.<br />
„Weißt du das wirklich nicht?“ <strong>Die</strong> Frau starrte sie mit ihren Vogelaugen<br />
an. „Du warst doch schon öfter hier.“<br />
„Es ist …“, stotterte Miri. „Hier sieht es fast so aus wie bei einer<br />
Traumreise in die untere Welt. Aber …“<br />
„Aber was?“ <strong>Die</strong> Frau blinzelte amüsiert. „Ah! Du glaubst, dass es<br />
diese Welt in Wirklichkeit nicht gibt.“<br />
„So meine ich das nicht“, entgegnete Miri rasch. „Ich weiß, dass die<br />
Spirits in der unteren Welt leben und die Krafttiere. Aber …“<br />
Kichernd wandte sich die Alte ab und schickte sich an, die Treppe<br />
hinunterzuklettern. „Wenn das so ist, kann es nicht weiter schwierig<br />
sein, in deine gewöhnliche Welt zurückzukommen. Du musst nur<br />
aufwachen, und alles ist wieder in Ordnung.“<br />
Während Miri die Schritte der Frau auf den steinernen Stufen<br />
knirschen hörte, überlegte sie, ob es wirklich so einfach wäre. Wenn<br />
sie in der Pfütze ausgerutscht war und sich den Kopf angeschlagen<br />
hatte, müsste sie nur die Augen öffnen, um …<br />
„Komm runter, wenn du noch da bist. Und bring die Laterne mit.“<br />
Miri schob das erste Bein über die Felskante und tastete mit dem Fuß<br />
nach der obersten Stufe.<br />
„Pst“, zischte die alte Frau warnend. „Schnell, gib mir die Laterne und<br />
schaff dich wieder hoch. Keinen Mucks.“<br />
25
Ein Ruck am Seil verriet Miri, dass ihre Führerin wieder ein paar<br />
Stufen zu ihr heraufgestiegen war. „Was…“<br />
„Mach schon!“ <strong>Die</strong> Stimme der Frau klang eher besorgt als ärgerlich.<br />
Als Miri die Laterne hinunterreichte, hörte sie in der Ferne ein<br />
rhythmisches Stampfen.<br />
„Hören Sie das auch?“ Atemlos lauschte sie in die Nacht. „Das klingt<br />
fast wie…“<br />
„Verschwinde und halt den Mund“, zischte die Alte. „Deine<br />
Begriffsstutzigkeit kann dich hier um Kopf und Kragen bringen.“<br />
Miri blickte sich nervös um. Jetzt, wo die Lampe auf dem unteren<br />
Weg da<strong>von</strong>schwankte, kam es ihr hier oben noch dunkler vor und die<br />
Angst vor einem Sturz in die Tiefe lähmte ihre Füße. Auf Händen und<br />
Knien tastete sie sich an der Abbruchkante entlang, bis sie zu einem<br />
mannshohen Felsen kam, hinter dem sie sich verstecken konnte. Das<br />
Klappern war näher gekommen. Es klang, als würde jemand mit<br />
einem Eisen auf den felsigen Grund schlagen. Tacktack tacktack, tack,<br />
tackatack, tack. Vorsichtig spähte Miri aus ihrer Deckung hervor.<br />
„Runter mit dir!“, fauchte die Alte. Sie schien selbst im Dunkeln<br />
sehen zu können.<br />
Das Klappern war jetzt direkt unter ihr, es stockte kurz und<br />
verstummte dann ganz.<br />
„Halt, wer da?“, wollte eine befehlsgewohnte Männerstimme wissen.<br />
Unwilliges Schnauben tönte zu Miri herauf und ein warmer, scharfer<br />
Geruch stieg ihr in die Nase.<br />
„Wer sollte schon mitten in der Nacht durch diese gottverlassene<br />
Gegend streifen“, antwortete die alte Frau.<br />
26
„<strong>Die</strong> Knochensängerin“, erwiderte eine Frauenstimme, die in Miris<br />
Ohren eisig klang. „Was hast du um die Zeit hier zu schaffen?“<br />
„Nichts, was ich nicht auch tagsüber hier mache. Ich suche Knochen,<br />
die noch in meiner Sammlung fehlen.“<br />
„In dieser mondlosen Nacht?“<br />
„Manche Dinge lassen sich leichter finden, wenn einem die Augen<br />
keinen Streich spielen können. Aber Euch habe ich schon lange nicht<br />
mehr in dieser Gegend gesehen. Was treibt Euch zu dieser Unzeit hier<br />
her?“<br />
„Es gab eine Erschütterung im Gewebe zwischen den Welten“,<br />
antwortete die Frau. „Würde mich wundern, wenn du das nicht auch<br />
gespürt hättest.“<br />
„Ich bin alt“, entgegnete die Knochensängerin. „Selbst wenn ich<br />
etwas gespürt hätte, hätte ich es vermutlich schon wieder<br />
vergessen.“<br />
„Hast du etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen?“, wollte der<br />
Mann wissen.<br />
„Nichts, außer zwei hohen Herrschaften, die mitten in einer<br />
mondlosen Nacht durch die Berge reiten, um Gespenster zu fangen,<br />
Herr Ritter.“<br />
„Wenn du nicht auf der Stelle …“, polterte der Mann, doch die Frau<br />
fiel ihm ins Wort.<br />
„Lass die närrische Alte. Wir müssen weiter. Unser Weg ist noch weit<br />
und die Nacht ist nicht mehr lang.“<br />
„Wie Ihr befehlt, meine Herrin.“<br />
27
Eins der Pferde schnaubte und tänzelte auf der Stelle. Dann setzten<br />
sich die beiden Tiere wieder in Bewegung. Hastig schob sich Miri auf<br />
die Knie. Einmal in ihrem Leben wollte sie ein echtes Pferd sehen. <strong>Die</strong><br />
Reiter verschwanden gerade hinter der nächsten Kurve, als sie sich<br />
weit über die Felskante beugte, um ihnen so lange wie möglich<br />
nachzuschauen. Zu weit! Der Stein, auf den sie sich gestützt hatte,<br />
gab unter ihrem Gewicht nach. Miri polterte in einer Lawine <strong>von</strong><br />
Staub und Schotter auf den unteren Weg.<br />
Der Hufschlag verstummte, dann kam er zurück.<br />
28
Viertes Kapitel<br />
Völlig verdattert hockte Miri auf dem Boden. Ein Pferdebein ragte<br />
höchstens eine Armlänge entfernt vor ihr auf. Aus dieser Perspektive<br />
hatte sie sich das Tier nicht ansehen wollen.<br />
„Was ist das denn?“, wollte die herrische Frauenstimme wissen.<br />
Miris Blick wanderte über das Bein zu einer muskulösen Schulter und<br />
einem anmutig gebogenen Hals. <strong>Die</strong> Sprecherin thronte auf dem<br />
29
Rücken eines hochbeinigen Grauen. Im Licht einer Fackel er-kannte<br />
Miri, dass die Dame ein dunkles Kleid trug, dessen Oberteil ihre<br />
schmale Taille vorteilhaft betonte, während der Rock so lang und<br />
weit geschnitten war, dass man ihre Füße unter dem gold-bestickten<br />
Saum kaum erkennen konnte. <strong>Die</strong> langen schwarzen Haare trug sie<br />
offen und ein Umhang, der über der Brust mit einer Brosche<br />
geschlossen war, fiel in Falten über ihre Schultern. Wie auf den alten<br />
Bildern, die Miri so oft betrachtet hatte, hielt sie in der Linken die<br />
Zügel und auf ihrer Rechten hockte eine Eule.<br />
„Ich, ähm“, stotterte Miri. „Ich bin…“<br />
„Das ist eine angehende Cantadora“, schnitt ihr die alte Frau das<br />
Wort ab. „<strong>Die</strong> Schülerin einer guten Freundin, die ich auf ihre Prüfung<br />
vorbereiten soll.“<br />
„Eine junge Knochensängerin?“ <strong>Die</strong> Dame beugte sich ein wenig vor,<br />
als wollte sie Miri ganz genau betrachten. „Und du bereitest dich<br />
gerade auf eine Prüfung vor?“<br />
„Ich…“<br />
„Vergiss es“, keifte die Knochensängerin. „Das dumme Ding wird die<br />
Prüfung nie bestehen. Sie kann die Knochen eines Eichhörnchens<br />
nicht <strong>von</strong> denen eines Vogels unterscheiden.“<br />
„Kannst du die Knochen eines Pferdes <strong>von</strong> den vielen anderen<br />
Knochen unterscheiden, die der Fluss da unten in der Bucht an Land<br />
spült?“, erkundigte sich die Dame.<br />
Miri wollte ihr sagen, dass sie Wildnistrainerin werden wollte, keine<br />
Zoologin und erst recht keine Knochensängerin, doch eine nasskalte<br />
Berührung im Nacken ließ sie erschrocken nach Luft schnappen.<br />
30
Hastig fuhr sie herum und blickte in das offene Maul eines riesigen<br />
Hundes. Lackschwarz stand die Nase aus den graubraunen Zotteln<br />
seines Bartes hervor. Plötzlich kräuselte sich die Haut auf seiner<br />
Schnauze, und er entblößte dabei Eckzähne, die mindestens so lang<br />
waren wie eins ihrer Fingerglieder. Ein gewaltiges Niesen ließ den<br />
Hundekörper erbeben.<br />
„Merkwürdig“, sagte die Dame. „Tagauge scheint dich zu mögen,<br />
obwohl du nach der anderen Welt riechst.“<br />
„Das sind diese komischen Kleider, die sie da oben im Berg ge-funden<br />
hat. Weiß der Kuckuck, wo der Bach dieses komische Zeug<br />
aufgetrieben hat. Ihr gefällt es jedenfalls und sie will es nicht mehr<br />
hergeben. Aber ich verstehe nicht, warum Ihr Eure kostbare Zeit mit<br />
dem dummen Ding vertrödelt, wenn Ihr glaubt, dass es einem<br />
Eindringling gelungen ist…“<br />
„Sei still!“, entgegnete die Dame schroff. „Ich rede mit deiner<br />
Schülerin.“ Mit einem Lächeln, das Miri an die Katze aus einem alten<br />
Kinderbuch erinnerte, wandte sich die Dame wieder an sie. „Bist du<br />
eine Cantadora oder bist du diejenige, die das Gewebe zwischen den<br />
Welten beschädigt hat?“<br />
„Ich bin hier, um meine Prüfung abzulegen. Danach müssen andere<br />
entscheiden, wie ich mich in Zukunft nennen darf.“ Mit dieser<br />
Antwort war Miri sehr zufrieden.<br />
Offenbar hatte auch die Dame nichts daran auszusetzen. „Köst-lich.“<br />
Lachend wandte sie sich zu ihrem Ritter um. „<strong>Die</strong>se Antwort sagt<br />
alles und nichts. So dumm kann das Mädchen gar nicht sein.“ Sie ließ<br />
ihr Pferd vorwärts treten, und der Graue setzte seinen Huf direkt<br />
neben Miris Bein ab.<br />
„Es ist ganz einfach“, sagte sie dabei. „Wenn du mir das Windpferd<br />
zurücksingst, bist du als Cantadora in meinem Reich willkommen.<br />
31
Vermagst du es nicht, muss ich dich wohl in meine Festung bringen<br />
lassen, wo wir zweifelsohne herausfinden werden, wer du bist und<br />
was du hier zu schaffen hast.“<br />
Als wäre das sein Stichwort gewesen, drängte der Ritter sein<br />
Schlachtross am Pferd seiner Herrin vorbei. Obwohl er die Fackel in<br />
der Hand hielt, konnte Miri sein Gesicht nicht erkennen. <strong>Die</strong> schwarze<br />
Rüstung schien das Licht, das ihn traf, zu verschlucken. Sie konnte nur<br />
sehen, dass er einen Bart trug. Genau wie Lorenz!<br />
Eine rettende Idee blitzte im Nebel <strong>von</strong> Miris Denken auf. Vielleicht<br />
war das ein Teil ihrer Prüfung. Wenn Merl oder Johannes mit Klienten<br />
in die Kuppel kamen, stiegen sich die Techniker im Kontrollraum<br />
gegenseitig auf die Füße. Mit aufwändigen Projektionstechniken<br />
verwandelten sie die hundert Bäume unter der Kuppel in einen<br />
weglosen Urwald und den Hügel mit dem alten Wachturm in ein<br />
Gebirge. Schauspieler wurden angeheuert, um ein Ereignis, das im<br />
wahren Leben keinen Abschluss finden konnte, auf einer mythischen<br />
Ebene zu einem glücklichen oder tragischen Ende zu führen und den<br />
Klienten aus einer Depression oder einer Wahnvor-stellung zu<br />
befreien.<br />
<strong>Die</strong>se Geschichte war geradezu archetypisch: <strong>Die</strong> Prinzessin verirrt<br />
sich im Wald und landet bei der Hexe, die sie vor den Nachstellungen<br />
der dunklen Königin beschützt und dafür sorgt, dass das<br />
verwöhnte, junge Mädchen zu einer verantwortungsvollen Königin<br />
heranreift. Selbst der Sturz ins Ungewisse, die Dunkelheit und der<br />
Weg durch die Erde fügten sich perfekt in dieses Szenario ein. Miri<br />
hatte ihre Abschlussarbeit über Initiationen geschrieben und die<br />
kühne These aufgestellt, dass beim rituellen Weg über die Schwelle<br />
durchaus auch einmal Blut, Schweiß und Tränen fließen durften.<br />
Vielleicht wollten Ben und Lorenz testen, ob sie ihrer eigenen Theorie<br />
Stand hielt. Wenn sie sich bei dem Sturz verletzt hätte, wäre das<br />
Experiment längst abgebrochen worden.<br />
32
„Kannst du es?“, wiederholte die dunkle Königin ihre Frage.<br />
„Ich weiß es nicht“, antwortete Miri mit ihrer wiedergewonnenen<br />
Selbstsicherheit. „Aber ich kann es versuchen.“<br />
„Das Windpferd?“ <strong>Die</strong> Alte bog sich vor Lachen. „Was mir nie gelungen<br />
ist, soll dieses dumme Ding zuwege bringen?“<br />
„Du hast gesagt, dass du zu alt bist und nicht mehr die Kraft hast,<br />
diesen mächtigen Zauber zu wirken. Sie ist jung. Vielleicht gelingt ihr,<br />
was du nicht kannst.“<br />
„Vergiss es. Aus der wird nie eine Cantadora. Ich werde sie morgen<br />
früh bei Sonnenaufgang zu meiner Blutschwester zurückschicken. Sie<br />
wird dich hier nie wieder belästigen, Herrin.“<br />
„Nein.“ Jetzt lächelte die Frau wie der Tiger aus einem anderen Buch.<br />
„Entweder sie ist die Cantadora, die mir das Windpferd zurückholt<br />
oder mein Kerkermeister findet heraus, wer sie wirklich ist und was<br />
sie mit uns zu schaffen hat.“<br />
<strong>Die</strong>se Geschichte musste sich Lorenz ausgedacht haben. In seinem<br />
Bücherregal gab es ein ganzes Fach mit Märchenbüchern. „Ich will es<br />
auf jeden Fall versuchen.“ Miri bemühte sich darum, bei diesen<br />
Worten ernst und würdevoll auszusehen.<br />
„Gut.“ Der Tiger wurde wieder zur Katze. „Dann sollten wir uns jetzt<br />
schleunigst auf dem Weg machen“, sagte sie zu dem Ritter. „Bei<br />
Sonnenaufgang müssen wir wieder hier sein, und nachsehen, ob sie<br />
ihre Prüfung bestanden hat.“<br />
„Ich werde mein Bestes tun.“ Miri verbeugte sich vor der Dame, so<br />
gut das im Sitzen möglich war. „Mithilfe der Geister mag es mir gelingen.“<br />
33
„Das ist aber nicht fair“, zeterte die Knochensängerin. „Es braucht<br />
mindestens einen Tag, um alles vorzubereiten, und eine ganze Nacht,<br />
um die Knochen wach zu singen. Selbst wenn sie die Macht dazu<br />
hätte …“<br />
„Nimm dir ein Beispiel an deiner Schülerin, alte Krähe, und hör endlich<br />
auf, dummes Zeug zu schwatzen“, herrschte die dunkle Königin<br />
die Alte an. „Wenn die Zeit so knapp ist, solltet ihr gleich anfangen.<br />
Nein. Sie soll anfangen.“ Mit spitzen Fingern deutete sie auf Miri.<br />
„Dich will ich am Ritualplatz nicht sehen. Du magst nicht mehr die<br />
Macht haben, das magische Pferd zu rufen, aber es ist dir sicher ein<br />
Leichtes, die Magie des Mädchens zu stören. Hilf ihr, alles vorzubereiten,<br />
und dann verschwindest du in deine Hütte. Du solltest<br />
nicht einmal daran denken, mich zu betrügen. Vergiss nicht, dass ich<br />
meine Augen überall habe, Knochensängerin.“<br />
Mit einem harten Ruck am Zügel wendete die Dame ihr Pferd und im<br />
gleichen Moment sprang auch der zottige Hund auf. Mit einem<br />
Nasenstüber verabschiedete er sich <strong>von</strong> Miri, bevor er seiner Herrin<br />
folgte. Im Galopp stoben der Graue und der Hund da<strong>von</strong>. Der Ritter<br />
musterte Miri, als wolle er sich jedes Detail ganz genau einprägen,<br />
dann ließ er sein schwarzes Ross auf der Hinterhand kehrt machen<br />
und donnerte hinterher.<br />
„Da hast du uns etwas Schönes eingebrockt“, schimpfte die<br />
Knochensängerin. „Mithilfe der Geister mag es mir gelingen“, äffte<br />
sie Miri nach. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was es bedeutet,<br />
tote Knochen ins Leben zurück zu singen?“<br />
„Eigentlich nicht.“ Achselzuckend schüttelte Miri den Kopf. „Aber Sie<br />
können es mir sicher erklären.“<br />
34
Mit einem Seufzer der Resignation wandte sich die alte Frau ab.<br />
„Komm. Wir haben nicht viel Zeit, das Unmögliche wahr zu machen.“<br />
„Könnte ich das wirklich schaffen?“ Vor Aufregung machte Miri einen<br />
kleinen Hopser. Tote Knochen ins Leben zurücksingen. Das war eine<br />
richtig abgefahrene Sache. Sie durfte nicht vergessen, Lorenz zu<br />
fragen, wer auf die Idee gekommen war. Vielleicht hatte er es in<br />
einem seiner alten Bücher gelesen.<br />
„Nein“, entgegnete ihre Führerin. „Wir tun so, als würdest du es<br />
versuchen und hoffen, dass unsere Herrin und ihre Jäger unter-wegs<br />
lange genug aufgehalten werden, damit wir dich in deine Welt<br />
zurückschaffen können.“<br />
„Aber meine Prüfung!“, protestierte Miri.<br />
„Vergiss es!“ <strong>Die</strong> Knochensängerin blieb so abrupt stehen, dass Miri<br />
beinahe auf sie geprallt wäre. „Das ist keine Prüfung.“ <strong>Die</strong> Vogelaugen<br />
der alten Frau funkelten im Licht der Laterne. „Zumindest<br />
nicht so, wie du es dir vorstellst. <strong>Die</strong>ses Land hat mit deiner Kuppel<br />
nicht viel gemein. <strong>Die</strong> untere Welt ist genauso wirklich wie deine<br />
alltägliche Welt. Aber hier herrschen andere Regeln und Gesetze. Eins<br />
dieser Gesetze macht die hochwohlgeborene Dame“, sie deutete in<br />
die Richtung, wo der Hufschlag schon vor geraumer Zeit verklungen<br />
war, „zur uneingeschränkten Herrscherin über Leben und Tod. Und<br />
ein anderes sorgt dafür, dass du bei Sonnenaufgang nach Hause<br />
zurückkehren kannst, wenn du weißt, wo ein Tor unsere Welten<br />
miteinander verbindet.“<br />
Ratlos zog Miri die Schultern hoch. „Aber ich weiß doch gar nicht…“<br />
„Aber ich“, schnitt ihr die Knochensängerin das Wort ab. „Das genügt.<br />
Und für den Fall, dass sie ihr Nachtauge vorbeischickt, sollten wir<br />
jetzt endlich mit der Arbeit anfangen.“<br />
35
Nachdenklich folgte Miri der alten Frau hinunter zum Ufer eines<br />
schäumenden Flüsschens. Im Verlauf <strong>von</strong> Jahrtausenden hatte das<br />
Wasser ein tiefes Bett in die Felsen gegraben. Am Fuß der Klippen<br />
wurde der Gebirgsbach breiter und ruhiger. Im weiten Bogen strömte<br />
er dem nahe gelegenen Meer entgegen.<br />
Der staubfeine Sand in der Flussbiegung war so weiß, dass er in der<br />
Dunkelheit leuchtete. Zwischen den Klippen und dem Flussufer lag<br />
ein gewaltiger Haufen Knochen.<br />
„Es sind zweihundertfünfundvierzig“, sagte die Knochensängerin.<br />
„Sieben fehlen noch. <strong>Die</strong> musst du finden, bevor du mit dem Ritual<br />
beginnen kannst.“<br />
Miri schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Wie soll ich in der<br />
Dunkelheit ...“<br />
„Du wirst du es lernen müssen.“ Seufzend schüttelte die alte Frau<br />
den Kopf. „Ich habe die Knochen schon wenigstens ein Dutzend Mal<br />
zusammengetragen. Aber sobald ich anfange, über ihnen zu singen,<br />
tritt der Fluss über die Ufer und reißt alles auseinander.“<br />
„Und wie soll ich …“<br />
„Fang einfach an.“ Sie wies mit dem Kinn auf eine Stelle flussabwärts,<br />
wo das Wasser schäumend zwischen zwei Felsen hindurchbrauste.<br />
„Das ist ein guter Platz. Dort sammelt sich, was das Eis auf<br />
den Bergen dem Fluss schenkt.“ Mit diesen Worten wandte sie sich<br />
ab und ließ Miri mit dem Knochenhaufen allein.<br />
„Eine Cantadora, die Knochen wachsingt“, brummte Miri, während<br />
sie über einen steilen Pfad in die Bucht hinunterkletterte. „So etwas<br />
Abgefahrenes habe ich noch nie gehört. Na warte, Lorenz.“ Sie<br />
36
drohte einer windzerzausten Kiefer, die den stattlichen Mann nur mit<br />
viel Fantasie vertreten konnte, mit der Faust. „Bei nächster<br />
Gelegenheit erzähl ich dir was über die Rahmenbedingungen einer<br />
Prüfung vor der Initiation. Eine Herausforderung soll es schon sein.<br />
Aber ich habe nirgends gelesen, dass die Auf-gaben unlösbar sein<br />
müssen.“<br />
„Wenn du aufhörst, zu jammern und endlich anfängst zu suchen,<br />
kommst du erheblich flotter voran“, spottete eine raue Stimme. Miri<br />
wirbelte erschrocken herum.<br />
„Wer …?" Aber da war niemand. <strong>Die</strong> Soundsysteme, erinnerte sie<br />
sich. Lorenz wollte ihr offenbar zeigen, dass diese Kuppel einige<br />
Überraschungen parat hatte, die die angehende Wildnisassistentin<br />
noch nicht kannte.<br />
„Willst du jetzt jammern oder suchen?“<br />
Der Lautsprecher musste in den knorrigen Ästen der Kiefer ver-steckt<br />
sein.<br />
„Beim Suchen kann ich dir helfen. Beim Jammern brauchst du<br />
vermutlich keine Hilfe.“ Eine Krähe hockte auf einem der obersten<br />
Äste und blickte neugierig zu ihr herunter. Sie öffnete ihren Schnabel.<br />
„Also?“<br />
Kichernd schüttelte Miri den Kopf. „Du bist doof, Lorenz.“<br />
Mit einem beleidigten Krächzen plusterte sich die Krähe auf. „Erstens<br />
heiße ich nicht Lorenz und zweitens bin ich nicht halb so doof wie du.<br />
Ich weiß nämlich, wo die Knochen liegen.“<br />
„Na dann los.“ Allmählich bekam Miri Spaß an der Geschichte. „Lass<br />
uns die Knochen aus dem Gletschereis suchen.“<br />
37
Fünftes Kapitel<br />
<strong>Die</strong> Krähe führte Miri zu einer Stelle, wo der Fluss über zwei Felsen in<br />
ein kleines Becken rauschte, bevor er auf der anderen Seite rasch<br />
breiter wurde und gemächlicher weiterfloss. „Am Aus-fluss findet<br />
sich allerhand“, krächzte der Vogel. „Ich hoffe, es macht dir nichts<br />
aus, schon wieder nass zu werden.“<br />
Vorsichtig kletterte Miri <strong>von</strong> einem Felsen zum nächsten. Da der Fluss<br />
im Moment nicht viel Wasser führte, kam sie trockenen Fußes zum<br />
anderen Ufer. Zwischen zwei Steinen fand sie einen langen, dünnen<br />
Knochen. Vorsichtig rüttelte sie ihn los. „Einen hab ich schon“,<br />
triumphierte sie.<br />
<strong>Die</strong> Krähe gab ein Geräusch <strong>von</strong> sich, das wie ein spöttisches Lachen<br />
klang. „Den kannst du stecken lassen, es sei denn, du wolltest uns<br />
gleich noch eine Hirschkeule herbeisingen. Nimm das da.“ Sie pickte<br />
etwas aus dem Sand. „Das gehört zum rechten Vorderhuf.“<br />
Mithilfe der Krähe brauchte Miri nicht lange, bis sie mit ihren<br />
Fundstücken den schmalen Weg zur Hütte der alten Frau hinaufsteigen<br />
konnte.<br />
„Hast du alles?“, rief ihr die Knochensängerin schon aus einiger<br />
Entfernung entgegen.<br />
Triumphierend reckte Miri das Bündel hoch. „Sieben Knochen“,<br />
antwortete sie, „drei Wirbel, eine Rippe, ein Fesselbein, ein Huf-bein<br />
und ein Sprunggelenk. Eine Krähe…“<br />
„Pst!“ <strong>Die</strong> Alte bedeutete ihr, zu schweigen. „Lass uns den ein-fachen<br />
Teil des Zaubers zu Ende bringen.“<br />
38
„Ja klar, die Nacht dauert nicht ewig.“ Miri war in Plauderlaune. „Es<br />
wäre nicht so schnell gegangen, wenn mir diese…“<br />
„Still!“, herrschte sie die alte Frau an. „Als Nächstes musst du die<br />
Knochen so zusammensetzen, wie die Natur sie einst zusammengefügt<br />
hatte. Vergiss nicht, dass dein Werk vollendet sein muss,<br />
bevor die Sonnenscheibe am Horizont erscheint. Und denk daran,<br />
dass du dir <strong>von</strong> niemandem dabei helfen lassen darfst. Unsere Herrin<br />
hat ihre Augen überall.“ Verstohlen deutete sie zum Himmel und Miri<br />
glaubte, aus den Augenwinkeln einen Schatten zu sehen, der lautlos<br />
über die Bucht schwebte und dem Fluss bis zum Strand hinunter<br />
folgte. Dort verlor ihn Miri aus den Augen.<br />
„Nachtauge“, flüsterte die Knochensängerin, und lauter setzte sie<br />
hinzu: „Mach dich endlich an die Arbeit. Oder glaubst du, die Sonne<br />
wird deinetwegen in ihrem Lauf innehalten?“<br />
„Nein, aber …“ Miri starrte ungläubig auf den Haufen. „Wie soll ich<br />
daraus …“<br />
Mit einem traurigen Lächeln zog die alte Frau die Schultern hoch und<br />
in diesem Augenblick sah sie fast so dünn und zerbrechlich aus wie<br />
die morschen Knochen, die der Fluss an Land gespült hatte. „Ich sage<br />
dir nur, was zu tun ist. Wie du es tust, musst du selbst entscheiden,<br />
und mit Unterstützung der Geister mag es dir auch gelingen.“<br />
„Nun mach schon.“ Ungeduldig pickte die Krähe gegen den langen<br />
Beinknochen, auf dem sie sich niedergelassen hatte.<br />
„Bist du sicher?“ Ratlos betrachtete Miri das knubbelige Ding in ihrer<br />
Hand, das nicht anders aussah, als zwei oder drei Dutzend anderer<br />
knubbeliger Dinger. Sie war nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein<br />
Knochen war. Ebenso gut hätte es ein Stein oder ein Wurzelstück sein<br />
können.<br />
39
<strong>Die</strong> Krähe war <strong>von</strong> ihrer eigenen Weisheit sehr überzeugt. „Meinst<br />
du, ich sehe zum ersten Mal ein Pferdeskelett?“, spottete sie. „Ich<br />
lebe da<strong>von</strong>, dass andere sterben. Frösche, Kaninchen oder Katzen<br />
findet man am Rand der großen Straßen zwar bedeutend öfter, aber<br />
ich habe auch schon tote Pferde gesehen. Vor allem nach einer<br />
Überschwemmung.“<br />
„Was für Straßen?“, wunderte sich Miri.<br />
„Vergiss es.“ <strong>Die</strong> Krähe schüttelte sich. „Straßen gibt es ja keine<br />
mehr. Frösche übrigens auch nicht. Sogar die Katzen sind selten<br />
geworden.“<br />
Seufzend verdrehte Miri die Augen. „Bist du sicher, dass der Knochen<br />
zum rechten Vorderhuf gehört?“<br />
„Ganz sicher.“<br />
Miri legte ihren Fund an die Stelle, die ihr die Krähe gezeigt hatte.<br />
„Weißt du, was es mit diesem Nachtauge auf sich hat?“, fragte sie<br />
dabei.<br />
„Du meinst dieses hässliche Vieh da oben“, krächzte die Krähe. Hoch<br />
über ihnen beschrieb ein großer Vogel einen weiten Bogen über die<br />
Klippen, den Fluss und das Meer. „Das ist die Eule dieser alten Hexe.<br />
Das Weib plagt die Knochensängerin schon seit hundert Jahren<br />
damit, dass sie ihr das Windpferd herbeisingen soll. Aber die<br />
Cantadora ist schlau. Anstelle des Pferdes ruft sie einfach den Fluss,<br />
dann muss sie mit der Arbeit <strong>von</strong> vorne anfangen.“ <strong>Die</strong> Krähe hüpfte<br />
über den Sand, pickte an einem Knochen herum und flatter-te<br />
plötzlich krächzend auf, als hätte Miri sie verjagt.<br />
„Trotzdem vertraut die dunkle Königin der Knochensängerin diese<br />
wichtige Aufgabe an?“, überlegte Miri.<br />
40
„Vertrauen?“ <strong>Die</strong> Krähe schüttelte sich heftig, als wäre sie in einen<br />
Regenguss geraten. „Sie vertraut ihr natürlich nicht. Aber was ge-tan<br />
werden muss, kann eben nur eine Cantadora tun.“<br />
„Kann ich dir denn vertrauen?“<br />
„Warum solltest du mir vertrauen?“, entgegnete die Krähe.<br />
„Weil …“ Miri starrte auf die vielen Knochen, die in ihrer<br />
anatomischen Abschlussarbeit noch keinen Platz gefunden hatten.<br />
„Wenn ich dir nicht trauen würde, würde ich mir nicht <strong>von</strong> dir helfen<br />
lassen, und wenn ich mir nicht <strong>von</strong> dir helfen lassen würde, würde ich<br />
damit nicht rechtzeitig fertig werden.“<br />
„Findest du nicht, dass deine Argumentation ein bisschen zu dünn<br />
ist?“<br />
„Weißt du denn eine bessere?“ Sie konnte dem Vogel doch nicht<br />
sagen, dass sie ihn immer noch für eine raffinierte Simulation hielt,<br />
die <strong>von</strong> Lorenz gesteuert wurde. Als Biologe hatte er sicher auch<br />
Anatomie studiert und er würde seine einzige Schülerin vermutlich<br />
nicht ausgerechnet in dieser wichtigen Prüfung hängen lassen.<br />
„Nein“, antwortete die Krähe mit einem komischen Krächzen, das<br />
fast wie ein Kichern klang. „Es ist aber auch egal, ob du mir vertraust<br />
oder nicht. Wenn du in dieser Nacht fertig werden willst, solltest du<br />
dich beeilen.“<br />
Über dem Meer verblasste die Dunkelheit bereits, als Miri den letzten<br />
Knochen an seinen Platz legte. Sie trat einen Schritt zurück, um ihr<br />
Werk zu betrachten. Für die Rippen und das rechte Beinpaar hatte sie<br />
eine flache Grube ausgehoben. Das linke Beinpaar, den Hals und den<br />
Kopf hatte sie so gelegt, dass es aussah, als hätte sich das Pferd in<br />
den feinen Sand gewälzt und könnte jeden Moment aufspringen. Auf<br />
eine gruselige Weise war das Skelett schön.<br />
41
„Und wie geht es jetzt weiter?“, wollte sie <strong>von</strong> ihrer gefiederten<br />
Ratgeberin wissen.<br />
„Eigentlich ist alles erledigt“, antwortete die Krähe. „Du musst nur<br />
noch darauf warten, dass die Sonnenscheibe den Horizont berührt.<br />
Das Tor in deine Welt versteckt sich hier in den Klippen. Es öffnet sich<br />
immer bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Wenn du zwischen<br />
den Felsen einen leuchtenden Bogen siehst, rennst du einfach<br />
darunter durch, dann bist du in Sicherheit. Für den Fall, dass das<br />
Nachtauge zurückkommt, solltest du vorher allerdings noch ein<br />
bisschen singen.“<br />
Miri dachte einen Moment lang darüber nach, ob sie die untere Welt<br />
wirklich schon verlassen wollte. Es wäre lustiger, herauszufinden, was<br />
sich Lorenz oder Ben einfallen ließen, wenn die an-gehende<br />
Wildnisassistentin die zugedachte Rolle nicht länger spielen würde.<br />
„Und was müsste ich singen, wenn ich das Windpferd tatsächlich<br />
zurückrufen wollte?“ Sie versuchte, bei dieser Frage möglichst<br />
unschuldig auszusehen.<br />
„Du solltest nicht einmal darüber nachdenken, das Windpferd zu<br />
rufen. Das ist kein gewöhnliches Pferd“, antwortete die Krähe<br />
erschrocken. „Wenn die Herrin der unteren Welt über seine Magie<br />
gebieten könnte, wäre das für deine und meine Welt gefährlich.“<br />
„Und was wäre daran so gefährlich?“, bohrte Miri weiter. Doch die<br />
Krähe schüttelte sich nur und pickte mit einem misstönenden<br />
Krächzen an einem Wirbelknochen herum.<br />
Lautlos glitt der Schatten der Eule über die Klippen. Sie kreiste<br />
zweimal über der Bucht, dann schwang sie sich in den Nachthimmel<br />
hinauf und flog nach Westen zu den Bergen, wo die dunkle Königin<br />
vermutlich noch nach dem geheimnisvollen Eindringling suchte.<br />
42
„<strong>Die</strong> alte Hexe hat bereits das leuchtende Schwert. Wenn sie<br />
außerdem auch noch über das Windpferd gebietet, kann sie jederzeit<br />
das Tor zu einer anderen Welt öffnen. Niemand könnte sie dann<br />
noch daran hindern, auch in deine Welt zu kommen.“<br />
„Dort würde es ihr bestimmt nicht gefallen.“ Lachend schüttelte Miri<br />
den Kopf. „Wenn sich keiner herumkommandieren lässt, ist das für<br />
eine Dame ihres Standes sicher frustrierend.“<br />
<strong>Die</strong> Krähe legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. „Du<br />
unterschätzt die Magie der dunklen Königin.“ Sie duckte sich auf den<br />
Boden als würde sie sich vor ihren eigenen Worten fürchten. „Mit ihr<br />
würde alles zurückkehren, was ihr aus eurer Welt verbannt habt:<br />
Neid, Missgunst, Angst vor denen, die anders sind, und Gewalt.“<br />
Miri musste rasch den Kopf zur Seite wenden, um ihr Lächeln zu<br />
verbergen. Wenn sie bisher noch gezweifelt hatte, dann waren die<br />
pathetischen Worte der Krähe der letzte Beweis dafür, dass Lorenz<br />
diese Szene ersonnen hatte. Seiner Meinung nach war die untere<br />
Welt der alten schamanischen Kulturen mit dem Unter-bewusstsein<br />
gleichzusetzen. Wer sich nicht mit den Sehnsüchten und Ängsten in<br />
seinem persönlichen Schattenreich auseinander-setzte, riskierte, dass<br />
sie sein Denken und Handeln mehr und mehr bestimmten. Lorenz<br />
war überzeugt da<strong>von</strong>, dass die Krankheiten, an denen die alte Welt<br />
zugrunde gegangen war, jederzeit wieder ausbrechen konnten, wenn<br />
die Menschen nicht bereit waren, sich den Herausforderungen ihres<br />
Unterbewusstseins zu stellen.<br />
„Du solltest anfangen zu singen, bevor das Nachtauge zurückkommt“,<br />
mahnte die Krähe.<br />
Miri hatte gerade noch darüber nachgedacht, wie eine angehende<br />
Wildnisassistentin mit den Herausforderungen ihres Unterbewusstseins<br />
umgehen musste. „Hat die Herrin der unteren Welt<br />
43
überhaupt ein Recht auf dieses Windpferd, wenn ich es ins Leben<br />
zurücksinge?“, fragte sie. „Könnte ich es vor ihr schützen?“<br />
„Du musst verrückt sein!“ <strong>Die</strong> Krähe starrte Miri ungläubig an. „Du<br />
hast noch keinen blassen Schimmer <strong>von</strong> deiner Magie und träumst<br />
da<strong>von</strong>, eine Hexe herauszufordern, die seit vielen hundert Jahren<br />
nichts anderes tut, als ihre magischen Kräfte und ihre Skrupellosigkeit<br />
zu vervollkommnen.“<br />
„Ich könnte es wenigstens versuchen.“ Miri war sicher, dass sie den<br />
richtigen Weg gewählt hatte.<br />
„Dann nimm dir ein Instrument und sing dein Zauberlied.“<br />
„Was für ein Instrument?“, wunderte sich Miri.<br />
„Da drüben.“ <strong>Die</strong> Krähe flatterte zu einer Kiste, die Miri zum ersten<br />
Mal am Rand der Klippen stehen sah. Nach der Prüfung musste sie<br />
Lorenz unbedingt fragen, ob die Truhe die ganze Zeit da gestanden<br />
hatte und durch einen optischen Trick verborgen ge-wesen war.<br />
Jedenfalls war sie echt. Miris Finger strichen über poliertes Holz oder<br />
eine gute Imitation. Der Deckel war so schwer, dass sie ihn mit<br />
beiden Händen hochstemmen musste. Zwischen Stoffpolstern lagen<br />
Rasseln, Flöten, Trommeln, eine kleine Gitarre und andere<br />
Instrumente, die Miri nie zuvor gesehen hatte.<br />
„Ach du meine Güte“, seufzte Miri. Dem Musikunterricht was sie<br />
bisher immer erfolgreich aus dem Weg gegangen.<br />
„Mach schon“, nörgelte die Krähe. „Es kann doch nicht so schwer<br />
sein, das richtige Instrument auszusuchen und anfangen zu singen.“<br />
„Welches ist denn das richtige Instrument?“, fragte Miri.<br />
44
„Wenn du nicht einmal das weißt, solltest du dir die Geschichte aus<br />
dem Kopf schlagen und die Biege machen, bevor die dunkle Königin<br />
zurückkommt“, spottete die Krähe.<br />
Mit einer Rassel würde sie wohl am wenigsten falsch machen.<br />
„Vergiss nicht, dass du nicht nur dein Instrument, sondern auch noch<br />
dein Lied finden musst, bevor die Sonne aufgeht.“<br />
Als würde sie einem eigenen Willen gehorchen, griff Miris Hand an<br />
den Rasseln vorbei nach einer flachen Trommel. Sie konnte gerade<br />
noch die Hand mit dem Musikinstrument zurückziehen, ehe die Kiste<br />
mit einem entschiedenen Rums zuklappte. Im selben Moment war sie<br />
so spurlos verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.<br />
„Na bitte“, krächzte die Krähe. „Geht doch.“<br />
„Was jetzt?“<br />
„Fang einfach an, zu singen.“<br />
„Was für ein Lied soll ich denn singen?“<br />
„Das Lied der Cantadora. Das Lied, in dem die lebenden Seelen den<br />
toten begegnen.“ <strong>Die</strong> Krähe flatterte zum Gerippe, das im weißen<br />
Schimmer des staubfeinen Sandes zu leuchten schien. „Ein Lied, das<br />
Wasser, Erde, Luft und Feuer aufweckt, und Leben zurück-bringt, das<br />
schon lang im Strom der Zeit versickert ist.“<br />
Miri schüttelte den Kopf. So etwas passierte doch nur in den<br />
Geschichten, die sie früher so gerne gelesen hatte. Damals hatte sie<br />
sich nichts sehnlicher gewünscht, als wenigstens einmal mit der<br />
Heldin oder dem Helden dieser fantastischen Abenteuer den Platz zu<br />
tauschen. Sie bezweifelte plötzlich, ob das wirklich so eine gute Idee<br />
gewesen war.<br />
45
„Wo soll ich dieses Lied finden?“<br />
„Im Rauschen deines Blutes oder im Herzschlag der Erde, im Brausen<br />
des Windes, im Tanz der Mäuse oder im Flüstern einer Krähenfeder.<br />
Wenn du der Trommel gut zuhörst, führt sie dich auf den richtigen<br />
Weg. Ach, fast hätte ich es vergessen.“ <strong>Die</strong> Krähe hüpfte zu einem<br />
nahegelegenen Stein und zerrte etwas darunter hervor. „Das<br />
brauchst du auch noch.“<br />
„Was?“<br />
Als das metallisch glänzende Ding aus dem Schnabel der Krähe in<br />
Miris Hand fiel, erkannte sie, dass es ein fingerlanges Messer mit<br />
einer sichelförmigen Klinge war. Ein fester Riemen war um den Griff<br />
geschlungen und zu einem Halsband zusammengeknotet.<br />
„Leg es an“, krächzte die Krähe. „Wenn du es brauchst, hast du keine<br />
Zeit, danach zu suchen.“<br />
„Wozu brauche ich ein Messer?“ Miri schüttelte den Kopf.<br />
„Später. Jetzt brauchst du nur die Trommel und dein Lied.“<br />
Ein zarter Klang schwebte über die Bucht, als Miri mit den Fingerspitzen<br />
sachte über die Trommelhaut strich.<br />
„So findest du das Lied nicht“, krächzte die Krähe.<br />
„Hast du denn eine bessere Idee?“<br />
„Du musst sie mit einem Trommelschlägel spielen.“<br />
„Und wo soll ich den hernehmen?“<br />
„Erinnerst du dich an den Knochen zwischen den Felsen?“<br />
„Den Hirschknochen?“<br />
46
<strong>Die</strong> Krähe nickte. „Hol ihn. Der gibt einen guten Schlägel ab.“<br />
Hastig kletterte Miri die steile Uferböschung hinab, aber der Knochen<br />
steckte nicht mehr da, wo sie ihn vorhin gesehen hatte.<br />
„Ich brauche einen Schlägel“, murmelte sie, während sie dem Wasser<br />
folgte. „Schlägel, Schlägel, Schlägel.“ Ihre Augen suchten das Ufer<br />
vergeblich nach einem passenden Knochen ab. Sie wollte schon<br />
umkehren, als sie auf den Wellen etwas treiben sah. So wie es<br />
aussah, musste es ein Stock sein. Armlang und dünn mit einer<br />
knorrigen Verdickung am einen Ende.<br />
„Schlägel, Schlägel, Schlägel, Schlägel“, lockte Miri. Ein kleiner Strudel<br />
lenkte die Wellen in einen schäumenden Wirbel und spülte ihr den<br />
Ast direkt vor die Füße.<br />
„Ich hab einen“, jubelte Miri. „Vielen Dank!“ Sie winkte den Wellen<br />
zu, kletterte die Böschung hinauf und rannte zu dem Pferdeskelett<br />
zurück. Wie <strong>von</strong> selbst fanden ihre Füße einen flotten Dreiertakt,<br />
brambabam, brambabam, brambabam, bam. Schlägel, Schlägel,<br />
Schlägel, Schlägel murmelten ihre Gedanken dazu. Eins-zwei, einszwei,<br />
eins-zwei, stopp.<br />
„Ein morscher Ast“, murrte die Krähe. „Der geht dir doch schon nach<br />
den ersten Schlägen in Stücke. Soll ich einen anderen Knochen für<br />
dich suchen?“<br />
„Nein“, entgegnete Miri brüsk. „Lass uns anfangen.“ Der Rhythmus,<br />
der sie begleitet hatte, durfte ihr nicht abhandenkommen.<br />
47
Sechstes Kapitel<br />
Brambabam, brambabam galoppierten ihre Füße auf der Stelle. Einszwei,<br />
eins-zwei trabte derweil der Schlägel über die Trommel.<br />
Brambabam, brambabam, eins-zwei, eins-zwei. Miri hatte Mühe, die<br />
gegenläufigen Rhythmen zu halten.<br />
Brambabam, brambabam, eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei.<br />
Fahles Licht stieg wie Nebel aus dem Boden auf. Zuerst hüllte es das<br />
Pferdeskelett ein, dann kroch es über ihre Füße und schließlich hing<br />
es wie eine schimmernde Wolke über der Bucht.<br />
Brambabam, brambabam, eins-zwei, eins-zwei.<br />
Plötzlich ging das Lied der Trommel in einem Donnergrollen unter.<br />
Der Fluss verharrte in seinem Lauf und wurde zu Eis, doch der<br />
Moment der Reglosigkeit dauerte nur einen Augenblick. Ächzend<br />
zerbarst das Eis und eine gewaltige Kraft schob es dorthin zurück,<br />
woher es gekommen war. Das Wasser brodelte als würde es mit der<br />
Gewalt seiner Natur gegen etwas Machtvolleres ankämpfen.<br />
Brambabam, brambabam, eins-zwei, eins-zwei, eins …<br />
Spiel weiter, flüsterte die Stimme der Knochensängerin durch Miris<br />
Gedanken. Du hast den Strom der Zeit dazu gezwungen, rückwärts zu<br />
fließen. Jetzt musst du nur noch die richtigen Worte finden. Frag die<br />
Sterne. Sie kennen die Worte der heiligen Lieder.<br />
<strong>Die</strong> Sterne? Angestrengt starrte Miri zum Himmel hinauf, aber da war<br />
nichts mehr. Das spinnwebgraue Licht des erwachenden Tages<br />
verbarg die Sterne vor ihren Augen. Direkt über dem Horizont<br />
entdeckte Miri noch einen letzten hellen Punkt am Saum des<br />
schwarzgrauen Nachtmantels. Der Morgenstern!<br />
48
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Morgen? Ruft sie das Licht?“<br />
Fremde Worte <strong>von</strong> ihrer eigenen Stimme gesungen.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Morgen? Ruft sie das Licht?“<br />
Selbstvergessen sang Miri das Lied des Morgensterns während Hände<br />
und Füße dem Rhythmus der Pferde folgten.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Sternensang.<br />
Trommellied, rufst du den Morgen, rufst du das Licht?“<br />
<strong>Die</strong> Klippen ringsum waren eins mit dem Grau der schwindenden<br />
Nacht. <strong>Die</strong> Bucht mit dem staubfeinen Sand schien wie eine Insel im<br />
geisterhaften Licht des Zaubers zu schwimmen.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Abend? Ruft sie die Nacht?“<br />
Aus der Ferne mischte sich das Donnern galoppierender Hufe in ihren<br />
Gesang.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Abend? Ruft sie die Nacht?“<br />
Es klang so, als kämen sie aus den Bergen herunter in das abgelegene<br />
Flusstal. Galoppierend, trabend und wiehernd näherte sich eine<br />
ganze Herde.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Sternensang.<br />
Trommellied, rufst du den Abend, rufst du die Nacht?“<br />
Fast wären Miris Füße ins Stolpern geraten, als sie im Schatten<br />
zwischen den Klippen einen Pferdekopf erkannte.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Frühling? Ruft sie die Flut?“<br />
49
Eine rotbraune Stute trat hinter dem Felsen am Ende der Bucht<br />
hervor. Mit weit geblähten Nüstern prüfte sie die Witterung, bevor<br />
sie ihre Hufe in den schimmernden Sand setzte.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Frühling? Ruft sie die Flut?“<br />
Andere Pferde folgten. Zwischen den schattengrauen Pferden, die im<br />
Licht des Tages braun oder schwarz sein mochten, erkannte Miri eine<br />
gescheckte und eine goldbraune Stute.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Frühlingssang.<br />
Trommellied, rufst du den Regen, Schmelzwasserflut?“<br />
Steifbeinig trippelte ein sternenweißes Fohlen an der Seite der<br />
schattenfarbenen Mutter über den schmalen Uferstreifen am<br />
Eingang der Bucht. Mit hoch erhobenem Kopf stand es da und sah zu<br />
Miri herüber.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Sommer? Ruft sie die Glut?“<br />
Neugierig stakte das Fohlen ein paar Schritte näher.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Sommer? Ruft sie die Glut?“<br />
Auch das Fohlen folgte dem Ruf des Lieds. Mit langem Hals und<br />
bebenden Nüstern kam es näher. Miri konnte bereits den Milchduft<br />
seines Atems schmecken.<br />
„Blut“, krächzte ihr die Krähe ins Ohr. „Du brauchst Blut, um den<br />
Zauber wahr zu machen. Schnapp dir das Fohlen. Schnell.“<br />
Mit einem schrillen Wiehern bäumte sich das Fohlen auf, machte auf<br />
der Hinterhand kehrt und fegte über den Sand.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Sommersang.<br />
Trommellied, rufst du die Hitze, Mittagslichtglut?“<br />
50
Der Wirbel winziger Hufe übertönte den Rhythmus der Trommel.<br />
Dann trabte das Fohlen zu seiner Mutter zurück.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Herbstwind? Ruft sie den<br />
Sturm?“<br />
Ein langbeiniger Junghengst, der größer war als die anderen Pferde<br />
aber noch knochig und schmalbrüstig, hatte offenbar einen falschen<br />
Weg erwischt. Nervös trabte er am oberen Rand der Klippen entlang.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Herbstwind? Ruft sie den<br />
Sturm?“<br />
Zornig stampfte er mit dem Huf auf die Erde und sein herrisches<br />
Wiehern schallte wie eine Trompete über die Berge.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang, magischer Herbstwindsang.<br />
Trommellied, rufst du den Donner, Sturmwetterwut?“<br />
Er machte auf der Hinterhand kehrt und galoppierte ein Stück zurück.<br />
Wie das Echo des Donners rollte sein Hufschlag durch die Bucht.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Winter? Ruft sie das Eis?“, sang<br />
Miri.<br />
Offenbar hatte der Hengst den Abstieg nicht gefunden. Es dauerte<br />
nur wenige Augenblicke, bis er zurückkam.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Winter? Ruft sie das Eis?“<br />
Mit einem gellenden Schrei bäumte sich der Fuchs auf.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang, lautloser Schneegesang.<br />
Trommellied, rufst du den Winter? Leben, das ruht?“<br />
Mit diesen Worten endete das Lied. Atemlos lauschte Miri dem<br />
letzten Trommelschlag nach. Der Zorn des jungen Hengstes war<br />
51
verstummt. Wie ein Gefangener seines eigenen Stolzes stand er auf<br />
der Klippe. Selbst die Stimmen der Sterne schwiegen in diesem<br />
Moment.<br />
„Schau nur.“ Wie eine stumpfe Klinge zerriss das Krächzen den<br />
magischen Augenblick. „Du hast es geschafft!“<br />
Miris Blick fiel auf das Skelett, doch da waren keine Knochen mehr zu<br />
sehen. Muskeln und Sehnen, Haut und Haare bedeckten das Gerippe.<br />
Es ist noch nicht geschafft, flüsterte die Stimme der Knochensängerin<br />
durch ihr Denken. Der Zauber braucht Blut, um wahr zu werden.<br />
Der Fuchshengst tänzelte auf der Stelle. Miri hörte Steine<br />
herabprasseln, als er mit seinen Vorderhufen nach sicheren Tritten<br />
suchte. Dann sank er plötzlich in der Hinterhand ein, sein Körper<br />
spannte sich wie ein Bogen und schnellte über den Rand der Klippe<br />
hinaus. Für einen Augenblick hing er reglos in der Luft, als wäre er<br />
erstarrt wie das Leben im Winter. Dann senkte er seinen Kopf,<br />
streckte die Vorderbeine weit nach vorn und landete nur ein paar<br />
Schritte <strong>von</strong> ihr entfernt. Sand stiebte auf und Miri spürte die<br />
Erschütterung des Bodens, der noch immer im Rhythmus ihres<br />
magischen Gesangs vibrierte.<br />
Brambabam, brambabam, grollte es durch die atemlose Stille. Einszwei,<br />
eins-zwei, eins-zwei dröhnte die Trommel dazu.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie das Leben? Ruft sie den Tod?“<br />
Es war nicht Miri, die diese Zeile sang. <strong>Die</strong> Sterne selbst schienen zu<br />
singen und ihr Gesang hallte <strong>von</strong> den zermahlenen Knochen in der<br />
Bucht wider.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie das Leben? Ruft sie den Tod?“<br />
52
<strong>Die</strong> Vorderhand des Hengstes versank im schimmernden Sand. Noch<br />
im Sprung riss er die Hinterbeine nach vorn um den Sturz<br />
abzufangen, aber sein eigenes Gewicht schob ihn über die rechte<br />
Schulter nach vorn, er überschlug sich und blieb reglos am Rand der<br />
flachen Grube liegen.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang, Lausche des Lebens Sang.<br />
Trommellied, rufst du das Leben? Rufst du das Blut!“<br />
„Du hast es gehört“, kreischte die Krähe. „Nimm sein Blut, um dein<br />
Werk zu vollenden.“<br />
Miri hatte nie zuvor in ihrem Leben Blut vergossen. Wie <strong>von</strong> selbst<br />
näherte sich die Klinge dem schweißnassen Fell, unter dem der Strom<br />
des Lebens pulsierte.<br />
„Rufst du das Leben? Rufst du das Blut!“, klang es in ihrem Denken<br />
fort und fort.<br />
„Worauf wartest du noch?“<br />
Sie musste lebendiges Blut vergießen, um die toten Knochen dem<br />
Leben zurückzugeben.<br />
„Ein Leben um das andere“, krächzte die Krähe. „Mach schnell.“<br />
„Nein!“ Zornig schlug Miri nach der Krähe, die sie fast dazu verleitet<br />
hätte, das Undenkbare zu tun. „Das mache ich nicht.“<br />
Als wäre ein Bann gebrochen sprang der feuerfarbene Junghengst<br />
wieder auf die Füße. Er brachte sich mit einem gewaltigen Satz über<br />
die Grube in Sicherheit, aber er rannte nicht weg.<br />
„Blut!“, krächzte die Krähe abermals. „<strong>Die</strong>ser Zauber braucht Blut,<br />
sonst kann er nicht wahr werden.“ <strong>Die</strong> schwarzen Schwingen<br />
53
klatschten Miri ins Gesicht, als der Vogel versuchte, auf ihrem Arm zu<br />
landen. „Schnell. Nimm mein Blut, bevor es zu spät ist.“<br />
„Nein!“<br />
„Dummes Ding!“, schimpfte die Krähe. „Du musst es zu Ende bringen.<br />
Hörst du denn nicht, dass die dunkle Königin bereits auf dem Weg<br />
hierher ist.“<br />
Ein härterer, schärferer Ton hatte sich in das Lied gemischt, das<br />
immer noch in den Klippen, dem Fluss und der Erde nachhallte.<br />
Klackdadap, klackdadap, schlug Eisen auf Stein.<br />
<strong>Die</strong> Pferde schienen die Gefahr zu wittern. <strong>Die</strong> Leitstute wandte sich<br />
dem Fluss zu, der immer noch bergauf floss und die anderen Tiere<br />
folgten ihr.<br />
Nur der Fuchshengst zögerte. Über die flache Grube mit dem leblosen<br />
Pferdeleib, begegneten seine Blicke der jungen Cantadora.<br />
Das Geheimnis der Macht liegt darin, nur das zu nehmen, was du<br />
auch zu geben bereit bist.<br />
<strong>Die</strong>ser Gedanke war voller Schönheit und Kraft.<br />
Bist du bereit, dein eigenes Blut für das Leben des Windpferdes zu<br />
vergießen?<br />
Miri nickt stumm. <strong>Die</strong> Weisheit dieser Worte sank bis auf den Grund<br />
ihres Herzens.<br />
Rufst du das Leben? Rufst du das Blut!<br />
Ihr eigenes Blut für das Leben eines Pferdes. Ihr Blut … - Das Messer<br />
der Knochensängerin! Miri legte ihre Hand um die sichel-förmige<br />
Klinge und packte so fest zu, als wollte sie den Stahl zer-drücken. Den<br />
54
Biss spürte sie kaum. Erst als ein dumpfes Pochen ihre Hand taub und<br />
gefühllos machte, wurde ihr bewusst, dass sie ein fühlendes Wesen<br />
verletzt hatte. Sie drängte Entsetzen und Ekel zurück und stieg zu<br />
dem leblosen Pferd in die Grube hinab.<br />
„Mein Blut für dich“, flüsterte sie, während sie seine breite Stirn<br />
zeichnete.<br />
Rufst du das Leben? Rufst du das Blut!<br />
Klackdadap, klackdadap. Tacktack, tacktack. Eisen hämmerte den<br />
Rhythmus in den Stein. Mit ihrer verletzten Hand strich Miri über den<br />
Rücken des Windpferdes, seine Beine, seine Hufe. Sie war so<br />
versunken in ihr Tun, dass sie nicht bemerkte, wie das Brausen des<br />
Flusses allmählich leiser wurde und schließlich ganz verstummte. Erst<br />
die Bewegung, die plötzlich durch den Pferdeleib lief, rief sie zurück<br />
in die Wirklichkeit des anbrechenden Morgens. Ein Zittern rann über<br />
das Fell, die Vorderbeine zuckten wie im Traum und die Hinterbeine<br />
schlugen plötzlich aus. Im gleichen Moment riss das Pferd die Augen<br />
auf und versuchte, aufzuspringen, aber die Beine konnten den<br />
schweren Leib noch nicht tragen. Miri sprang mit einem Satz aus der<br />
Grube und trat sicherheitshalber zwei Schritte zurück, als das Pferd<br />
ächzend zur Seite kippte. Einen Augenblick lag es ganz still, plötzlich<br />
peitschte der Kopf in die Höhe, die Hufe zerwühlten den Sand.<br />
Breitbeinig und mit hängendem Kopf stand das Tier in der Grube, als<br />
ob das Aufstehen seine ganze Kraft gekostet hätte. Im grauen Licht<br />
des frühen Tages erkannte Miri, dass sein Fell weiß wie der Sand in<br />
der Bucht war.<br />
Klackdadap, klackdadap, klang es aus den Klippen herunter.<br />
Erschrocken riss der Schimmel den Kopf hoch und sprang mit einem<br />
gewaltigen Satz aus der Grube. Er schüttelte sich, bis sein knochiger<br />
Körper in eine Staubwolke gehüllt war, dann warf er noch einen Blick<br />
zu den Klippen, bevor er sich abwandte, um der Herde zu folgen.<br />
55
„He“, rief Miri dem Schimmel leise nach. „Habe ich dich wirklich<br />
wachgesungen? Und bist du tatsächlich das Windpferd, nach dem die<br />
dunkle Königin sucht?“<br />
56
Sie war sicher, dass Ben oder Lorenz die Simulation an dieser Stelle<br />
beenden und über die Lautsprecheranlage verkünden würden, dass<br />
Miriel Rosen ihre Prüfung bestanden hatte und als Wildnis-assistentin<br />
ins Team der Wildniskuppel aufgenommen wurde. Statt-dessen<br />
wandte sich das weiße Pferd um und kam zu ihr zurück.<br />
„Du hast die Magie gewirkt, die mich nach all den Jahren hierher<br />
zurückgerufen hat? Respekt. Das hat nicht einmal die Knochensängerin<br />
zustande gebracht.“ Eine samtweiche Schnauze senkte sich<br />
in Miris Hand. „Danke, Mädchen.“ Der warme Atem ließ den Schmerz<br />
ihrer Schnittwunde verblassen.<br />
„Darf ich …“ Ungläubig schüttelte Miri den Kopf. Es konnte doch gar<br />
nicht wahr sein, dass sie mit einem leibhaftigen Pferd am Fuß einer<br />
Klippe stand, die es in der Wildniskuppel überhaupt nicht gab. Dass<br />
es noch viel unwahrscheinlicher war, mit diesem Pferd zu reden, fiel<br />
ihr erst später auf. „Darf ich dich anfassen?“ Unsicher streckte sie die<br />
Hand nach den dürftigen Haarsträhnen aus, die über den Pferdehals<br />
hingen.<br />
„Von mir aus“, antwortete das Pferd. „Aber beeil dich. Wir müssen<br />
verschwinden. Der erste Wind des neuen Tages weht ungebetene<br />
Gäste hierher.“<br />
57
Siebtes Kapitel<br />
Nun hörte auch Miri den Hufschlag, der <strong>von</strong> den Klippen<br />
herunterklang. „Wohin?“ Nervös blickte sie sich um. „Da drüben ist<br />
ein Weg. Aber ich weiß nicht …“<br />
Das Windpferd schüttelte den Kopf. „Zu spät. Sie sind gleich da. Wir<br />
müssen uns verstecken.“ Mit einem herrischen Wiehern rief der<br />
Schimmel die Herde zurück. „Zwischen den anderen Pferden wird sie<br />
mich nicht erkennen“, stellte er fest. „Und du versteckst dich hinter<br />
den Felsen.“<br />
„Willst du mich denn für dumm verkaufen?“, hörte Miri die dunkle<br />
Königin schimpfen.<br />
„Beeil dich!“ Das Pferd versetzte ihr einen aufmunternden Stoß, dann<br />
trabte es zu den anderen.<br />
„Glaubst du, ich wüsste nicht, was es bedeutet, wenn das Gewebe<br />
zwischen den Welten erschüttert wird?“ <strong>Die</strong> dunkle Königin musste<br />
direkt über dem Felsüberhang stehen, unter dem sich Miri<br />
verstecken wollte.<br />
„Es ist dem Mädchen wohl gelungen, irgendeine Form <strong>von</strong> Magie zu<br />
wirken“, erwiderte die Knochensängerin. „Aber das Windpferd …“<br />
„Wir werden ja sehen, was passiert ist.“<br />
Miri duckte sich unter einen Steinüberhang, als sich die Schatten der<br />
Reiter gegen den heller werdenden Himmel abzeichneten. Sie<br />
tauchten da auf, wo der junge Hengst <strong>von</strong> den Klippen gesprungen<br />
war. Im Gegensatz zu dem schmalbrüstigen Fuchs setzte der Graue<br />
seine Hufe auf die schmalen Trittsteine und trug seine Reiterin sicher<br />
in die Bucht. Das schwarze Streitross tat es ihm nach.<br />
58
„Was sind das für Pferde?“, wollte die dunkle Königin wissen.<br />
„Das ist die Herde aus den Bergen.“ Vorsichtig folgte die Knochensängerin<br />
den Reitern. „Sie kommen nur selten in die Täler.“<br />
„Welches <strong>von</strong> ihnen ist das Windpferd? Und wo ist das Mädchen?“<br />
Miri duckte sich tiefer in ihre Nische.<br />
„Ich weiß nicht.“ Kopfschüttelnd blickte die Knochensängerin in die<br />
Runde. „Vielleicht ist es ihr gelungen, ein Tor zwischen den Welten zu<br />
öffnen. Vielleicht war das die Erschütterung im Netz der Magie, die<br />
wir beide gespürt haben. An diesen Pferden kann ich jedenfalls nichts<br />
Magisches erkennen.“<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin trieb ihren Grauen an den Rand der Grube. „<strong>Die</strong><br />
Knochen sind nicht mehr da, und der Fluss hat sie diesmal auch nicht<br />
da<strong>von</strong>getragen. Es sollte mich doch sehr wundern …“ Sie musterte<br />
die Pferde eins nach dem anderen. „Zu jung“, sagte sie, als ihr Blick<br />
auf das milchweiße Fohlen fiel. „Und der ist zu alt.“<br />
Im grauen Licht des dämmernden Morgens glich der Hengst, den Miri<br />
herbeigesungen hatte, einem elenden Klepper. Sein Fell war stumpf<br />
und schmutzig, Mähne und Schweif bestanden aus struppigen<br />
Haarbüscheln und er ließ den Kopf hängen, als könne er das Gewicht<br />
kaum tragen.<br />
„Der vielleicht.“ Sie deutete auf den schmalbrüstigen Fuchshengst am<br />
Rand der Herde. Mit einem nervösen Schnauben riss das junge Pferd<br />
den Kopf hoch.<br />
„Der muss es sein.“ <strong>Die</strong> Dame nickte dem Ritter zu. „Fang ihn ein und<br />
bring ihn her.“<br />
Mit einem schrillen Wiehern stieg der Junghengst auf die Hinterhand,<br />
wirbelte herum und sprengte da<strong>von</strong>.<br />
59
„Los!“ Mit einem groben Fußtritt trieb die dunkle Königin ihr Pferd<br />
an. „Er darf uns nicht entkommen.“ <strong>Die</strong> Pferde stoben in alle<br />
Richtungen da<strong>von</strong>, der Trommelwirbel ihrer Flucht hallte <strong>von</strong> den<br />
Klippen wider.<br />
Nur der struppige Schimmel rührte sich nicht und die Knochensängerin<br />
stand mit verschränkten Armen am Fuß der Klippen.<br />
Sie nickte anerkennend. „Und wie soll es jetzt weitergehen?“<br />
„Ich weiß nicht.“ Miri kroch aus ihrem Versteck. „Vielleicht …“<br />
Einerseits könnten Lorenz und Ben dieses abgefahrene Programm<br />
allmählich beenden, andererseits wollte sie sich noch nicht <strong>von</strong> der<br />
Welt trennen, in der es Magie gab und Pferde.<br />
Im Gegensatz zu Miri wusste der Schimmel offenbar genau, was er<br />
wollte. „Ich gehe einfach mit in Miris Welt. Dann bin ich die alte Hexe<br />
endlich los.“<br />
„Das geht nicht“, entgegnete die Knochensängerin. „Du gehörst<br />
hierher. In Miris Welt gibt es keine Pferde mehr. Außerdem sind wir<br />
zu spät. Das Tor ist öffnet sich, wenn die Sonne über den Horizont<br />
tritt.“ Sie deutete dabei nach Osten. Ein glutroter Splitter der<br />
Sonnenscheibe hatte sich bereits in das Grau des Himmels geschoben<br />
und vergoldete die Schaumkronen der Wellen. „Ihr solltet euch<br />
da<strong>von</strong>machen, bevor die dunkle Königin merkt, dass sie das falsche<br />
Pferd jagt.“<br />
„Wohin?“ Miri blickte sich ratlos um. Im Osten versperrte ihnen das<br />
Meer den Weg und hinter den Klippen im Westen ragte der Berg auf,<br />
in dem die Knochensängerin sie gefunden hatte. Das Pferd würde ihr<br />
sicher nicht in die unterirdischen Gänge und Höhlen folgen. <strong>Die</strong><br />
Herde aus den Bergen war auf dem schmalen Streifen Land zwischen<br />
dem Wasser und den Klippen nach Norden geflohen. Dort waren<br />
auch die dunkle Königin und ihr Ritter. Der einzige Fluchtweg, der<br />
60
ihnen offen stand, führte nach Süden, über den Fluss und weiter am<br />
Strand entlang.<br />
<strong>Die</strong> Knochensängerin nickte, als könne sie Miris Gedanken lesen. „Ja,<br />
ihr müsst nach Süden. Kennst du das Grüne Land?“, fuhr sie zu dem<br />
Windpferde gewandt fort.<br />
„Oh ja“, schnaubte der Schimmel. „Aber für dieses Leben habe ich<br />
mir vorgenommen, ein bisschen vorsichtiger zu sein. Ich will nicht<br />
schon wieder als junger Held sterben, lieber als alter Feigling.“<br />
Miri erinnerte sich daran, dass die Nomaden im Ödland ihre Toten in<br />
einem immergrünen Land wähnten. Wie auf Spinnenbeinen kroch ihr<br />
die Angst in den Nacken.<br />
„Trotzdem müsst ihr da hinüber“, entgegnete die Knochensängerin.<br />
„Der Landweg kostet euch zu viel Zeit. Wenn ihr den Klippen zum<br />
Südkap folgt, kommt ihr zu einem Schlupfhafen. Fragt die Fischer, ob<br />
sie euch auf die andere Seite bringen. Erinnert sie einfach daran, dass<br />
ich ihnen gelegentlich wieder Fische ins Netz oder Wind in die Segel<br />
singen soll.“<br />
„Und wie geht es weiter, wenn wir auf der anderen Seite sind?“,<br />
erkundigte sich Miri.<br />
„Dein Begleiter weiß, wo das Wasser der Heilung aus der Erde tritt.“<br />
<strong>Die</strong> Knochensängerin deutete auf das Windpferd. „<strong>Die</strong> Hüterin der<br />
Heiligen Quelle ist meine Schwester. Sie wird euch weiterhelfen. Aber<br />
ihr müsst euch beeilen. <strong>Die</strong> hohe Dame lässt sich bestimmt nicht<br />
lange an der Nase herumführen.“<br />
Obwohl der Fluss um diese Jahreszeit nicht viel Wasser führte, war<br />
Miri bis zu den Hüften durchnässt als sie das andere Ufer erreichten.<br />
61
Um nicht schon <strong>von</strong> weitem gesehen zu werden, folgten sie dem<br />
Verlauf der Klippen, obwohl sie auf dem festen Boden am Saum des<br />
Meeres flotter vorangekommen wären.<br />
Miri kam es so vor, als würde sie mit jedem Schritt tiefer im Sand<br />
versinken, und ihre Beine fühlten sich bleischwer an.<br />
„Mach schon.“ Der Schimmel stieß sie aufmunternd in den Rücken.<br />
„Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns und unsere Jäger sind<br />
schnell.“<br />
„Ich kann nicht mehr“, ächzte Miri. „Meine Füße …“<br />
„Steig auf meinen Rücken, dann sind wir schneller.“<br />
Allein bei der Vorstellung wurde es Miri schwindelig. „Ich kann nicht<br />
reiten.“<br />
„Dann musst du es eben lernen“, entgegnete das Pferd so, als sei<br />
daran nichts Besonderes.<br />
Miri kletterte auf einen Felsen und <strong>von</strong> dort auf den Rücken des<br />
Schimmels. Der hohe unsichere Sitz machte ihr Angst.<br />
„Rück ein bisschen weiter vor“, ermahnte sie das Pferd. „Wenn du so<br />
weit hinten sitzt, verliere ich dich beim ersten Galopp.“<br />
„Galopp?“ Erschrocken krallte sich Miri in seine dürftige Mähne.<br />
„Geht es nicht vielleicht auch etwas langsamer?“<br />
„Setzt dich anständig hin“, entgegnete das Pferd. „Mach die Beine<br />
lang und die Knie zu. Das klappt schon. Vergiss nicht, zu atmen.“<br />
Miri tat, was ihr der Hengst gesagt hatte, aber schon bei seinen<br />
ersten Schritten kam sie ins Wanken.<br />
62
„Locker bleiben, weiteratmen und die Knie nicht zusammenkneifen.<br />
Das kitzelt mich und dich bringt es aus der Balance.“<br />
„Ich kann nicht …“<br />
„Halt den Mund und konzentrier dich auf deinen Hintern. Deine<br />
Wirbelsäule und meine sind eins. Wir bewegen uns im vollkommenen<br />
Gleichklang. Und atme! Es ist der Atem, der uns miteinander verbindet.<br />
Ja, genau so!“<br />
Tack tackatackatackatack, trommelten die Hufe erst langsam und<br />
dann immer schneller über das Geröll am Fuß der Klippen. Der harte<br />
Rhythmus verwandelte sich in eine rollende Bewegung, die aus der<br />
Hinterhand aufstieg, und den Pferderücken kaum erschütterte.<br />
„Das ist aber kein Galopp.“ Miri wusste nicht, ob sie darüber erleichtert<br />
oder enttäuscht sein sollte. In ihren Traumreisen war sie oft<br />
geritten, manchmal hatte sie sich auch selbst in ein Pferd ver-wandelt<br />
und immer waren es die weiten, wilden Sprünge gewesen, die sie fast<br />
in einen Rausch versetzt hatten.<br />
„Paso Llano“, antwortete das Pferd nicht ohne Stolz. „Das ist für den<br />
Anfang bequemer zu sitzen. Wenn du dich einigermaßen sicher<br />
fühlst, können wir auch einen Galopp riskieren.“<br />
„Wenn du meinst.“ Miri fühlte ihr Herz im Hals schlagen, als der<br />
Schimmel nach rechts abwendete und durch den tiefen Sand zum<br />
Strand hinunter stakte.<br />
„Halt dich fest und konzentrier dich auf deinen Hintern.“<br />
Als sie den schmalen Streifen erreichten, wo die Wellen ausrollten<br />
und verebbten, wurde der Hengst schneller. Zuerst wirbelten seine<br />
Hufe im flotten Vierertakt über den nassen Sand, dann wurden die<br />
63
Bewegungen runder. Das gleichmäßige Stampfen verwandelte sich in<br />
einen gesprungenen Dreiertakt.<br />
„Lass die Beine vorne“, schnaubte der Hengst. „Und vergiss nicht zu<br />
atmen.“<br />
Miri nickte stumm.<br />
Padabap, Padabap. Der Pferderücken zog sich unter ihr zusammen<br />
und streckte sich wieder. Sie klammerte sich mit beiden Händen fest<br />
in die Mähne und ließ sich in die Bewegung hineintragen.<br />
Padabap, Padabap. <strong>Die</strong> Sprünge wurden immer länger und der Boden<br />
schien unter ihnen vorbeizufliegen. Der scharfe Wind trieb Miri<br />
Tränen in die Augen und die Konturen der Klippen verschwammen zu<br />
einem breiten, schwarzgrauen Streifen.<br />
Padabap, Padabap. <strong>Die</strong> Sonne vergoldete den Strand, Schaumflocken<br />
schimmerten darauf wie kostbare Juwelen. Inzwischen war es<br />
hell genug, dass Miri die grauen Felsen erkennen konnte, die sich am<br />
Ende der lang gezogenen Bucht auftürmten.<br />
„Hier haben wir keine Deckung“, fiel es Miri plötzlich ein.<br />
„Na und.“ Der Schimmel machte einen übermütigen Bocksprung.<br />
„<strong>Die</strong> dunkle Königin sucht uns irgendwo in den Bergen und ihre Eule<br />
ist bei Tag blind wie ein fliegender Maulwurf.“<br />
Hoch über ihnen klang ein halb verwehter Schrei.<br />
„Bist du sicher?“ Miri suchte am Himmel nach dem Schatten der Eule,<br />
aber wenn es da oben tatsächlich etwas zu sehen gab, verbarg es sich<br />
hinter den Wolken, die mit dem Wind aufs Meer hinaus-trieben.<br />
„Egal“, schnaufte der Hengst. „Sie erwischt uns so oder so nicht<br />
mehr. Wir haben es gleich geschafft.“ Bis zum Kap waren es<br />
64
höchstens noch ein paar hundert Meter. Miri konnte bereits den<br />
schmalen Weg erkennen, der zwischen silbrigen Gräsern und<br />
Stechginster steil bergauf führte. „Hier ist auch der Hafen, <strong>von</strong> dem<br />
die Knochensängerin gesprochen hat.“<br />
Lautlos glitt ein großer geflügelter Schatten vor ihnen über den Sand.<br />
Ein lang gezogener Schrei verlor sich in der Ferne. Der Spion der<br />
dunklen Königin hatte sie also doch entdeckt.<br />
„Ich habe keine Angst vor dir!“ Miri richtete sich hoch auf und ballte<br />
eine Faust gegen die windzerzausten Wolken. „Wir sind frei! Hörst<br />
du? Du kannst uns ebenso wenig festhalten wie den Wind. Wir<br />
gehen, wohin wir wollen. Und wir werden dir niemals dienen.“ Miri<br />
ertappte sich bei dem Gedanken, dass dieser Satz ein würdiger<br />
Schlusspunkt für ihre Prüfung sein könnte.<br />
„Das klingt gut“, schnaubte ihr vierbeiniger Gefährte. „Aber jetzt<br />
konzentrier dich wieder auf deinen Hintern. Es wird gleich ein<br />
bisschen ruppig. Vergiss nicht, zu atmen.“<br />
<strong>Die</strong> Prüfung schien noch nicht zu Ende zu sein.<br />
Zuerst ging es steil nach oben. Obwohl der Hengst seine Sprünge<br />
bereits verkürzt hatte, kam er auf dem Schotter ins Rutschen. Mit<br />
kurzen, harten Sätzen brachte er sich und seine Reiterin nach oben.<br />
Miri starrte angstvoll auf die Steine, die unter seinen Hufen<br />
auseinanderspritzten, und wie eine Lawine zum Strand hinunterkollerten.<br />
„Weiteratmen“, keuchte der Hengst. „Und schau nach vorn.“<br />
Gehorsam hob Miri den Kopf, doch was sie sah, verschlug ihr vollends<br />
den Atem. Der Weg endete im Nichts und in der Erde klaffte ein<br />
tiefer Riss, der wenigstens zwei Meter breit war.<br />
65
„Atmen!“ Mit einem gewaltigen Sprung setzte der Schimmel über<br />
den Abgrund. Der harte Stoß ihrer Landung warf Miri vornüber und<br />
sie konnte sich gerade noch an den Pferdehals klammern. Mit<br />
knapper Not gelang es dem Hengst, durchzuparieren, bevor seine<br />
Reiterin endgültig den Halt verlor und herunterplumpste.<br />
Als sie sich wieder auf seinen Rücken hangelte, hörte Miri harte<br />
Schläge <strong>von</strong> Metall auf Stein. Tackatack, tackatack, hämmerte es.<br />
„<strong>Die</strong> dunkle Königin“, flüsterte sie. „Da hinten.“<br />
Gegen den Morgenhimmel zeichneten sich zwei Reiter ab, die rasch<br />
näher kamen.<br />
Der Schimmel schnaubte verächtlich. „Bis die hier sind, sind wir<br />
längst über alle Berge. Hier muss es irgendwo eine Treppe geben.“<br />
„Da.“ Miri deutete auf die schmalen Stufen, die sicher vor vielen<br />
Jahren in den grauen Fels geschlagen worden waren. <strong>Die</strong> Kanten<br />
waren abgetreten und verwittert, an manchen Stellen mussten<br />
Baumstämme oder dicke Äste fehlende Stufen ersetzen. Weit unten<br />
erkannte Miri das tiefe, dunkle Wasser der windgeschützten Bucht<br />
und einen Holzsteg. Boote oder Fischer konnte sie jedoch nicht<br />
ausmachen. Bevor der Hengst mit ihr die Treppe hinunter-kletterte,<br />
glitt sie rasch <strong>von</strong> seinem Rücken.<br />
„Vermutlich kommen wir schneller da unten an, wenn wir beide zu<br />
Fuß gehen.“ Und sicherer, setzte sie in Gedanken hinzu.<br />
66
Achtes Kapitel<br />
Hinter einer engen Kurve blieb Miri so plötzlich stehen, dass ihr das<br />
Pferd beinahe in die Hacken getreten wäre.<br />
„Was machen wir eigentlich, wenn wir niemanden finden, der uns da<br />
hinüberfährt?“ Von ihrer Position konnte sie den Anlegesteg mit den<br />
salzverkrusteten Holzpfosten überblicken. Kein einziges Boot lag da<br />
unten vor Anker.<br />
„<strong>Die</strong> Boote gehören Fischern“, fiel es dem Schimmel ein. „Um die Zeit<br />
sind sie vermutlich draußen auf dem Meer.“<br />
„Und jetzt?“ Miri blickte erschrocken nach oben. Der Hufschlag in<br />
den Klippen kam viel zu schnell näher.<br />
„Wir können laufen“, antwortete das Pferd. „Es ist nicht weit.“<br />
„Du spinnst wohl.“ Miri fragte sich kopfschüttelnd, wer dieses<br />
Prüfungsszenario gebastelt hatte. „Willst du mir weismachen, dass du<br />
übers Meer laufen kannst?“<br />
„Wenn du das Wasser anhältst, sind wir null Komma nichts drüben.“<br />
Das Pferd schien daran nichts Besonderes zu finden.<br />
„Ich kann das Wasser nicht anhalten.“<br />
„Vorhin hast du es aber gekonnt.“ Der Schimmel schnaubte empört.<br />
„Du hast es sogar bergauf fließen lassen.“<br />
Miri musste einen Moment überlegen, bevor sie sich erinnerte. „Du<br />
meinst den Fluss, der plötzlich rückwärts geflossen ist. Das wollte ich<br />
nicht. Das ist einfach passiert. Vermutlich war es dieses Lied.“<br />
67
„Und wessen Lied war das?“ Es klang fast ein bisschen eingeschnappt.<br />
Vielleicht nahm das Pferd an, dass sie sich absichtlich<br />
dumm stellte.<br />
Tacktack, tacktack, tacktack, klapperten die Hufe des Grauen auf den<br />
steinernen Stufen und der Hufschlag es schweren Rappen folgte ihm.<br />
„Jetzt haben sie die Treppe gefunden“, stellte der Schimmel fest.<br />
„Was soll ich denn machen?“ Obwohl Miri wusste, dass es eigentlich<br />
nur ein Spiel war, wurde sie nervös. Selbst ein Spiel wollte sie nicht<br />
verlieren.<br />
„Wenn du Musik brauchst, um Magie zu wirken, dann sing doch.“<br />
Miri versuchte, sich an das Lied zu erinnern. Der Rhythmus war<br />
kompliziert gewesen und die Melodie schien mit dem Morgenwind<br />
verweht zu sein. Aber die Worte tauchten plötzlich aus ihrer<br />
Erinnerung empor.<br />
Hör der Trommel Ruf …<br />
Plötzlich schien der Rhythmus <strong>von</strong> den Felsen widerzuhallen und das<br />
Wasser sang dazu die vergessene Melodie.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Flut?“<br />
Während sie sang, erinnerte sich Miri daran, wie die Stimme des<br />
Wassers leiser geworden und schließlich ganz verstummt war.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Flut?“<br />
<strong>Die</strong> Wellen waren <strong>von</strong> ihrem Gesang offenbar nicht beeindruckt. Sie<br />
donnerten gegen die Felsen, die den winzigen Hafen schützten, und<br />
überschütteten den Anlegesteg mit salzigem Sprühregen.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang. Lausche dem Zaubersang.<br />
68
Trommellied, rufst du den Zauber, Wellenschlag ruht!“<br />
Vielleicht musste sie den Winter herbeirufen.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Winter? Ruft sie das Eis?“<br />
In den Wellendonner mischte sich das Brausen des Nordwinds.<br />
„Hör der Trommel Ruf! Ruft sie den Winter? Ruft sie das Eis?“<br />
Aus dickbauchigen, grauen Wolken fielen die ersten Schneeflocken.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang, lautloser Schneegesang.<br />
Trommellied, rufst du den Winter, Leben, das ruht?“<br />
„Ich wusste, dass du es kannst.“ Der Schimmel sprang mit einem<br />
kühnen Satz vom Steg. Das Eis knirschte unter seinen Hufen, aber es<br />
trug ihn tatsächlich. „Komm, schnell!. Ich bring uns rüber.“<br />
Es ist nur eine Geschichte, dachte Miri angestrengt, während sie vom<br />
Bootsanleger auf den Pferderücken kletterte. In Wirklichkeit kann mir<br />
überhaupt nichts passieren.<br />
Im flotten Vierertakt, seiner sonderbaren Gangart tanzte der<br />
Schimmel zwischen erstarrten Wellen und kantigen Felsen. Der<br />
Schnee fiel inzwischen so dicht, dass Miri die hohen Felsen an der<br />
Hafeneinfahrt kaum noch erkennen konnte. Aber sie erkannte die<br />
Stimme auf dem Anlegesteg.<br />
„Komm sofort zurück“, keifte die dunkle Königin. „Du glaubst doch<br />
nicht im Ernst, dass du mir das Windpferd stehlen kannst. Mit deinen<br />
billigen Tricks kommst du mir nicht da<strong>von</strong>.“<br />
69
„Hör einfach nicht hin“, schnaubte der Hengst. Er sprang über einen<br />
erstarrten Wellenkamm, der wie zerbrochenes Glas schimmerte.<br />
„Deine Magie ist stärker als ihre und du kannst ihr nichts stehlen, was<br />
ihr nie gehört hat.“<br />
Im gestreckten Galopp fegten sie über das erstarrte Meer. In dem<br />
Schneegestöber konnte Miri kaum weiter als bis zu ihrer eigenen<br />
Nasenspitze sehen. Sie hoffte, dass das Windpferd den richtigen Weg<br />
finden würde, obwohl es vermutlich nicht mehr sehen konnte als sie.<br />
Wenn sie die Augen zusammenkniff, war es, als würden sie auf eine<br />
flimmernde Wand zureiten, die sich erst unmittelbar vor ihnen<br />
öffnete.<br />
Dabadap, dabadap, trommelten seine Hufe. Im Ächzen und Knarren<br />
der Eisschollen, die vom Wind und der Strömung übereinander<br />
geschoben wurden, klang das magische Lied fort und fort.<br />
Recketesch, recketesch, ertönte es aus der grauweißen Wand, die<br />
sich hinter ihnen längst wieder geschlossen hatte.<br />
„Was ist das?“, wollte Miri wissen.<br />
„Was weiß ich.“ Der scharfe Galopp schien den Hengst kaum<br />
anzustrengen. „Vielleicht ein Echo <strong>von</strong> den Klippen.“<br />
Miri lauschte angestrengt. Ganz allmählich schien das Scharren näher<br />
zu kommen. „Könnte es sein, dass wir verfolgt werden.“<br />
„Quatsch!“, prustete der Schimmel und es klang so, als müsste er<br />
über diese Idee herzlich lachen. „<strong>Die</strong> dunkle Königin tut zwar immer<br />
sehr gefährlich aber im Grunde ihres Herzens ist sie feige. Sie würde<br />
es sicher nicht wagen, uns über das Eis zu folgen.“<br />
Ein heftiger Windstoß wehte den Schneeflockenvorhang beiseite und<br />
gab den Blick auf die Silhouette hochgewachsener Bäume frei.<br />
70
„Du kannst aufhören, dir Sorgen zu machen“, schnaubte das Pferd.<br />
„Wir haben es gleich geschafft.<br />
Recketesch, recketesch.<br />
Aus den Augenwinkeln sah Miri einen Schatten, der fast so groß war<br />
wie ein Pony und der im flachen Bogen auf sie zukam.<br />
„Der Hund!“, schrie sie im jähen Schreck des Erkennens. „Mach<br />
schneller. Sie hat diesen Riesenhund auf uns gehetzt.“<br />
Der Hengst streckte sich und legte noch einmal Tempo zu, doch das<br />
Scharren der Pfoten kam stetig näher.<br />
„Das schaffen wir nicht.“ Trotz des eisigen Winds traten Schweißperlen<br />
auf Miris Stirn.<br />
„Sing das Meer wieder wach“, keuchte der Hengst. „Schnell!“<br />
Wie <strong>von</strong> selbst fügten sich die Worte zu einer neuen Strophe des<br />
magischen Liedes.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie das Leben? Ruft sie die Glut?“<br />
<strong>Die</strong> Eisdecke begann zu beben.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie das Leben? Ruft sie die Glut?“<br />
Ein sanftes Rollen unter den Hufen des Schimmels wurde zu einem<br />
Schlingern.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang, Wasser und Wellensang.<br />
Trommellied, rufst du des Fließens Dammbrecherwut?“<br />
<strong>Die</strong> ersten Eisschollen strebten dem offenen Meer entgegen.<br />
71
„Sing weiter, Miri!“ Der Hengst setzte über einen Riss, aus dem<br />
dunkles Wasser emporstieg. „Ruf die Sonne oder den Frühling.“<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Frühling? Ruft sie das Licht?“<br />
Inzwischen fielen die Flocken wieder so dicht, dass Miri weder die<br />
Küste noch ihren Verfolger sehen konnte. Aber der Schnee ging<br />
allmählich in Regen über.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Frühling? Ruft sie das Licht?“<br />
Recketesch, recketeckteckteck, klang es weit hinter ihnen.<br />
„Hör den Trommelklang, sieh das Licht. Hör wie der Winter bricht.<br />
Trommellied, rufst du der Sonne wärmendes Licht?“<br />
In die letzten Klänge mischte sich ein klagender Ton, der zu einem<br />
jämmerlichen Geheul anschwoll. Als Miri zurückblickte, sah sie den<br />
Hund auf einer Eisscholle stehen, die <strong>von</strong> der Strömung rasch auf das<br />
offene Meer hinausgetrieben wurde.<br />
„Das habe ich nicht gewollt“, murmelte sie. „Der arme Hund. Meinst<br />
du, wir können ihm helfen?“<br />
„Der Köter soll sich selbst helfen.“ Das Pferd schnaubte verächt-lich.<br />
„Wer dumm genug ist, den Befehlen der Hexe zu gehorchen, muss<br />
sich nicht wundern, wenn er in Schwierigkeiten gerät. Apro-pos<br />
Schwierigkeiten, ich hoffe, du kannst schwimmen.“<br />
Entsetzt stellte Miri fest, dass die Eisscholle, auf die sich das Pferd mit<br />
einem letzten kühnen Sprung gerettet hatte, ebenfalls mit<br />
zunehmender Geschwindigkeit nach Norden getrieben wurde. <strong>Die</strong><br />
Eisdecke, über die sie gerade noch galoppiert waren, zerbarst unter<br />
dem Ansturm der Brandung, und das Ufer, das schon zum Greifen<br />
nah gewesen war, schien in der Gischt unterzugehen.<br />
72
„Achtung.“ Der Hengst senkte die Kruppe und seine Rückenmuskeln<br />
spannten sich. „Jetzt!“ Im hohen Bogen schnellte er nach vorn. Seine<br />
Vorderhufe erreichten tatsächlich die nächste Eisplatte, aber sie<br />
kippte unter ihrem Gewicht nach hinten. Im nächsten Mo-ment<br />
schlug das Wasser über ihnen zusammen. Das Pferd strampel-te mit<br />
allen vieren, um sie wieder an die Wasseroberfläche zu bringen. Miri<br />
hatte Mühe, sich gegen den Sog der Wellen auf seinem Rücken zu<br />
halten.<br />
„Rutsch runter und halt dich an meiner Mähne fest“, prustete der<br />
Hengst. „Ich zieh uns raus. Es ist nicht mehr weit.“<br />
Miri wollte ihm sagen, dass sie ihn verstanden hatte, aber eine Welle<br />
schwappte über sie hinweg, salziges Wasser drang in ihre Kehle und<br />
die klammen Strähnen der Pferdemähne glitten ihr aus der Hand.<br />
Hustend strampelte sie sich zurück an die Wasser-oberfläche.<br />
„Wo …?" Doch Pferd und Strand waren verschwunden. Ringsum sah<br />
sie nur grau-grüne Wellenberge mit schmutzig weißen Schaumkronen.<br />
„Verdammt, verdammt, ver…“<br />
<strong>Die</strong> nächste Welle bereitete ihrem Schimpfen ein jähes Ende. Das<br />
Salzwasser brannte in ihren Augen und in ihrer Kehle, dann schien es<br />
in ihrem Magen zu einem eisigen Klumpen zu gefrieren. Kälte und<br />
Angst lähmten ihre Glieder und zogen sie in die Tiefe.<br />
Warum stoppt den niemand diese idiotische Simulation? <strong>Die</strong>ser<br />
Gedanke entfachte einen winzigen Funken in Miris Geist. Wollen die<br />
mich etwa umbringen? Der Funke verwandelte die Angst in etwas<br />
Machtvoll-Hitziges. Verdammt, ich will nicht sterben! Der nasse<br />
Overall war schwer wie ein alter Schutzanzug. Mit klammen Fingern<br />
zerrte Miri am Gürtel und die Schnalle öffnete sich. Der Reißverschluss<br />
widersetzte sich ihren Bemühungen etwas länger, aber<br />
bevor sie noch einmal untergetaucht wurde, konnte sich Miri aus der<br />
73
schweren Kleidung winden. Wie eine schrumpelige, alte Haut versank<br />
der Overall in der Tiefe und Miri schwamm wild ent-schlossen vor<br />
ihrer Angst und der Kälte da<strong>von</strong>. Um sich abzulenken, schloss sie die<br />
Augen und zählte die Schwimmstöße. Siebzehn, achtzehn, neunzehn<br />
– bevor sie zwanzig denken konnte, schramm-ten ihre Knie über<br />
sandigen Boden. Sie tastet mit den Füßen nach dem Grund. Sie<br />
musste an Land kommen, bevor die nächste größere Welle sie wieder<br />
in tieferes Wasser ziehen konnte. <strong>Die</strong> Beine versagten ihr jedoch den<br />
<strong>Die</strong>nst. Auf Händen und Knien kroch sie den Strand hinauf.<br />
„Weiter“, sprach sie sich selbst Mut zu. „Immer weiter.“<br />
Der Sand kam ihr plötzlich warm und trocken vor, sie glaubte sogar,<br />
die Hitze des Sommers auf ihrer Haut zu spüren.<br />
„Weiter“, murmelte sie. „Im Schnee ist es wichtig, in Bewegung zu<br />
bleiben. Lorenz, Ben!“ Ihre Stimme hatte kaum noch Kraft. „Warum<br />
helft ihr mir denn nicht.“<br />
Weiche Halme streiften ihre Haut. Miri wollte die Augen öffnen, doch<br />
im gleichen Moment schien der Boden unter ihr wegzukippen und die<br />
Welt versank im Dunkel.<br />
74
Neuntes Kapitel<br />
Ich bin tot und der Tod ist eine Sommerwiese, das war Miris erster<br />
Gedanke, als sie wieder zu sich kam. Er ist warm, riecht nach frischer<br />
Erde und fühlt sich nicht einmal besonders unange-nehm an. Sie<br />
konnte nicht verstehen, warum die Leute so ein Auf-heben darum<br />
machten. Wenn sie noch einen Körper hatte, war er sehr schwer. So<br />
schwer, dass sie nie wieder aufstehen wollte.<br />
„Steh auf, Miri.“ <strong>Die</strong> Worte rochen nach zermalmtem Gras. „Wir<br />
müssen weiter.“ Etwas stieß gegen ihre Schulter. Sie hatte also noch<br />
einen Körper.<br />
„Vorläufig haben wir sie abgehängt, aber es ist nur eine Frage der<br />
Zeit, bis sie unsere Spur wieder aufnehmen. Nachtauge ist nicht der<br />
einzige Jäger dieser alten Hexe.“<br />
Miri erinnerte sich, dass sie vor einer unheimlichen Frau geflohen<br />
war, die ein magisches Pferd fangen wollte. Was für eine abgefahrene<br />
Geschichte! Und sie schien noch nicht zu Ende zu sein.<br />
„Hilf mir doch bitte mal hoch.“ Miri wunderte sich kaum darüber,<br />
dass sie in eine schüttere Pferdemähne griff, als sie auf der Suche<br />
nach einer helfenden Hand blind umhertastete. Wild entschlossen<br />
riss sie die Augen auf und blickte direkt in ein großes, dunkles Auge.<br />
„Ach, du bist das“, murmelte sie.<br />
„Wen hast du denn erwartet?“, entgegnete das Pferd. „Den Weihnachtsmann?“<br />
„Ben oder Lorenz“, antwortete Miri. „Oder jemand anderen, der mir<br />
sagt, dass ich meine Prüfung bestanden habe.“<br />
75
„Welche Prüfung?“, wollte das Pferd wissen.<br />
„Wenn ich mich richtig erinnere, war ich gerade auf dem Weg zu<br />
meiner Abschlussprüfung als Wildnistrainerin. Aber in dem Steinschlag<br />
muss ich eine falsche Abzweigung erwischt haben.“ Mühsam<br />
rappelte sich Miri hoch. Sie stellte fest, dass sie nur noch ihre<br />
Unterwäsche trug. Vage erinnerte sie sich daran, dass ihr Overall im<br />
Wasser verschwunden war. Ihr Körper fühlte sich so an, als wäre er<br />
aus morschen Ästen zusammengesteckt, die bei jeder Bewegung<br />
auseinanderfallen konnten, doch mit jedem Schritt ging es ein<br />
bisschen besser.<br />
„Wenn ich mich ernsthaft verletzt hätte, würde Ben die Prüfung<br />
abbrechen.“<br />
„Versteh ich zwar nicht, ist aber auch egal.“ Das Pferd schüttelte sich.<br />
„Wir müssen weiter. Es dauert sicher nicht mehr lange, bis uns die<br />
dunkle Königin wieder auf den Fersen ist. Schließlich weiß sie jetzt,<br />
wohin wir wollen.“ Er bahnte einen Weg durch die Hainbuchenhecke,<br />
die ihre Wiese gegen einen Wald abgrenzte. Da-hinter<br />
öffnete sich ein lichtes Buchengehölz. Sonnenstrahlen spielten mit<br />
den samtigen Blättern und badeten in den Farben des Sommers. Das<br />
Vorjahreslaub, das unter ihren Schritten raschelte, schimmerte in<br />
dem grüngoldenen Licht. In der Mittagshitze dufte-te die Erde süß<br />
und würzig, eine harzige Brise wehte <strong>von</strong> den nahen Bergen herunter<br />
und in der Nähe hörte Miri Wasser plätschern.<br />
Ein Bach kam ihnen entgegen. Sie folgten seinem Lauf durch Wiesen<br />
und fruchtbares Ackerland bis an den Rand eines dunklen<br />
Tannenwaldes, wo er plötzlich verschwand.<br />
„Hier muss es irgendwo sein.“ Der Hengst blickte sich suchend um,<br />
doch der Bach war nicht mehr zu sehen. „Ich bin ja nicht zum ersten<br />
Mal hier, aber an dieser Stelle sieht es jedes Mal anders aus.“ Er<br />
76
scharrte im Gras, als könne der Weg darunter versteckt sein. „Schau<br />
mal, ob du den Bachlauf wiederfindest. Solange uns das Wasser<br />
entgegenfließt, sind wir richtig.“<br />
Miri versuchte das Jaulen und Kläffen in der Ferne zu ignorieren und<br />
sah sich um. Rechts <strong>von</strong> ihnen befanden sich Getreidefelder, auf der<br />
anderen Seite lag eine Wiese mit fettem, kniehohem Gras und<br />
dahinter ein Tannenwald. Dazwischen war kein Bach zu er-kennen,<br />
obwohl sie es überall plätschern und glucksen hörte.<br />
„Natürlich!“ Miri klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „In<br />
der sumpfigen Wiese versickert der Bach. Wir müssen den Zufluss<br />
suchen.“ Sie folgte dem Wiesenrand bis zu einem kleinen<br />
Schwarzwassertümpel.<br />
„Komm schon“, rief sie den Schimmel. „Da ist es.“<br />
Ein Heulen schien ihrem Ruf zu antworten.<br />
„Das ist der Jagdhund der dunklen Königin, nicht wahr?“ Besorgt<br />
blickte sich Miri um.<br />
„Es ist nicht mehr weit“, antwortete der Hengst. „Bis er hier ist, sind<br />
wir längst in Sicherheit.“ Er stellte sich neben das Wurzelknie eines<br />
Baums, damit Miri auf seinen Rücken klettern konnte. „Steig auf.“<br />
Im Trab ging es durch ein Tannenwäldchen zu einer Senke mit einem<br />
langgestreckten See. <strong>Die</strong> dunklen Spiegelbilder der Bäume und des<br />
wolkenlosen Sommerhimmels in dem tiefen, dunklen Wasser<br />
weckten Miris Sehnsucht nach etwas, was sie bislang nur aus Büchern<br />
oder alten Filmaufzeichnungen kannte. Plötzlich wünschte sie sich,<br />
dass Ben und Lorenz diese Simulation niemals abschalten würden.<br />
Was hatte sie mit einer Welt zu schaffen, in der die Schönheit der<br />
Natur nur in Computerprogrammen überlebt hatte?<br />
77
Ihr Weg führte an Schilfwäldern, winzigen Buchten mit sandigem<br />
Boden und kristallklarem Wasser vorbei. Im Sonnenlicht blitzten<br />
silbrige Fischleiber und gelegentlich hörte Miri ein Platschen, wenn<br />
die Frösche vor der Hast der Reisenden flüchteten. <strong>Die</strong> Schönheit und<br />
die Stille rings um den Waldsee ließen Miri fast vergessen, dass sie<br />
verfolgt wurden.<br />
„Da!“ Vor einer riesigen Trauerweide, die ihre langen Äste und<br />
Zweige ins Wasser tauchte, blieb der Hengst stehen. „Direkt dahinter<br />
beginnt das Reich der Quellenhüterin. Dort sind wir fürs Erste sicher.“<br />
Miri bückte sich unter einem tief hängenden Ast und schob die<br />
dünnen Zweige beiseite. Durch die sonnenfleckigen Blätter konnte sie<br />
Wasser schimmern sehen. Sie musste nur noch über eine Wurzel<br />
steigen, die wie eine Schwelle über dem Boden lag, dann stand sie<br />
direkt am Stamm der Weide. Sie beugte sich wieder unter dem tief<br />
hängenden Ast hindurch, schob eine Handvoll Grün beiseite und …<br />
„Hoffentlich sind wir überhaupt willkommen“, brummte der Hengst,<br />
der sich nicht <strong>von</strong> der Stelle gerührt hatte „Es ist leider nicht schwer,<br />
gegen die Sitten dieses Landes zu verstoßen. Manchmal reicht es<br />
schon, ein Blatt anzuknabbern oder ein paar Grashalme<br />
niederzutreten. Wenn uns die Hüterin der Quelle grollt, finden wir<br />
den Eingang nie.“<br />
„Würde sie uns einlassen, wenn sie wüsste, dass uns ihre Schwester<br />
geschickt hat?“, fragte Miri, während sie zum dritten Mal über die<br />
Wurzelschwelle trat. Gleich darauf stand sie wieder vor dem Baum.<br />
„Offensichtlich nicht“, entgegnete der Schimmel, der ihr diesmal<br />
gefolgt war.<br />
Miri hielt inne und lauschte. Sie glaubte, in der Ferne Hundegebell zu<br />
hören und die Erde vibrierte im Rhythmus galoppierender Hufe.<br />
78
„Noch ein Versuch!“, entschied Miri. „Wenn wir den Eingang wieder<br />
nicht finden, gehst du allein. Du warst schon öfter hier. Wenn wir<br />
nicht eingelassen werden, liegt es vermutlich an mir.“ Sie wollte sich<br />
zwischen den Ästen hindurchschieben, als ihr der Schimmel sein Kinn<br />
auf die Schulter legte.<br />
„Und was machst du?“, wollte er wissen. „Glaubst du, dass du der<br />
dunklen Königin ohne meine Hilfe entkommen wirst.“<br />
„Vermutlich nicht.“ Miri schüttelte den Kopf. „Aber sie hat es eher<br />
auf dich als auf mich abgesehen. Außerdem kann ich ohne dich auf<br />
einen Baum klettern und hoffen, dass sie da oben nicht nach mir<br />
sucht. Komm jetzt. Sie sind nicht mehr weit.“<br />
Als sie diesmal die Weidenzweige aus dem Weg schob, blickte sie in<br />
einen Garten <strong>von</strong> unvorstellbarer Schönheit. Auf den Büschen und<br />
Bäumen wuchsen Früchte, die sie nicht einmal dem Namen nach<br />
kannte. Darunter blühten Blumen in allen Farben des Sommers und<br />
das Gras war so zart, dass Miri Angst hatte, es könnte unter ihren<br />
Tritten verdorren. Ein Wasserfall ergoss sich in ein Becken und direkt<br />
daneben saß eine Frau auf einem moosbedeckten Stein. Sie war<br />
schöner als die Elbenkönigin aus den Büchern ihrer Mutter. Der Saum<br />
ihres waldgrünen Kleides fiel bis auf ihre Füße herab und ihre langen,<br />
goldbraunen Haare wurden <strong>von</strong> einem Blütenkranz gekrönt.<br />
Ein kleiner Hund, dessen seidiges Fell dieselbe Farbe hatte wie das<br />
Haar der Frau, lag zu ihren Füßen und ihre zartgliedrigen Hände<br />
ruhten auf den Saiten einer Harfe. Vielleicht hatte sie gerade noch<br />
darauf gespielt. Jetzt musterte sie die Eindringlinge schweigend.<br />
Ein unsanfter Stoß traf Miri in den Rücken. „Sag was“, brummelte der<br />
Schimmel.<br />
79
„Ähm …“ Miri wurde plötzlich bewusst, wie unpassend sie mit ihrem<br />
schlabberigen T-Shirt und der verwaschenen Unterhose gekleidet<br />
war. Sie wagte kaum, die schöne Frau anzusehen, geschweige denn,<br />
80
das Wort an sie zu richten. „Tut mir leid, wenn wir stören“, stotterte<br />
sie. „Wir werden verfolgt. <strong>Die</strong> Knochensängerin meint, dass Sie uns<br />
vielleicht helfen können.“<br />
„Und wer verfolgt euch?“, erkundigte sich die Dame mit ernster<br />
Miene.<br />
„<strong>Die</strong> dunkle Königin ist hinter dem Windpferd her.“ Miri deutete auf<br />
den Schimmel, der unter dem Grau <strong>von</strong> Schweiß und Schmutz<br />
überhaupt nicht magisch aussah.“<br />
„Was hast du damit zu tun?“<br />
Es gelang Miri nicht, dem Blick der wasserhellen Augen standzuhalten.<br />
„Ich weiß nicht“, entgegnete sie. „Eigentlich bin ich nur zufällig<br />
da hineingeraten.“<br />
„Zufällig?“<br />
„Ich dachte, es wäre eine Prüfung. Aber diese alten Geschichten über<br />
dunkle Herrscherinnen und Magie …“ Ihr Erklärungsversuch endete in<br />
einem ratlosen Achselzucken.<br />
„Glaubst du nicht an Magie?“<br />
„Magie ist …“ Miri starrte angestrengt auf den Boden. Sie war noch<br />
nie eine überzeugende Lügnerin gewesen. „Wir leben doch nicht<br />
mehr in der Steinzeit. Es lässt sich alles irgendwie erklären.“<br />
„Ah, jetzt verstehe ich dein Problem. Du hast dich offenbar nicht gut<br />
genug auf diese Prüfung vorbereitet. Sonst wüsstest du über die<br />
Magie dieses Ortes besser Bescheid.“<br />
Miri lächelte verlegen. „Für die technischen Tricks der Wildnis-kuppel<br />
habe ich mich nicht besonders interessiert. Ich habe nicht gewusst,<br />
81
dass es in der Prüfung abgefragt wird. Lorenz hat es mir sicher erklärt<br />
und ich habe mal wieder nicht gut genug zugehört.“<br />
„Offenbar hast du mir auch nicht besonders gut zugehört.“<br />
Plötzlich scharrte ganz in der Nähe eine Hundepfote über den Boden<br />
und ein dumpfes Bellen schien die Jäger herbeizurufen.<br />
„Etwas scheint diesen Ort zu schützen.“ <strong>Die</strong> Stimme der Hüterin klang<br />
nachdenklich. „Ich dachte, es wäre Magie, aber vielleicht ist es auch<br />
nur ein Trick. Leider ist die dunkle Königin sehr mächtig. Ich kann ihr<br />
sicher nicht lange widerstehen.“<br />
„Ihr solltet mich einfach ausliefern, bevor noch ein Unglück<br />
geschieht.“ Mit weit aufgerissenen Augen und geblähten Nüstern<br />
starrte der Schimmel auf die Weide am Rand des Gartens. „<strong>Die</strong> alte<br />
Hexe ist eigentlich nur hinter mir her. Könnt Ihr dafür sorgen, dass<br />
Miri wohlbehalten in ihre Welt zurückkommt?“<br />
„Das kommt überhaupt nicht infrage“, protestierte Miri. „Ich werde<br />
nicht zulassen, dass sie dir etwas antut.“<br />
„Es wäre aber der einfachste Weg“, mischte sich die Hüterin ein. „Da<br />
du sowieso nicht an Magie glaubst, kann es den struppigen, alten<br />
Gaul, den du aus morschen Knochen und einem Lied er-schaffen hast,<br />
gar nicht geben. Wenn es ihn dennoch gäbe, wäre es nur ein<br />
technischer Trick, dem niemand ein Leid zufügen kann.“<br />
Entweder verstecken Sie uns beide oder wir fliehen gemeinsam.“<br />
<strong>Die</strong> Hüterin lachte spöttisch. „Zuerst verkündest du, dass es keine<br />
Magie gibt und dann erklärst du genauso entschieden, dass dieses<br />
magische Geschöpf oder der technische Trick – denn etwas anderes<br />
kann ein sprechendes Pferd kaum sein – nicht geopfert werden darf,<br />
82
um dich wohlbehalten in die Welt zurückzubringen, in der man alles<br />
erklären kann, wenn man nur gut genug zuhört.“<br />
„Na und?“ Miri ertappte sich dabei, dass sie die Unterlippe vorschob,<br />
„Helfen Sie uns oder helfen Sie uns nicht?“<br />
„Wenn du wirklich entschlossen bist, kann ich dich lehren, was du tun<br />
musst“, entgegnete die Hüterin. „Aber du musst gut zuhören. Und du<br />
riskierst, erheblich mehr über Magie zu lernen, als du zu glauben<br />
bereit bist.“<br />
83
Zehntes Kapitel<br />
Für Miri gab es einen sicheren Platz in einer Höhle hinter dem<br />
Wasserfall, aber ein Pferd konnte sich dort nicht verstecken.<br />
„Dann müssen wir dich tarnen“, überlegte Miri.<br />
„Wie soll das gehen?“ Ungläubig schüttelte der Hengst den Kopf.<br />
„Du musst wiehern und darfst auf keinen Fall reden. Wenn wir dich<br />
auch noch umfärben, kommt bestimmt keiner auf die Idee, dass du<br />
das Windpferd bist.“ Miri kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Wo ich<br />
herkomme, gibt es Haarfärbemittel. Aber hier …?“<br />
„Hier gibt es Magie“, entgegnete die Hüterin. „An welche Farbe<br />
dachtest du denn?“<br />
„Wenn ich kein Schimmel sein darf, will ich ein Fuchs werden“, entschied<br />
der Hengst. „Ein helles Rot mit einem Goldton in Mähne und<br />
Schweif würde mir gefallen.“<br />
Nach den Anweisungen der Hüterin sammelte Miri Wurzeln, Samen,<br />
Blüten und Beeren, die sie in einer Steinmulde zerstampfte und mit<br />
der lehmigen Erde vom Ufer eines Tümpels mischte. Sie band<br />
faserige Rindenstücke mit Weidenzweigen zu einem Striegel<br />
zusammen, um die Farbe aufzutragen, und lauschte dabei immer<br />
wieder nach den Geräuschen der Pfoten, Hufe oder Stiefel, die <strong>von</strong><br />
der Weide herüberklangen. Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass der<br />
Schutzzauber lange genug standhalten konnte.<br />
Miris Arm war bereits lahm, als sie die zähe Masse endlich glatt<br />
gerührt hatte. „Sind Sie sicher, dass ich kein Blut hineinmischen<br />
84
muss?“ <strong>Die</strong> Paste war klebrig, grün und schleimig wie die Algen, die<br />
den Teich hinter dem Seminarhaus überwuchert hatten. Außerdem<br />
stank sie wie eine Bioabfallbox, die seit Wochen nicht geleert worden<br />
war.<br />
„Ganz sicher.“ Lachend schüttelte die Hüterin den Kopf. „Blut-zauber<br />
und Trommelmagie ist die Leidenschaft meiner Schwester. Aber du<br />
kannst singen, während du die Farbe aufträgst. Das macht die<br />
Mischung nicht wirksamer, aber es erleichtert die Arbeit.“<br />
„Das Zeug ist ja grün!“ Entsetzt wich der Schimmel zurück. „Und es<br />
stinkt abscheulich.“<br />
„Ich habe mich genau an die Anweisungen gehalten“, erwiderte Miri.<br />
„Außerdem hätte mir die Hüterin sicher Bescheid gesagt, wenn ich<br />
etwas falsch gemacht hätte.“<br />
„Nein.“ <strong>Die</strong> Frau schüttelte den Kopf. „Ich habe dir gesagt, dass du<br />
sehr genau zuhören musst. Ich habe nicht gesagt, dass ich dir bei der<br />
Arbeit auf die Finger schaue, als wärst du ein Kind. Wenn du<br />
unachtsam warst, ist es deine Unachtsamkeit und wenn du einen<br />
Fehler gemacht hast muss dein Freund die Folgen tragen. Das sind<br />
die Regeln der magischen Welt.“<br />
„Das hätten Sie mir früher sagen müssen“, protestierte Miri. „Wenn<br />
ich gewusst hätte …“<br />
„Du hast mich nicht gefragt“, entgegnete die Hüterin knapp, und zu<br />
dem Pferd sagte sie: „Vielleicht hat deine Menschengefährtin wieder<br />
einmal nicht gut genug aufgepasst. Vertraust du ihr trotzdem? Und,<br />
was noch wichtiger ist“, mit diesen Worten wandte sie sich wieder an<br />
Miri, „vertraust du deinen eigenen Fähigkeiten?“<br />
Ratlos starrte Miri in den Eimer. „Wir sollten die Mischung an einer<br />
unauffälligen Stelle testen.“<br />
85
Ein dumpfer Schlag ließ die Blätter einer Erle beben.<br />
„Viel Zeit haben wir nicht mehr“, stellte die Hüterin trocken fest.<br />
Ergeben senkte der Schimmel den Kopf. „Fang einfach an. Es wird<br />
schon schiefgehen.“<br />
Miri tauchte den Striegel in die Paste …<br />
„Sei doch vorsichtig. Willst du mir mit deinem Hobel die Ohren abreißen?“,<br />
schimpfte das modrig-grüne Pferd. „Können wir den Kopf<br />
nicht einfach auslassen?“<br />
„Hast du schon mal einen Goldfuchs mit weißem Kopf gesehen?“,<br />
entgegnete Miri. „Stell dich nicht so an, wir müssen uns beeilen.“<br />
Ihre Verfolger hatten inzwischen schon zwei Bäume gefällt.<br />
„Offenbar weiß die dunkle Königin, dass dieser Ort <strong>von</strong> den Bäumen<br />
geschützt wird“, hatte die Hüterin ungerührt festgestellt, als nach der<br />
Erle eine Birke gefallen war. „Aber sie scheint nicht zu wissen, wie<br />
schwer die alte Weidenmutter zu treffen ist.“<br />
„Meine Ohren“, jammerte der Schimmel. „Pass auf, dass mir das<br />
Zeug nicht in die Augen läuft. Es juckt am Hintern schon wie<br />
Flohpisse.“<br />
„Das Jucken gehört dazu“, verkündete Miri.<br />
„Meine Augen! Willst du, dass ich blind werde?“<br />
Kurz entschlossen legte Miri den Striegel weg und tauchte ihre Hand<br />
in die Paste. Sie fühlte sich widerlich an und juckte auf ihrer Haut,<br />
aber so konnte sie genauer und schneller arbeiten. Bald war kein<br />
weißes Haar mehr an dem Pferd zu sehen.<br />
„Und wie geht es jetzt weiter?“, wollte Miri wissen.<br />
86
<strong>Die</strong> Hüterin saß nicht mehr auf ihrem moosbedeckten Thron.<br />
„Wo …?“<br />
„Ich bin hier.“ Der Wasserfall teilte sich wie ein Vorhang und die Frau<br />
trat mit einem Eimer darunter hervor. „Wenn die Paste trocken ist,<br />
musst du sie wieder abbürsten.“<br />
„Wie …?“, stammelte Miri. Weder die Kleider noch die Haare der<br />
Hüterin waren unter dem Wasserfall nass geworden.<br />
„Am besten schneidest du eine Handvoll junger Weidenzweige auf<br />
die gleiche Länge und bindest sie zu einem kurzen Besen.“<br />
Miri nickte gehorsam. „Eigentlich meine ich Ihre Haare und Ihre<br />
Kleider. Sie sind nicht einmal feucht.“ Ratlos schüttelte sie den Kopf.<br />
„Wie haben Sie das gemacht?“<br />
„Wenn es kein Trick war, könnte es Magie gewesen sein.“<br />
„Ah ja.“ Mit einer ungeduldigen Bewegung strich Miri eine Haarsträhne<br />
aus ihrem Gesicht. „Abbürsten, haben Sie gesagt.“<br />
„Ja“, entgegnete die Hüterin und Miri hatte den Eindruck, dass sie<br />
sich das Lachen nur mit Mühe verkneifen konnte. „Beeil dich.“<br />
Wild entschlossen schrubbte Miri die getrocknete Paste <strong>von</strong> dem<br />
Pferdehintern. Was darunter zum Vorschein kam, entsprach ganz und<br />
gar nicht ihren Vorstellungen <strong>von</strong> einem Goldfuchs. So sehr sie sich<br />
auch mühte, das Fell blieb struppig und es hatte eine grau-grüne<br />
Farbe mit rostroten Flecken.<br />
„Und“, schnaubte der Hengst aufgeregt. „Wie sehe ich aus?“<br />
„Dazu kann ich noch nicht viel sagen“, entgegnete Miri. „<strong>Die</strong> Paste ist<br />
noch nicht raus. Bleib stehen“, setzte sie rasch hinzu, als das Pferd<br />
87
seinen Hals nach hinten wenden wollte. „Je weniger du zappelst,<br />
desto schneller geht es.“<br />
Sie bürstete bis ihre Arme schwer wie Blei waren, und unter der<br />
getrockneten Paste auch noch blaugrüne und violette Stellen zum<br />
Vorschein kamen.<br />
„Hattest du dir das so vorgestellt?“ <strong>Die</strong> Stimme der Hüterin klang<br />
nicht einmal vorwurfsvoll, doch Miri spürte, wie ihr das Blut in die<br />
Wangen schoss. Der Pferdekopf fuhr herum und der Hengst starrte<br />
zuerst seine Kruppe, dann Miri mit riesigen Augen an.<br />
„Tut mir leid“, flüsterte die. „Ich fürchte, ich habe doch nicht gut<br />
genug zugehört.“<br />
Das Lachen der Hüterin klang so unbekümmert, als gäbe es kein<br />
moderfarbenes Pferd und keine dunkle Königin, die ihrem Ritter<br />
vermutlich gerade befahl, dem nächsten Baum mit seiner Axt zu<br />
Leibe zu rücken. „<strong>Die</strong> Flecken kannst du auswaschen und es ist genug<br />
Rot darin, dass vielleicht doch noch ein Fuchs aus deinem Schimmel<br />
wird. Beeil dich mit dem Ausbürsten. Dann zeig ich dir, wie es<br />
weitergeht.“<br />
Miri schuftete, als wollte sie dem Hengst die Haut <strong>von</strong> den Knochen<br />
schrubben.<br />
„Gut.“ <strong>Die</strong> Hüterin der Quelle nickte zufrieden. „Jetzt kannst du damit<br />
weitermachen.“ Das Wasser in ihrem Eimer duftete nach Honig und<br />
den blutroten Blütendolden <strong>von</strong> einem Busch neben dem Wasserfall.<br />
<strong>Die</strong> Hüterin reichte Miri ein moosgefülltes Netz aus haarfeinem,<br />
schimmerndem Garn.<br />
„Das kannst du als Schwamm benutzen.“<br />
88
Skeptisch musterte Miri den Eimer. „Und das macht einen Fuchs aus<br />
ihm?“<br />
„Nein“, antwortete die Hüterin. „Es ist nicht das Wasser, sondern<br />
deine Vorstellungskraft, die Wunder wirken kann. Du musst dir genau<br />
vorstellen, wie das Fell aussehen soll. Konzentriere dich während<br />
deiner Arbeit nur auf diese Farbe. Denk an die lehmige Erde am Bach<br />
oder an reife Haselnüsse. Magie ist immer eine Frage der<br />
Vorstellungskraft.“<br />
„Aber …“<br />
„Tu, was sie sagt“, drängte der Hengst. „Und konzentrier dich. Ich will<br />
nicht für den Rest meiner Tage als Flickenteppich herum-laufen.“<br />
Miri tauchte den Schwamm in das duftende Wasser und kramte in<br />
ihren Erinnerungen. Der rotbraune Teppich vor ihrem Bett war dem<br />
Hengst sicher zu dunkel, und der Boden vor ihrem Klassenraum war<br />
orangerot.<br />
„Nun mach schon“, drängte das Pferd. „So schwierig kann es doch<br />
nicht sein, sich ein sattes, golden schimmerndes Rotbraun vorzustellen.“<br />
Plötzlich erinnerte sich Miri an einen Abend im letzten Herbst. Sie<br />
hatte Lorenz bei seinem Rundgang durch die Kuppel begleitet. Als sie<br />
auf dem Rückweg waren, hatten die Wolken für einen Augen-blick<br />
den Blick auf die untergehende Sonne freigegeben. Wie ein feuriger<br />
Ball hatte sie den Horizont berührt.<br />
„Wenn du die Farbe der Sonne sehen willst, darfst du nicht hineinstarren“,<br />
hatte ihr Lorenz geraten. „Schau dir an, was sie zum<br />
Leuchten bringt. Da!“ Das Licht der tief stehenden Sonne hatte eine<br />
Buche in eine lodernde Fackel verwandelt. <strong>Die</strong> herbstfarbenen Blätter<br />
89
leuchteten feurig rot, und wenn der Wind darüber strich, sprangen<br />
goldene Funken aus der Glut hervor.<br />
„Das Herbstlaub der Buche“, jubelte sie. „<strong>Die</strong> Farben des Sonnenuntergangs<br />
auf ihren Blättern. Warum habe ich nicht gleich daran<br />
gedacht?“<br />
Mit festen Strichen wusch Miri die Reste ihrer Paste aus dem<br />
Pferdefell. Das Wasser färbte zunächst alles gleichmäßig schwarz,<br />
doch wo das Fell bereits getrocknet war, breitete sich ein rot-brauner<br />
Schimmer aus, und die Haarspitzen schimmerten golden wie die<br />
Funken im Feuer des Herbstlaubs.<br />
„Wie schön!“ Vor lauter Begeisterung zappelte der Hengst, als wäre<br />
er ein Fohlen. „So erkennt mich die alte Hexe bestimmt nicht.“<br />
„Mit der struppigen Mähne siehst du immer noch wie eine<br />
heruntergekommene Schindmähre aus und nicht wie das Ross einer<br />
vornehmen Dame“, stellte die Hüterin der Quelle fest. Sie zog ein<br />
silberfarbenes Messer mit sichelförmiger Klinge aus dem Beutel an<br />
ihrem Gürtel, rief den kleinen Hund herbei und schnitt eine Handvoll<br />
Haare aus seiner Rute. Damit strich sie dem Fuchs über den<br />
Mähnenkamm, und die Hundehaare verwoben sich auf rätsel-hafte<br />
Weise mit seiner dürftigen Mähne. Nachdem sie das ein paar Mal<br />
gemacht hatte, bedeckte eine dichte, seidige Mähne Stirn und Hals<br />
des Hengstes. Miri wagte nicht, zu fragen, wie sie diese Verwandlung<br />
zustande gebracht hatte.<br />
„Das ist schon viel besser.“ <strong>Die</strong> Hüterin nickte anerkennend. „Jetzt<br />
fehlt dir nur noch ein ansehnlicher Schweif.“<br />
„Und wo soll ich den hernehmen?“ Erschrocken riss der Fuchs die<br />
Augen auf, als ganz in der Nähe ein Baum zu Boden donnerte, der die<br />
Erde unter ihren Füßen beben ließ.<br />
90
„Keine Angst“, beruhigte ihn die Hüterin. „Noch haben sie den<br />
Eingang nicht gefunden. Aber es dauert bestimmt nicht mehr lange.<br />
Du solltest dich jetzt verstecken“, fuhr sie zu Miri gewandt fort.<br />
„Und was ist mit seinem Schweif?“, wollte diese wissen.<br />
<strong>Die</strong> Hüterin der Quelle nickte nachdenklich. „Bist du bereit, deinem<br />
Freund ein großes Opfer zu bringen?“<br />
„Was für ein Opfer? Blut?“ Miri griff nach dem Messer, das sie noch<br />
immer um den Hals trug. „Das können Sie gerne haben.“<br />
„Dein Blut hast du schon für ihn vergossen“, entgegnete die Hüterin<br />
mit einem geheimnisvollen Lächeln. „<strong>Die</strong>smal musst du deine<br />
Überzeugung opfern und deine Haare.“<br />
„Meine …“ Miri schluckte schwer. Sie hatte sich nie für besonders<br />
hübsch gehalten, aber auf ihr langes, volles Haar war sie immer stolz<br />
gewesen. „Egal! Schließlich dient es einem guten Zweck.“ Mit der<br />
rechten Hand packte sie das Messer und mit der linken ihren Zopf.<br />
„Stopp! Du hast mir wieder nicht richtig zugehört.“ <strong>Die</strong>smal war das<br />
Gesicht der Hüterin sehr ernst. „Bevor du deine Haare ab-schneidest,<br />
musst du deine Überzeugung aufgeben.“<br />
„Was für eine Überzeugung?“<br />
„Glaubst du wirklich, dass Haare, die du dir vom Kopf schneidest, auf<br />
der Schweifrübe eines Pferdes festwachsen?“<br />
„Ich dachte …“, stotterte Miri. „Vielleicht …“<br />
„Ein Trick?“ <strong>Die</strong> Hüterin schüttelte den Kopf. „Oh nein. Kein Trick<br />
könnte deine Haare in einen Pferdeschweif verwandeln. Entweder du<br />
akzeptierst deine magische Gabe oder du bringst dieses Opfer völlig<br />
umsonst.“<br />
91
„Nein!“ Miri stampfte zornig mit dem Fuß. „Wenn es nicht anders<br />
geht, dann glaube ich eben doch an Magie. Was muss ich tun?“ Entschlossen<br />
griff sie nach ihrem Zopf.<br />
„Zuhören.“ Besorgt blickte die Hüterin zur Weide, deren Blätter unter<br />
wuchtigen Axthieben zitterten. „Du musst genau zuhören, obwohl<br />
die Zeit knapp wird.“<br />
„Ich höre.“ Miri nickte entschieden. „Fangen Sie an.“<br />
„Nein, mein Kind.“ <strong>Die</strong> Hüterin schüttelte den Kopf. „Du sollst nicht<br />
mir zuhören, sondern dir. Wenn du deine Magie wirklich annimmst,<br />
verrät sie dir auch, was zu tun ist.“<br />
92
Elftes Kapitel<br />
Miri berührte den Zopf, der über ihre Schulter hing, ihre Finger<br />
folgten einer losen Strähne, die fast bis zur Taille reichte. Sie stellte<br />
sich vor, wie es sich anfühlen würde, wenn sie nicht mehr da wäre.<br />
Wenn sie gedankenverloren ihre Haare zurückstreichen wollte,<br />
würden ihre Hände ins Leere greifen. Jeder Windstoß wür-de ihre<br />
Kopfhaut berühren und in ihren Nacken kriechen. Aber für die<br />
Freiheit des Windpferdes wollte sie dieses Opfer bringen. Miri packte<br />
die sichelförmige Klinge fester und schloss die Augen. Sie wartete<br />
darauf, dass die Magie endlich zu ihr sprechen würde, aber bis auf die<br />
Axthiebe und ein nervöses Schnauben hörte sie nichts. Vielleicht lag<br />
es daran, dass Überzeugungen schwerer zu opfern waren als Haare<br />
oder Blut.<br />
Wenn sie noch in der Wildniskuppel war, gab es für alles, was bisher<br />
geschehen war, eine natürliche Erklärung. Aber vielleicht war sie<br />
nach dem Sturz anderswo gelandet. Vielleicht gab es Orte in der<br />
Welt, an denen andere Gesetzmäßigkeiten galten.<br />
Und was für Orte sollten das sein? Ein ausgesprochen skeptischer Teil<br />
ihres Denkens konnte sich mit dieser Vorstellung nicht an-freunden.<br />
Miri wusste keine zufriedenstellende Antwort.<br />
Du könntest so tun, als gäbe es so einen Ort, schlug sie dem<br />
skeptischen Teil in ihr vor.<br />
Warum sollte ich?<br />
Um mich da<strong>von</strong> zu überzeugen, dass es ihn nicht gibt. <strong>Die</strong>ser<br />
Schachzug war genial! Wenn du dich da<strong>von</strong> überzeugen lässt, dass es<br />
den Ort geben könnte, weiß ich, dass es nicht an dir liegt, wenn es<br />
ihn nicht gibt. An diesem Ort ist es völlig selbstverständlich, dass sich<br />
93
mein Zopf in einen Pferdeschweif verwandelt, wenn ich ihn dem<br />
Windpferd schenken will.<br />
Der skeptische Teil schwieg und Miri nahm es als ein gutes Zeichen.<br />
Sie setzte das Messer direkt über ihrem Nacken an und säbelte an<br />
ihren Haaren herum. <strong>Die</strong>sen Teil der Aufgabe hatte sie sich leichter<br />
vorgestellt. Sie hatte gedacht, dass es mit einem beherzten Schnitt<br />
getan wäre. Stattdessen durchtrennte das Messer eine Strähne nach<br />
der anderen und die Geräusche, die dabei entstanden, klangen fast<br />
so schrecklich wie die Axthiebe auf der anderen Seite der Schwelle.<br />
Es schien ewig zu dauern, bis sie endlich ihren Zopf in der Hand hielt.<br />
„Wie geht es jetzt weiter?“ Ein kühler Wind zerzauste die Fransen in<br />
ihrem Nacken.<br />
„Du musst genau hinhören“, entgegnete die Hüterin freundlich aber<br />
unnachgiebig.<br />
„Ich höre aber nichts. <strong>Die</strong>se blöde Magie sagt gar nichts zu mir.“<br />
„Wenn du ihr wirklich zuhören willst, musst du still sein.“<br />
Miri schnaubte empört. Das Pferd, das sie auf seinem Rücken hier<br />
hergeschleppt hatte, war in Gefahr. Jeden Moment konnte die Weide<br />
fallen, nichts würde die dunkle Königin dann noch hindern, ihn in ihre<br />
<strong>Die</strong>nste zu zwingen. Wie sollte sie angesichts dieser verzweifelten<br />
Lage ihre Gedanken zum Schweigen bringen?<br />
Wenn du die Meditation nicht nur gelesen, sondern auch geübt<br />
hättest, wüsstest du es, meldete sich der skeptische Teil ihres<br />
Denkens zurück.<br />
<strong>Die</strong> Meditation! Miri hatte jedes Mal mit den Augen gerollt, wenn<br />
Lorenz darauf bestanden hatte, gemeinsam zu meditieren, bevor sie<br />
in die Kuppel hinausgingen. Und er hatte ihr ebenso oft erklärt, dass<br />
94
die Ruhe der Meditation eine Grundlage der Verbindung zwischen<br />
bewusstem Denken und intuitivem Wissen war.<br />
Angestrengt konzentrierte sich Miri auf ihren Atem und die drei<br />
Leuchtkugeln in ihrem Körper. Oder waren es vier? Sie rief sich die<br />
Seite auf dem Memopad ins Gedächtnis. Es waren sieben Archetypen<br />
und drei Lichtzentren, die sie mit der leuchtenden Schnur ihres<br />
Atems verbinden musste. Aber ihre Gedanken wollten keine Ruhe<br />
geben. Ständig summten und brummten sie vor sich hin. Miri horchte<br />
genauer hin. Sie sangen tatsächlich ein Lied.<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie der Namen magische Kraft?<br />
Das Lied, mit dem sie das Pferd ins Leben zurückgerufen hatte.<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie der Namen magische Kraft?<br />
Welche Namen sollte die Trommel herbeirufen? Ihren eigenen?<br />
„Miri“, flüsterte sie, während sie über die Fransen im Nacken strich.<br />
„Ich bin Miri. Nein! Ich bin Miriel.“ Sie sagte es leise und dann noch<br />
einmal lauter, als wollte sie sich vergewissern, dass es richtig war.<br />
„Ich bin Miriel.“<br />
Hör den Trommelruf, hör den Klang. Hör auf den Lehrgesang.<br />
Trommellied, in allen Namen Zauberkraft ruht!<br />
„Ich bin Miriel“, wiederholte sie, während sie die Spange löste, die<br />
ihren abgeschnittenen Zopf zusammenhielt. „Ich bin Miriel und du<br />
bist …“ Ihr Atem wollte stocken, aber der magische Augenblick<br />
erlaubte kein Zaudern. „Ich bin Miriel und du bist Sturmtänzer.“<br />
Sturmtänzer war ein prächtiger Hengst mit feuerfarbenem Fell und<br />
goldenem Langhaar. Er hatte nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem<br />
knochigen Schimmel, der dem Ruf der Trommel gefolgt war.<br />
95
„Du bist Sturmtänzer.“ Indem sie es aussprach, wurde es wahr. Ihre<br />
Hände strichen über blankes Fell, folgten dem flachen Graben der<br />
Wirbelsäule und griffen in die füllige Haarpracht eines goldenen<br />
Pferdeschweifs. Wie erstarrt stand sie da. Sie wagte nicht einmal zu<br />
atmen, aus Angst, der Luftzug könne das Wunder zunichtemachen.<br />
Doch dann bahnte sich ein wilder Triumphschrei den Weg durch ihre<br />
Kehle.<br />
„Ich kann es!“, brüllte sie. „Ich bin Miriel. Ich bin eine Magierin!“<br />
Vor Schreck machte der Hengst einen Satz, der Schweif peitschte<br />
seine Flanken. Dann drehte er sich zu ihr um. „Ich hoffe, es tut dir<br />
nicht leid, wenn du dich im Spiegel siehst“, schnaubte er. „Du siehst,<br />
ähm“, er räusperte sich. „Jedenfalls siehst du anders aus.“<br />
Miri winkte großzügig ab. „<strong>Die</strong> paar Haare tausche ich gerne gegen<br />
diese wunderschöne Welt, in der ich eine Magierin sein kann.“<br />
„Du willst also gar nicht mehr in deine Welt zurückkehren?“, erkundigte<br />
sich die Hüterin.<br />
„Also …“ Miri holte tief Luft. „Wenn es möglich ist …“<br />
„Hier ist alles möglich. Wenn du bleiben willst, musst du dich mit der<br />
dunklen Königin auseinandersetzen. Willst du es gleich hinter dich<br />
bringen?“<br />
Ächzend neigte sich die Krone der Weide.<br />
„Um Himmels willen“, keuchte Miri. „Ich muss noch so viel lernen.“<br />
Flehentlich starrte sie die Hüterin an. „Bitte nicht!“<br />
„Lauf!“ <strong>Die</strong> Hüterin deutete auf den Wasserfall. „In der Höhle bist du<br />
vor ihr sicher.“<br />
96
Das Letzte, was Miri hörte, bevor sie unter dem Silbervorhang<br />
verschwand, war das Brechen der Äste.<br />
Zunächst kam ihr die Höhle stockfinster vor, aber als sich Miris Augen<br />
an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte sie, dass der<br />
Widerschein des Sonnenlichts zauberhafte Muster an Wände und<br />
Decke malte. Wie goldene Ringe, die sich begegneten und wieder<br />
auseinanderstrebten, trieben die Lichtreflexe über den Fels. Sie stand<br />
in einem kleinen Tümpel, dessen Wasser ihr bis zu den Hüften<br />
reichte.<br />
Schon wieder Wasser, stellte sie mit einem abgrundtiefen Seufzen<br />
fest. <strong>Die</strong>smal hatte es wenigstens eine angenehme Temperatur. Am<br />
Grund des Tümpels scheuchten die Sonnenstrahlen winzige Lichter<br />
auf, die wie schillernde Seifenblasen zur Oberfläche trieben und<br />
zerplatzten. <strong>Die</strong> hintere Höhlenwand war knapp über dem Boden tief<br />
ausgewaschen, und Miri konnte wie auf einer Bank darin sitzen. Sie<br />
dachte einen Moment darüber nach, ob sie es sich in dem warmen<br />
sprudelnden Wasser nicht einfach bequem machen und warten<br />
sollte, bis sie gerufen wurde. Doch die Sorge um ihren vier-beinigen<br />
Freund ließ ihr keine Ruhe. Ganz langsam, um sich nicht zu verraten,<br />
watete sie zum Silberperlenvorhang des Wasserfalls.<br />
<strong>Die</strong> helle Nachmittagssonne brachte das niederfallende Wasser zum<br />
Leuchten. So konnte sie die Gestalten am Rand des kleinen Tümpels<br />
nur schemenhaft erkennen. <strong>Die</strong> Frau in dem grünen Kleid musste die<br />
Hüterin der Quelle sein. Neben ihr stand Sturmtänzer, Hals und Kopf<br />
waren stolz erhoben und ihre Hand lag leicht auf seinem Widerrist.<br />
<strong>Die</strong> hochgewachsene Frau in dem schwarzen Kleid konnte nur die<br />
dunkle Königin sein und die große, kantige Gestalt dahinter war<br />
bestimmt der Ritter.<br />
97
„Ich kenne die Geschichte, aber ich wüsste nicht, dass je ein Mensch<br />
das Windpferd gesehen geschweige denn geritten haben sollte.“<br />
Miri musste sich anstrengen, um die Hüterin durch das Rauschen des<br />
Wasserfalls zu verstehen.<br />
„Und was ist das für ein Pferd?“ <strong>Die</strong> Frau in Schwarz deutete auf den<br />
Fuchs.<br />
„Er gehört mir“, entgegnete die Hüterin. „Ein zuverlässiger Zelter, der<br />
dafür sorgt, dass selbst eine ungeübte Reiterin, wie ich es bin, sicher<br />
<strong>von</strong> Ort zu Ort kommt.“<br />
„Ich habe dich noch nie auf einem Pferd gesehen.“ <strong>Die</strong> Stimme der<br />
dunklen Königin klang skeptisch.<br />
„Wir haben uns ohnehin lange nicht mehr gesehen.“ <strong>Die</strong> Hüterin<br />
deutete eine Verbeugung an. „Ihr solltet mich öfter besuchen<br />
kommen.“<br />
„Du meinst, jetzt wo der Weg schon einmal frei ist.“ <strong>Die</strong> Herrin der<br />
unteren Welt lachte spöttisch. „Ich bedauere, dass wir den halben<br />
Wald fällen mussten, um den Eingang zu deinem Garten zu finden.<br />
Ich hoffe, du grämst dich nicht zu sehr darüber. Soll ich meinem<br />
Ritter befehlen, dir bei der Beseitigung des Schadens zu helfen?“<br />
„Macht Euch keine Mühe“, entgegnete die Hüterin würdevoll. „Der<br />
Wald folgt nur seinen eigenen Gesetzen. Weder Ihr noch Euer<br />
Holzfäller kann ihm Schaden zufügen.“<br />
Aus den Augenwinkeln erkannte Miri einen grauen Schatten, der am<br />
Rand des Teichs entlang schnüffelte. Als er zu der Stelle kam, wo sie<br />
ins Wasser gestiegen war, blieb er stehen. Ein dumpfes Bellen hallte<br />
wie ferner Donner durch die Höhle und Miri sah, dass der Ritter auf<br />
98
den Wasserfall deutete. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte,<br />
aber die Frau im schwarzen Kleid wandte sich ebenfalls dem Teich zu.<br />
Jetzt haben sie dich! Miri blickte sich vergeblich nach einem<br />
Fluchtweg um. <strong>Die</strong> dunkle Königin und ihr Ritter näherten sich ihrem<br />
Versteck <strong>von</strong> zwei Seiten. Am gegenüberliegenden Ufer stand<br />
Tagauge, der zottige Riesenhund und starrte unverwandt zu ihr<br />
herüber. Miri fühlte sich schon entdeckt, als plötzlich das Hündchen<br />
der Hüterin mit ohrenbetäubendem Gekläff unter einem Gebüsch<br />
hervorstürzte. Es wischte an dem anderen Hund vorbei und flüchtete<br />
jaulend unter die Röcke seiner Herrin. Lachend wandte sich die<br />
dunkle Königin ab, und der Ritter rief Tagauge zurück.<br />
„<strong>Die</strong>ser Ort ist immer für eine Überraschung gut.“ <strong>Die</strong> dunkle Königin<br />
ließ sich <strong>von</strong> ihrem Ritter in den Sattel helfen. „Sorg dafür, dass es<br />
keine unangenehmen Überraschungen werden, und denk daran,<br />
sofort einen Boten zu meinem Schloss zu schicken, wenn du etwas<br />
<strong>von</strong> dem Windpferd oder diesem Mädchen hörst.“<br />
Zustimmend neigte die Hüterin der Quelle ihr Haupt. <strong>Die</strong> ungebetenen<br />
Gäste wendeten ihre Pferde und Miri hätte schwören<br />
können, dass die alte Hexe ihren Grauen absichtlich durch ein Beet<br />
mit leuchtend gelben Blütensternen lenkte.<br />
99
Zwölftes Kapitel<br />
Wenig später waren auch Miri und Sturmtänzer wieder unterwegs.<br />
<strong>Die</strong> Hüterin der Heiligen Quelle hatte ihnen den Weg zu ihrer<br />
Schwester beschrieben, der Wächterin über den Riss zwischen den<br />
Welten.<br />
„Sie kann euch sicher helfen“, hatte sie gesagt, während Miri noch<br />
damit beschäftigt gewesen war, Hose und Hemd anzuziehen, welche<br />
ihr die Hüterin gegeben hatte. „Meine Schwester weiß genug über<br />
diese Tore, um Miri in ihre Welt zurückzuschicken. Vielleicht kennt sie<br />
sogar einen Weg, den ihr gemeinsam benutzen könnt.“<br />
Im flotten Trab ging es über eine weite Ebene. Wiesen, Felder,<br />
baumbestandene Hügel, und Obstgärten flogen an ihnen vorbei.<br />
Sturmtänzer hatte den Kopf stolz erhoben und ließ seine Mähne im<br />
Wind wehen. So oft sie an Feldarbeitern oder einem Erntewagen<br />
vorbeikamen, schnaubte er und fiel mit peitschendem Schweif in<br />
einen leichten Galopp.<br />
„Gib doch nicht so an“, schimpfte Miri, als der Fuchs an einem Garten<br />
vorübertänzelte, in dem Männer ein Gerüst für Bohnen aufrichteten.<br />
„Ebenso gut könnten wir Visitenkarten verteilen.“<br />
„Mir macht es Spaß, mich so zu zeigen“, erwiderte das Pferd. „Ich<br />
finde, ich habe noch nie so gut ausgesehen.“<br />
Miri zog die Schultern hoch. „Ich kenne nicht viele Pferde. Mir hast<br />
du immer gefallen.“<br />
„Tut es dir gar nicht leid um deine wunderschönen Haare?“ Der<br />
Schweif peitschte über Sturmtänzers Flanke und Miris Beine.<br />
100
„Ach was“, lachte sie. „Ich hab mich schon fast daran gewöhnt, dass<br />
sie jetzt kurz sind.“<br />
An die neuen Kleider konnte sie sich hingegen nur schwer gewöhnen.<br />
Das Hemd war so steif, dass es auf ihrer Haut scheuerte und<br />
die Hose schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre Beine.<br />
Ungeduldig zupfte sie daran herum.<br />
„<strong>Die</strong>ses Ding ist viel zu eng“, schimpfte sie.<br />
„Ach was“, widersprach der Fuchs. „Du hast einen schönen Hintern<br />
und der kommt in dieser Hose viel besser zur Geltung, als in dem<br />
Ding, das du vorher anhattest.“<br />
„Sie kneift aber. Außerdem stinkt sie.“ Demonstrativ rümpfte Miri die<br />
Nase. „Was ist das nur für ein Stoff?“<br />
„Das ist kein Stoff, das ist Leder.“<br />
„Leder?“ Miri schüttelte ungläubig den Kopf.<br />
„Gegerbte Tierhaut“, erwiderte das Pferd. Offensichtlich war ihm der<br />
Gedanke kein bisschen unangenehm. „In diesem Fall …“ Ohne<br />
langsamer zu werden, drehte er den Kopf nach hinten und zog die<br />
Oberlippe hoch um die Witterung zu prüfen. „Hirsch“, stellte er<br />
zufrieden fest. „Das Beste, was man hier bekommen kann.“<br />
„Haut <strong>von</strong> einem toten Tier?“ Miri schüttelte sich vor Ekel. „Bäh, igitt.<br />
Halt an. Sofort! Das will ich nicht anhaben“ Am liebsten hätte sie sich<br />
das widerwärtige Ding vom Leib gerissen, aber der Fuchs machte<br />
keine Anstalten, das Tempo zu verringern.<br />
„Und was willst du stattdessen anziehen?“, fragte er trocken. „Ich<br />
verstehe nicht, warum du so ein Theater machst. Ein totes Tier<br />
braucht seine Haut nicht mehr. Wenn du sein Fleisch isst, musst du<br />
doch seine Haut nicht verderben lassen.“<br />
101
„Ich esse kein Fleisch. Das ist ekelhaft.“ Nun war Miri ehrlich<br />
entrüstet. „In meiner Welt isst kein zivilisierter Mensch Fleisch.“<br />
„Es gibt Tiere, die Fleisch fressen. Bären und Wölfe oder Hunde und<br />
Katzen.“<br />
„In den Kuppeln gibt es keine Raubtiere, und wer unbedingt einen<br />
Hund oder eine Katze halten will, muss das Tier eben mit synthetischem<br />
Fleisch ernähren?“<br />
„Synthetisches Fleisch?“ Sturmtänzer wieherte laut. „Der ist gut. Den<br />
muss ich mir merken.“<br />
„Das ist kein Scherz.“ Miri schnaubte, als wäre sie selbst ein Pferd. „In<br />
überregionalen landwirtschaftlichen Produktionsstätten werden<br />
Bakterienkolonien gezüchtet, die aus Nährlösungen Eiweißverbindungen<br />
produzieren, die denselben Nährwert haben wie Fleisch.“<br />
„Weißt du was?“ Ein Schauer lief über den Pferdehals. „Das finde ich<br />
eklig.“<br />
Allmählich blieben die Dörfer und Felder hinter ihnen zurück,<br />
stattdessen rückten dunkle Wälder mit turmhohen Bäumen näher.<br />
„Können wir nicht endlich eine Pause einlegen“, nörgelte Miri. „Mir<br />
tut alles weh.“<br />
„Lass uns lieber noch ein Stück Straße unter die Hufe nehmen, bevor<br />
es dunkel wird.“ Der Fuchs beschleunigte seine Gangart. „Es ist schon<br />
spät und bis zur Hütte der Wächterin ist es noch weit.“<br />
„Hast du Angst, dass die dunkle Königin wieder ihr Nachtauge auf uns<br />
hetzt.“<br />
102
„Wer weiß.“ Schnaubend schüttelte Sturmtänzer die Mähne und fiel<br />
in einen kurzen Galopp. „Vielleicht hat sie längst einen gefährlicheren<br />
Jäger auf uns angesetzt.“<br />
„Und was für ein Jäger sollte das sein?“ Miri blickte sich ängstlich um,<br />
aber sie konnte nichts sehen oder hören.<br />
„Lass uns das Thema wechseln. Oder willst du das Unglück<br />
herbeireden?“ Unwillig keilte der Hengst nach einer Fliege aus.<br />
„Wenn die alte Hexe tatsächlich herausgefunden hat, was wir<br />
vorhaben, müssen wir eben schneller sein als unser Verfolger.“<br />
Sie bogen <strong>von</strong> dem Karrenweg ab und trabten einen schmaleren Pfad<br />
hügelaufwärts. Plötzlich hörte Miri, Hufschläge, die einem anderen<br />
Rhythmus folgten. Sturmtänzer schien es ebenfalls gehört zu haben.<br />
Ächzend setzte er sich wieder in Galopp.<br />
<strong>Die</strong> Sonne war schon fast hinter dem Horizont verschwunden, und<br />
die langen Schatten der Bäume verschmolzen mit der Dunkelheit der<br />
hereinbrechenden Nacht. Miri konnte kaum noch den Verlauf der<br />
Straße erkennen, und dem Pferd ging es bestimmt nicht an-ders.<br />
Trotzdem eilte Sturmtänzer den steilen Hügel in einem halsbrecherischen<br />
Tempo hinauf.<br />
„Da!“ Keuchend stand er auf der Kuppe und blickte zu einem Hügel,<br />
der so aussah, als wäre es nur ein Schattenriss auf dem tiefblauen<br />
Abendhimmel. „Da drüben ist es.“<br />
„Was denn?“, fragte Miri. Doch dann sah sie selbst, dass der Hügel<br />
<strong>von</strong> einem Turm gekrönt wurde, der dem Wahrzeichen der Wildniskuppel<br />
zum Verwechseln ähnlich sah.<br />
„Zwischen diesem und dem anderen Hügel liegt eine Schlucht, die wir<br />
den Riss zwischen den Welten nennen“, schnaubte der Hengst. „Ein<br />
103
schmaler Steg führt über die Schlucht und wenn die Sonne den<br />
Horizont berührt, führt er in eine andere Welt.“<br />
„In irgendeine andere Welt oder in meine Welt?“, fragte Miri.<br />
Sturmtänzer schüttelte den Kopf. „Frag die Wächterin. Sie wird<br />
wissen, wie es funktioniert. Schließlich ist es ihr Job, aufzupassen,<br />
dass keiner Dummheiten damit macht.“<br />
„In unserer Welt gibt es den Turm mit dem Hügel und der Schlucht<br />
auch“, entgegnete Miri. „<strong>Die</strong> Wiese am Rand der Schlucht nennen wir<br />
den Ort der höchsten Herausforderung und die Brücke ist der<br />
Engpass. In Wirklichkeit gibt es gar keine Schlucht, nur einen alten<br />
Entwässerungsgraben, der nicht mal zwei Meter tief ist. Es sind<br />
lediglich Projektionen, die ihn so gefährlich aussehen lassen.<br />
„Ich denke, bei uns ist die Schlucht echt“, antwortete der Hengst. Sie<br />
schwiegen beide und lauschten dem Abendgesang der Vögel.<br />
Plötzlich stampfte Sturmtänzer mit dem Huf.<br />
„Weiter“, schnaubte er. „Wir müssen die Hütte der Wächterin finden,<br />
bevor es dunkel ist.“<br />
Eine steile Rinne, die aussah, als wäre sie <strong>von</strong> Schmelzwasser geformt<br />
worden, führte auf dem kürzesten Weg bergab. Mit steifen<br />
Vorderbeinen und tiefer Kruppe tastete sich der Fuchs in den<br />
Einstieg.<br />
„Stopp!“ Miri schrie entsetzt auf, als der Pferdekopf nach unten<br />
wegtauchte. Sie fühlte sich wie auf einer Rutschbahn. Erschrocken<br />
tänzelte der Hengst zurück.<br />
„Mach doch nicht so viel Lärm“, schimpfte er. „Ich muss mich konzentrierten.<br />
Es ist schwer genug, auf vier Beinen heil da hinunterzukommen.“<br />
104
„Müssen wir überhaupt da runter“, protestierte Miri. „Vielleicht gibt<br />
es ja einen weniger gefährlicheren Weg.“<br />
„Aber das ist der Schnellste. Und die Jäger …“<br />
„Im Wald habe ich nichts mehr gehört. Vielleicht haben sie die<br />
Verfolgung aufgegeben.“<br />
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“<br />
„Ich will trotzdem nicht da runter. Lass mich wenigstens absteigen,<br />
bevor du dir den Hals brichst.“<br />
„Bleib sitzen“, brummte Sturmtänzer. „Ich finde auch einen weni-ger<br />
steilen Weg.“<br />
Unter den Bäumen war es schon so dunkel, dass sie nur langsam<br />
vorankamen.<br />
„Meine Schweifrübe juckt“, brummelte der Hengst, als er aus einem<br />
Tannendickicht auf eine kleine Lichtung trat. „Das ist kein gutes<br />
Zeichen.“<br />
„Hast du etwas gesehen?“, flüsterte Miri.<br />
Sturmtänzer schüttelte den Kopf. „Es ist nur …“<br />
Als sie das Donnern eisenbeschlagener Hufe hörten, war es schon<br />
fast zu spät. Miri spürte die schwere Hand des schwarzgekleideten<br />
Ritters bereits auf ihrer Schulter. Ein jäher Satz, der sie sie fast <strong>von</strong><br />
Sturmtänzers Rücken katapultiert hätte, brachte sie gerade noch<br />
rechtzeitig außer Reichweite. Das nachtschwarze Streitross war gut<br />
trainiert und im Gegensatz zu Miri saß der Ritter fest im Sattel. Bevor<br />
Sturmtänzer zwischen Tannen und dornigem Ge-strüpp einen<br />
Durchlass fand, hatte der Ritter sein Pferd gewendet. Er preschte<br />
105
ihnen entgegen, als gälte es, einen Gegner im Lanzen-gang aus dem<br />
Sattel zu werfen.<br />
„Duck dich!“, rief Sturmtänzer.<br />
Miri tauchte unter dem ausgestreckten Arm des Mannes hindurch.<br />
„Halt dich fest!“ Sturmtänzers Rücken wölbte sich, er schnellte mit<br />
einem Satz über die Brombeerhecke und donnerte im ge-streckten<br />
Galopp den Hügel hinunter.<br />
Miri beugte sich tief über den Hals des Pferdes. Sie krallte sich in die<br />
flatternde Mähne, ihre Knie lagen fest in der flachen Kuhle hinter<br />
seinen Vorderbeinen und ihr Hintern berührte den Pferde-rücken<br />
kaum noch. Sie wagte nicht, darüber nachzudenken, was passieren<br />
würde, wenn Sturmtänzer bei diesem Tempo stürzte. Obwohl er nass<br />
geschwitzt war und Schaumflocken aus seinem Maul flogen,<br />
beschleunigte er noch einmal, als der Boden für einen Moment<br />
flacher wurde und danach umso steiler bergan führte. Miri kannte<br />
diesen Weg. In ihrer Welt führte er direkt zum Ort der höchsten<br />
Herausforderung.<br />
„Vorsicht!“<br />
Ein Schatten schoss hinter einem Dickicht hervor. Sturmtänzer wich<br />
dem zottigen Hund mit knapper Not aus. Er keilte nach dem neuen<br />
Verfolger aus, aber der Hund duckte sich flach auf den Boden und die<br />
Hufe zischten über ihn hinweg. Das Manöver hatte wertvolle<br />
Sekunden gekostet und das Klirren der eisenbe-schlagenen Hufe kam<br />
ihnen gefährlich nah. Aus dem gleichmäßigen Dreiertakt wurde ein<br />
hartes Stakkato. Auf kurzen Strecken war das Streitross dem<br />
zierlicheren Fuchs überlegen. Der Gegner holte rasch auf.<br />
„Festhalten!“ Als der Ritter direkt neben ihnen war, brach<br />
Sturmtänzer zur Seite aus. Miris Knie rutschten nach oben, und wenn<br />
106
der Hengst nicht seinen Kopf hochgerissen hätte, wäre sie im hohen<br />
Bogen über seinen Hals geflogen. Der harte Pferdeschädel prallte<br />
gegen ihre Schulter und beförderte sie unsanft an ihren Platz zurück.<br />
„Wie weit noch?“, schrie Miri. Sie war blind vom Wind, den Blättern<br />
und Zweigen, die ihr jetzt ins Gesicht peitschten, ihre Beine zitterten<br />
vor Anstrengung, ihre Arme waren taub und die Luft brannte in ihren<br />
Lungen.<br />
Der Hengst antwortete nicht. Miri glaubte zu spüren, wie mit jedem<br />
weiteren Galoppsprung ein Teil seiner Lebenskraft aus den<br />
gewaltigen Muskeln in die Erde floss.<br />
„Halt!“ <strong>Die</strong> Angst um den Gefährten gab ihrer Stimme neue Kraft.<br />
Wenn es ihr nicht gelang, diesen Irrsinn zu stoppen, würde er sich zu<br />
Tode rennen. „Bleib stehen. Sofort!“<br />
Zwischen den Bäumen konnte Miri ein ausgefranstes Stück Nachthimmel<br />
erkennen. Sie hatten die Kuppe des Hügels erreicht. <strong>Die</strong><br />
letzten Baumstämme flogen an ihnen vorbei, eine Wiese öffnete sich<br />
vor ihnen und dahinter stieg das Gelände zu einem schroffen Gebirge<br />
mit fernen, schneebedeckten Gipfeln und einer turm-gekrönten<br />
Felskuppe an. Aber zwischen dem Wald und den Felsen lag der<br />
Abgrund, der im Dämmerlicht des späten Abends tat-sächlich<br />
verteufelt echt aussah. Und Sturmtänzer rannte gerade-wegs darauf<br />
zu.<br />
„Stopp!“, brüllte Miri noch einmal. „Willst du uns umbringen?“<br />
Der Hengst schien sie nicht einmal zu hören. Nur noch vier Sprünge<br />
oder fünf. Er setzte über ein Wurzelende hinweg und die Zeit schien<br />
daran hängen zu bleiben. Miris Herz hämmerte viele Male gegen ihr<br />
Brustbein, während seins nur einen Schlag tat. Sie spürte jeden<br />
Muskel, den er anspannen musste, um seinen Rücken auf-zuwölben<br />
und Spannung für den nächsten Galoppsprung aufzu-nehmen. Seine<br />
107
Vorderhufe lösten sich vom Boden, griffen weit und hoch hinaus. Sein<br />
Rücken streckte sich, Sturmtänzer schnellte dem Nachthimmel<br />
entgegen, als wolle er der Erdschwere für immer entkommen. Am<br />
Scheitelpunkt seiner Flugbahn krümmte sich sein Rücken erneut, er<br />
senkte den Kopf über seine ausgestreckte Vorderhand. Das war der<br />
richtige Moment. Miri griff mit der rechten Hand fest in die Mähne<br />
und holte gleichzeitig mit der linken aus. Sie beugte sich weit vor, ihre<br />
flache Hand schlug dem Hengst ins Gesicht und im gleichen<br />
Augenblick zerriss die zer-dehnte Zeit mit einem schrillen Misston.<br />
Sturmtänzer warf er-schrocken den Kopf in die Höhe und erstarrte<br />
mitten in der Bewegung. Miris Beine verloren den Halt und ihr Körper<br />
wurde jäh zur Seite gerissen. Sie versuchte noch, sich mit beiden<br />
Armen an den Pferdehals klammern, aber eine Tonnenlast zerrte an<br />
ihrem Körper, der Boden sackte unter ihren Füßen weg und ihr<br />
Verstand weigerte sich, den Ereignissen weiter zu folgen.<br />
108
Dreizehntes Kapitel<br />
Als Miri zu sich kam, hörte sie ganz in ihrer Nähe ein Klirren, als<br />
würde Metall gegen Metall scheuern. Sie blickte erschrocken auf,<br />
doch sie konnte nur Grashalme und dahinter eine Hütte erkennen.<br />
Eine Lampe unter der Dachtraufe beleuchtete die Hausecke und zwei<br />
Menschen, die sich dort gegenüberstanden. Wo das flackern-de Licht<br />
nicht hinreichte, war es so dunkel, als wäre inzwischen die Nacht<br />
hereingebrochen.<br />
„Geh mir aus dem Weg“, polterte eine Männerstimme, die an ihren<br />
Mentor erinnerte. Lorenz würde nie so grob mit jemandem reden.<br />
„Wofür hältst du dich eigentlich?“, entgegnete eine Frau. „Glaubst<br />
du, du kannst mich auf meinem eigenen Grund und Boden herumkommandieren!“<br />
„Dein Grund und Boden ist ein königliches Lehen“, spottete der<br />
Mann. „Und im Namen unserer Königin befehle ich dir…“<br />
„Im Namen unserer Königin?“, unterbrach ihn die Frau. „Ist die Erbin<br />
unseres Herrn und Königs endlich gefunden und in ihre Rechte<br />
eingesetzt worden?“<br />
„Spiel nicht die Närrin“, schnaubte der Mann. „<strong>Die</strong> Rolle kleidet dich<br />
nicht.“<br />
„Ah, du bist also hier, um mir im Namen der Regentin Befehle zu<br />
erteilen.“ Miri hörte die Frau lachen. „Was will sie denn diesmal <strong>von</strong><br />
mir?“<br />
„Sie ist auf der Suche nach dem Windpferd.“<br />
„Das höre ich nicht zum ersten Mal.“<br />
109
„Einer jungen Cantadora ist es gelungen, die Knochen wiederzubeleben.“<br />
„Das ist in der Tat etwas Neues.“<br />
„Das Mädchen ist mit dem Pferd geflohen.“<br />
„Erstaunlich, dass sie nicht nur Nachtauge und Tagauge, sondern<br />
auch dem Klingenknecht der alten Hexe zu entkommen ist.“<br />
„Hüte deine Zunge“, zischte der Mann.<br />
Miri duckte sich tiefer. <strong>Die</strong> zornige Stimme machte ihr Angst.<br />
„Ich habe die beiden bis hierher verfolgt. Sie müssen an deiner Hütte<br />
vorbeigekommen sein.“<br />
„Vielleicht sind sie über die Brücke in eine andere Welt geflohen“,<br />
schlug die Frau vor.<br />
„Sollten Sie die Brücke tatsächlich ohne deine Erlaubnis passiert<br />
haben?“<br />
„Glaubst du, das Windpferd muss jemanden um Erlaubnis fragen, um<br />
<strong>von</strong> einer Welt in die nächste zu reisen?“<br />
„Ist das wirklich so?“, brummelte es neben Miris Ohr. „Meinst du, wir<br />
sollten…“<br />
„Pst“, zischte Miri, doch es war zu spät. Der schwarze Ritter war<br />
bereits auf sie aufmerksam geworden.<br />
„Was ist das für ein Pferd?“, wollte er wissen.<br />
„Das da?“ Aus ihrer Position konnte Miri nur ahnen, dass sich die<br />
Frau nach ihnen umwandte, als wollte sie nachsehen, wo<strong>von</strong> der<br />
110
Ritter sprach. „Das ist Auris. Du solltest ihn eigentlich kennen. Wir<br />
haben uns auf dem Schlachtfeld oft genug gegenübergestanden.“<br />
„Müsste er nicht …“<br />
„Ich habe längst aufgehört, seine Jahre zu zählen“, entgegnete die<br />
Wächterin rasch. „Der alte Bursche bekommt <strong>von</strong> mir sein Gnadenbrot,<br />
solange er es beißen kann.“<br />
„Erstaunlich, wie gut er für sein Alter noch aussieht“, sinnierte der<br />
Ritter.<br />
<strong>Die</strong> Frau winkte ab. „Bei Tageslicht darfst du ihn nicht anschauen. Er<br />
ist inzwischen ein rechter Klepper geworden.“<br />
„Er erinnert mich an das Pferd deiner Schwester.“<br />
„Das ist nicht weiter erstaunlich.“ <strong>Die</strong> Wächterin schien nie um eine<br />
Ausrede verlegen zu sein. „Sie stammen aus derselben Herde.“<br />
„Und wer ist das Mädchen, zwischen seinen Vorderhufen dem es<br />
allen Bemühungen zum Trotz nicht gelingt, im Boden zu versinken?“<br />
Der Schreck überrollte Miri wie eine glutheiße Welle.<br />
„Bist du kurzsichtig geworden oder muss ich mir eine neue Lampe<br />
anschaffen?“ Lachend schüttelte die Wächterin den Kopf. „Das ist ein<br />
junger Bursche, der bei mir das Kriegshandwerk erlernen will.“<br />
111
„Was macht er dann auf dem Boden?“ Offenbar glaubte ihr der Ritter<br />
kein Wort.<br />
„Er ist vom Pferd gefallen und noch nicht wieder aufgestanden.“ Sie<br />
zog die Schultern hoch, als wäre damit alles gesagt.<br />
„Willst du nicht nachsehen, ob er den Sturz unversehrt überstanden<br />
hat?“ Seiner schweren Rüstung zum Trotz schwang sich der Ritter<br />
mühelos aus dem Sattel.<br />
„Wenn er sich wehgetan hätte, würden wir ihn schreien hören.“<br />
„Wir sollten uns trotzdem vergewissern.“ Der Ritter stapfte<br />
geradewegs auf Miri zu.<br />
„Halt!“ <strong>Die</strong> Wächterin trat ihm in den Weg. „<strong>Die</strong>ses Land wurde mir<br />
<strong>von</strong> unserem Herrn und König zum Lehen gegeben. Niemand betritt<br />
es ohne meine Erlaubnis.“<br />
„Wenn du glaubst, ich würde dich um Erlaubnis bitten …“<br />
Miri hörte ein metallisches Klirren. Dann spiegelte sich das Licht der<br />
Laterne im Schwert des Ritters.<br />
„Oh ja, das glaube ich.“<br />
Noch einmal schabte Metall über Metall. Kampfbereit standen sich<br />
der Mann und die Frau gegenüber.<br />
„Sie können doch jetzt nicht miteinander kämpfen“, flüsterte Miri.<br />
„Natürlich können sie das“, brummelte es dicht neben ihrem Ohr.<br />
„Sie sind Krieger. Wenn sie sich nicht einigen können, kämpfen sie<br />
miteinander. Für gewöhnlich hat der Sieger Recht.“<br />
„Sie könnten sich verletzen.“ Es erschien Miri unvorstellbar, dass<br />
Menschen Waffen gegeneinander erheben sollten.<br />
112
„Sie könnten sogar sterben“, schnaubte das Pferd. „<strong>Die</strong> Wächterin<br />
trägt keine Rüstung. Das macht sie zwar verletzlicher, aber gleichzeitig<br />
auch beweglicher. Der Ritter hat eine größere Reichweite, aber<br />
wenn er den Kampf nicht in den ersten Minuten für sich entscheidet,<br />
bekommt er vermutlich Probleme mit der Kondition. Wenn ich Geld<br />
hätte, würde ich es…“<br />
„Bist du verrückt?“, zischte Miri. „Ich will nicht, dass sie unseretwegen<br />
kämpfen. Gewalt ist keine Lösung.“ Entschlossen rappelte sie<br />
sich auf.<br />
„Stopp!“ Sturmtänzer erwischte gerade noch rechtzeitig den Saum<br />
ihres Hemdes.<br />
Der Ritter wich mit einem kaum merklichen Nicken zurück. „Es wird<br />
nicht nötig sein, Blut zu vergießen.“ Der Ritter steckte sein Schwert<br />
zurück in die Scheide. „Unsere Herrin wird morgen früh persönlich<br />
herkommen, um sich da<strong>von</strong> zu überzeugen, dass mit deinem<br />
Knappen alles seine Richtigkeit hat.“<br />
„<strong>Die</strong> Sachwalterin unseres verstorbenen Herrn und Königs ist mir<br />
jederzeit willkommen“, entgegnete die Wächterin würdevoll. „Es<br />
wundert mich nur, dass sie nichts Besseres zu tun hat, als einen<br />
Bauernjungen und ein altes Streitross zu begutachten.“<br />
„Sie sorgt sich eben um ihre Untertanen.“ Der Ritter griff nach dem<br />
Zügel seines Pferdes und wandte sich der Brücke zu. „Um<br />
Missverständnissen vorzubeugen, werde ich auf der Brücke Wache<br />
halten“, sagte er laut genug, dass Miri und Sturmtänzer ihn verstehen<br />
konnten. „Der Hund behält derweil die Straße im Auge.“<br />
„<strong>Die</strong> Wächterin nickte. „Mips, Auris, rein mit euch“, rief sie Miri und<br />
Sturmtänzer zu. „Solange sich zwielichtiges Gesindel auf der Straße<br />
herumtreibt, will ich euch nachts nicht hier draußen sehen.“<br />
113
Der Hengst trabte zu dem Schuppen neben der Hütte. Miri folgte ihm<br />
wortlos.<br />
Im Stall gab es eine große, offene Box und eine Futterkammer, die<br />
mit einem Riegel und einem schweren Vorhängeschloss gesichert<br />
war. Wohlig grunzend ließ sich Sturmtänzer im duftenden Stroh<br />
nieder und wälzte sich ausgiebig. Miri kletterte derweil auf den<br />
Heuboden und warf Futter für ihn herunter.<br />
„Wie soll es jetzt weitergehen?“, fragte sie <strong>von</strong> oben.<br />
„Das wollte ich euch auch gerade fragen.“<br />
Miri wäre vor Schreck fast <strong>von</strong> der Leiter gefallen, als die Wächterin<br />
plötzlich in der Tür stand. Sie hatte die Frau gar nicht kommen hören.<br />
„Ich weiß nicht.“ Miri schüttelte den Kopf.<br />
„Und wenn du es dir aussuchen könntest?“<br />
„Ich wünschte, die Prüfung wäre zu Ende und jemand würde mir erklären,<br />
wie es möglich ist …“ Ratlos zog Miri die Schultern hoch. „Ich<br />
würde gerne wissen, wie das alles hier geht. Ich meine …“ Sie<br />
schüttelte den Kopf. „Ist das jetzt ein technischer Trick, den ich noch<br />
nicht kenne oder …“. Sie beendete auch diesen Satz nicht. Es kam ihr<br />
unpassend vor, in Gegenwart dieser pragmatischen Frau <strong>von</strong> Magie<br />
zu sprechen.<br />
<strong>Die</strong> Wächterin musterte Miri schweigend. Dann nickte sie. „Meine<br />
Schwestern sagen, dass du aus Bens Welt kommst. Der hat auch <strong>von</strong><br />
einer Prüfung geredet. Am Ende hat er es doch vermasselt.“<br />
„Ben?“ Miri blickte die Frau mit großen Augen an. Es konnte doch<br />
kein Zufall sein, dass der andere Prüfling denselben Namen trug wie<br />
114
der Leiter der Wildniskuppel. „Mein Ausbilder heißt Ben. Er hat <strong>von</strong><br />
einem Schwert erzählt aber ich hätte nicht geglaubt …“<br />
„Dass diese Geschichte wahr ist?“, beendete die Wächterin Miris<br />
Satz. „Ben war kurz nach dem Tod unseres Königs hier. Da dieser<br />
keinen Erben hinterlassen hatte, gab es Streit um die Nachfolge.<br />
Ausgerechnet einem Fremden, der mit unserer Welt gar nichts zu<br />
schaffen haben wollte, zeigte sich das Schwert des Lichts. Ben hätte<br />
nur zugreifen müssen.“ Mit einem kummervollen Seufzen schüttelte<br />
sie den Kopf. „Inzwischen hat sich die dunkle Königin auf dem Thron<br />
breitgemacht, und es bräuchte eher einen kampf-erprobten Helden<br />
als ein junges Mädchen, um sie und ihre <strong>Die</strong>ner zu vertreiben. Bist du<br />
gekommen, um das Schwert des Lichts zu suchen und die alte Hexe<br />
herauszufordern?“<br />
„Ich, ähm, nein!“ Miri schüttelte den Kopf. „Ich bin hier, um …“. Sie<br />
zog die Schultern hoch. „Eigentlich weiß ich gar nicht, warum ich hier<br />
bin. Ich weiß nicht einmal, wie ich hergekommen bin. Ich wollte zu<br />
meiner Abschlussprüfung in die Wildniskuppel. In der Schleuse war<br />
plötzlich ein Loch im Boden und dann war ich hier.“<br />
„Aber du bist eine Magierin“, stellte die Wächterin mit Nachdruck<br />
fest. „Du könntest diese Hexe herausfordern.“<br />
„Bei uns gibt es keine Magie“, widersprach Miri. „Und ich bin keine<br />
Magierin.“<br />
Sturmtänzer riss den Kopf aus der Krippe und prustete, als hätte er<br />
sich verschluckt. „Du hast meine Knochen wachgesungen und dein<br />
Blut für mich gegeben. Du hast mir eine neue Gestalt geschenkt und<br />
deine Haare für mich geopfert. Wie nennt man die Leute, die so<br />
etwas zustande bringen, in eurer Welt?“<br />
115
„In unserer Welt geht das alles gar nicht“, antwortete Miri achselzuckend.<br />
„Eigentlich geht es auch nicht, durch ein Loch im Boden in<br />
eine andere Welt zu fallen.“<br />
„Meinst du nicht, dass es etwas zu bedeuten hat, wenn es auf einmal<br />
doch geht?“, überlegte die Wächterin. „Vielleicht bist du hier, um<br />
diese alte Hexe endlich zu verjagen.“<br />
„Dann müsste ich zuerst gegen ihren Ritter kämpfen, nicht wahr?“<br />
„Es gibt gefährlichere Gegner“, entgegnete die Wächterin achselzuckend.<br />
„Im Kampf gegen so einen Klotz musst du eigentlich nur in<br />
Bewegung bleiben und darauf achten, dass er dich nicht in eine Ecke<br />
drängt.“<br />
„Ich will nicht kämpfen.“ Miri schüttelte den Kopf. „Gewalt ist keine<br />
Lösung.“<br />
„Wer sagt das?“, wollte die Wächterin wissen.<br />
„Das sagt …“ Miri musste einen Moment nachdenken. „Alle sagen<br />
das“, stellte sie schließlich fest. „Früher haben die Menschen dauernd<br />
gegeneinander gekämpft. Gegen die Natur haben sie auch gekämpft<br />
und deshalb wurde unsere Zivilisation beinahe vernichtet. Wir<br />
können nur überleben, wenn wir auf Gewalt und Ausbeutung<br />
verzichten.“<br />
„Ah, ja.“ <strong>Die</strong> Wächterin sah nicht so aus, als wäre es Miri gelungen,<br />
sie zu überzeugen. „In diesem Fall ist es wohl am besten, wenn wir<br />
dich in deine Welt zurückschaffen, bevor dich die dunkle Königin<br />
erwischt.“<br />
„Oh ja, bitte.“<br />
„Du musst nur durch ein offenes Tor spazieren, die Durchgänge<br />
öffnen sich immer bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Da die<br />
116
Büttel der alten Hexe das Tor auf der Brücke bewachen, solltest du<br />
das im Schloss benutzen.“<br />
„Wenn ich zum Schloss will, muss ich doch auch über die Brücke.“<br />
Miri bezweifelte, dass das eine gute Idee war.<br />
„Es gibt auch einen Weg durch die Schlucht.“<br />
„Mitten in der Nacht.“ Miri seufzte. „Das klingt reichlich halsbrecherisch.“<br />
„Ich könnte dich ein Stück begleiten“, schlug die Wächterin vor, doch<br />
Sturmtänzer schüttelte den Kopf.<br />
„Ich werde Miri zum Schloss bringen“, schnaubte er. „Ich kenne den<br />
Weg.“<br />
Nachdenklich nickte die Wächterin. „Aber denk daran, dass du das<br />
Schloss auf keinen Fall betreten darfst“, ermahnte sie den Hengst.<br />
„Das Schwert des Lichts ist bereits in der Hand dieser alten Hexe.<br />
Wenn sie dich auch noch in ihre Gewalt bringt, gibt es niemand, der<br />
sie noch daran hindern könnte, Tore zu öffnen, die besser geschlossen<br />
bleiben.“<br />
Der Schimmel schnaubte zustimmend.<br />
„Ruht euch noch ein paar Stunden aus“, schlug die Wächterin vor.<br />
„Ich wecke euch, wenn der Mond hoch genug steht, um euch den<br />
Weg zu leuchten.“<br />
117
Vierzehntes Kapitel<br />
Miri wusste nicht, wo sie war, als sie aus dem sonderbaren Traum<br />
allmählich in die Realität zurückkehrte. Das Bett knisterte unter ihren<br />
Bewegungen und roch nach Getreide. Eine Decke lag kratzig und<br />
schwer auf ihrer Wange, jemand rüttelte an ihrer Schulter.<br />
„Aufstehen!“, kommandierte eine Frauenstimme. „Euer Weg ist weit,<br />
und die Nacht dauert nicht ewig.“<br />
Im Schein einer Stalllaterne blickte Miri in ein Gesicht, das ihr<br />
gleichzeitig fremd und sehr vertraut vorkam. <strong>Die</strong> Augen waren <strong>von</strong><br />
feinen Fältchen umkränzt, aber sie hatten dieselbe Farbe wie ihre.<br />
Der linke Mundwinkel zog sich beim Lächeln etwas nach unten und<br />
ein silberdurchwirkter Zopf lag über der linken Schulter der Frau. So<br />
könnte sie in zwanzig Jahren aussehen. Miri tastete nach ihrem Zopf,<br />
um zu prüfen, ob sie ihn neu flechten musste, doch ihre Hand griff ins<br />
Leere. Im Traum hatte sie ihn einem Pferd geschenkt.<br />
„Wo bin ich?“ Wie ein Stehaufmännchen schoss Miri hoch. „Und was<br />
ist passiert?“ Plötzlich fiel ihr ein, dass sie Wildnisassistentin werden<br />
wollte. „Habe ich meine Prüfung bestanden?“<br />
„<strong>Die</strong> schwerste Prüfung liegt noch vor dir.“<br />
<strong>Die</strong> Frau drückte Miri eine hölzerne Schale und einen Löffel in die<br />
Hand.<br />
„Iss, solange es noch warm ist.“<br />
Der Geruch trieb Miri das Wasser im Mund zusammen, vorsichtig<br />
kostete sie den Eintopf. Sellerie, Lauch, Möhren und Kartoffeln,<br />
stellte sie fest, aber die faserig-zähen Streifen konnte sie nicht<br />
identifizieren. „Was ist da drin?“<br />
118
„Gemüse und Lamm“, antwortete die Frau. „Ich vermute allerdings,<br />
dass dieses Lamm schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte. Es ist<br />
immer noch nicht weich. Ich hoffe, man kann es essen.“<br />
„Lamm?“ Entsetzt starrte Miri in die Suppenschale.<br />
„Oder Hammel. Lass es einfach…“<br />
Im hohen Bogen spuckte Miri den Brocken ins Stroh.<br />
„So übel ist es wirklich nicht“, meinte die Frau achselzuckend.<br />
„Aber es ist Fleisch <strong>von</strong> einem echten Tier“, entgegnete Miri. Voller<br />
Ekel schüttelte sie sich.<br />
„Dort wo sie herkommt, werden nur Bakterien gegessen.“ Das Pferd<br />
konnte tatsächlich reden.<br />
„Wir essen keine Bakterien“, erwiderte Miri. „Wir essen Proteine, die<br />
<strong>von</strong> Bakterienkulturen erzeugt werden, anstatt Tiere zu töten. Das ist<br />
nämlich barbarisch.“<br />
„Dann lass das Fleisch übrig.“ Grundsatzerklärungen schienen die<br />
Frau nicht zu beeindrucken.<br />
Nach dem Essen waren Miri und Sturmtänzer aufgebrochen. <strong>Die</strong><br />
Kriegerin hatte sie bis zu dem Pfad begleitet, der in die Schlucht<br />
hinabführte, dann war sie zu ihrer Hütte zurückgekehrt.<br />
In Miris Welt gab es zwischen dem Waldrand und den steinigen<br />
Ausläufern der Hügel einen Graben, der höchstens zwei Meter tief<br />
war. Manchmal wurde er durch optische Tricks und Projektionen in<br />
eine tiefe Schlucht verwandelt, die ein Klient überqueren musste. Auf<br />
den ersten Blick sah dieser Ort der Stelle mit dem Graben zum<br />
119
Verwechseln ähnlich. Allerdings schien es hier tatsächlich eine<br />
Schlucht zu geben, in der sich ein Mensch oder Pferd zu Tode stürzen<br />
konnte. Sturmtänzer und Miri kletterten seit geraumer Zeit über<br />
steinige Wege und Schotterhalden steil bergab.<br />
Der Mond stand direkt über ihnen, als sie den Boden der Schlucht<br />
erreichten. In seinem Licht sah das enge Tal wie verzaubert aus. Der<br />
Bach, der unter einem Felsen hervorquoll, war so klar, dass Miri<br />
zwischen den Steinen Fische erkennen konnte, die reglos in der<br />
Strömung standen. Moosbedeckte Felsen und dicke Farnpolster<br />
luden zur Rast ein, doch Miri wollte lieber gleich weitergehen.<br />
„Ich weiß nicht, wie lange wir noch Licht haben.“ Der Mond hatte den<br />
höchsten Punkt seiner Bahn bereits überschritten. „Der Auf-stieg<br />
wird sowieso kein Zuckerschlecken.“<br />
„Ich will nur ein bisschen grasen“, entgegnete das Pferd. „So etwas<br />
Köstliches ist mir lange nicht mehr vor die Nüstern gekommen und<br />
das Wasser musst du unbedingt probieren.“<br />
Miri schöpfte einen Schluck Wasser. Obwohl der elektro-magnetische<br />
Schutzschild der Wildniskuppel den Bach gereinigt haben musste,<br />
konnte sie sich kaum dazu überwinden, Wasser zu trinken, das über<br />
den offenen Boden geflossen war.<br />
„Na los“, ermunterte sie der Hengst. „Glaubst du, ich wollte dich<br />
vergiften?“<br />
Vorsichtig leckte Miri ein paar Tropfen <strong>von</strong> ihrer Hand. Das Wasser<br />
schmeckte nach Erde und Felsen. Gierig schöpfte sie mehr da<strong>von</strong>, um<br />
den brennenden Durst zu löschen, den sie vorher gar nicht bemerkt<br />
hatte.<br />
„Wir sollten weitergehen“, seufzte sie.<br />
120
Sturmtänzer sah nicht so aus, als hätte er ihr zuhört. Er hatte seine<br />
Nase ins Gras getaucht und rupfte einen Busch nach dem anderen ab.<br />
Miri zupfte einen zarten Halm aus dem Grasbüschel zu ihren Füßen.<br />
Skeptisch schnupperte sie an dem winzigen Tropfen, der sich an dem<br />
Riss bildete. Er roch nach einem Sommertag unter freiem Himmel in<br />
einer Welt, die keinen kranken Boden und keinen giftigen Regen<br />
kannte.<br />
„Wir müssen weiter“, stellte sie fest, doch es klang selbst in ihren<br />
Ohren nicht überzeugend.<br />
„Lass uns warten, bis sich die Wolken verzogen haben“, erwiderte<br />
Sturmtänzer. „Wir brauchen mehr Licht. Sonst ist es in diesem<br />
Steilhang zu gefährlich.“<br />
„Wolken?“ Ungläubig blickte Miri zu dem schmalen Streifen Himmel,<br />
den sie vom Grund der Schlucht sehen konnten. Der Nachtwind<br />
wehte gerade einen Wolkenschleier über die Mond-scheibe und<br />
dann noch einen. Immer dichter drängten sich die Wolkenschafe aus<br />
den Liedern ihrer Kindheit auf der Himmels-weide zusammen. Mit<br />
einem Seufzer der Resignation ließ sie sich auf ein dickes, weiches<br />
Farnpolster fallen.<br />
Schlaf, Kindlein, schlaf, sang der Wind.<br />
Brambabam, brambabam. Miri lauschte dem vertrauten Rhythmus<br />
im Herzschlag der Erde. Eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei,<br />
klackerten die Steine im Bach dazu.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Kraft?“<br />
Miri konnte ihre eigene Stimme im Plätschern des Wassers und im<br />
Wehen des Windes hören. Ein schmerzliches Sehnen zerrte an der<br />
Leichtigkeit ihres Traums.<br />
121
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Kraft?“,<br />
hörte sie sich singen.<br />
Es ist nicht weiter als eine Armlänge <strong>von</strong> dir entfernt, flüsterte die<br />
Stimme der Hüterin durch ihren Traum. Du musst dich nur danach<br />
ausstrecken. Es ist deine Magie.<br />
„Hör den Trommelruf, hör den Klang. Folg ich dem Zaubersang?<br />
Trommellied, folg ich der Sehnsucht? Hab ich den Mut?“<br />
In ihrem Traum verwandelte sich Miri in eine sternenweiße Stute.<br />
„Ich hab’s geschafft!“ Mit einem triumphierenden Wiehern bäumte<br />
sie sich auf und ihr neuer Körper machte wilde Bocksprünge.<br />
„Hoho“, brummelte es neben ihr. „Immer langsam mit den jungen<br />
Pferden.“ Eine warme Schnauze berührte ihre Schulter und prustete<br />
sachte in ihre Mähne. „Hübsch siehst du aus. Deine Mähne<br />
schimmert wie Silber und dein Schweif … - Woah!“ Sturmtänzer<br />
wieherte tief und kehlig. „Hast du einen schönen Hintern.“ Er legte<br />
seinen Hals leicht über ihren Rücken und zwickte ihr spielerisch in die<br />
Kruppe.<br />
Mit einem erschrockenen Quietschen keilte Miri nach ihm aus, und<br />
als ihre Hufe wieder den Boden berührten, nahm der Pferdeleib ohne<br />
ihr Zutun den Rhythmus der Erdtrommel auf.<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Herbstwind? Ruft sie den Sturm?<br />
Im Takt des magischen Liedes zog sich ihr Körper zusammen wie eine<br />
Feder, ihre Hinterhufe griffen an den Vorderbeinen vorbei und<br />
trommelte den Rhythmus in die Erde: Padab! Dann streckte sich der<br />
Körper wieder, ihre Vorderhufe lösten sich vom Boden und griffen<br />
weit aus, als wollten sie den Wind einfangen. Sie preschte über den<br />
weichen Boden einer Wiese<br />
122
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Herbstwind? Ruft sie den Sturm?<br />
Brampadab, brampadab. Immer schneller galoppierte Miri durch das<br />
Land ihrer Sehnsucht. <strong>Die</strong> frühlingsgrüne Wiese blieb hinter ihr<br />
zurück. Brampadab. Durch einen feuerfarbenen Herbstwald und über<br />
schneebedeckte Hänge.<br />
Hör den Trommelruf, hör den Klang. Muskel- und Knochensang.<br />
Trommellied, singt in der Seele, braust durch das Blut.<br />
Miri erwachte erst, als ein kalter Wind über ihren Nacken strich. Sie<br />
wollte ihre Decke höher ziehen, aber es gab keine Decke. Ihre Finger<br />
tasteten nicht über ein Laken, sondern über Blätter, die nach<br />
Sommer und Erde dufteten.<br />
„Wo …?“<br />
Feuchtwarmer Atem streifte ihr Ohr. „<strong>Die</strong> Wolken sind weg. Wir<br />
können weiter.“ Ein riesiger Schädel näherte sich ihrem Gesicht.<br />
„Habe ich geschlafen?“ Erschrocken fuhr Miri hoch. „Der Turm! <strong>Die</strong><br />
Kriegerin hat gesagt, dass wir ihn vor Sonnenaufgang erreichen<br />
müssen. Wie sollen wir das schaffen?“<br />
„Du hast nur ein paar Minuten geträumt. Schau doch.“ Er blickte zum<br />
Himmel. „Der Mond steht noch immer über uns, und wenn wir uns<br />
beeilen, sind wir so schnell wie der Wind an deinem Turm. Ich hoffe,<br />
du hast nicht vergessen, wie es geht.“<br />
„Vergessen? Was sollte ich denn vergessen haben.“<br />
„Dass du dich in ein Pferd verwandeln kannst.“<br />
„Ein Pferd?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie soll das denn gehen.“<br />
123
„Wie es geht, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass du es kannst. Du<br />
hast da<strong>von</strong> geträumt.“<br />
„Woher weißt du das?“, wunderte sich Miri.<br />
„Hast du oder hast nicht?“<br />
„Ach, im Traum kann ich alles mögliche“, seufzte Miri. „Aber in<br />
Wirklichkeit …“<br />
„Das kommt auf deine Wirklichkeit an“, widersprach der Hengst.<br />
„Wenn du dir im Traum einen Pferdekörper vorstellen kannst, kannst<br />
du das auch in der Wirklichkeit.“<br />
„Ich kann mir eine ganze Menge vorstellen. Aber…“<br />
„Darum geht es doch.“ Sturmtänzer stampfte auf den Boden. „Was<br />
glaubst du denn, was Magie ist? Hokuspokus? Tränke, Sprüche oder<br />
Zauberstabfuchteleien? Magie ist das, was du dir in einem Traum<br />
ausmalen und mit der Kraft deines Willens wahr machen kannst.“<br />
„Wenn es so einfach wäre …“ Miri blickte zu dem steilen Pfad hinauf.<br />
Sturmtänzer konnte sie unmöglich auf seinem Rücken dort<br />
hinaufschleppen. Wenn sie einen Pferdekörper hätte … - Sie wagte es<br />
nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.<br />
„Und wenn es tatsächlich so einfach wäre?“, brummelte der Hengst.<br />
„Lass es doch auf einem Versuch ankommen.“ Spielerisch schnappte<br />
er nach ihrer Schulter. „Komm, wir laufen um die Wette. Solange du<br />
trübsinnig herumstehst, klappt es bestimmt nicht.“<br />
Miri hatte noch nie mit einem Pferd Nachlaufen gespielt.<br />
„Halt dich in meiner Mähne fest, damit du Schritt halten kannst.“<br />
124
Sie grub ihre Finger tief in die goldenen Strähnen. Sturmtänzers<br />
Begeisterung zog sie einfach mit. Sie fühlte sich beinahe schwere-los,<br />
als sie Seite an Seite über dem Bach setzten.<br />
Brambabam, brambabam. Seine Hufe trommelten das magische Lied<br />
wach. Eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei patschten ihre Füße<br />
neben ihm her.<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Kraft?<br />
Ihr Lachen erinnerte sie an die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit.<br />
Alles war damals möglich gewesen. In der Welt ihrer Kinderträume<br />
gab es keine Grenzen<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Zauber? Ruft sie die Kraft?<br />
Sie rannten schneller und immer schneller.<br />
Hör den Trommelruf, hör den Klang. Folge auf den Zaubersang.<br />
Zauberkind, folg deiner Sehnsucht. Trau deinem Mut.<br />
Ihr Rücken zog sich zusammen wie eine Feder, kräftige Beine schoben<br />
sich tief unter ihren Schwerpunkt, ihre Vorderhufe griffen weit aus<br />
und fanden sicheren Halt in dem brüchigen Gestein. Weiter und<br />
immer weiter. Mühelos trug sie ihr neuer Körper über eine<br />
Geröllhalde zu einem steilen Pfad.<br />
125
Fünfzehntes Kapitel<br />
Sturmtänzer galoppierte voraus und Miri musste sich sputen, um den<br />
Anschluss nicht zu verlieren. Leichtfüßig wie Gämsen er-klommen sie<br />
einen Steilhang, Seite an Seite fegten sie über eine Geröllhalde, und<br />
ihre Hufe schienen den unsicheren Boden kaum zu berühren. Erst als<br />
Miri wieder auf ebener Erde stand, wagte sie es, darüber<br />
nachzudenken, was passiert war.<br />
„Bin ich wirklich …“, stotterte sie.<br />
„Willst du es nicht endlich glauben?“ Sturmtänzer versetzte ihr einen<br />
freundschaftlichen Nasenstüber. „Wir sind oben. Was für Beweise<br />
brauchst du denn noch?“<br />
„Vielleicht muss ich mich nur daran gewöhnen.“ Mit einem verlegenen<br />
Lächeln wollte Miri die Schultern hochziehen, stattdessen<br />
wandte ihr Körper den beweglichen Hals nach hinten und kratzte mit<br />
klappernden Zähnen das Fell auf ihre Kruppe.<br />
„Muss ich jetzt für immer ein Pferd bleiben?“, wollte Miri wissen, und<br />
Sturmtänzer antwortete mit einem Schnauben, das in ihren Ohren<br />
wie ein Seufzen klang.<br />
„Bedauerlicherweise kannst kein Pferd bleiben. Sobald du die Gestalt<br />
fallen lässt, bist du wieder ein Mensch.“<br />
Miri wollte gar nicht wissen, was sie tun musste, um eine Gestalt<br />
fallen zu lassen. Sie hatte keine Lust schon wieder Mensch zu sein.<br />
„Wo müssen wir denn hin?“, fragte sie stattdessen, und ihre Hufe<br />
fingen fast ohne ihr Zutun an, auf der Stelle zu traben.<br />
„Da.“ Sturmtänzer deutete mit dem Kopf zu dem Turm, den Miri auch<br />
aus ihrer Welt kannte. Hier stand er hinter einer Mauer mit hohen<br />
126
Zinnen und Schießscharten. Vielleicht war das Gemäuer einmal eine<br />
stolze Burg gewesen. Jetzt sah es trostlos und ver-lassen aus. Das Tor<br />
war geschlossen, an den Fahnenmasten wehten keine Banner und<br />
aus den Kaminen stieg kein Rauch auf.<br />
„Sieht so aus, als ob niemand zuhause wäre“, stellte Miri fest.<br />
„Vermutlich ist die Hausherrin lieber allein.“ Der Hengst schnaubte<br />
verächtlich. „Ihre <strong>Die</strong>ner und Hausmädchen sind alle weggelaufen.“<br />
„Ich kann nicht einmal einen Wächter sehen.“<br />
„Siehst du hier etwas, das man bewachen müsste?“<br />
Auf den Felsen wuchsen weder Büsche noch Bäume. Vielleicht lag es<br />
am Mondlicht, dass Miri zwischen Staub und Steinen nicht das<br />
kleinste bisschen Grün entdecken konnte.<br />
„Es sieht trostlos aus“, stellt sie fest.<br />
„Früher war es ein grünes Land. Doch mit der dunklen Königin ist ein<br />
Fluch eingezogen.“<br />
„Brrr!“ Miri schüttelte sich. „Was für ein ungemütlicher Ort. Komm,<br />
lass uns erledigen, was getan werden muss, damit wir hier wieder<br />
fortkommen.“<br />
„Wir haben noch Zeit“, brummelte der Hengst. „Kurz vor Sonnenaufgang<br />
wird die dunkle Königin das Schloss verlassen, um rechtzeitig<br />
an der Brücke zu sein. Wenn sie weg ist, gehst du rein,<br />
erkundigst dich nach dieser Magierin, lässt dir das andere Tor zeigen<br />
und gehst in deine Welt zurück.“<br />
„Und was wird aus dir?“, wollte Miri wissen.<br />
127
„Ach …“ Der Hengst scheuerte seine Schnauze am rechten<br />
Vorderbein. „Wenn du wieder zu Hause bist, gehe ich in die Berge<br />
zurück. Da oben wird mich die alte Hexe kaum suchen, und wenn sie<br />
mich sucht, wird sie mich nicht finden.“<br />
„Das will ich nicht“, Miri stampfte mit dem Huf auf die trockene Erde.<br />
„Entweder wir reisen gemeinsam in meine Welt oder wir bleiben<br />
beide hier.“<br />
„Das ist nicht möglich“, schnaubte Sturmtänzer. „Du hast doch<br />
gehört, was die Kriegerin gesagt hat.“<br />
„Sie hat gesagt, dass ich das magische Schwert des Lichts brauche,<br />
um dich in meine Welt mitzunehmen. Und das Schwert ist da drin.“<br />
Miri schnickte mit dem Kopf zu dem düsteren Gemäuer hinüber.<br />
„Vergiss es.“ Der Hengst schüttelte den Kopf. „Es hat die dunkle<br />
Königin viel Mühe gekostet, dieses Schwert in ihre Gewalt zu bringen.<br />
Sie wird es sicher nicht freiwillig herausgeben.“<br />
„Hat sie es immer bei sich?“<br />
„Nein, sie lässt es im Schloss. Ich habe gehört, dass es <strong>von</strong> einem<br />
steinernen Wächter bewacht wird.“<br />
„Meinst du, der ist gefährlicher als dieser schwarze Ritter?“<br />
„Bestimmt. Bisher hat keiner diesen Krieger je gesehen. Oder die, die<br />
ihn gesehen haben, sind nicht zurückgekehrt, um <strong>von</strong> ihm zu<br />
berichten.“<br />
„Hm …“<br />
„Es geht nicht“, wiederholte der Hengst. „Wir machen es so, wie es<br />
die Wächterin gesagt hat. Wenn die alte Hexe das Schloss verlässt,<br />
gehst du hinein, lässt dir das Tor zeigen und ver…“<br />
128
„Wie komme ich ungesehen in das Schloss?“, unterbrach sie ihn.<br />
„Wenn die dunkle Königin weg ist, kannst du ein…“<br />
„Nicht erst, wenn sie weg ist“, schnaubte Miri. „Jetzt.“<br />
„Miri, das ist…“<br />
„… meine Prüfung“, beendete sie den Satz an seiner Stelle.<br />
„Du bist verrückt.“ Der Hengst schüttelte den Kopf, als müsste er eine<br />
Fliege verscheuchen. „Komm. Ich zeig dir, wie es gehen kann.“<br />
Sie verließen die Straße und folgten einem vielfach gewundenen<br />
Pfad, der in die Hügel hinaufführte. Im flotten Galopp ging es über<br />
eine ebene Fläche, die aussah, als wäre sie früher eine Wiese oder<br />
ein Acker gewesen. Jetzt war alles trocken, der Wind hatte jeden<br />
Krümel fruchtbare Erde da<strong>von</strong>getragen und nur die Steine zurückgelassen.<br />
„Hinter dem Schloss gibt es einen Garten“, erklärte Sturmtänzer. „Für<br />
einen Menschen ist die Mauer unüberwindlich, aber in diesem<br />
Körper kannst du einfach darüber springen.“<br />
Als sie einen kleineren Hügel umrundet hatten, erkannte Miri, dass<br />
sie sich dem Schloss <strong>von</strong> hinten näherten.<br />
„Ist das der Garten?“ Auf den ersten Blick sah es aus wie ein weiteres<br />
Schotterfeld, das an drei Seiten <strong>von</strong> einer hüfthohen Mauer<br />
eingefasst war. Erst als sie genauer hinsah, erkannte sie darin größere<br />
Steine, die mit Moos überzogen waren. In ihrem Schatten wuchsen<br />
bleiche Pilze und vor der gegenüberliegenden Mauer standen hohe<br />
Gewächse mit weißen Blüten. Mitten in dem sonderbaren Garten<br />
stand eine Bank und unter einem knorrigen alten Baum gab es einen<br />
129
Brunnen. Vielleicht hatte der Fluch, <strong>von</strong> dem Sturmtänzer<br />
gesprochen hatte, den Baum verdorren lassen. Den fremdartigen<br />
Pflanzen schien er jedenfalls nichts anhaben zu können Sie strotzten<br />
vor Kraft und reckten sich dem Mondlicht entgegen.<br />
„Es ist der Kräutergarten der dunklen Königin“, sagte Sturmtänzer.<br />
„Ich will gar nicht wissen, was sie da alles gepflanzt hat.“<br />
„Ich weiß nicht, ob ich über die Mauer springen kann.“ Miri starrte<br />
mit geblähten Nüstern zu dem Garten hinüber. „Vielleicht sollte ich<br />
besser als Mensch hinüberklettern. <strong>Die</strong> Ranken sehen so aus …“<br />
„<strong>Die</strong>se Mistdinger darfst du auf keinen Fall berühren.“ Der Hengst<br />
zog die Oberlippe hoch, als wäre ihm ein schlechter Geruch in die<br />
Nüstern gestiegen. „Wenn die dich erwischen, kann dich keiner<br />
retten. Sie halten dich fest, überwuchern dich und brechen dir<br />
sämtliche Knochen. Wenn du Glück hast, ersticken sie dich vorher.“<br />
„Oh!“ Unwillkürlich trat Miri einen Schritt zurück. „Und du meinst<br />
wirklich…“<br />
„Nein“, sagte Sturmtänzer, bevor sie den Satz zu Ende bringen<br />
konnte. „Ich meine, dass du warten solltest, bis die Hexe fort ist.“<br />
Miri schnaubte unwirsch. „Weißt du was?“ Sie fixierte die Mauer.<br />
„Ich versuche es einfach. Ich habe in den letzten vierundzwanzig<br />
Stunden schon schwierigere Aufgaben gelöst.“<br />
„Dann los!“<br />
Miri wieherte erschrocken, als ihr der Hengst in die Kruppe biss. Mit<br />
wirbelnden Hufen donnerte sie geradewegs auf die Mauer zu, doch je<br />
näher sie kam, desto höher und klotziger schien das Hindernis vor ihr<br />
aufzuragen.<br />
„Du schaffst das“, wieherte Sturmtänzer, so laut er konnte. „Spring!“<br />
130
Miris Pferdekörper zog sich zusammen und konzentrierte seine ganze<br />
Kraft auf eine winzige Stelle zwischen ihren Hufen. Sie richtete sich<br />
auf, zog ihre Vorderbeine eng an die Brust und schnellte in die Höhe.<br />
Im weiten Bogen flog sie über die Mauer. Erst im letzten Moment<br />
dachte sie daran, dass sie die Vorderbeine ausstrecken musste, um<br />
sicher zu landen. Trockene Erde und Steine spritzten unter ihren<br />
Hufen da<strong>von</strong>, als sie die Hinterbeine untersetzte. Dabei stolperte sie,<br />
und sie wäre wohl gestürzt, wenn nicht der alte Apfelbaum dort<br />
gestanden hätte. Miri griff nach einem der Äste, um sich abfangen<br />
und …<br />
Abfangen? Sie hatte tatsächlich wieder Hände. Sie war wieder ein<br />
Mensch.<br />
Schwer atmend lehnte sich Miri gegen den verdorrten Stamm. Jetzt<br />
musste sie nur noch ins Schloss gelangen, das Zauberschwert finden,<br />
ein Ungeheuer besiegen, die unrechtmäßige Königin zum Teufel<br />
jagen und das Land <strong>von</strong> ihrem Fluch erlösen, bevor alle glücklich und<br />
zufrieden sein würden.<br />
„Und wenn sie nicht gestorben sind …“ Miri kicherte. Was für eine<br />
abgefahrene Geschichte! Es kam ihr schon fast natürlicher vor, an<br />
Magie zu glauben, als über die technischen Tricks nachzudenken, die<br />
ihr das Gefühl gaben, in einem Pferdekörper durch Schluchten und<br />
über Schotterhalden zu galoppieren.<br />
Obwohl der Mond schon so tief stand, dass ein Teil des Gartens im<br />
Schatten der Schlossmauer lag, erkannte Miri eine schmale,<br />
vergitterte Pforte. Vermutlich würde sie durch diese Tür in das<br />
nächtliche Schloss gelangen. Sie wollte schon hinübereilen, als sie ein<br />
metallisches Quietschen hörte. Rasch duckte sich Miri hinter den<br />
Brunnen. Aus ihrem Versteck beobachtete sie, wie die Tür<br />
aufschwang. Jemand betrat den Garten. A die Gestalt den Schatten<br />
131
der Schlossmauer verließ, erkannte Miri, dass es ein Mann war.<br />
Schulterlange, schüttere Haare hingen wirr um seinen Kopf, seine<br />
dünnen Beine steckten in einer zweifarbigen Hose, und ein Hemd mit<br />
132
unten Zipfeln spannte über seinem Bauch. Suchend blickte er sich<br />
um. Er kam ein paar Schritte auf Miri zu, starrte angestrengt über die<br />
Mauer, wandte sich kopfschüttelnd ab und stapfte zu dem toten<br />
Apfelbaum. Ächzend ließ er sich auf die Bank plumpsen, die unter<br />
seinem Gewicht bedrohlich knarrte.„Ich sollte mit dem Trinken<br />
aufhören“, sagte er leise. „Selbst das dünne Bier, das neuerdings auf<br />
dem Gesindetisch steht, bekommt mir nicht mehr.“ Er tätschelte<br />
einen Ast, mit dem sich der Baum auf die Bank zu stützen schien.<br />
„Weißt du, was ich da draußen gesehen habe?“ Er schüttelte noch<br />
einmal den Kopf, als könne er es selbst nicht glauben. „Ein Einhorn.<br />
Ehrlich. Ich hab nicht schlafen können und bin auf der Mauer<br />
spazieren gegangen. Da hab ich es auf dem Hügel stehen sehen.<br />
Zuerst hab ich gedacht, ich hätte mich getäuscht. Wenn der Vollmond<br />
auf die Steine scheint, sehen sie manchmal wie eine feindliche Armee<br />
aus. Warum sollten sie nicht auch einmal wie ein Einhorn aussehen.<br />
Aber dann hat es sich bewegt. Ich habe gesehen, wie es über die<br />
Mauer gesprungen ist. Und jetzt ist es weg.“ Sanft strich er über das<br />
tote Holz. „Nach all den Jahren ist die Hoffnung noch immer nicht<br />
tot.“<br />
Miri kauerte reglos hinter dem Brunnen. Ihr rechter Fuß war<br />
eingeschlafen, aber sie wagte es nicht, ihn zu bewegen. Wenn der<br />
Mann sie entdeckte, würde er sicher Alarm schlagen. Oder er würde<br />
ihr helfen. Sie musste das Risiko eingehen.<br />
„Sie haben sich das nicht eingebildet“, flüsterte Miri aus ihrem<br />
Versteck. „Das war zwar kein Einhorn, sondern nur ein Pferd. Aber es<br />
ist wirklich in den Garten gesprungen.“<br />
Erschrocken fuhr der Mann herum.<br />
„Ich muss aufhören zu trinken“, murmelte er. „Und ich muss mir<br />
abgewöhnen, mit Dingen zu reden, die mir eigentlich nicht antworten<br />
können.“<br />
133
„Es tut mir leid.“ Miri richtete sich langsam auf. „Ich wollte Ihnen<br />
keine Angst einjagen.“<br />
„Wer bist du?“ Der Mann starrte sie ungläubig an. „Und wie bist du<br />
hier hereingekommen?“<br />
„Ich, ähm …“ Miri versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln, aber<br />
es fühlte sich nicht ganz richtig an. „Über die Mauer.“<br />
„Das ist nicht möglich“, antwortete der Mann. Dabei sah er so aus, als<br />
wäre es nur noch eine Frage <strong>von</strong> Sekunden, bevor er die Wachen<br />
rufen würde.<br />
„Ich war das Pferd, das Sie gesehen haben. Ich kann …“, verlegen zog<br />
sie die Schultern hoch. „Na ja, diesmal ist es mir gelungen, aber ich<br />
weiß nicht, ob ich das immer kann.“<br />
„Bist du eine Magierin?“, wollte der Mann wissen.<br />
„Ich weiß nicht. Dort, wo ich herkomme, ist das alles anders.“<br />
„Bist du hier, um die dunkle Königin herauszufordern?“<br />
„Sie will meinen Freund einfangen. Eigentlich ist er nur ein Pferd,<br />
aber er kann reden und ich habe ihm versprochen …“ Sie wusste<br />
beim besten Willen nicht, wie sie erklären sollte, dass sie nur ein<br />
kostbares Schwert stehlen und mit Sturmtänzer in eine Welt fliehen<br />
wollte, in der er vor dem Zugriff der dunklen Königin sicher war. „<strong>Die</strong><br />
Kriegerin sagt, dass es hier eine Magierin gibt, die mir weiterhelfen<br />
kann.“<br />
„Eine Magierin?“ Der Mann schnaufte verächtlich. „Außer den hohen<br />
Herrschaften, meiner Lächerlichkeit und der alten Köchin gibt es hier<br />
niemanden. Angeblich versteht sie etwas <strong>von</strong> den magischen<br />
Künsten, aber das wirkt sich leider nicht auf die Qualität des Essens<br />
und noch viel weniger auf das Bier aus.“<br />
134
„Können Sie mich bitte trotzdem zu ihr führen?“<br />
„Wenn du meinst.“ Er zog die Schultern hoch. „Aber sei leise. Wenn<br />
uns die dunkle Königin erwischt, ist es um dich und vermutlich auch<br />
um mich geschehen.“<br />
135
Sechzehntes Kapitel<br />
Der Mann führte Miri in einen überdachten Gang, der zum Innen-hof<br />
der Burg offen war. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein<br />
zweigeschossiges Wohnhaus, das sich mit der Giebelwand gegen die<br />
Burgmauer lehnte, als wäre es im Lauf der Zeit müde geworden. Der<br />
Turm, den es auch in ihrer Welt gab, schien das Haus <strong>von</strong> der<br />
anderen Seite zu stützen. Von ihrer Warte konnte Miri nicht<br />
erkennen, ob es eine Verbindung zwischen den Gebäuden gab oder<br />
ob sie nur dicht nebeneinanderstanden.<br />
Obwohl Sturmtänzer gesagt hatte, dass die Bediensteten da<strong>von</strong>gelaufen<br />
waren, wunderte sich Miri, dass nicht wenigstens ein<br />
Wächter am Tor oder auf den Zinnen stand.<br />
„Wohnt hier überhaupt noch jemand?“, wollte Miri wissen.<br />
„Pst!“ Beschwörend legte der Mann den Zeigefinger an seine Lippen.<br />
„Sie wohnt ganz allein in diesem Schloss. <strong>Die</strong> Küchenhexe und ich<br />
zählen nicht. Höchstens noch der Ritter. Wenn er da ist, wohnt er<br />
natürlich auch hier.“ Er deutete auf die Gebäude, die wie riesige<br />
Bauklötze in dem mondlosen Hof lagen.<br />
„Sie?“ Miri schüttelte irritiert den Kopf. „Meinen Sie damit die dunkle<br />
Königin?“<br />
„Pst!“ zischte er noch einmal. „Innerhalb dieser Mauern vermeiden<br />
wir es, ihren Namen zu nennen. Es ist nicht klug, ihre Aufmerksamkeit<br />
zu erregen. Komm schnell.“ Der alte Mann hastete da<strong>von</strong>.<br />
Miri wollte ihm folgen, doch als sie aus dem dunklen Kreuzgang in<br />
den Burghof trat, fauchte ein eisiger Windstoß um eine Ecke und<br />
136
jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Erschrocken blieb sie<br />
stehen.<br />
„Mach schon“, flüsterte ihr Führer. „Beeil dich!“ Er wedelte mit den<br />
Armen.<br />
Miri holte noch einmal tief Luft und eilte mit langen Schritten über<br />
den Hof. <strong>Die</strong> Eule, die hoch über der Burg ihre einsamen Kreise zog,<br />
bemerkte sie erst, als sie ihren Schrei hörte. Eine lähmende Kälte<br />
fuhr Miri in die Glieder, ihr Atem stockte und ihr Körper schien sich in<br />
einen Stein zu verwandeln. Mit einer Kraft, die sie dem alten Mann<br />
nicht zugetraut hätte, packte dieser ihr Hand-gelenk und zerrte sie in<br />
den Turm, der in dieser Welt nichts weiter als ein Treppenhaus zu<br />
sein schien. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, konnte<br />
Miri wieder Atem schöpfen.<br />
„Ich hab dir doch gesagt, dass du dich beeilen sollst“, schimpfte der<br />
Mann. „Jetzt weiß sie, dass du da bist.“<br />
Weiter oben hörte Miri eine Tür klappen.<br />
„Schnell.“ Der Mann drängte sie in einen dunklen Gang. „Ganz hinten<br />
geht es hinunter in den Weinkeller. Vielleicht ...“<br />
Energische Schritte näherten sich dem Treppenhaus.<br />
„Zu spät“, zischte der Mann. „Versteck dich da.“ Er schob sie in eine<br />
Nische hinter der Tür und zog einen schweren, staubigen Vor-hang<br />
vor ihrer Nase zu.<br />
„Wo schleichst du mitten in der Nacht herum?“ <strong>Die</strong> eisige Frauenstimme<br />
jagte Miri einen Schauer über den Rücken. „Bist du auf dem<br />
Weg in den Weinkeller?“<br />
„Ich, ähm …“ Der Vorhang beulte sich Miri entgegen, als der Mann<br />
einen Schritt zurückwich. „Ich flehe Euch an, werte Herrin, ver-zeiht<br />
137
einem alten Narren, der des Nachts nur noch wenig Schlaf findet. Ich,<br />
ähm. Ja.“<br />
„Du bist wirklich ein Narr.“ <strong>Die</strong> Frauenstimme lachte freudlos. „Sonst<br />
wüsstest du, dass die Fässer da unten längst leer sind.“<br />
„Wie Ihr befehlt, Herrin.“<br />
<strong>Die</strong> Beule knapp über Miris Knie ließ vermuten, dass sich der Mann<br />
verbeugte.<br />
„Mit wem hast du geschwatzt?“, wollte die dunkle Königin wissen.<br />
„Ich, ähm …“ Der Mann räusperte sich umständlich. „Mit<br />
niemandem. Manchmal rede ich mit mir selbst.“<br />
Schweigen.<br />
„Wie Ihr bereits gesagt habt. Ich bin alt und närrisch.“<br />
„Und wo ist das Mädchen?“<br />
„Welches Mädchen?“, keuchte der Mann.<br />
„Willst du mich für dumm verkaufen?“<br />
Erschrocken trat er noch einen weiteren Schritt zurück und landete<br />
dabei auf Miris Fuß. <strong>Die</strong> musste sich auf die Zunge beißen, um nicht<br />
laut aufzuschreien.<br />
„Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie du in den Garten<br />
gegangen bist“, fuhr die dunkle Königin fort. „Wenig später bist du<br />
zurückgekommen. Du warst nicht allein.“<br />
„Ich, ähm …“, stotterte der Mann. „Es muss an diesem verflixten<br />
Mond liegen. Ich dachte sogar, ich hätte ein Einhorn gesehen.“<br />
138
„Und?“<br />
„Nichts.“<br />
„Wie bedauerlich“, seufzte die dunkle Königin. „Es wäre zu schön<br />
gewesen, wenn wir das Pferd und das Mädchen nicht nur in unseren<br />
Träumen gesehen hätten.“<br />
„Glaubt Ihr, dass das Mädchen, <strong>von</strong> dem Ihr geträumt habt, die Erbin<br />
unseres verstorbenen Herrn und Königs ist?“<br />
„Vielleicht ist sie es. Vielleicht auch nicht“, erwiderte die Frau. „Ich<br />
würde sie so oder so gerne kennenlernen. Immerhin war sie mächtig<br />
genug, das Windpferd wach zu singen und dumm genug, es mir zu<br />
stehlen.“<br />
„Wenn sie der letzte Spross des alten Stammes ist, könnte sie den<br />
Fluch lösen, der auf diesem Land liegt“, überlegte der Narr.<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin lachte grimmig. „Glaubst du denn, sie könnte dem<br />
steinernen Wächter das magische Schwert entreißen? Niemals“,<br />
beantwortete sie ihre Frage selbst. „Aber wenn es mir gelingt, das<br />
Mädchen zu töten, werden sich das Schwert und das Windpferd nicht<br />
länger meinen Wünschen widersetzen. Ihr Tod macht mich zur<br />
rechtmäßigen Herrscherin und gibt mir die Macht, dieses Land <strong>von</strong><br />
dem Fluch zu erlösen.“<br />
Erst als der muffige Geruch des Vorhangs bereits an ihren Gaumen<br />
klebte, merkte Miri, dass sie den Worten der Hexe mit offenem<br />
Mund gelauscht hatte.<br />
„Glaubt Ihr, es könnte jemals wieder so wie früher sein?“<br />
„Oh ja. <strong>Die</strong>ses Land wird wieder erblühen, und die zahllosen Gäste<br />
werden unseren Hof als einen Hort der Kunst und Kultur preisen. <strong>Die</strong><br />
besten Musikanten und Dichter werden ihre Kunst vortragen und du<br />
139
wirst nicht länger in einem zerschlissenen Kittel uralten Possen<br />
hinterherjagen. Dein Narrenkleid wird mit deinen geist-reichen<br />
Scherzen und klugen Pointen um die Wette strahlen.“<br />
„Und das könnte alles durch den Tod eines gewöhnlichen Mädchens<br />
aus einer fremden Welt …“<br />
„Nein, so einfach ist es nicht. Ein hirnloser Akt der Grausamkeit kann<br />
den Fluch nicht lösen. Wir dürfen kein unschuldiges Blut ver-gießen.<br />
Wir müssen sicher sein, dass sie wirklich der letzte Spross des<br />
verdorrten Baumes ist.“<br />
„Und wie können wir uns in dieser Frage Gewissheit verschaffen?“<br />
Ein gallenbitterer Geschmack stieg in Miris Kehle hoch. <strong>Die</strong> alte Hexe<br />
wollte sie ermorden und der Hofnarr würde sie für ein vages<br />
Versprechen verraten. Miri tastete die Wand nach einem Flucht-weg<br />
ab, aber ihre Finger fanden nur einen Haken aus Metall, der vielleicht<br />
den Vorhang zusammenhalten sollte, wenn der Flur ge-lüftet wurde.<br />
Vorsichtig versuchte sie, den Haken zu lockern, er ließ sich tatsächlich<br />
bewegen. Wenn es ihr gelingen würde, dieses Ding aus der Wand zu<br />
drehen, hätte sie eine Waffe. Dann müsste sie nur noch mit lautem<br />
Gebrüll aus ihrem Versteck hervorstürmen und die dunkle Königin als<br />
Geisel nehmen. Niemand würde es wagen, ihr dann noch etwas<br />
zuleide zu tun.<br />
„Ich weiß es nicht“, entgegnete die Hexe mit einem kummervollen<br />
Seufzen. „Hast du sie in der Begleitung des Windpferdes gesehen?<br />
Oder hast du vielleicht sogar gehört, dass sie mit ihm spricht?“<br />
„Nein Herrin. Aber ich habe gesehen, dass sie …“ Der Narr senkte<br />
seine Stimme. Ohne ein Wort zu verstehen, wusste Miri, dass die<br />
beiden einen teuflischen Plan ausheckten. Ihr Herz schlug wie eine<br />
Trommel und hinter dem dicken Vorhang war es plötzlich heiß.<br />
140
„Dann ist sie es bestimmt und sie glaubt tatsächlich ...“ <strong>Die</strong> Hexe<br />
kicherte hämisch.<br />
Miri musste etwas tun. Angreifen oder wegrennen. Jetzt. Sofort. Aber<br />
ihre Beine waren wie gelähmt und ihre Knie so weich wie Pudding.<br />
„Sie ahnt nichts <strong>von</strong> der Gefahr, in der sie schwebt“, entgegnete der<br />
Narr. „Sie vertraut mir vollkommen. Wenn Ihr wollt, kann ich Euch<br />
auf der Stelle zu ihr führen.“<br />
Miri ertappte sich bei den Gedanken, dass sie einfach ohnmächtig<br />
werden wollte. Spätestens dann mussten Ben und Lorenz dieses<br />
verflixte Programm stoppen. Bevor sie die Idee in die Tat um-setzen<br />
konnte, hörte sie, wie sich die Schritte des alten Mannes entfernten.<br />
<strong>Die</strong> Frau folgte ihm.<br />
„Warte“, schallte die Stimme der Frau durch das Treppenhaus. „Hier<br />
muss irgendwo ein magisches Halfter hängen, das selbst das wildeste<br />
Pferd gefügig macht. Wenn ich das finde, wird sie uns weder in dieser<br />
noch in ihrer natürlichen Gestalt Ärger machen. Ah, da.“<br />
Als die Eingangstür hinter der dunklen Königin und ihrem Narren<br />
zuschlug, stolperte Miri hinter dem Vorhang hervor. Fast hätte sie<br />
laut gelacht und einen Freudentanz aufgeführt. Aber dafür war keine<br />
Zeit. Sie musste die Küche finden und die Magierin, die ihr sagen<br />
konnte, wie sie das magische Schwert an sich bringen konnte, das ihr<br />
und Sturmtänzer den Weg in ihre Welt öffnen würde.<br />
141
Siebzehntes Kapitel<br />
Plötzlich öffnete sich direkt neben Miri eine Tür.<br />
„Hier rein“, wisperte eine Frauenstimme. Der Duft <strong>von</strong> ofen-frischem<br />
Brot schwappte Miri entgegen und hinter der stämmigen Gestalt<br />
erkannte sie einen offenen Kamin, in dem noch Feuer brannte.<br />
„Ich muss …“<br />
Bevor Miri ihren Satz beenden konnte, hatte die Frau sie in die Küche<br />
gezogen und die Tür hinter ihr geschlossen.<br />
„<strong>Die</strong> Königin und der Hofnarr…“<br />
„Ich weiß“, unterbrach die Frau ihre Erklärung. „Er hat sie in den<br />
Garten gelockt. Gute Idee. Das verschafft uns immerhin genug Zeit,<br />
damit wir ein sicheres Versteck für dich finden können.“<br />
Miri sah sich ratlos in der Küche um. Der Tisch mit seinen zwei<br />
Bänken, der offene Kamin und die Gestelle mit blank gescheuerten<br />
Töpfen und Pfannen waren ungeeignet, um sie vor den Blicken der<br />
blutrünstigen Hexe zu verbergen. „Hier kann ich mich nirgends verstecken.“<br />
<strong>Die</strong> niedrige Tür neben dem einzigen Fenster führte vermutlich<br />
in eine Vorratskammer, aber auch dort wäre sie nicht lange<br />
sicher. „Können Sie mir zeigen, wie ich in den Keller komme?“<br />
<strong>Die</strong> Frau schüttelte den Kopf. „<strong>Die</strong> Thronräuberin weiß schon, dass<br />
sie betrogen wurde. Sie ist auf dem Weg hierher.“<br />
„Schnell, zeigen Sie mir, wo der Keller ist.“<br />
„Setz dich da hin und sei still. Ich muss einen Moment nachdenken.“<br />
„Aber…“<br />
142
„Still jetzt!“ <strong>Die</strong> Frau mit der fleckigen Schürze über dem form-losen<br />
Kleid strahlte eine Autorität aus, die es unmöglich machte, zu<br />
widersprechen. „Ich muss mich konzentrieren.“<br />
Miri hörte, wie die Eingangstür ins Schloss geschlagen wurde.<br />
„Oh ja, so könnte es gehen.“ <strong>Die</strong> korpulente Frau fixierte Miri mit der<br />
strengen Miene einer Mathelehrerin. „Du kannst dich verwandeln,<br />
nicht wahr?“<br />
„Ich, ähm …“ Ratlos schüttelte Miri den Kopf. „Ich weiß nicht.“<br />
„Schnell: Kannst du dich in ein Tier verwandeln oder kannst du es<br />
nicht?“<br />
„Vorhin war ich ein Pferd. Aber …“<br />
„Gut.“ <strong>Die</strong> Frau nickte zufrieden. „<strong>Die</strong>smal muss es etwas Kleineres<br />
sein. Ein Pferd in der Küche würde auffallen.“<br />
„Ich weiß doch gar nicht, wie …“<br />
„Ich helfe dir dabei. Kannst du dir ein kleines, unauffälliges Tier<br />
vorstellen? Eine Maus.“<br />
Miri nickte. Eine frühere Freundin hatte zwei Mäuse gehabt und die<br />
Mädchen hatten Stunden vor dem Terrarium zugebracht und den<br />
putzigen Tieren beim Scharren, Knabbern, Klettern, Rennen und<br />
Spielen zugesehen. Miri erinnerte sich genau an die riesigen, schwarz<br />
glänzenden Augen und die zuckenden Barthaare. Selbst die<br />
beweglichen Pfötchen, die eine Nuss oder ein Stück Brot blitz-schnell<br />
hin und her drehten, konnte sie vor ihrem geistigen Auge sehen.<br />
Unter dem säuerlichen Brotgeruch erschnupperte Miri etwas Wildes,<br />
Scheues. <strong>Die</strong> Hand der Magierin berührte sie zwischen den<br />
Schulterblättern. Ihr Körper krümmte sich und der hölzerne Tisch<br />
143
wurde immer größer. „Wehr dich nicht dagegen“, raunte ihr die Frau<br />
ins Ohr.<br />
Der Fußboden schien Miri entgegenzustürzen. Mit einer gedankenschnellen<br />
Drehung brachte sie alle vier Pfoten nach unten, eine<br />
geschmeidige Bewegung, die wie eine Welle durch ihren Rücken und<br />
den beweglichen Schwanz rollte, federte sie die Landung ab. Harte<br />
144
Schritte näherten sich der Tür. Miri zuckte erschrocken zusammen,<br />
doch bevor sie sich mit einem gewagten Satz auf das Wandbord mit<br />
den Tellern retten konnte, fühlte sie sich <strong>von</strong> einer festen Hand<br />
gepackt und hochgehoben.<br />
„So geht es auch.“ <strong>Die</strong> Frau setzte Miri auf ihren Schoß und strich ihr<br />
mit gleichmäßigen Bewegungen über Kopf und Rücken. Ein Brummen<br />
wie <strong>von</strong> einem kleinen Motor übertönte alle anderen Geräusche und<br />
Miri stellte verwundert fest, dass es aus ihrer Kehle kam.<br />
Im nächsten Augenblick wurde die Tür so schwungvoll aufgerissen,<br />
dass sie gegen die Wand bollerte.<br />
„Wo ist das Mädchen?“<br />
Aus ihrer Perspektive sah Miri die schlanke, hochgewachsene Frau in<br />
dem engen, weißen Kleid nur bis zur Hüfte. Über dem dünnen Kleid<br />
trug sie einen Mantel in den Farben des Nachthimmels und ihre<br />
Haare, die bis über ihre Taille offen herabhingen, waren so schwarz<br />
wie das Gefieder einer Krähe.<br />
„Welches Mädchen?“ <strong>Die</strong> Neugier in der Stimme der Köchin klang<br />
nicht ganz echt.<br />
„Willst du mich für dumm verkaufen?“<br />
„Das würde ich nie wagen. Wenn ich mich nicht irre, habt ihr ge-rade<br />
mit unserem Hofnarren im Garten nach dem Mädchen gesucht. Habt<br />
ihr sie da draußen nicht gefunden?“<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin schnaubte zornig. „Angeblich ist sie in der Gestalt<br />
einer weißen Stute über die Mauer gesprungen und unter dem<br />
verdorrten, alten Baum wollte sie auf ihn warten. Ich habe sogar das<br />
magische Halfter mit hinausgenommen, um dieses Pferdchen zu<br />
zähmen. Aber als wir in den Garten kamen, war keins mehr da.“<br />
145
„Es wird nie da gewesen sein. Ihr wisst doch, wie sehr dieser alte Narr<br />
dem Alkohol zugetan ist. Wenn dann noch das Mondlicht in den<br />
Garten fällt, sieht er allerhand, was außer ihm keiner sehen kann. Am<br />
nächsten Morgen erzählt er dann die abenteuerlichsten<br />
Geschichten.“<br />
„<strong>Die</strong> meisten Geschichten haben einen wahren Kern.“ Misstrauisch<br />
sah sich die Frau in der Küche um. Dabei streifte ihr Blick die Katze<br />
auf dem Schoß der Köchin. „Was ist das für ein Tier?“ Ihre Augen<br />
funkelten wie die Kohlen im Herdfeuer.<br />
Miri spürte, wie sich die Haare an ihrem Schwanz aufrichteten.<br />
„Eine Katze“, antwortete die andere Frau achselzuckend. „Sie sorgt<br />
dafür, dass die Mäuse in der Küche und der Vorratskammer nicht<br />
überhandnehmen.“<br />
„Und warum sehe ich sie heute zum ersten Mal?“<br />
„Ihr bemüht Euch nur selten zu mir in die Küche herunter“, entgegnete<br />
die Magierin mit der Andeutung einer Verbeugung.<br />
„Wie redest du eigentlich mit mir?“ <strong>Die</strong> schwarze Königin machte<br />
eine Handbewegung als wolle sie eine Fliege verscheuchen. <strong>Die</strong> Geste<br />
verwandelte sich in einen Knall, und plötzlich tropfte Blut auf Miris<br />
Pfote herab. Mit einem erschrockenen Fauchen sprang sie auf den<br />
Boden und in das Fach neben der Feuerstelle, wo das Brennholz<br />
gestapelt war.<br />
„Verzeiht mir, Herrin“, sagte die Frau. „Es wird nicht wieder<br />
vorkommen.“ Eine blutige Schramme zog sich über ihre rechte<br />
Wange.<br />
„Ich habe keine Zeit, noch länger Gespenster zu jagen“, entgegnete<br />
die Dame kühl. „Ich werde morgen früh vor Sonnenaufgang an der<br />
146
Brücke erwartet. Vielleicht sollte ich dich sicherheitshalber zu dem<br />
Narren ins Verlies sperren, damit keiner <strong>von</strong> euch auf dumme<br />
Gedanken kommt.“<br />
Miri machte sich ganz klein, damit die dunkle Königin nicht auf die<br />
Idee kommen sollte, sie auch mit einzusperren. Aber die schien es<br />
sich sowieso schon anders überlegt zu haben und rauschte hinaus.<br />
Mit einem ohrenbetäubenden Knall fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.<br />
„Alte Hexe“, zischte die Köchin. Sie spuckte in ihre Hand und wischte<br />
über die Schramme. Unter dem Blut war ihre Haut unversehrt. „Was<br />
du kannst, kann ich schon lange.“<br />
Miris Körper wollte sich wieder aufrichten. Hastig kletterte sie aus<br />
dem Holzfach, bevor er seine gewohnte Gestalt und seine normale<br />
Größe annehmen konnte.<br />
„Wie haben Sie das gemacht?“ Miri klopfte sich den Staub und die<br />
Holzspäne <strong>von</strong> den Hosen.<br />
„Ich?“ Lachend schüttelte die Magierin den Kopf. „Ich habe nichts<br />
gemacht. Ich habe dir nur meine Kraft geliehen. Verwandlungen sind<br />
anstrengend.“<br />
„Ich meine den Kratzer in Ihrem Gesicht?“<br />
„Bei so einer Schramme ist Hexenspeichel die beste Medizin.“<br />
<strong>Die</strong>ses Thema wollte Miri lieber nicht vertiefen. „Meinen Sie, die<br />
dunkle Königin hat den alten Mann tatsächlich eingesperrt?“, erkundigte<br />
sie sich stattdessen.<br />
„Willst du nachsehen?“ <strong>Die</strong> Augen in dem runden Gesicht blitzten<br />
vergnügt. „Ich kann dir erklären, wo das Verlies ist, und wo dieses<br />
Weib den Schlüssel aufbewahrt. Du wartest, bis sie ins Bett ge-<br />
147
gangen ist, schleichst in ihr Schlafzimmer, holst den Schlüssel und<br />
lässt den Narren frei. Das wäre eine wunderbare Geschichte.“<br />
Verwirrt schüttelte Miri den Kopf. „Dazu bin ich aber nicht hergekommen.“<br />
„Und warum bist du hier?“<br />
„<strong>Die</strong> Kriegerin hat mich geschickt“, erinnerte sich Miri. „Ich soll Sie<br />
nach dem zweiten Tor zu meiner Welt und nach dem magischen<br />
Schwert fragen.“<br />
<strong>Die</strong> Magierin legte ihre Stirn in skeptische Falten. „Hat sie das wirklich<br />
gesagt?“<br />
„Fast“, Miri lächelte entschuldigend. „Sie hat gesagt, dass Sie mir<br />
zeigen können, wo das Tor ist, durch das ich in meine Welt zurückkehren<br />
kann. Wenn Sie mir außerdem noch helfen, das leuchtende<br />
Schwert zu finden, kann ich Sturmtänzer mitnehmen.“<br />
„Du willst die dunkle Königin herausfordern?“ <strong>Die</strong> Frau starrte sie<br />
fassungslos an.<br />
„Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.“ Mit einem verlegenen Lachen<br />
zog Miri die Schultern hoch. „Ich habe gehört, dass das Schwert hier<br />
im Schloss versteckt ist. Vielleicht könnte ich es …“<br />
„Stehlen?“, beendete die Magierin den Satz an ihrer Stelle.<br />
Miri spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Ich, ähm … - Ich<br />
kann Sturmtänzer nur mit in meine Welt nehmen, wenn ich das<br />
Schwert habe. Wenn ich ihn hierlasse, fängt ihn die dunkle Königin,<br />
und wenn sie zu ihrem magischen Schwert noch ein magisches Pferd<br />
hat, kann sie <strong>von</strong> einer Welt in die andere reisen.“<br />
148
„Das Schwert des Lichts und das Windpferd sind mächtige<br />
Verbündete. Glaubst du, dass du mit dieser Macht verantwortungsvoller<br />
umgehen würdest als die dunkle Königin?“<br />
Miri schnaubte empört. „Zwischen mir und ihr gibt es hoffentlich<br />
Unterschiede.“<br />
„Als sie zum ersten Mal hier herkam, war sie dir sehr ähnlich.“ <strong>Die</strong><br />
Magierin musterte Miri nachdenklich. „Aber das ist lange her und du<br />
bist ja nicht hier, um dir <strong>von</strong> einer alten Frau alte Geschichten<br />
erzählen zu lassen. Wenn ich dir helfen soll, musst du mir beweisen,<br />
dass du meiner Hilfe würdig bist.“<br />
„Wie soll ich Ihnen das beweisen?“, fragte Miri ungeduldig.<br />
„Hast du die Kraft, den verdorrten Baum zu neuem Leben zu erwecken?“<br />
<strong>Die</strong> Magierin stand auf und ging zum Kamin. „Da!“ Sie<br />
streckte Miri einen dürren Zweig entgegen.<br />
„Was soll ich denn damit?“<br />
„Er stammt <strong>von</strong> dem Apfelbaum im Garten. Wer diesen Zweig zum<br />
Blühen bringt, kann auch den Fluch lösen, der auf dem Land lastet.“<br />
Miri hatte keine Ahnung, wie sie einen Zweig erblühen lassen sollte,<br />
dessen Knospen schon lange verdorrt waren. Selbst die Rinde fühlte<br />
sich trocken und leblos an. Wenn sie wirklich eine Magierin wäre,<br />
müsste sie sich einfach nur vorstellen, wie das tote Holz <strong>von</strong> neuem<br />
Leben durchströmt wurde. Der Duft des Frühlings würde plötzlich<br />
durch die Küche wehen und das Unmögliche wahr werden. Während<br />
sie den Zweig in ihren Fingern hin und her drehte, füllten sich die<br />
harten Knospen mit neuer Hoffnung. Winzige Harztropfen quollen<br />
zwischen den Schuppen hervor und die Spitzen färbten sich grün.<br />
Miri gab den Zweig zurück, als sich die erste Blüte öffnete.<br />
149
„Du bist so schön.“ Zärtlich liebkoste die Frau die durchscheinen-den<br />
Blütenblätter. „Du bist ein Versprechen, das sich vielleicht nie erfüllt.<br />
Aber der Anfang ist gemacht und die meisten Wunder sind am<br />
Anfang so klein, dass man sie fast übersieht.“ Verstohlen wischte die<br />
Magierin eine Träne fort, sie räusperte sich und wandte sich wieder<br />
Miri zu. „Ich weiß nicht viel über das Schwert. Aber ich kann dir den<br />
Weg zum Turm der weisen Alten zeigen. Wenn sie dir nicht raten<br />
kann, gibt es in dieser Welt keinen Rat für dich.“<br />
150
Achtzehntes Kapitel<br />
Miri hatte die Stufen nicht mitgezählt. Erst als sie merkte, dass sie mit<br />
bleischweren Füßen die Wendeltreppe hinaufkeuchte, fiel ihr auf,<br />
dass sie längst oben sein müsste. Das Wohnhaus war zwei oder drei<br />
Stockwerke hoch und der Turm ein oder zwei Etagen höher. Wenn sie<br />
in ihrer Schule die fünf Stockwerke bis zum Physiksaal hinaufrannte,<br />
war sie nie so außer Atem wie jetzt.<br />
Mit puddingweichen Knien blieb sie stehen. Seit sie durch das Loch<br />
im Boden in diese sonderbare Welt gefallen war, fühlte sich Miri zum<br />
ersten Mal völlig ratlos. Es ging weder vorwärts noch zurück, und es<br />
war niemand da, den sie fragen konnte. Am liebsten hätte sie sich auf<br />
die kalten Stufen gehockt und geheult. Stattdessen ballte sie ihre<br />
Hand zur Faust und versetzte der Wand einen Hieb.<br />
„Ach, pienz dich doch ins Koma!“ Ihre Stimme hallte wie in einem<br />
Brunnenschacht. „Solange du genug Luft hast, um rumzuflennen,<br />
hast du auch genügend Luft zum Weiterlaufen. Los jetzt!“ Mit zusammengebissenen<br />
Zähnen stapfte sie weiter.<br />
„Bald bin ich oben“, sprach sie sich keuchend Mut zu. Angestrengt<br />
starrte sie auf die nächste Stufe. „Ich kann nämlich zaubern und ich<br />
weiß, dass es nur noch zwölf Schritte sind. Elf, zehn, neun …“<br />
Obwohl Miri jede Stufe mitgezählt hatte, wäre sie fast gegen die Tür<br />
gelaufen, die ihr den Weg versperrte. Das Holz war so dunkel, dass es<br />
beinahe schwarz aussah, den steinernen Türrahmen ver-zierte ein<br />
Band aus verschlungen Zeichen, und es gab keine Klinke. Sie hob die<br />
Hand und wollte klopfen. Doch bevor sie das Türblatt berührte, hielt<br />
sie erschrocken inne. Das Holz hatte sich vor ihren Augen bewegt.<br />
Nicht wie ein Vorhang, der im Wind wehte, oder eine schlechte<br />
Holografie. Es kräuselte sich wie die Oberfläche eines Sees oder die<br />
151
Haut eines Tieres, das vor einer Berührung zurückschreckte. Verwirrt<br />
schüttelte Miri den Kopf. Vielleicht war es nur ein Schatten gewesen.<br />
Sie hob die Hand, diesmal sah sie ge-nau hin. Tatsächlich! <strong>Die</strong> feinen<br />
schwarzen Linien der Maserung zogen sich dichter zusammen. und<br />
die helleren Spiegel dazwischen blitzten kurz auf, als sich die hölzerne<br />
Oberfläche kräuselte. Was für eine abgefahrene Geschichte! Statt<br />
ihrer Seminarunterlagen hätte sie lieber Märchenbücher lesen sollen,<br />
um sich auf die Prüfung vorzubereiten. Vielleicht hätte sie dort einen<br />
Hinweis gefunden, wie sie sich einer lebendigen Tür zu erkennen<br />
geben musste. Miri strich mit einem Finger behutsam über das Holz.<br />
Es war warm und gab unter dem leichten Druck nach. Wie Haut, die<br />
gleichzeitig fest und nachgiebig war, zitterte es unter ihrer Berührung.<br />
Vielleicht war die Tür kitzlig. Mit sanftem Druck legte Miri<br />
ihre Handfläche auf das Türblatt, das Zittern hörte auf.<br />
„Ich bin Miriel“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich habe mich verlaufen<br />
und suche jemanden, der mir den Heimweg zeigen kann.“<br />
Nichts rührte sich.<br />
„Ich brauche Hilfe. Bitte. Ich suche ein magisches Schwert, um<br />
Sturmtänzer vor der dunklen Königin in Sicherheit zu bringen. <strong>Die</strong><br />
Magierin sagt, dass ich hier oben eine weise alte Frau finde, die mir<br />
verraten kann, wo ich dieses verflixte Schwert finde.“<br />
Keine Reaktion.<br />
„Eigentlich ist das nur meine Abschlussprüfung“, versuchte sie es<br />
noch einmal. „Aber die Hexe da unten will mich umbringen, und ich<br />
will nicht sterben. Selbst wenn es nur in einer Geschichte ist.“<br />
<strong>Die</strong> Tür rührte sich nicht.<br />
„Bitte.“ Tränen überfluteten die Staumauer ihrer Selbstbeherrschung.<br />
„Lass mich doch bitte ein.“<br />
152
Lautlos schwang die Tür zurück und gab den Blick in ein sonnendurchflutetes<br />
Zimmer frei. Nach dem Halbdunkel im Treppenhaus<br />
war Miri beinahe blind und stand wie erstarrt auf der Schwelle.<br />
„Hallo Miri. Schön, dass du endlich da bist.“ <strong>Die</strong> Stimme aus dem<br />
Zentrum des Lichts klang weder jung noch alt und erinnerte Miri an<br />
eine Geborgenheit, die sie nie erlebt hatte. „Komm und setzt dich zu<br />
mir. Ich habe lange auf dich gewartet.“<br />
„Wer sind Sie?“ Als sich Miris Augen an die Helligkeit gewöhnt<br />
hatten, erkannte sie die Umrisse eines Sessels vor einem hohen<br />
Fenster. Eine Frau in einem schmucklosen, grauen Kleid saß darin.<br />
„Ich habe so viele Namen, dass es auf einen mehr nicht ankommt.<br />
Wie möchtest du mich denn nennen?“ Im gleißenden Licht konnte<br />
Miri das gütige Lächeln in dem runzligen Gesicht nur erahnen.<br />
„Großmutter“, platzte es aus Miri heraus. Als Kind hatte sie sich eine<br />
Großmutter gewünscht, die mehr Zeit mit ihr verbrachte, als die<br />
reiselustige Mutter ihrer Mutter. <strong>Die</strong> Umrisse des Sessels verschwammen<br />
im Licht eines Regenbogens, als Miri die Tränen fortblinzelte.<br />
„Einverstanden. Das ist ein guter Name. Dann bin ich jetzt deine<br />
Großmutter.“<br />
Eine Wolke verdunkelte die Sonne, und jetzt konnte Miri die Frau in<br />
dem Ohrenbackensessel genau erkennen. Ihre weißen Haare waren<br />
zu einem Knoten geschlungen, und die Falten rings um die<br />
hellwachen Augen erinnerten Miri an einen Winterapfel.<br />
„Darf ich dich etwas fragen, Großmutter?“<br />
„Dazu bist du doch hergekommen.“<br />
153
„Ja schon, aber …“ Miri knabberte an der Unterlippe. Sie durfte nicht<br />
vergessen, dass auch die Märchengroßmutter zu ihrer Prüfung<br />
gehörte. „Wie viele Fragen habe ich überhaupt?“<br />
„Ist das ein Rätsel?“ <strong>Die</strong> alte Frau kicherte vergnügt. „Nach allem, was<br />
dir schon begegnet ist, vermute ich, dass du mehr Fragen als Haare<br />
auf dem Kopf hast.“<br />
Verlegen tastete Miri nach den spärlichen Resten des Zopfes.<br />
„Welche ist denn deine wichtigste Frage?“, erkundigte sich die<br />
Großmutter.<br />
„Wie komme ich wieder in meine Welt zurück?“<br />
„Das ist ganz einfach. Du musst nur warten, bis sich das magische Tor<br />
zwischen dem alten Apfelbaum und dem Brunnen öffnet. Wenn du es<br />
im Augenblick des Sonnenaufgangs durchschreitest, kommst du<br />
sofort nach Hause.“<br />
„Aber ich will Sturmtänzer mitnehmen.“<br />
„Das Windpferd ist ein Geschöpf dieser Welt. Du kannst ihn nicht<br />
einfach mitnehmen.“<br />
„Er ist mein Freund und er fürchtet sich vor der dunklen Königin.“<br />
„Er hat schon hier gelebt, bevor diese Mauern errichtet wurden. Er ist<br />
der Sohn der Erde und des Windes. Niemand kann ihn halten, wenn<br />
er nicht bleiben will, und niemand könnte ihm je seinen Willen<br />
aufzwingen. Ich bin sicher, er kann sehr gut auf sich selbst aufpassen.“<br />
„Hm …“ <strong>Die</strong> Antwort gefiel Miri nicht. In ihren Träumen hatte sie am<br />
liebsten auf dem Rücken eines Pferdes die unberührte Natur eines<br />
fernen, fremden Landes durchstreift. Inzwischen hatte sie sich damit<br />
154
abgefunden, dass es in ihrer Welt keine Pferde gab, aber jetzt, wo sie<br />
Sturmtänzer kennengelernt hatte, wollte sie ihn nicht mehr<br />
hergeben.<br />
„Kann ich dann einfach hierbleiben“, überlegte sie laut.<br />
„Nein.“ <strong>Die</strong> Großmutter schüttelte entschieden den Kopf. „Du kannst<br />
kommen und dich <strong>von</strong> der Mühe des Lebens erholen oder deine<br />
Freunde besuchen. Du findest hier in schwierigen Zeiten Rat oder<br />
Inspiration, um eine große Herausforderung zu bestehen. Aber dein<br />
Leben findet in deiner Welt statt. Zu uns kannst du nur zurückkehren,<br />
wenn du uns vorher verlässt.“<br />
„Hm …“ <strong>Die</strong>se Antwort gefiel Miri auch nicht besser, aber sie ahnte,<br />
dass die alte Frau Recht hatte. Um nicht weiter darüber nachdenken<br />
zu müssen, wechselte sie das Thema. „<strong>Die</strong> Kriegerin hat gesagt, dass<br />
es hier ein Zauberschwert gibt, das die Macht hat, Sturmtänzer in<br />
meine Welt zu bringen. Und die Magierin hat ge-sagt, dass du mir<br />
verraten kannst, wo ich dieses Schwert finde.“<br />
„Ach Miri“, seufzte die Großmutter. „<strong>Die</strong>ses Schwert ist sehr mächtig.<br />
Wer über seine Magie und über die Schnelligkeit des Windpferdes<br />
gebietet, kann alle Pforten öffnen, die die Welten <strong>von</strong>einander<br />
trennen. Es wäre aber erheblich klüger, wenn diese magischen Tore<br />
verschlossen blieben.“<br />
„Und wenn ich verspreche, dass ich das Schwert nur dieses eine Mal<br />
benutze, um Sturmtänzer und mich vor der dunklen Königin in<br />
Sicherheit zu bringen.“<br />
„Dann würde ich dich fragen, woher du weißt, dass er in deiner Welt<br />
sicher ist.“<br />
Miri zog die Schultern hoch. „Ich glaube nicht, dass sie uns folgen<br />
kann. Wenn diese garstige Hexe das Windpferd nicht bräuchte, um in<br />
155
eine andere Welt zu kommen, wäre sie doch nicht hinter ihm her wie<br />
der Teufel hinter einer armen Seele.“<br />
<strong>Die</strong> Großmutter lachte, dass ihr Tränen über die Wangen rollten. „Es<br />
ist nett, mit dir zu plaudern, aber wir sollten dabei nicht die Zeit aus<br />
den Augen verlieren. Wenn die Sonne am Himmel steht, kannst du<br />
diese Welt weder allein noch mit deinem vierbeinigen Freund<br />
verlassen.“<br />
„Wo finde ich das magische Schwert?“, wollte Miri wissen.<br />
„Willst du es wirklich riskieren?“<br />
Miri nickte entschlossen.<br />
„Selbst wenn ich dir sage, dass es gefährlich ist, soviel Macht in den<br />
Händen zu halten?“<br />
„Ich werde kein dummes Zeug damit machen“, versprach Miri.<br />
„Ich weiß, dass du das Schwert des Lichts niemals zwingen wirst,<br />
deinem Ehrgeiz oder Stolz zu dienen.“ <strong>Die</strong> alte Frau seufzte. „Aber<br />
was wirst du tun, wenn denen, die dir lieb und teuer sind, Gefahr<br />
droht?“<br />
„Was meinst du damit?“ Ungeduldig schüttelte Miri den Kopf. „Wenn<br />
du willst, schwöre ich dir bei meiner Se…“<br />
„Nein!“ Mit einer herrischen Geste unterbrach die Großmutter Miris<br />
Rede. „Du darfst keinen Eid leisten, den du ohnehin brechen musst,<br />
wenn die Zeit dazu gekommen ist. Egal, welchen Weg du wählst, du<br />
gehst mit meinem Segen. Wenn sich das Schwert des Lichts <strong>von</strong> dir<br />
finden lässt, wird es dir auch sagen, was zu tun ist. Und wenn du<br />
genau hinhörst …“<br />
156
„Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich diesmal ganz genau<br />
zuhören werde.“<br />
„Es steht unter den Schutz eines mächtigen Wesens. Sobald du<br />
danach greifst, fällst du unter ein Gesetz, das älter ist als die<br />
Erinnerungen der Menschheit.“<br />
„Was für ein Gesetz ist das?“ Ungeduldig trat Miri <strong>von</strong> einem Fuß auf<br />
den anderen.<br />
„Wer zur Waffe greift, muss bereit sein, zu töten oder zu sterben.“<br />
„Na ja …“ Miri versuchte es mit einem zuversichtlichen Lächeln, aber<br />
sie war nicht sicher, ob es einigermaßen glaubwürdig ausfiel. „Ich<br />
hoffe, es wird nicht ganz so dramatisch.“<br />
<strong>Die</strong> Großmutter betrachtete sie lange. „Geh den Weg zurück, den du<br />
gekommen bist“, sagte sie. „Auf der einhundertvierundvierzig-sten<br />
Stufe befindet sich eine Tür, die sich öffnet, wenn du dich als Freund<br />
zu erkennen gibst und das Losungswort in der Sprache des schönen<br />
Volkes aussprichst. <strong>Die</strong> Tür führt dich an den Gemächern der dunklen<br />
Königin vorbei in den Thronsaal, wo das Schwert aufbe-wahrt wird.“<br />
„Danke, Großmutter.“ Miri wirbelte herum und war schon fast an der<br />
Tür, als sie noch einmal innehielt. „Leb wohl“, sagte sie feier-lich.<br />
„Wenn ich jemals hierher zurückfinde, erzähle ich dir, wie die<br />
Geschichte ausgegangen ist.“<br />
„Ach Miri.“ Schmunzelnd schüttelte die alte Frau den Kopf. „Geh und<br />
mach das Beste aus deiner Geschichte. Du bist jung und du denkst<br />
vermutlich erst wieder an mich, wenn du das nächste Mal meinst,<br />
dass es weder vorwärts noch zurückgeht.“<br />
„Versprochen, ich komme bestimmt gelegentlich wieder vorbei.“<br />
157
Lächelnd wiegte die Großmutter ihren Kopf hin und her. „Vergiss<br />
nicht, dass Helden nicht immer nur mutig, sondern manchmal auch<br />
klug handeln müssen, um siegreich aus einer Prüfung hervorzugehen.“<br />
158
Neunzehntes Kapitel<br />
„Hundertachtunddreißig, hundertneununddreißig …“ Miri zählte ihre<br />
Schritte gewissenhaft. „Hundertdreiundvierzig, hundertvierundvierzig.“<br />
Jetzt musste sie nur noch das richtige Wort aussprechen, um<br />
die magische Tür erscheinen zu lassen.<br />
„Ich muss mich als Freund zu erkennen geben und das Losungswort<br />
in der Sprache des schönen Volkes sagen“, murmelte sie. „Das<br />
schöne Volk sind die Elben und ihre Sprache ist Sindarin.“ Miri kannte<br />
die Bücher über den Ringkrieg. <strong>Die</strong> Geschichte hatte ihr so gut<br />
gefallen, dass sie sogar versucht hatte, die Elbensprache zu lernen.<br />
Nach den ersten Lektionen hatte sie das schwierige Unter-fangen<br />
jedoch wieder aufgegeben, und jetzt erinnerte sie sich nur noch an<br />
eine Handvoll Wörter.<br />
„Ein Rätsel“, erinnerte sie sich plötzlich. An der Pforte <strong>von</strong> Moria<br />
musste der Zauberer nur das elbische Wort für „Freund“ aussprechen,<br />
um das magische Tor zu öffnen. „Es ist Mellon. Mellon<br />
bedeutet ‚Freund‘.“<br />
Miri trat einen Schritt zurück und betrachtete die Wand. „Mellon“,<br />
sagte sie leise und dann noch einmal laut und gebieterisch: „Mellon!“<br />
Zuerst geschah nichts. Dann kam es ihr plötzlich so vor, als würde der<br />
Kalkputz schmelzen wie Zuckerguss. <strong>Die</strong> Steine, aus denen der Turm<br />
erbaut war, wurden sichtbar und durch die Fugen schien das Licht<br />
einer Kerze oder Fackel in das dämmrige Treppenhaus.<br />
„Mellon. Mellon!“ Miri wiederholte das Wort so oft, bis sie den Raum<br />
mit dem steinernen Sitz und den brennenden Fackeln völlig klar<br />
sehen konnte.<br />
159
„Mellon", flüsterte Miri noch einmal. Dann holte sie tief Luft, schloss<br />
die Augen und trat mit zwei raschen Schritten durch die Wand. Sie<br />
hatte es tatsächlich geschafft! Vor Begeisterung wäre ihr fast ein<br />
Jauchzer entschlüpft, aber in Gedanken rief sie sich energisch zur<br />
Ordnung.<br />
„Wenn du das Schwert hast, kannst du immer noch den Sekt<br />
kaltstellen“, murmelte sie.<br />
„Du erstaunst mich immer wieder.“<br />
Miri wirbelte erschrocken herum.<br />
Ein Schatten tauchte aus der Türnische auf und verwandelte sich in<br />
die hochgewachsene Frau mit den langen, schwarzen Haaren. „Du<br />
hast den Weg in die Turmstube gefunden und der weisen Alten das<br />
Geheimnis dieses Raums entlockt. Respekt.“ Mit einem schmalen<br />
Lächeln hob die dunkle Königin die Hände zum Applaus. „Jetzt bist du<br />
zurückgekommen und willst mich bestehlen. Passt das zu deinem Bild<br />
einer edlen Heldin?“<br />
Miri sah sich nach einem Fluchtweg um. Wo sie eben durch die magische<br />
Öffnung gegangen war, stand sie jetzt vor einer massiven,<br />
steinernen Wand. Links <strong>von</strong> ihr war die zweiflügelige Tür, wo die<br />
dunkle Königin auf sie gewartet hatte. Auf der anderen Seite erkannte<br />
sie zwei Fenster, einen Thron und eine Statue, die im<br />
flackernden Licht der Fackeln beinahe lebendig aussah. Sie war<br />
größer und breiter als ein gewöhnlicher Mensch. Ihre Beine waren<br />
gekrümmt als hätten sie Mühe, den massigen Rumpf zu tragen und<br />
die Arme hingen fast bis zum Boden herab. Das Profil mit der flachen<br />
Nase und dem gewaltigen Kiefer sah einem Affen ähnlicher als einem<br />
Menschen. In der linken Hand hielt die Statue eine Keule, mit der<br />
rechten umfasste sie eine Schwertklinge. Der schwarz umwickelte<br />
Griff ragte aus der gewaltigen Hand hervor.<br />
160
„Würdest du mir glauben, dass ich genau wie du eine Gefangene<br />
dieser Geschichte bin?“ In der Stimme der dunklen Königin schwang<br />
eine Traurigkeit mit, die Miri aufhorchen ließ. „Ich würde nichts<br />
lieber tun, als diesen trostlosen, alten Kasten zu verlassen. Ich sehne<br />
mich wie du oder Sturmtänzer nach einem Leben in Freiheit.“ Sie<br />
senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Wenn wir uns zusammentun,<br />
können wir es schaffen. Du hast Mut, er hat schnelle Beine und ich<br />
weiß, was zu tun ist.“<br />
„Nein.“ Mit der Hexe wollte Miri keine gemeinsame Sache machen.<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin lachte spöttisch. „<strong>Die</strong> anderen haben dich ganz<br />
schön eingewickelt. Nein, ich behaupte nicht, dass sie dich angelogen<br />
haben. Aber sie betrachten die Geschichte nur <strong>von</strong> ihrer Seite<br />
aus. Würdest du mir glauben, dass ich aus derselben Welt komme<br />
wie du?“<br />
Miri starrte sie ungläubig an.<br />
„Ich stamme aus der Zeit vor der globalen Katastrophe, die du den<br />
‚großen Rums‘ nennst. Ich war damals schon eine Magierin, ich<br />
wusste es nur nicht. Genau wie du. Ich dachte, es seien nur Träume,<br />
aber in Wirklichkeit kam ich Nacht für Nacht als Schatten in diese<br />
Welt. Ich durchstreifte die Klippen und Buchten der Knochensängerin,<br />
das fruchtbare Ackerland der Hüterin und die Wälder der<br />
Kriegerin. Als meine Welt in einer Sturmflut unterging, kam ich für<br />
immer hierher. Damals war das Schloss noch ein Hort der Stärke in<br />
einem immergrünen Land. Ich verdingte mich als Küchen-mädchen<br />
und die Köchin erkannte bald, dass ich nicht nur für die<br />
Zuckerbäckerei Talent hatte. Sie hat mich ausgebildet und war wie<br />
eine Mutter für mich. Doch als sich der König in mich verliebte, war<br />
es aus mit unserer Freundschaft. Mit rasender Eifersucht hat sie mich<br />
verfolgt und es würde mich nicht wundern, wenn sie dafür gesorgt<br />
hätte, dass er …“ Mit einem traurigen Seufzen winkte sie ab. „Das ist<br />
161
Schnee <strong>von</strong> gestern. Mit unserem König starb auch sein Land, aber<br />
alle gaben mir die Schuld daran. Zuerst hetzten sie gegen mich, dann<br />
flohen sie, weil sie sich vor mir fürchteten. Nur Tagauge, Nachtauge<br />
und der schwarze Ritter schlugen sich auf meine Seite. Der alte Narr<br />
und die Magierin blieben, um auf den wahren Erben unseres Herrn<br />
und Königs zu warten, der mich vertreiben und den Fluch lösen<br />
würde. Und jetzt …“ Sie breitete die Arme aus, als würde sie ihr<br />
Schicksal zusammen mit dem des ganzen Landes in Miris Händen<br />
legen.<br />
„Ich weiß nicht“, stammelte die. Dann schüttelte sie den Kopf. „Es<br />
fällt mir schwer, Ihre Geschichte zu glauben.“<br />
„Wie ich vermutet hatte“, entgegnete die dunkle Königin mit einem<br />
affektierten Augenaufschlag. „Ich würde gerne den Narren und die<br />
Magierin rufen, damit du sie fragen kannst. <strong>Die</strong>se Küchenhexe biegt<br />
die Tatsachen so lange zurecht, bis sie ihr in den Kram passen. Aber<br />
der Narr sagt üblicherweise die Wahrheit. Leider sind die beiden<br />
spurlos verschwunden und ich habe keine Ahnung, in welchem<br />
Rattenloch sie sich versteckt haben.“<br />
„Ich dachte, sie haben den alten Mann ins Verlies gesperrt?“<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin winkte ab. „Als es offensichtlich wurde, dass seine<br />
Geschichte <strong>von</strong> dem gefangenen Einhorn frei erfunden war, hat er<br />
Fersengeld gegeben. Ich vermute, er hat sich irgendwo im Keller<br />
versteckt und die Küchenhexe wird ihm gefolgt sein. Wenn sie<br />
hungrig sind, kommen sie <strong>von</strong> selbst wieder zurück.“<br />
„Dann sind wir beide hier allein“, stellte Miri erschrocken fest.<br />
„Ganz allein. Niemand würde es wissen, wenn wir die Gelegenheit<br />
beim Schopf greifen und in unsere Welt zurückkehrten. Gemeinsam<br />
finden wir den Weg vielleicht sogar ohne die Hilfe des Wind-pferdes.“<br />
162
„Vorhin wollten Sie mich noch umbringen“, entgegnete Miri. „Und<br />
jetzt sind wir auf einmal beste Freundinnen?“<br />
„Eher Verbündete in einer prekären Lage.“ Mit einem gezierten<br />
Lachen warf sie den Kopf in den Nacken. „Ich wusste, dass du dich<br />
hinter dem Vorhang versteckst. Ich wollte dich mit dem Theater so<br />
beeindrucken, dass dir jede Lösung recht wäre. Aber ich habe dich<br />
wohl unterschätzt. Also, was wirst du jetzt tun? Willst du dir das<br />
Schwert nehmen, den Golem töten und mit mir…“<br />
„Ich soll jemanden töten?“ Entsetzt starrte Miri die dunkle Königin<br />
an. „Das können Sie vergessen. Das werde ich niemals tun. Gewalt ist<br />
keine Lösung.“<br />
„Ach Liebes.“ <strong>Die</strong> Frau streckte die Hand nach Miri aus, als wolle sie<br />
ihr über den Kopf streichen. „Du bist so rührend naiv. Glaubst du,<br />
dieses Ungeheuer gibt dir das Schwert freiwillig? Keine Angst, du<br />
kannst es leicht überwinden. Er ist stark, aber langsam.“<br />
Fassungslos starrte Miri die Frau an. „Das ist doch alles gar nicht<br />
wahr“, murmelte sie.<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin lachte schallend. „Einiges ist wahr, anderes ist<br />
nicht ganz wahr und manches ist gelogen. Kannst du die Wahrheiten<br />
<strong>von</strong> den Lügen unterscheiden? Mach schnell. <strong>Die</strong> Nacht ist bald zu<br />
Ende.“<br />
Miris Gedanken wirbelten durcheinander: Ich kann Sturmtänzer nur<br />
mitnehmen, wenn ich das Schwert habe, und um es zu be-kommen,<br />
muss ich dem Gesetz der Schwerter gehorchen. Aber vielleicht ist das<br />
gar nicht wahr. Vielleicht hat sie ja gelogen!<br />
Miri streckte die Hand nach der Waffe aus. Wie <strong>von</strong> selbst schien der<br />
Griff in ihre Hand zu springen. <strong>Die</strong> Klinge klirrte leise, als Miri das<br />
Schwert aus seiner Halterung zog. Plötzlich spürte sie Widerstand.<br />
163
„<strong>Die</strong>be!“ Wie ein Donnergrollen hallte der Ruf durch den Saal. Der<br />
Kopf des unheimlichen Wesens ruckte zu ihr herum, rot glühende<br />
Augen musterten sie. „Alarm! <strong>Die</strong>be sind in den Thronsaal eingedrungen.“<br />
Seine Stimme klang wie das Knarren eines Mahlwerks.<br />
164
Mit einem energischen Ruck zerrte Miri das Schwert aus der Hand<br />
des Golems. Er brüllte und steckte seine Hand in der Achselhöhle, als<br />
hätte sie ihm Schmerzen zugefügt. Miri taumelte einen Schritt zurück.<br />
Er konnte keinen Schmerz empfinden. Er war eine Stein-gussfigur.<br />
Dass er sprechen und sich bewegen konnte, war nur ein Trick. Oder<br />
Magie!<br />
<strong>Die</strong> winzigen Augen funkelten zornig. Plötzlich riss der Golem seine<br />
Keule hoch. Miri wollte rasch zurückweichen, doch dabei stieß sie<br />
gegen den Thron. Das Gelächter der dunklen Königin brandete gegen<br />
ihren Verstand. Sie riss das Schwert in dem Moment hoch, als die<br />
Keule herabsauste, gleichzeitig drehte sie sich unter dem Waffenarm<br />
des Gegners weg. Es schmerzte in ihren Ohren, als Stein über Metall<br />
schrammte. Miri rechnete damit, dass das ma-gische Schwert unter<br />
der Wucht des Aufpralls aus ihrer Hand geprellt und zerschmettert<br />
würde. Stattdessen erhob das steiner-ne Wesen ein<br />
ohrenbetäubendes Gebrüll und barg den rechten Arm an seiner<br />
Brust.<br />
In wilder Freude über den Sieg riss Miri das Schwert in die Luft. Der<br />
Triumphschrei blieb ihr jedoch in der Kehle stecken, als sie er-kannte,<br />
dass nicht nur die Keule, sondern auch die Hand des Gegners über<br />
den Boden polterte. Fassungslos starrte sie auf den verstümmelten<br />
Arm. Kein Tropfen Blut floss aus der Wunde.<br />
„Worauf wartest du noch“, kreischte die dunkle Königin. „Schlag ihm<br />
den Kopf ab.“<br />
„Nein!“, brüllte Miri, als könne sie damit ungeschehen machen, was<br />
sie dem Golem bereits angetan hatte. „Ich werde niemanden töten.“<br />
<strong>Die</strong> Lippen in dem steinernen Gesicht verzogen sich zu einem bösen<br />
Lächeln. „Dann töte ich dich. So lautet das Gesetz der Waffen.“<br />
165
Miri drängte sich an dem steinernen Sitz vorbei und wich Schritt für<br />
Schritt zurück, um der Tür unauffällig näher zu kommen.<br />
Mit der bloßen Faust schlug der Golem die klobige Armlehne aus dem<br />
Thron. Prüfend schwang er seine neue Waffe durch die Luft.<br />
„Du oder ich.“ Sein Lachen klang wie das Scheppern <strong>von</strong> Steinen in<br />
einer Blechdose. „Das ist die Regel. Wer nach dem Schwert greift,<br />
muss bereit sein, zu töten, sonst wird er getötet.“<br />
Miri täuschte einen Ausfall vor und das steinerne Wesen wich tatsächlich<br />
zurück. Mit zwei Schritten war sie bei der Tür. Sie riss ihre<br />
Waffe hoch, doch bevor sie den Streich gegen die hölzernen<br />
Türblätter führen konnte, sprangen die beiden Flügel auf. Atemlos<br />
stolperte sie in den dunklen Korridor.<br />
„Bleib hier“, brüllte der Golem. „Du musst mit mir kämpfen. Das ist<br />
die Regel.“<br />
„Nein!“ Miri packte das Schwert fester und rannte den Gang ent-lang<br />
ins Treppenhaus.<br />
„Bleib hier!“ Der Boden schwankte unter ihren Füßen. Es krachte und<br />
splitterte als würde das steinerne Wesen Möbel zerschlagen oder die<br />
Holztäfelung <strong>von</strong> den Wänden reißen.<br />
Miri nahm sich nicht einmal die Zeit, einen Blick über die Schulter zu<br />
werfen. So schnell sie konnte, hastete sie die Treppe hinunter und<br />
über den dunklen Burghof.<br />
166
Zwanzigstes Kapitel<br />
Fensterscheiben klirrten, Ziegel schepperten übers Dach und<br />
zerschellten im Hof, der Boden schwankte unter Miris Füßen.<br />
Das kann nicht sein! <strong>Die</strong> Kuppeln sind erdbebensicher. An diesem<br />
Gedanken hielt sie sich eisern fest, als die Festungsmauer wie unter<br />
dem Hieb eines gewaltigen Hammers erbebte. Neben dem Tor klaffte<br />
plötzlich ein handbreiter Riss, eine Zinne schwankte, wie betrunken.<br />
Mit einem Ächzen, das beinahe menschlich klang, kippte sie vornüber<br />
und donnerte ins Dach eines Wachhäuschens. Ein Wiehern übertönte<br />
das Grollen und Bersten.<br />
„Sturmtänzer!“ Miri war so erleichtert, seine Stimme zu hören, dass<br />
ihr die Tränen in die Augen schossen.<br />
„Komm raus!“, wieherte das Pferd. „Was immer du da angestellt hast<br />
…“<br />
„Nichts.“ Das Tor musste offensichtlich an schweren, eisernen Ketten<br />
herabgelassen werden, aber Miri mühte sich vergeblich mit der<br />
Winde ab. „Ich habe gar nichts angestellt.“<br />
„Egal. Komm raus, bevor alles zusammenfällt.“<br />
Miri hielt in der sinnlosen Anstrengung inne und musterte die Kette.<br />
Wenn das Zauberschwert Stein schneiden konnte …<br />
„Geh vom Tor weg!“ Miri riss das Schwert hoch, holte weit aus und<br />
schlug mit aller Kraft zu. Funken sprühten, die armdicke Kette<br />
peitschte gegen die Wände der beiden Tortürme und die Hand-kurbel<br />
wirbelte rundherum. Ein Zittern lief durch das Tor, an der oberen<br />
Kante öffnete sich ein Spalt, der rasch breiter wurde. Dann donnerte<br />
die Zugbrücke herab.<br />
167
Miri hörte einen vertrauten Rhythmus. Tack tackatack tack.<br />
Schlitternd kam der Hengst am Rand der zerschellten Brücke zum<br />
Stehen. „Komm schon. Wir müssen hier weg.“<br />
Miri packte die Mähne und schwang sich auf den Pferderücken. Im<br />
gleichen Moment wirbelte Sturmtänzer herum und preschte die<br />
Straße hinunter. Hinter ihnen krachte und donnerte es, als würde die<br />
Welt untergehen.<br />
„Was ist passiert?“, wollte er wissen. „Was hast du getan?“<br />
„Nichts“, entgegnete Miri. „Das Schwert steckte in einer Stein-figur,<br />
als ich es nehmen wollte, wurde sie lebendig.“<br />
„Hast du den Golem besiegt?“<br />
„Er hat mich angegriffen. Ich wollte nicht …“<br />
„Hast du ihn besiegt?“, fragte Sturmtänzer noch einmal.<br />
„Er wollte mich töten.“<br />
„Hast du ihn getötet.“<br />
„Nein!“, brüllte Miri. „Ich kann doch nicht …“<br />
„Du hast das Schwert gestohlen“, keuchte der Hengst, während er<br />
auf das nachtschwarze Band der Schlucht zu galoppierte. „Ich<br />
bezweifle, dass es uns jetzt noch etwas nützt.“<br />
„Ich habe es nicht gestohlen“, protestierte Miri.<br />
„Du hast es dem Golem weggenommen und bist damit fortgelaufen.<br />
Das nennt man in dieser Welt stehlen.“<br />
168
„Er hätte mich getötet. Oder ich hätte ihn töten müssen.“ Tränen<br />
rannen über Miris Wangen, aber das konnte auch daran liegen, dass<br />
ihr der Wind eisig ins Gesicht blies.<br />
„Ja“, schnaubte der Hengst. „So lautet das Gesetz.“<br />
„Ich töte nicht.“ Trotzig zog Miri die Nase hoch. „Gewalt ist keine<br />
Lösung.“<br />
„<strong>Die</strong>ses Gesetz ist so alt wie dein Volk“, entgegnete Sturmtänzer<br />
ungerührt. „Solange du es nicht akzeptierst, kannst du dein Erbe in<br />
dieser Welt nicht antreten.“<br />
„Es kann aber doch nicht sein, dass ich ...“<br />
„Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf.“ Sturmtänzers Stimme klang<br />
traurig. „An dieser Prüfung sind etliche vor dir gescheitert.“<br />
„Aber …“<br />
„Es ist vorbei. Ich bring dich zurück. <strong>Die</strong> Sonne wird bald auf-gehen.“<br />
Im gestreckten Galopp preschte Sturmtänzer dem ersten Licht des<br />
Tages entgegen. Als die Straße steiler wurde, wechselte er in den<br />
Paso, der kaum langsamer aber wesentlich bequemer zu sitzen war.<br />
Tackatackatack, klapperten seine Hufe über den steinigen Grund.<br />
Miri schloss die Augen, atmete den warmen Duft des Fells, spürte<br />
den leichtfüßigen Bewegungen nach und ihrer Traurigkeit. <strong>Die</strong>s<br />
würde ihr letzter Ritt sein.<br />
Hinter einer Felsgruppe kam die Brücke in Sicht. <strong>Die</strong> Hütte der<br />
Kriegerin war verschwunden. Auf der anderen Seite würde es also<br />
auch keine dunkle Königin und keinen Golem geben.<br />
„Bedauerlicherweise gibt es da drüben auch keine Pferde“,<br />
brummelte Sturmtänzer als hätte er ihre Gedanken belauscht.<br />
169
„Willst du nicht einfach mitkommen“, bat Miri. „In der Wildniskuppel<br />
würde es dir sicher gefallen und du müsstest dich nicht vor<br />
der dunklen Königin verstecken.“<br />
„Das hier ist meine Welt und da drüben ist deine“, antwortete<br />
Sturmtänzer. „Von nun an können wir uns nur noch im Land der<br />
Träume begegnen.“ Am Fuß eines kleinen Hügels blieb er stehen,<br />
damit Miri absitzen konnte.<br />
Mit einem tiefen Seufzer drückte sie ihr tränenfeuchtes Gesicht in<br />
seine Mähne.<br />
„Geh jetzt“, brummelte er. „Das Tor wird sich gleich öffnen. Aber sei<br />
vorsichtig. Es würde mich nicht wundern … - Oh! Da ist sie ja schon.<br />
Unsere Überraschung.“<br />
Miri folgte seinem Blick. Mitten auf der Brücke stand der Ritter in der<br />
schwarzen Rüstung. Mit schweren Schritten kam er ihnen ent-gegen<br />
und der große, zottige Hund an seiner Seite sah überhaupt nicht<br />
mehr freundlich aus.<br />
„Schluss mit den Spielchen, Prinzessin Miriel.“ Fordernd streckte ihr<br />
der Mann seine Hand entgegen. „Das Windpferd gegen deine<br />
Freiheit.“ Sein mächtiger Bass dröhnte wie fernes Gewittergrummeln.<br />
„Du lieferst den Hengst aus und ich lass dich gehen.“<br />
„Nein.“ Miri trat schützend vor Sturmtänzer. „Das ist nicht irgendein<br />
Pferd, sondern mein Freund. Er will deiner Herrin nicht dienen.“<br />
Der Ritter blickte nach Osten. „Viel Zeit hast du nicht, dir das noch<br />
einmal zu überlegen. <strong>Die</strong> Sonne kann jeden Moment aufgehen. Wenn<br />
der erste Sonnenstrahl auf diese Brücke fällt, öffnet sich genau an<br />
dieser Stelle ein Tor. Du musst es nur durchschreiten, um in deine<br />
Welt zurückzukommen. Aber wie willst du das machen, wenn ich da<br />
stehe, wo du hinmusst?“ Er zog ein Schwert aus der Scheide auf<br />
170
seinem Rücken und setzte die Spitze auf den Boden. „Willst du dir<br />
den Übergang erkämpfen?“<br />
Miri schüttelte den Kopf. „Bitte lassen Sie uns einfach gehen.“ Ein<br />
blassgelber Saum ließ die Hügel im Osten erstrahlen.<br />
„Aber sicher.“ Er ließ das Schwert mit der handbreiten Klinge einen<br />
Bogen durch die Luft beschreiben. Danach landete es so sanft auf<br />
seiner Schulter als hätte es das Gewicht einer Feder. „Gib mir das<br />
Pferd und du darfst gehen, wohin du willst.“<br />
„Ich habe Ihnen doch schon gesagt …“<br />
„Du willst kämpfen? Wie ich sehe, bist du inzwischen bewaffnet.“ Er<br />
brachte sein Schwert in Position und trat einen Schritt näher. „So<br />
oder so, entscheide dich. <strong>Die</strong> Sonne wartet nicht auf dich.“<br />
Sturmtänzer legte sein Kinn auf Miris Schulter. „Sorg dafür, dass er<br />
weiterredet“, brummelte er. „Wenn ich ‚jetzt‘ sage, springst du auf<br />
meinen Rücken. Ich bring uns da hinüber. Solange er nicht ahnt, dass<br />
es das magische Schwert des Lichts ist, das du dir geschnappt hast,<br />
haben wir eine Chance.“<br />
„Gibt es keinen anderen Weg?“, fragte Miri den Ritter. Sie hörte<br />
Sturmtänzer mit den Hufen scharren und herumtänzeln, als wäre er<br />
plötzlich sehr nervös. „Ich meine“, fuhr sie achselzuckend fort,<br />
„Gewalt ist doch eigentlich nie eine Lösung.“<br />
Der Ritter lachte schallend.<br />
„Jetzt!“ Sturmtänzer duckte sich wie eine Katze. Miri griff in seine<br />
Mähne, schwang sich auf seinen Rücken und im nächsten Moment<br />
wäre sie fast hinten übergekippt. Wie <strong>von</strong> einem Katapult geschossen<br />
stürmte der Hengst los. Es ging steil bergab und Miri hatte Mühe sich<br />
auf ihrem unsicheren Sitz zu halten.<br />
171
„Atmen!“, schnaubte Sturmtänzer, bevor er mit einem kühnen Satz<br />
<strong>von</strong> einer Kuppe zur nächsten sprang. Er schlitterte einen steilen<br />
Abhang hinunter und hielt geradewegs auf die Schlucht zu.<br />
172
Miri bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Sturmtänzer würde<br />
hoffentlich nicht versuchen, da hinüberzuspringen.<br />
„Das Lied“, keuchte der Hengst. „Denk an unser Lied.“<br />
Aus den Augenwinkeln sah Miri, den Hund <strong>von</strong> der Seite heranstürmen.<br />
Er hatte den kürzeren Weg und er kam schnell näher.<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Freiheit? Ruft sie den Weg?<br />
Tackatacka tackatacka tack, klapperten Sturmtänzers Hufe dazu.<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Freiheit? Ruft sie den Weg?<br />
Der erste Splitter der Sonnenscheibe schob sich über den Kamm<br />
eines Hügels. Feuerfarbenes Licht sickerte in das Grau des frühen<br />
Tages und spülte die Reste der Nacht aus der Schlucht zwischen den<br />
Welten.<br />
Hör der Trommel Ruf. Hör den Klang. Kriegstanz und Jagdgesang.<br />
Trommelweg führt in die Freiheit oder den Tod.<br />
Miri krallte sich mit einer Hand in die Mähne, mit der anderen<br />
umklammerte sie das Schwert. Es waren noch vier oder fünf<br />
Galoppsprünge bis zum Rand der Schlucht, Sturmtänzer hatte eine<br />
überstehende Felsplatte als Absprung gewählt. Von rechts jagte der<br />
Hund heran. Sturmtänzer musste einen Bogen beschreiben und seine<br />
Sprünge verkürzen, um den richtigen Absprung zu finden. Sein<br />
Rücken krümmte sich. Noch zwei Sprünge. Der Hund schnellte vom<br />
Boden weg. Wie ein Geschoss flog er auf sie zu. Ihr eigener Schrei<br />
gellte Miri in den Ohren, als die Klauen über ihren Ober-schenkel<br />
schrammten. Das Schwert fiel ihr aus der Hand, als Sturmtänzers<br />
Hinterhand unter dem Aufprall wegrutschte. Er versuchte, sich zu<br />
fangen und noch einmal unterzusetzen, doch sei-ne Hufe traten ins<br />
Leere. Ross und Reiterin überschlugen sich und schlitterten über die<br />
173
Felskante. <strong>Die</strong> Welt versank in einem Sturz, der nie mehr enden<br />
wollte.<br />
174
Einundzwanzigstes Kapitel<br />
„Miri? Wie bist du hier hergekommen?“ Das war die Stimme <strong>von</strong><br />
Lorenz, sie klang beinahe ärgerlich vor Sorge. „Ich wollte dich am<br />
Gleiter abholen, um dir zu sa...“ Mitten im Satz hielt er inne. „Wie<br />
siehst du überhaupt aus? Was hast du mit deinen Haaren gemacht?<br />
Bist du okay?“<br />
Miri wollte versichern, dass alles in bester Ordnung war, aber ihr<br />
Mund war trocken und ihre Zunge fühlte sich an, als wäre Moos<br />
darauf gewachsen. Sie rang ihren erstarrten Zügen ein Lächeln ab<br />
und blinzelte orientierungslos in die kleine, weiße Sonne, die ihr ins<br />
Gesicht schien.<br />
„Hast du dir wehgetan? Soll ich einen Arzt rufen?“<br />
„Nein, nein.“ Mit Lorenz‘ Hilfe rappelte sie sich hoch. Ihr Körper<br />
fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt und mit Paketband<br />
verschnürt worden. „Ich bin nicht verletzt.“ War sie nicht eben noch<br />
in einer anderen Welt gewesen? Miri erinnerte sich, dass sie in einer<br />
Pfütze ausgerutscht und gestürzt war. Aber hinter dieser Erinnerung<br />
gab es ein Pferd, das mit ihr geredet hatte.<br />
„Was ist denn passiert?“, wollte sie wissen.<br />
„Ein Erdstoß hat den Gleiter durcheinander gerüttelt“, berichtete<br />
Lorenz. „Es waren noch zwei Frauen in der Kabine. <strong>Die</strong> habe ich nach<br />
dir gefragt. Sie haben gesehen, wie du dein Memopad eingepackt<br />
hast, dann war der Strom weg. Als das Licht wieder brannte, warst du<br />
spurlos verschwunden. Wo bist du denn gewesen?“<br />
„Keine Ahnung.“ Allmählich konnte Miri ihren Körper wieder spüren.<br />
Er fühlte sich steif und zerschunden an, schien aber nicht ernst-haft<br />
175
verletzt zu sein. „Der Boden war nass“, sagte sie, bevor Lorenz noch<br />
weitere Fragen stellen konnte. „Ich hatte es mal wieder zu eilig und<br />
bin ausgerutscht. Hat die Prüfung schon begonnen?“<br />
Lorenz schüttelte den Kopf. „Dich brauchen wir schon dazu. Ben und<br />
Ruth sind drüben im Seminarhaus. Merl ist mit einem früheren<br />
Gleiter gekommen und hat einen Klienten mitgebracht.“<br />
„Ian, nicht wahr?“<br />
Lorenz nickte.<br />
„Hast du eine Ahnung, was ich mit diesem Stockfisch anfangen soll?“,<br />
plauderte Miri, um sich über die beunruhigende Lücke in ihrer<br />
Erinnerung hinwegzuretten. Als sie sah, dass Lorenz miss-billigend die<br />
Stirn runzelte, winkte sie ab. „Egal. Er ist da, die an-deren sind auch<br />
da, und ich sollte sie nicht länger als nötig warten lassen, sonst<br />
werden die Prüfungsfragen schwerer.“ Ihre Worte sollten so klingen,<br />
als wäre nichts Besonderes passiert. Sie musste im Gleiter<br />
eingeschlafen sein. Sicher hatte sie <strong>von</strong> dieser anderen Welt nur<br />
geträumt. Und <strong>von</strong> dem Pferd. Sie erinnerte sich sogar an seinen<br />
Namen. Sturmtänzer. Mit langen Schritten eilte Miri durch den<br />
Tunnel mit den alten Steinplatten, der das Verwaltungsgebäude mit<br />
dem Seminarhaus verband. Lorenz folgte ihr schweigend.<br />
Als sie das Haus betraten, kam es Miri so vor, als würden ihr die<br />
früheren Wildnistrainer und Wildnistherapeuten aus ihren Bildern<br />
heraus aufmunternd zulächeln. In dem schützenden Glas über den<br />
Bildern konnte sie sich selbst mit struppig-kurzen Haaren und ihrem<br />
graugrünen Overall sehen. Hatte sie nicht eben noch ein Leinenhemd<br />
und eine Hose aus Tierhaut getragen?<br />
Lorenz drängte sie zu der Treppe, die in die erste Etage mit dem<br />
Seminarraum führte. <strong>Die</strong> aufgeregten Stimmen hörte Miri schon <strong>von</strong><br />
unten. Sie konnte nicht verstehen, worüber Ben, Ruth und Merl<br />
176
edeten, aber es schien eine hitzige Diskussion zu sein. Merl fiel Ben<br />
sogar ins Wort. Als sie die Tür öffnete, verstummten die Ge-spräche.<br />
Sechs Augenpaare richteten sich auf sie. Nur der rot-haarige, junge<br />
Mann, der abseits <strong>von</strong> den anderen am Fenster stand, starrte<br />
angestrengt ins Dunkel hinaus.<br />
Ben, der Leiter der Wildniskuppel, beendete das unangenehme<br />
Schweigen. „Guten Abend, Miri.“ Mit ausgestreckten Armen kam er<br />
auf sie zu. „Erzählst du uns, was dich aufgehalten hat, oder willst du<br />
zuerst den amtlichen Teil des Abends hinter dich bringen?“<br />
„Es war nichts Aufregendes“, entgegnete sie achselzuckend. „Der<br />
Gleiter hatte eine Störung.“ Sie war froh, dass Ruth die hohe Kerze in<br />
der Mitte des Raums schon angezündet und die Decken-beleuchtung<br />
gedimmt hatte. Im Dämmerlicht konnte man ihre un-gewohnte Frisur<br />
übersehen.<br />
Miri blickte sich verstohlen im Seminarraum um. Er kam ihr ver-traut<br />
und gleichzeitig sehr fremd vor. Kostbare alte Decken und echte<br />
Tierfelle hingen an den Wänden. Ruth hatte die Kerze in der blauen<br />
Metallschale mit einem Blütenkranz geschmückt. Acht Sitz-kissen<br />
lagen darum im Kreis. Auf dem Kissen im Südwesten ruhte eine<br />
Sandrose aus der Wüste, die ihren Gründervater Steven alles über die<br />
Suche nach der Vision des eigenen Lebens gelehrt hatte. <strong>Die</strong> Pfeife<br />
mit dem kunstvoll geschnitzten Kopf aus einem ziegel-roten Stein<br />
hatte eine seiner Schülerinnen nach Europa gebracht. Sie lag auf dem<br />
Kissen im Südosten. Alle anderen Plätze waren frei.<br />
„Schreiten wir also zur Prüfung.“ Ben deutete auf den Sitzkreis, aber<br />
niemand rührte sich. Es dauerte einen Augenblick bis Miri realisierte,<br />
dass alle auf sie warteten.<br />
„‘Tschuldigung.“ Mit roten Ohren schlich sie zum Schülerplatz im<br />
Süden.<br />
177
Ruth räusperte sich. „Denkst du bitte daran, dass die Wahl des<br />
richtigen Platzes ein Bestandteil dieser Prüfung sein könnte.“<br />
Lorenz deutete auf das Kissen unter dem großen Fenster im Osten.<br />
„Tut mir leid.“ Miri eilte zu dem Ehrenplatz, der den Lehrern ihrer<br />
Tradition vorbehalten war, und wartete ungeduldig auf die erste<br />
Frage. Als es stattdessen immer stiller wurde, rutschte sie nervös auf<br />
ihrem Kissen hin und her. Schließlich hielt sie es nicht länger aus.<br />
„Was wollt ihr denn jetzt wissen?“, fragte sie kläglich.<br />
„Nichts“, antwortete Ben. Sie konnte sehen, dass er Mühe hatte,<br />
ernst zu bleiben. „Wir warten darauf, dass du diese Runde in einer<br />
traditionellen Weise eröffnest.“<br />
„Wie denn?“ Miri wusste noch immer nicht, was sie tun sollte.<br />
„Wie wäre es mit einer gemeinsamen Meditation.“<br />
„Soll ich die Ram-Meditation anleiten.“ Wie gut, dass sie sich ihre<br />
Notizen auf der Herfahrt noch einmal durchgelesen hatte. „Nur den<br />
ersten Teil oder bis zu den Blüten?“<br />
„<strong>Die</strong> kennen wir doch alle.“ Ben winkte ab. „Ich würde lieber eine<br />
Archetypen-Meditation machen.“<br />
Ausgerechnet! Miri hatte das Gefühl, als würde ihr jemand das Kissen<br />
unterm Hintern wegziehen. Aber sie ließ sich nichts an-merken.<br />
„Gut.“ Sie richtete sich auf und blickte in die Flamme der Kerze. „Setz<br />
dich gerade hin und schau in das Licht. Es ist ein Symbol für das Licht,<br />
das in allen und in allem lebt“ Sie würde die Meditation trotzdem<br />
anleiten. Für einen Fehler konnte ihr Ben nur ein paar Punkte<br />
abziehen. Wenn sie jedoch zugeben würde, dass sie sich an die<br />
Meditation kaum erinnern konnte, wäre alles gelaufen, und sie<br />
müsste in einem halben Jahr noch einmal zur Prüfung antreten.<br />
178
„Lass deinen Blick weich und weit werden, so, dass du das Licht im<br />
Fokus behältst und in der Peripherie den Kreis wahrnehmen kannst.“<br />
Auch Miris Aufmerksamkeit wanderte im Kreis rundum. Zuerst zu<br />
Großvater Stevens Platz im Südosten. Anschließend in den Süden, wo<br />
sie kurz bei Ian verweilte, dem schweigsamen jungen Mann mit den<br />
fuchsroten Haaren und dem traurigen Gesicht. Der Platz im<br />
Südwesten war bis auf die Gebetspfeife mit den tanzen-den Delfinen<br />
leer, aber Miri kannte ihre frühere Besitzerin <strong>von</strong> den Bildern in der<br />
Eingangshalle. <strong>Die</strong> alte Dame mit den hellwachen, freundlichen<br />
Augen schien in diesem Moment bei ihnen im Kreis zu sitzen. Auf der<br />
anderen Seite der Flamme saß Ruth auf dem traditionellen<br />
Frauenplatz im Westen. Sie schien Miris Aufmerksamkeit zu spüren,<br />
blickte kurz auf und nickte ihr freundlich zu. Im Nordwesten saß Merl,<br />
im Norden Ben und im Nordosten direkt neben ihr war der Platz <strong>von</strong><br />
Lorenz. Hinter seiner Maske der Ruhe spürte Miri eine innere<br />
Anspannung.<br />
„Erlaube deinen Augenlidern schwer zu werden und schließ deine<br />
Augen“, fuhr Miri fort. „Wenn Gedanken auftauchen, dann betrachte<br />
sie wie eine Wolke am Sommerhimmel und lass sie wieder<br />
gehen.“<br />
Wenn sie sich richtig erinnerte, war der Anfang für die beiden<br />
Meditationen gleich. Im Bauch musste sie das Bild einer Kugel aus<br />
Licht entstehen lassen, die mit jedem Atemzug wärmer und heller<br />
wurde. <strong>Die</strong> nächste Lichtkugel entstand unter dem Herzen und wurde<br />
so hell und warm, dass sie den gesamten Brustraum aus-füllte. <strong>Die</strong><br />
dritte Lichtkugel war nur ein Punkt in den Köpfen der<br />
Meditationsteilnehmer, der heller, aber nicht größer werden sollte.<br />
Auch in den Köpfen sollte es mit jedem Atemzug heller und klarer<br />
werden, doch in Miris Kopf wurde es stattdessen dunkler. Verdammt!<br />
179
„… und wenn sich ein Gedanke zwischen dich und das helle, klare<br />
Licht in deinem Kopf drängen will …“<br />
„Ram“, flüsterte Lorenz neben ihr.<br />
Miri atmete erleichtert auf. „Dann macht das nichts, weil wir an<br />
dieser Stelle gemeinsam ein offenes Ram singen. Wir beginnen alle<br />
zusammen mit einem Summton in der Brust.“<br />
Ein zarter Klang schien aus der Flamme im Zentrum ihres Kreises<br />
aufzusteigen. Leise und beinahe andächtig mischten sich die Stimmen<br />
der Menschen darunter. Fast wie <strong>von</strong> selbst wurde aus dem<br />
vielstimmigen Summen die Silbe „Ram“. Miri erkannte den warmen<br />
Bariton <strong>von</strong> Merl und Bens kräftigen Bass. Der junge Mann, der mit<br />
Merl gekommen war, räusperte sich umständlich bevor er mit einem<br />
harten, unsicheren Ton in das Klingen hineinstolperte. Ruths Sopran<br />
schwang sich über den gemeinsamen Ton hinaus, als wollte sie das<br />
Sternenlicht einfangen. Nur die Stimme <strong>von</strong> Lorenz tönte kaum aus<br />
dem gemeinsamen Gesang hervor. Er stützte schwache Töne, fügte<br />
fehlend ein und knüpfte alle offenen Enden in das wunderbare<br />
Gewebe ihres machtvollen Lieds. Miri spürte, wie ihr Herz immer<br />
weiter wurde. Erschrocken zuckte sie zusammen, als etwas kaltes<br />
Starres ihren rechten Arm streifte. Unauffällig drückte ihr Lorenz zwei<br />
handtellergroße Schalen in die Hand und wenig später fand der<br />
vielstimmige Gesang einen harmonischen Schlusston. Siebenmal<br />
schallte der Klang der Zimbeln durch den Raum. Erst als er verweht<br />
war, krochen die Schatten der Sorge wieder aus den Ecken hervor, in<br />
denen sie sich vor dem magischen Lied versteckt hatten.<br />
Jetzt musst du sie durch die sieben Chakren zu den Archetypen<br />
führen, <strong>von</strong> denen du keine Ahnung hast, flüsterte eine hämische<br />
Stimme durch Miris Gedanken. Nur Mut. Aufgeben kannst du, wenn<br />
bei dem schwarzen Loch in deiner Erinnerung angekommen bist.<br />
180
Noch gab es keinen Grund, aufzugeben. Immerhin erinnerte sich Miri<br />
daran, dass sie zuerst den Archetyp des wilden Mannes oder der<br />
wilden Frau im Wurzelchakra aufsuchen musste.<br />
„Folge deinem Atem bis hinab in dein Wurzelchakra.“ Miri wunderte<br />
sich darüber, wie sicher ihre Stimme klang, obwohl sie noch nicht<br />
wusste, was sie als Nächstes sagen würde. „Reise auf dem Strom<br />
deines Atems immer tiefer hinab bis in die Heimat des wilden<br />
Mannes oder der wilden Frau und öffne dich dieser Begegnung. Einer<br />
Begegnung mit der archetypischen Kraft in dir, die dich mit allem<br />
verbindet, was lebt: mit der Erde und mit allen Kräften der Erde, mit<br />
den Menschen, Tieren, Pflanzen und Steinen. Verbinde dich mit der<br />
Kraft der Erde und lass dich zu deinem inneren wilden Mann oder zu<br />
deiner wilden Frau führen.“<br />
Ein Windstoß fuhr durch die geschlossenen Fenster und wehte den<br />
Duft <strong>von</strong> Salz und Wasser herein. Miri fand sich plötzlich auf einer<br />
Klippe wieder. In der Nähe hörte sie das Rauschen der Wellen, und<br />
sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass hinter ihr die<br />
windschiefe Hütte der Knochensängerin stand.<br />
„Du hast eine weite Reise gemacht. Du hast viel erlebt, einiges<br />
verloren, anderes gewonnen.“ Langsam kamen die Schritte der alten<br />
Frau näher. „Es ist dir sogar gelungen, deine Magie zu entdecken. Bist<br />
du zufrieden mit dir, junge Cantadora? Hast du deine Prüfung<br />
bestanden?“<br />
„Ich glaube nicht“, entgegnete Miri. Hier hatte sie ihren vier-beinigen<br />
Gefährten gefunden, doch sie hatte ihn wieder verloren. „Ich muss<br />
irgendwo einen Fehler gemacht haben.“<br />
„Bei mir nicht. Für eine Anfängerin hast du dich gut gehalten. Aber du<br />
kannst noch mal bei meiner Schwester vorbeigehen. Ihre Magie ist<br />
181
machtvoll und ein bisschen komplizierter als meine. Vielleicht hast du<br />
bei ihr etwas verpfuscht.“<br />
Miri hörte ein Kichern, dann verschwanden die Berge und die Hütte.<br />
Sie fand sich auf einem Rad wieder, das langsam um die Flamme<br />
einer Kerze kreiste.<br />
„Wenn du dich <strong>von</strong> deiner wilden Frau oder <strong>von</strong> deinem wilden Mann<br />
verabschiedet hast, folgst du deinem Atem bis hinauf in dein<br />
Nabelchakra. Hier wohnt dein innerer Heiler oder deine Heilerin. Ihr<br />
Element ist das Wasser.“<br />
Als Miri die sonnendurchflutete Lichtung mit dem dunklen Tümpel<br />
und dem schimmernden Wasserfall erreichte, war die Hüterin der<br />
Quelle gerade damit beschäftigt, ihrem Hündchen das struppige<br />
Winterfell auszukämmen.<br />
„Wie schön, dass du uns besuchen kommst.“ Ihr Lachen klang wie<br />
eine zauberhafte Melodie. „Du siehst gut aus. Du bist größer<br />
geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben und du hast die<br />
Statur einer jungen Kriegerin. Nur deine Haare brauchen wohl noch<br />
etwas Zeit, um sich an die neue Miri zu gewöhnen.“<br />
„Ich will nicht unhöflich sein, aber ich muss gleich wieder weg.“ Mit<br />
einem verlegenen Lächeln zog Miri die Schultern hoch. „Darf ich<br />
Ihnen noch eine Frage stellen?“<br />
„Welches Geheimnis könnte ich dir jetzt noch verraten?“<br />
„Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“<br />
„Was meinst du damit?“<br />
Unter dem amüsierten Blick der schönen Frau fühlte sich Miri<br />
plötzlich sehr dumm. „Was weiß denn ich. Vielleicht habe ich zu<br />
182
unkonzentriert gearbeitet oder ich war nicht mit dem nötigen Ernst<br />
bei der Sache oder …“<br />
„Ach Miri.“ Lachend schüttelte die Hüterin der Quelle den Kopf. „Was<br />
du erschaffen hast, ist schön geworden. Wenn du wissen willst, ob es<br />
schön genug ist, musst du nur der Stimme deiner Magie lauschen.<br />
Wenn du unbedingt etwas falsch gemacht haben willst, musst du zu<br />
meiner Schwester gehen. Sie ist sehr streng und findet bestimmt<br />
etwas, das du zumindest noch verbessern könntest.“<br />
Miri konnte sich gerade noch <strong>von</strong> der Hüterin der Quelle verabschieden,<br />
bevor sich das Plätschern des Wasserfalls verlor. Für<br />
einen Augenblick sah sie sich selbst auf dem Rad sitzen, das sich<br />
immer schneller um das Licht der Kerze drehte. Sie lauschte ihrer<br />
eigenen Stimme, die <strong>von</strong> weit herzukommen schien.<br />
„Mit deinem Atem wanderst du weiter zu deinem Sonnengeflecht.<br />
Hier lebt der Archetyp des Kriegers oder der Kriegerin in dir. Sein<br />
Schild ist ein Symbol dafür, dass du dich schützen kannst, der Speer<br />
hilft dir, dein Ziel ins Auge zu fassen und das Schwert sorgt für<br />
Klarheit, indem es alle Verwirrungen und Verwicklungen mit einem<br />
Schnitt durchtrennt.“<br />
„Da bist du ja wieder.“ Miri hatte die Frau nicht kommen hören.<br />
„Herzlichen Glückwunsch, kleine Schwester. Du hast das magische<br />
Schwert tatsächlich gefunden. So weit kommen nur die wenigsten.“<br />
„Ich habe meine Prüfung versiebt.“ Miri ließ den Kopf hängen. „Das<br />
Schloss ist eingestürzt und Sturmtänzer ist auch weg.“<br />
<strong>Die</strong> Kriegerin nickte. „Manchmal muss man etwas verlieren, um es zu<br />
finden. Solange der Turm in beiden Welten existiert, kannst du<br />
183
dorthin zurückzugehen. In den Scherben deiner Träume findest du<br />
den Samen für eine neue Welt.“<br />
„Aber der Golem hat gesagt, dass ich ihn töten muss“, begehrte Miri<br />
auf. „Ich will niemanden töten. Gewalt ist keine Lösung.“<br />
„Im Tod liegt sehr viel Kraft und nur eine starke Königin bringt ihrem<br />
Land Segen.“<br />
Der König oder die Königin waren die Archetypen des Herzchakras.<br />
Immer schneller wirbelte das feurige Rad um die flackernde<br />
Kerzenflamme.<br />
„Nur in der Hand einer starken Königin wird die magische Waffe zum<br />
Schwert des Lichts, das Klarheit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit in die<br />
Welt trägt.“<br />
Das Schwert des Lichts, der leere Thron …? Ehe Miri die Gedanken zu<br />
fassen bekam, zersprang das feurige Rad. Ian fuhr mit einem<br />
gellenden Schrei hoch.<br />
184
Zweiundzwanzigstes Kapitel<br />
„D-d d-d-d-d-d.“ Der junge Mann mit den fuchsroten Haaren<br />
fuchtelte mit beiden Armen und deutete dabei immer wieder auf<br />
Miri. In seiner Aufregung brachte er kein Wort über die Lippen. Merl<br />
redete beschwichtigend auf ihn ein und Ruth versuchte, seine<br />
gestikulierenden Hände einzufangen. Miri hörte, dass sie dabei ein<br />
Kinderlied summte. Ben bezog vor der Tür Stellung, damit Ian in<br />
einem wahnhaften Anfall nicht plötzlich da<strong>von</strong>laufen konnte.<br />
Miri starrte auf den nächtlich dunklen Wald. In der gläsernen Scheibe<br />
konnte sie sehen, dass eine Träne über ihre Wange rann.<br />
„Miri?“ Sie fühlte eine schwere Hand warm und beruhigend auf<br />
ihrem Arm liegen.<br />
„Jetzt weiß ich, was ich falsch gemacht habe.“<br />
„Du hast gar nichts falsch gemacht“, widersprach Lorenz. „Es war<br />
Merls Fehler. Es war seine Idee, Ian heute Abend mitzubringen. Er<br />
dachte, es würde ihm Mut machen, zu sehen, wie du dich deiner<br />
Prüfung stellst und…“<br />
„Es ist nicht wegen Ian“, unterbrach ihn Miri. „Es ist wegen der<br />
dunklen Königin und dem Schwert.“<br />
„Das leuchtende Schwert?“ Miri merkte erst jetzt, dass Ben zu ihnen<br />
getreten war. „Hast du es gefunden? Bist du tatsächlich auf der<br />
anderen Seite gewesen.<br />
Miri nickte. „Ich muss noch mal dahin. Jetzt weiß ich, was ich tun<br />
muss, um Sturmtänzer vor der dunklen Königin zu retten.“<br />
„Wer ist dieser Sturmtänzer?“, wollte Lorenz wissen.<br />
185
„Ein Pferd.“<br />
Bei diesen Worten ging ein Ruck durch Ians Körper. Sein Gezappel<br />
endete so plötzlich, wie es begonnen hatte, und zum ersten Mal<br />
blickte er Miri geradewegs in die Augen. Er klappte den Mund auf, als<br />
wollte er etwas sagen. Doch dann schlug er plötzlich die Augen<br />
nieder, sein Körper sackte in sich zusammen und er schaukelte mit<br />
ruckartigen Bewegungen hin und her.<br />
„Was für ein Pferd?“, fragte Ben an Ians Stelle.<br />
„Ein Goldfuchs“, antwortete sie. „Ein Hengst. Er kann reden und die<br />
dunkle Königin denkt, dass er das magische Windpferd ist. Wenn sie<br />
ihn erwischt, kann sie die Tore zwischen den Welten öffnen. Ich<br />
fürchte, das wäre nicht gut.“<br />
„Nein“, seufzte Ben. „Das wäre gar nicht gut.<br />
„Wo<strong>von</strong> redet ihr eigentlich?“, polterte Lorenz. „Habt ihr heimlich<br />
Bowle genascht?“ Er sollte scherzhaft klingen, aber die steile Falte<br />
über seiner Nasenwurzel verriet, dass er dieses Thema überhaupt<br />
nicht komisch fand.<br />
Ben schien den Einwand nicht gehört zu haben. „<strong>Die</strong> dunkle Königin<br />
hat das Schwert des Lichts, nicht wahr?“<br />
Miri nickte stumm.<br />
„Lass doch den Unfug.“ Ruth rieb mit beiden Händen über ihre<br />
Oberarme, als ob ihr kalt wäre. „Wir sind uns darüber einig, dass Miri<br />
alles Nötige über unsere Arbeit weiß. An ihrer Facharbeit und der<br />
Theorie gab es nichts auszusetzen, und ich meine, dass wir ihre<br />
praktische Prüfung gelten lassen sollten. Schließlich kann sie nichts<br />
dafür, dass Ian …“ Sie beendete den Satz nicht.<br />
Merl und Lorenz nickten zustimmend.<br />
186
Nur Ben schüttelte den Kopf. „<strong>Die</strong> Prüfung ist noch nicht zu Ende.<br />
<strong>Die</strong>ses Schwert ...“<br />
„Ich muss nur noch mal schnell zum Turm laufen“, fiel es Miri ein.<br />
„Ich bin sicher …“<br />
„Kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte Lorenz schroff. „Ich will<br />
nicht, dass du jetzt noch da draußen rumstolperst.“<br />
„Du tust ja so, als ob es da eine echte Wildnis gäbe“, stellte Merl<br />
kopfschüttelnd fest. „Warum sollte Miri nicht gehen, wenn sie ihre<br />
Geschichte da draußen rundmachen.“<br />
„Weil sie völlig durch den Wind ist“, entgegnete Lorenz knapp.<br />
„Wozu sollte es gut sein, sie in diesem Zustand durch den Wald<br />
geistern zu lassen.“<br />
Keiner achtete mehr auf Miri. Verstohlen blickte sie zur Tür. <strong>Die</strong><br />
anderen waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie vielleicht nicht<br />
gleich merken würden, wenn sie sich einfach da<strong>von</strong>stahl.<br />
Merl winkte ab. „Das Mädchen ist klar im Kopf, sie hat ein Ziel und sie<br />
kennt den Weg. Was soll ihr denn passieren? Wir schicken Leute da<br />
raus, die so verpeilt sind, dass wir sie nicht einmal in einer<br />
Wohnkuppel frei herumlaufen lassen würden.“<br />
„Es ist inzwischen stockfinster und eine Nachtwanderung steht nicht<br />
auf dem Programm.“<br />
Miri biss die Zähne zusammen, um nicht zu explodieren. Es war ihre<br />
Geschichte. Sie hatte alle Aufgaben bestanden und das Windpferd<br />
zum Freund gewonnen. Nur die Konfrontation mit der dunklen<br />
Königin stand noch aus. Sie hatte sich <strong>von</strong> dem Golem und dem<br />
magischen Schwert ablenken lassen. Aber es gab noch eine Chance.<br />
Sie musste nicht in ihr alltägliches Leben in einer Welt ohne Pferde<br />
187
zurückkehren, ohne Sturmtänzer wenigstens noch einmal<br />
wiedergesehen zu haben. <strong>Die</strong>se Chance würde sie nicht ungenutzt<br />
verstreichen lassen, weil Lorenz Angst hatte. Angst? Wovor<br />
eigentlich?<br />
„Ist das schon der Altersstarrsinn“, spottete Merl. „Du bist doch sonst<br />
nicht so unflexibel. Warum…“<br />
„Weil ich ihr Mentor bin und weil ich sage, dass sie hierbleibt. Basta.“<br />
Miri hatte Lorenz noch nie so zornig erlebt.<br />
Ruth sagte gar nichts dazu, sondern betrachtete einen Wand-teppich,<br />
als würde sie ihn heute zum ersten Mal sehen.<br />
Ian summte ein Kinderlied und drehte sich in winzigen<br />
Trippelschritten um die eigene Achse. Sogar Merl, der sonst nie um<br />
eine pfiffige Antwort verlegen war, wich einen Schritt zurück. Einen<br />
Augenblick war nichts, außer Ians Lied und das Knistern der<br />
Kerzenflamme zu hören.<br />
„Habt ihr Miri nicht zugehört?“, mischte sich Ben ein. „Sie hat das<br />
Schwert gefunden, das ich jahrelang vergeblich gesucht habe. Glaubt<br />
ihr, es ist ein Zufall, dass es ausgerechnet an dem Abend wieder<br />
aufgetaucht ist, an dem drei Generationen <strong>von</strong> Wildnis-trainern hier<br />
versammelt sind. Der Ritter, der das Schwert be-wacht …“<br />
„Wir kennen die Geschichte.“ Lorenz‘ Gesicht verfärbte sich rot. „Du<br />
hast sie schließlich oft genug erzählt. Aber da<strong>von</strong> wird sie nicht<br />
wahr.“<br />
„Müsst ihr diesen Streit ausgerechnet heute aufwärmen.“ Entschlossen<br />
trat Ruth zwischen die beiden. „Das ist Miris Abend und ich<br />
denke …“ Offenbar interessierte es weder Lorenz noch ihren Mann,<br />
was sie dachte.<br />
188
„Warum arbeitest du überhaupt noch hier, wenn die Geschichten<br />
keine Bedeutung für dich haben“, fauchte Ben.<br />
Weil er Angst hat, dachte Miri. Sie war wütend auf sich selbst, weil<br />
sie nicht gegangen war, als keiner auf sie geachtet hatte. Nun stand<br />
Bens Frau neben ihr und blickte sie direkt an.<br />
„Wollen wir schon runtergehen und das Abendessen vorbereiten?“,<br />
schlug sie vor. „Solange die Männer Grundsatzdiskussionen führen,<br />
können wir uns ein bisschen nützlich machen.<br />
Miri wollte sich nicht nützlich machen. Sie wollte ihren vierbeinigen<br />
Freund noch einmal sehen.<br />
„Ich arbeite hier, weil ich daran glaube, dass Geschichten heilen<br />
können“, erklärte Lorenz grimmig. „Es spielt keine Rolle, ob sie nur<br />
für einen einzigen Menschen oder für die ganze Welt wahr sind. Aber<br />
du kannst deine Geschichte nicht für andere wahr machen.“<br />
„Du bist also da<strong>von</strong> überzeugt, dass es die dunkle Königin, das<br />
Schwert des Lichts und das Windpferd nur in Miris oder meiner<br />
Fantasie gibt“, fuhr Ben in einem ruhigeren Ton fort.<br />
„Ja.“<br />
„Dann lass uns zusammen zu dem Turm gehen und herausfinden, ob<br />
die Geschichte nur für uns beide wahr ist, oder ob es da wirklich<br />
etwas gibt, was im Moment noch keiner <strong>von</strong> uns versteht.“<br />
„Können wir damit nicht warten, bis es hell ist“, brummte Lorenz.<br />
„Ich muss jetzt gehen“, widersprach Miri. „Wenn die Sonne aufgeht,<br />
ist es zu spät.“<br />
189
„Eigentlich ist es ganz einfach“, überlegte Ben. „Miri will noch mal<br />
zum Turm gehen, Merl und ich sind dafür, Lorenz ist dagegen. Zwei<br />
zu eins für die Nachtwanderung.“<br />
„Nein“, entgegnete Ruth. „Ich kenne diese Geschichten schon so<br />
lange wie dich. Du solltest sie endlich ruhen lassen. Ich glaube, dass<br />
sie zu der Vergangenheit dieses Ortes gehört, und die Welt hat sich<br />
verändert. Wir brauchen keine Schwerter mehr und keine Krieger.“<br />
„Zwei Stimmen dafür und zwei dagegen“, stellte Merl fest.<br />
„D-drei d-dafür.“<br />
Miri blickte erstaunt auf, als ihr bewusst wurde, dass es Ian gewesen<br />
war, der das gesagt hatte.<br />
„I-i-i-ich …“ Es kostete ihn beinahe übermenschliche Mühe, dieses<br />
Wort aus seiner Kehle zu pressen. Angestrengt schnappte er nach<br />
Luft und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf einen Punkt, der<br />
jenseits der vielen Gesichter zu liegen schien.<br />
Merl streckte die Hand nach ihm aus, als wollte er sie dem jungen<br />
Mann beruhigend auf die Schulter legen, doch Ian stieß ihn brüsk<br />
beiseite.<br />
„Ich m-m-m-m-meine“, stotterte er, „dass M-m Miri gehen soll. Aber<br />
ich w-w-w, ich w-will m-m-m m-mitgehen u-u u-und St-t-turmtänzer<br />
s-s s-s s-s-sehen. M-m-m-m-m-merl hat m-mir g-gesagt, d-d-dass sie<br />
m-m-meinen An-a-a m-meinen Antrag n-n-nicht m-mehr ablehnen k-<br />
k k-k-können. B-b b-b-bitte. I-ich h-habe n-n-n-noch n-nie ein Pf… -<br />
ein Pf-pf…“ Er zog eine Grimasse, als müsse er seinen Kiefer<br />
einrenken bevor er weitersprechen konnte. „Ich h-habe n-noch nie<br />
ein Pf… - s-s-s-s-so ein T-t-t, s-so ein Tier g-gesehen.“<br />
190
„Wenn du darauf bestehst, dass deine Persönlichkeit ausgelöscht<br />
wird, ist es egal, ob du heute ein Pferd siehst oder nicht. Du wirst<br />
dich sowieso nicht daran erinnern“, schnappte Merl.<br />
„Ich w-w-w-w w-w-w… Ich w-w-will t-t-tr-trotzdem m-m-m-mit.“<br />
„Na dann“, stellte Ben augenzwinkernd fest. „Drei zu zwei für die<br />
Nachtwanderung. Ich hoffe, die Bowle wird es uns verzeihen.“<br />
Miri ging voraus, sie kannte die Pfade durch den alten Wald. Ben war<br />
direkt hinter ihr, mit etwas Abstand folgten Lorenz und Merl. Ruth<br />
war gar nicht erst mitgekommen und Ian blieb immer wieder zurück,<br />
weil er an einer Blume riechen oder einen Baum streicheln musste.<br />
Miri wunderte sich, dass er das Seminarhaus tatsächlich verlassen<br />
hatte, obwohl er sich sonst vor der Dunkelheit fürchtete.<br />
Es ist nicht die Dunkelheit, es sind die Geister. Heute Nacht haben<br />
sich die Geister versteckt. Im Nebel ist es ihnen zu hell.<br />
Woher kam dieser Gedanke? Und was für ein Nebel sollte das sein?<br />
Verwirrt schüttelte Miri den Kopf.<br />
Schweigend stapfte sie weiter. Der Weg führte leicht bergauf. Bald<br />
würden sie den Waldrand erreichen und dort würde sich zeigen … -<br />
Miri blieb so plötzlich stehen, dass Ben sie fast über den Haufen<br />
gerannt hätte.<br />
„Und wenn da oben gar nichts ist?“, fragte sie eher sich selbst als<br />
jemand anderen.<br />
Ben antwortete ihr trotzdem. „Dann wirst du vermutlich auch für den<br />
Rest deines Lebens nach der Tür suchen, die sich für jeden Menschen<br />
nur ein einziges Mal öffnet.“<br />
191
„Sollten wir vielleicht besser umkehren?“, flüsterte Miri.<br />
„Ja, vielleicht.“<br />
Miri lauschte den Stimmen, die allmählich näher kamen. Sie hörte,<br />
dass Merl und Lorenz immer noch heftig diskutierten, obwohl sie sich<br />
Mühe gaben, leise zu reden. Lorenz wäre es sicher recht, wenn sie<br />
umkehren würden. Aber der Gedanke, dass sie Sturmtänzer dann nie<br />
wieder sehen würde, ließ Miris Kehle rau und eng werden.<br />
Das Schlaflied, das Ian für eine Mäusefamilie sang, die zwischen den<br />
Wurzeln einer jungen Tanne wohnte, übertönte die Stimmen der<br />
beiden Streithähne.<br />
„Ich gehe weiter“, entschied Miri.<br />
Vom Turm antwortete ihr der Ruf eines Käuzchens.<br />
192
Dreiundzwanzigstes Kapitel<br />
Der Weg führte immer steiler bergan und Miri schritt mit ihren<br />
langen Beinen so kräftig aus, dass die anderen weit hinter ihr<br />
zurückgeblieben waren, als sie den Fuß des Hügels endlich er-reichte.<br />
Da die Projektoren nicht eingeschaltet waren, sah der Ort<br />
unspektakulär aus. <strong>Die</strong> unüberwindliche Schlucht war nur ein lang<br />
gezogener Entwässerungsgraben mit einem halbmeterbreiten Steg<br />
und anstelle schneebedeckter Berggipfel waren hinter dem Turm die<br />
schimmernden Kuppelwände zu sehen.<br />
<strong>Die</strong> Enttäuschung trieb ihr Tränen in die Augen. „Was hattest du denn<br />
erwartet?“, sagte sie halblaut zu sich selbst. „Eine Kulisse für den<br />
Showdown?“<br />
Reglos stand sie am Rand des Grabens. Sie spürte den Wind auf ihrer<br />
schweißnassen Haut. Er wurde <strong>von</strong> einem Hochleistungs-rechner<br />
mithilfe komplizierter Maschinen erzeugt, genau wie der Regen oder<br />
die Sonnenaufgänge in der Wildniskuppel. Alles waren nur Illusionen.<br />
Eine Projektionsfläche für die archaischen Träume durchgeknallter<br />
Typen.<br />
Sie erinnerte sich an die Worte der Kriegerin: „Solange der Turm in<br />
beiden Welten existiert, kannst du dorthin zurückzugehen. In den<br />
Scherben deiner Träume findest du den Samen für eine neue Welt.“<br />
Vielleicht war der Turm der Schlüssel zu diesem Rätsel.<br />
Miri schüttelte den Kopf. An diesem Turm gab es nichts Rätselhaftes.<br />
Er war nur eine Hülle. <strong>Die</strong> Verpackung für eine Technik, die Träume<br />
so echt aussehen ließ, dass es wehtat, wenn sie zu Ende waren.<br />
Der Same für eine neue Welt!<br />
193
Dichter Nebel stieg aus dem Graben auf und weckte die Erinnerung<br />
an eine uralte Melodie.<br />
Hör der Trommel Klang. Ruft sie die Schwelle, ruft sie den Weg?<br />
Rätselhafte Worte aus einem halb vergessenen Traum.<br />
Hör der Trommel Klang. Ruft sie die Schwelle, ruft sie den Weg?<br />
D-d d-d-d-d d-da“, hörte sie Ian rufen. „D-d-der N-n d-der Nebel.“<br />
Hör der Trommel Ruf. Trau der Kraft. Spür deine Meisterschaft.<br />
Trommellied führt dich zur Schwelle, zeigt dir den Weg.<br />
„Krieg dich wieder ein, Ian“, antwortete Merl. „Da ist nichts. Gar<br />
nichts.“<br />
Das Lied und der Nebel schienen vor den Stimmen in die Schlucht<br />
zurückzuweichen. Miri wusste, was sie zu tun hatte. <strong>Die</strong> Erinnerung<br />
an den Gesang der Sterne über der Bucht mit dem knochenweisen<br />
Sand bahnte ihr den ersten Schritt.<br />
„Und jetzt?“, hörte sie Lorenz sagen. „Kann mir vielleicht einer erklären,<br />
warum wir hier herumstehen?“<br />
<strong>Die</strong> Erinnerung an die schweren Flechten in ihrer Hand und an das<br />
Schaben der Messerklinge in ihrem Nacken zeigte Miri den zweiten<br />
Schritt.<br />
„Wo ist Miri?“, fragte Ben. „Hab ihr gesehen, wohin …“<br />
„Es gibt wahrhaftig gefährlichere Gegner!“ <strong>Die</strong> Erinnerung an das<br />
herausfordernde Lachen der Kriegerin führte Miri auf die Brücke. <strong>Die</strong><br />
Welt, in der sie zuhause war, blieb hinter ihr zurück.<br />
194
„Sie ist auf der Brücke“, hörte sie Lorenz rufen. „Komm zurück. Da<br />
drüben gibt es nur Steine und alte Geschichten.“<br />
Sein Schmerz traf Miri mitten ins Herz, aber die junge Königin ließ<br />
sich nicht beirren.<br />
„In ihrem Wollen versöhnt die Königin die wilde Schönheit der<br />
unteren mit der Weisheit der oberen Kräfte.“ Erst als sie bereits<br />
mitten auf der Brücke stand, wurde Miri bewusst, dass es ihre Lippen<br />
gewesen waren, die diese Worte geflüstert hatten.<br />
„Lass sie“, hörte sie Ben sagen. „Das ist ihre Geschichte. Sie muss<br />
selbst herausfinden, welche Rolle sie darin spielen will.“<br />
„Wer bin ich?“, fragte Miri den Nebel.<br />
Wie im Spiegel einer dunklen Scheibe sah sie sich im schmucklosen<br />
graugrünen Overall an der Tür des Gleiters stehen. Sie sah sich im<br />
stillen Wasser eines Teichs, in einem goldgefassten Spiegel und im<br />
schützenden Glas über den Portraits <strong>von</strong> den Pionieren der Wildnisarbeit.<br />
„Wer bin ich?“, fragte Miri noch einmal.<br />
„Du bist alle und keine <strong>von</strong> ihnen“, antwortete der Narr. „Du bist die,<br />
die du sein willst. Aber du musst dich entscheiden.“<br />
Der Narr sagt immer die Wahrheit, auch wenn es eine unbequeme<br />
Wahrheit ist, erinnerte sich Miri. Mit dem nächsten Schritt trat sie<br />
durch alle Bilder hindurch. Sie überquerte die Brücke und stand in<br />
einer Welt aus Nebel.<br />
„Und du musst wissen, was du hier finden willst.“ <strong>Die</strong> Stimme der<br />
Magierin klang ernst. „Es ist deine Geschichte. Du entscheidest,<br />
welche Herausforderungen dir auf der anderen Seite begegnen und<br />
ob du siegreich daraus hervorgehen willst.“<br />
195
Miri wusste, dass sie der dunklen Königin noch einmal gegenübertreten<br />
musste, wenn sie Sturmtänzer wiedersehen wollte.<br />
Auf dem Weg zum Turm stolperte Miri über lose Steine und<br />
Mauerreste. In den Trümmern würde sie die Gegnerin sicher nicht<br />
finden. Sie tastete sich zu einer Mauerecke, die der Zeit getrotzt<br />
hatte. <strong>Die</strong> Wand mit dem leeren Fensterbogen lehnte sich gegen den<br />
Turm, als würde sie dort Halt suchen. Miri spähte durch das Fenster,<br />
aber zwischen den hohen Wänden war es dunkel wie in einer Gruft.<br />
Ehe ihre Vernunft protestieren konnte, turnte sie auf den<br />
Fenstersims und sprang auf der anderen Seite hinunter. Dabei trat sie<br />
gegen einen Stein. Er rollte über den Boden und hopste eine Treppe<br />
hinunter.<br />
Klack, klack, klack, klack-klack. Miri kam es so vor, als wolle er mit<br />
diesem Höllenlärm jeden wissen lassen, dass sie wieder da war.<br />
„So ein Quatsch!“, sagte Miri laut genug, um sich selber Mut zu<br />
machen. „Wen sollte es denn interessieren, ob ich da bin oder nicht.“<br />
„Mich“, antwortete eine Stimme, die wie das Mahlwerk einer alten<br />
Getreidemühle klang. „Ich habe lange auf dich gewartet.“<br />
Miri wollte sich mit einem Satz aus dem Fenster retten, doch eine<br />
grobe Hand packte ihren Knöchel und zerrte sie zurück in das Innere<br />
der Ruine.<br />
„Lass es uns endlich zu Ende bringen“, knirschte der Golem. „Da!“<br />
Eine steinerne Faust drückte ihr den Schwertgriff in die Hand. „Ich<br />
habe es für dich aufbewahrt.“<br />
Das rote Funkeln seiner Augen war das einzige, was Miri warnte. Sie<br />
drehte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, um der<br />
196
herabsausenden Keule auszuweichen. „Du bist ja irre!“ Sie packte das<br />
Schwert fester.<br />
„Vielleicht bin ich das. Aber ich kenne das Gesetz der Krieger.“ Seine<br />
Keule zielte genau auf Miri, doch im Eifer des Gefechts hatte der<br />
Wächter zu weit ausgeholt und der Schlag donnerte gegen die Decke.<br />
Putz und Steine prasselten herab, als Miri den Waffenarm des<br />
Gegners unterlaufen wollte, um zu der Treppe zu gelangen.<br />
„Oh nein! Du entkommst mir nicht noch einmal.“<br />
Ein Ellbogenstoß traf Miri in den Rücken und schleuderte sie gegen<br />
eine Wand. <strong>Die</strong> Atemluft staute sich in ihren Lungen, wie ein nasser<br />
Sack plumpste sie zu Boden und für einen Moment verlor sie die<br />
Orientierung. Als das Dröhnen in ihrem Kopf einsetzte, sah sie einen<br />
schwachen Lichtschimmer, wie <strong>von</strong> einem dünnen Streifen<br />
Tageslicht, der seinen Weg in die Finsternis gefunden hatte. Sie hörte<br />
das Scharren, als der Golem die Keule wieder erhob. Mit der Kraft der<br />
Verzweiflung stemmte sich Miri hoch und der Licht-schein folgte ihr.<br />
Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriffen hatte, dass die<br />
Helligkeit <strong>von</strong> dem Schwert in ihrer Hand ausging.<br />
„Mit dir habe ich doch gar keinen Streit“, rief Miri. „Ich suche deine<br />
Herrin. Ich will auch nicht mit ihr kämpfen, sondern reden.“<br />
Der Golem schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Herrin. Ich diene<br />
dem Schwert des Lichts.“<br />
„Ich will dein Schwert nicht“, beteuerte Miri, doch der steinerne<br />
Wächter schien ihr nicht einmal zuzuhören.<br />
„Du hast mich herausgefordert“, brüllte er. „Also töte mich oder<br />
stirb. So lautet das Gesetz.“ Seine Keule sauste herab.<br />
197
Miri versuchte nicht einmal, dem Hieb auszuweichen. Sie riss das<br />
leuchtende Schwert hoch, traf die Keule, kurz bevor diese den<br />
höchsten Punkt ihrer Bahn erreichte, und zerschmetterte sie, als<br />
wäre es ein morscher Ast. Der steinerne Wächter ließ das nutzlose<br />
Griffstück fallen. Seine Arme schwangen nach vorn und zerrten Miri<br />
in eine mörderische Umarmung. Gerade noch rechtzeitig brachte sie<br />
ihre Klinge zwischen sich und den Gegner.<br />
Im Tod liegt viel Kraft! <strong>Die</strong>ser Satz hallte wie ein Donnerschlag durch<br />
ihr Denken, als das magische Schwert den steinernen Panzer<br />
durchstieß.<br />
Aber Gewalt ist keine …<br />
Ein Schrei, wie <strong>von</strong> berstenden Felsen, brandete gegen Miris<br />
Trommelfell. Sie spürte den Schmerz, der den steinernen Leib zerriss.<br />
Das brennende Schwert schien ihr eigenes Herz zu durch-bohren.<br />
Ihre Kraft und ihr Wollen verbrannten zu Asche. Sie stürzte immer<br />
schneller. Ihr Körper zerbrach. <strong>Die</strong> Angst vor der Dunkelheit und dem<br />
ewigen Schweigen war alles, was sie noch mit dem Leben verband.<br />
Ein Seufzen. Erleichterung. Endlich frei!<br />
„Du musst auf dem alten Weg in deine Welt zurückkehren“, flüsterte<br />
die Stimme des Golems. „Geh da hinunter.“<br />
„Warum?“ Wie gebannt starrte Miri zu dem Treppenabsatz hin-über.<br />
Kälte, Dunkelheit und der Geruch <strong>von</strong> feuchter Erde krochen über die<br />
Schwelle.<br />
„Nur durch den Tod gelangst du in die Welt, <strong>von</strong> der du träumst.“<br />
Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Geh nur. Geh!“<br />
Es dauerte eine Weile, bis es Miri bewusst wurde, dass der Haufen<br />
Schutt und Staub, in dem sie kniete, die Überreste des Golems<br />
waren. Ungläubig starrte sie auf das Schwert in ihren Händen. Sein<br />
198
Licht verblasste und es wurde wieder zu einer gewöhnlichen Waffe<br />
aus Stahl. Eine gewöhnliche Waffe? Wie das Echo des Wahnsinns<br />
hallte ihr Lachen <strong>von</strong> den kahlen Wänden wider, gleichzeitig strömten<br />
Tränen über ihre Wangen.<br />
„Ich habe ihn getötet.“ <strong>Die</strong>ser Gedanke war so ungeheuerlich, dass<br />
ihr Verstand in so oft wiederholte, bis er sinnlos geworden war. „Ich<br />
habe ihn getötet.“ Ein fühlendes Wesen war durch ihre Hand<br />
gestorben.<br />
„Tod und Leben sind zwei verschiedene Seiten derselben Medaille“,<br />
flüsterte die Stimme der Knochensängerin durch ihre Gedanken.<br />
„Manche Wunden kann nur die Hand des Todes heilen“, fuhr die<br />
Hüterin der Quelle fort.<br />
<strong>Die</strong> Kriegerin schnaubte verächtlich. „Manchmal ist Gewalt eben<br />
doch eine Lösung.“<br />
„Der Golem ist nicht umsonst gestorben“, entschied die junge<br />
Königin. Sie würde in die Unterwelt hinabsteigen, um nach der Welt<br />
zu suchen, <strong>von</strong> der er gesprochen hatte. „Aus den zerbrochenen<br />
Träumen wird etwas Neues entstehen“, flüsterte Königin Miriel, und<br />
es wurde wahr, indem sie es aussprach.<br />
199
Vierundzwanzigstes Kapitel<br />
Hohe schmale Stufen führten in die unterirdischen Räume der Ruine<br />
hinab. Nach wenigen Schritten war es bereits stockdunkel.<br />
„Könntest du nicht wieder leuchten?“ Miri schüttelte das Schwert,<br />
doch auf diese Weise brachte sie es nicht wieder zum Leuchten. Sie<br />
steckte die Waffe in ihren Gürtel, damit sie beide Hände benutzen<br />
konnte, um die lichtlose Welt zu ertasten. Am Ende der Treppe lag<br />
ein Gang, der so schmal war, dass sie mit aus-gestreckten Armen<br />
beide Wände berühren konnte. Sie zählte ihre Schritte, als sie bei<br />
zwölf angekommen war, ertastete sie auf beiden Seiten einen engen<br />
Durchbruch, aber sie beschloss, weiter-hin dem Hauptgang zu folgen.<br />
Bei Schritt Nummer siebenundzwanzig erreichte sie eine Wand aus<br />
gleichmäßig geformten Steinen. Ihre Finger fanden eine wulstige<br />
Einfassung, die sich wie ein Türrahmen anfühlte. Wenn es hier je<br />
einen Durchgang gegeben hatte, war er wohl schon vor Jahren<br />
verschlossen und vermauert worden. Hier ging es jedenfalls nicht<br />
weiter.<br />
Enttäuscht tappte Miri zu den Abzweigungen zurück. Sie tastete sich<br />
zuerst nach links. Anscheinend war der Gang <strong>von</strong> seinen Er-bauern in<br />
aller Eile aus dem Felsen gehauen worden. Der Stein unter Miris<br />
Fingern fühlte sich rau an, und sie musste gebückt gehen, wenn sie<br />
sich nicht den Kopf anstoßen wollte. Beim vierten Schritt stieß sie mit<br />
dem Schienbein gegen ein Hindernis. Sie ertastete eine steinerne<br />
Kiste, die mit verschlungenen Ornamenten verziert war. Auf den<br />
Deckel dieser Kiste entdeckten ihre Finger den Faltenwurf <strong>von</strong> Stoff,<br />
der ebenfalls aus Stein gemeißelt war. Sie wanderten über ein<br />
aufwendig verziertes Kleid und knochige Hände weiter zu …<br />
200
Miri zuckte zurück, als hätte sie sich an dem steinernen Totenschädel<br />
verbrannt. Das war ein Sarg. Sie stand in einem Grab. Der<br />
Gedanke jagte ihr einen Schauder über den Rücken.<br />
„Sei bloß nicht albern!“, ermahnte sie sich streng, doch im nächsten<br />
Moment hätte sie sich vor Schreck fast auf die Zunge gebissen.<br />
Ihre Stimme hatte ein unheimliches Echo geweckt. „Sss, sssssei<br />
blosss, sssssei“, zischte es aus den Ecken und draußen im Haupt-gang<br />
polterte es: „Albärrr …“<br />
Miri konnte das Rascheln und Flüstern hören, obwohl sie ihre Hände<br />
auf die Ohren gepresst hatte. Reglos wartete sie darauf, dass die<br />
Stille in die unterirdischen Gänge zurückkehren würde. Doch was<br />
einmal erwacht war, schien so schnell keine Ruhe mehr zu finden.<br />
Selbst als das Echo längst verhallt war, knisterte es, als würden große<br />
Käfer über die Steine scharren. Etwas berührte ihren Fuß, und Miri<br />
wäre am liebsten schreiend da<strong>von</strong>gelaufen.<br />
Sie fühlte ihr Herz im Hals schlagen, als sie sich in den gegenüberliegenden<br />
Gang tastete. Er endete ebenfalls in einer kleinen<br />
Grotte mit einem steinernen Sarkophag. Auf dem Deckel ruhte die<br />
Skulptur eines Mannes, der seine leblosen Hände über der Brust<br />
gefaltet hatte, als würde er etwas festhalten. Vielleicht war es der<br />
König, der dieses Land einst regiert hatte. Ein leises Seufzen ließ Miri<br />
aus ihren Betrachtungen hochschrecken. Obwohl es stock-dunkel<br />
war, fühlte sie sich plötzlich beobachtet und sie hörte ein Geräusch,<br />
das fast wie Atmen klang. Miri nahm ihren ganzen Mut zusammen.<br />
„Ist da jemand?“, fragte sie die Dunkelheit.<br />
Nur das Echo antwortete ihr. „Jemand, eman, geh man.“<br />
Als es wieder still war, hörte Miri ein Flüstern wie <strong>von</strong> einer<br />
menschlichen Stimme. Es kam aus dem Fußboden.<br />
201
„Hallo?“, rief Miri noch einmal. „Hier muss jemand sein. Da redet<br />
doch jemand.“ Auf Händen und Knien tastete sie den Boden ab.<br />
„Geh weiter hinunter“, antwortete die Stimme eines Mannes. „Mach<br />
schnell, bevor es zu spät ist.“<br />
„Wer sind Sie?“ Miris Finger suchten fieberhaft nach einem Riss oder<br />
einer Fuge im Boden, aber sie fanden nur massiven Fels. „Warum<br />
zeigen Sie sich nicht?“<br />
Keine Antwort.<br />
Miri kehrte in den Hauptgang mit den scharrenden Käferfüßen und<br />
dem boshaften Echo zurück. Nach kurzem Zögern wandte sich nach<br />
rechts.<br />
„Zehn, elf, zwölf …“ Irritiert blieb sie stehen. Hier sollte die Treppe<br />
sein. Stattdessen bog der Gang nach rechts ab und führte steil nach<br />
unten. „Vermutlich muss ich da hinunter.“<br />
So ein Quatsch! In Wirklichkeit gibt es diese Höhle genauso wenig wie<br />
Magie oder Pferde, meldete sich plötzlich die Stimme der Vernunft<br />
zurück. Du musst dir nur bewusst machen, dass du in Wirklichkeit gar<br />
nicht hier bist. Wahrscheinlich sitzt du im Seminarraum und<br />
meditierst.<br />
„Sturmtänzer …“ Miri wollte sich an ihrer Sehnsucht nach dem<br />
Freund festhalten, doch die Stimme in ihrem Kopf lachte sie aus.<br />
Vergiss ihn! Er war ein Teil deiner Prüfung wie der Golem und das<br />
leuchtende Schwert. In deiner Welt gibt es keine Magie und keine<br />
Pferde.<br />
„Aber ich habe ihm versprochen …“<br />
202
Wach endlich auf. Sie zu, dass du aus dieser Geschichte wieder<br />
rauskommst, bevor du so verrückt wirst wie Ian.<br />
„Ich will Sturmtänzer wenigstens noch einmal sehen, um mich <strong>von</strong><br />
ihm zu verabschieden“, entschied Miri.<br />
Woher willst du denn wissen …<br />
Doch Miri gab vor, die neunmalkluge Stimme nicht mehr zu hören.<br />
In Gedanken versunken tastete sie sich den Gang entlang. Nur am<br />
Rand ihres Bewusstseins registrierte sie, dass er weiter bergab führte<br />
und allmählich schmaler und niedriger wurde. Irgendwann musste<br />
sich Miri auf alle viere niederlassen, um überhaupt weiterzukommen.<br />
Der Boden war nass, Wasser tropfe <strong>von</strong> den Wänden,<br />
sammelte sich in Pfützen und vereinigte sich in einem Rinnsal, das zu<br />
einem kleinen Bach wurde. Je schneller das Wasser durch den<br />
niedrigen Tunnel floss, desto langsamer kam Miri voran.<br />
Sie überlegte, ob es nicht vernünftiger wäre, zurück zu kriechen, aber<br />
in dem engen Gang konnte sie sich nicht einmal mehr umdrehen.<br />
Natürlich könnte sie rückwärts bis sie zu einer Stelle robben, die breit<br />
genug war, um zu wenden. Aber dabei hätte sie nichts gewonnen.<br />
„Los weiter“, trieb sie sich voran. „Und beschwer dich nicht. Ein<br />
bisschen Anstrengung hat noch keinem geschadet. Dir wird schon<br />
nichts passieren.“<br />
Ganz sicher? Ausgerechnet jetzt meldete sich die skeptische Stimme<br />
in ihren Gedanken zurück. Deine Abenteuer und Helden-taten waren<br />
nur ein Spiel, aber das ist die Wirklichkeit.<br />
„Es geht auch in Wirklichkeit darum, bis zum Äußersten und dann<br />
noch einen Schritt weiterzugehen“, hielt sie dagegen.<br />
203
Menschen, die einen falschen Schritt machen, können in Wirklich-keit<br />
sterben. Wer sollte dich denn finden, wenn du hier stecken bleibst?<br />
„Bestimmt würden Ben und Lorenz nach mir suchen und …“<br />
Es ist dieses Schwert, das alles so schwer macht, flüsterte die<br />
Stimme. Du hast doch gehört, was Lorenz gesagt hat. Das ist nicht<br />
deine Geschichte. Lass es einfach hier liegen, dann kann auch keiner<br />
mehr Unfug damit machen.<br />
„Es hat mich so viel Mühe gekostet und Sturmtänzer …“<br />
Beinahe zärtlich strich Miri über die Waffe. <strong>Die</strong> Klinge war lang und<br />
schlank, der Griff schmucklos und mit einem Band umwickelt, das<br />
sich gleichzeitig hart und geschmeidig anfühlte. Es schien nichts<br />
Besonderes daran zu sein. Im Vergleich zu dem Messer, das Lorenz<br />
ihr ab und zu geliehen hatte, kam ihr das Schwert geradezu lächerlich<br />
leicht vor. Aber hier unten war es ihr überall im Weg. Wenn sie es in<br />
der Hand hielt, kam sie nur mühsam vorwärts, und wenn sie es in den<br />
Gürtel steckte, geriet es ihr dauernd zwischen die Beine.<br />
Lass es hier, wiederholte die Stimme in ihrem Kopf. In deiner Welt<br />
gibt es keine Schwerter und keine Gesetze, die dich dazu zwingen, zu<br />
töten.<br />
Behutsam bettete Miri die Waffe in die Rinne, die das Wasser aus<br />
dem Fels gewaschen hatte.<br />
„Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du hier bleibst“, flüsterte sie.<br />
„Ruth hat doch auch gesagt, dass unsere Welt keine Schwerter mehr<br />
braucht.“<br />
Als sie weiterkrabbeln wollte, schien der Fels unter ihr zu ächzen.<br />
„Nimm es mit“, knarrte er mit der Stimme des Golems. „Jetzt bist du<br />
seine Hüterin. Und in dieser Welt ist es nicht mehr sicher.“<br />
204
Miri gehorchte der Stimme nur zu gerne.<br />
Inzwischen war aus dem Gang eine Röhre geworden, in der sich Miri<br />
auf dem Bauch kriechend weiter bewegen musste. Immer wieder<br />
schob sie das Schwert voran und zog sich dann hinterher. Glücklicherweise<br />
ging es steil bergab. Den Gedanken, dass der Weg in einer<br />
Sackgasse enden könnte, verdrängte sie entschlossen.<br />
„Wenn es nicht weitergehen würde, könnte das Wasser auch nicht<br />
abfließen“, sprach sie sich selbst Mut zu. Aber dem Wasser reich-ten<br />
dafür winzige Ritzen und Spalten.<br />
„Denk einfach nicht darüber nach!“ Entschlossen schob sie sich<br />
voran. „Es gibt immer eine Lösung.“<br />
Wenig später stieß das Schwert gegen eine massive Felswand. Miri<br />
musste es beiseitelegen und daran vorbeikriechen, um in der<br />
Dunkelheit die scharfe Rechtskurve zu ertasten. Sie zog die Waffe<br />
unter ihrem Bein heraus, fädelte sie um die Ecke und gab ihr einen<br />
Stoß. Das Schwert schepperte über den unebenen Grund, schien<br />
unterwegs noch ein paar Steine mitzureißen und klirrte noch einmal,<br />
bevor es irgendwo viel weiter unten liegen blieb.<br />
„Da ist bestimmt der Ausgang“, sprach sie sich selbst Mut zu. Aber<br />
die Dunkelheit und die Stille schienen jeden Funken Hoffnung im<br />
Keim zu ersticken. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich um die Kurve zu<br />
winden. Ein scharfkantiger Stein zerriss ihren Overall und schrammte<br />
schmerzhaft über ihre Haut. Dann steckte sie plötzlich fest.<br />
„Verdammt!“, fluchte sie, um der Tränen Herr zu werden, die ihr in<br />
die Augen schossen. „Das muss doch hier irgendwie weitergehen.“<br />
Doch alles Drehen und Wenden sorgte nur dafür, dass sie sich noch<br />
weniger bewegen konnte. Es kam ihr so vor, als würde sich der Fels<br />
205
immer enger um sie schließen. Von einem Moment auf den anderen<br />
war sie schweißüberströmt und die Luft wurde knapp.<br />
„Weiteratmen, Miri.“ Sie glaubte, die Stimme <strong>von</strong> Lorenz zu hören.<br />
„Zähl dich wieder runter. Zehn, neun, acht …“<br />
Wütend knirschte sie mit den Zähnen. „Ich werde hier rauskommen“,<br />
versprach sie sich selbst. „Es gibt immer einen Weg.“<br />
Ihre Füße fanden Halt an einem kleinen Vorsprung und sie schob sich<br />
mit einem kraftvollen Stoß voran. Steine gaben unter ihrem Gewicht<br />
nach, sie kippte vornüber, schlitterte eine steile Geröll-halde hinunter<br />
und kam in einem Haufen Schotter zu liegen. Luft! Ein Windhauch<br />
strich über ihre Haut und sie konnte endlich wieder etwas sehen.<br />
Rings herum ragten steile Felswände in einen dämmrig grauen<br />
Himmel. Wie die Sitzreihen einer Arena schlossen sie eine halbwegs<br />
ebene Fläche <strong>von</strong> der Größe eines ihrer Klassenräume ein. Vor den<br />
dunklen Klippen gegenüber schien sich etwas zu bewegen. Auf den<br />
ersten Blick sah es aus wie der rötliche Widerschein eines<br />
verlöschenden Lagerfeuers. Doch dann erkannte Miri, das fuchs-rote<br />
Pferd, das mit hängendem Kopf in der trostlosen steinernen Welt<br />
stand.<br />
„Sturmtänzer!“<br />
„Miri?“ Der Fuchs riss den Kopf hoch. Ein derber Strick war um seinen<br />
Hals geknotet. „Lauf! Bring dich in Sicherheit.“<br />
Das Seil führte zu einem zentnerschweren Felsbrocken.<br />
„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Im Nu war sie auf den Beinen, um<br />
dem vierbeinigen Freund zu Hilfe zu eilen.<br />
Der Hengst scheute vor ihrer Berührung zurück, soweit es der Strick<br />
erlaubte. „Lauf weg“, schnaubte er. „Das ist eine Falle.“<br />
206
„Ganz recht.“ Das war die Stimme des Ritters. „Aber jetzt sitzt ihr<br />
wenigstens gemeinsam drin.“ Mit einem grimmigen Lachen trat der<br />
Mann hinter den mannshohen Steinen am Ende der Felswand hervor.<br />
207
Fünfundzwanzigstes Kapitel<br />
„Vielleicht.“ Ohne ihren Blick <strong>von</strong> dem Ritter abzuwenden, nestelte<br />
Miri an dem Knoten herum, doch er lockerte sich nicht. „Vielleicht<br />
aber auch nicht.“<br />
„Du hast dir Zeit gelassen.“ Der Mann in der schwarzen Rüstung kam<br />
langsam näher. Sein Schwert trug er schräg über dem Rücken und der<br />
Griff ragte über seine rechte Schulter. „Ich hatte schon bezweifelt, ob<br />
du überhaupt noch kommen würdest. Aber unsere Herrin war sicher,<br />
dass du der Versuchung nicht widerstehen könntest, ihr das<br />
Windpferd zum zweiten Mal zu stehlen.“<br />
„Ich kann ihr nichts stehlen, was ihr nicht gehört“, entgegnete Miri.<br />
„Lass ihn frei. Sturmtänzer will deiner Herrin nicht dienen.“<br />
„Du bist kaum in der Lage, irgendwelche Forderungen zu stellen“,<br />
spottete der Ritter. „<strong>Die</strong>ses Spiel hast du verloren. Aber du kannst<br />
noch deine eigene Haut retten. Gib mir das Schwert.“ Fordernd<br />
streckte er die Hand aus.<br />
„Ich hab es nicht mehr.“ Aus den Augenwinkeln sah sie dort, wo sie<br />
gelandet war, etwas metallisch schimmern. Aus Angst, die Aufmerksamkeit<br />
des Mannes möglicherweise auf das verlorene Schwert<br />
zu lenken, wagte sie jedoch nicht, genauer hinzusehen.<br />
„Das kannst du einem erzählen, der seine Suppe im Nachttopf kocht.“<br />
Lachend schüttelte der Ritter den Kopf. „Wo ist es?“<br />
„Es ist in die Schlucht gefallen.“ Miri zerrte verzweifelt an dem<br />
Knoten. Inzwischen war der Ritter so nah, dass Miri die feinen<br />
Ziselierungen auf seiner Rüstung erkennen konnte.<br />
208
„Gib nicht auf“, flüsterte sie dem Pferd zu. „Noch haben wir nicht<br />
verloren.“ Während sie so tat, als würde sie ängstlich vor dem<br />
übermächtigen Gegner zurückweichen, näherte sich Miri der Stelle,<br />
wo sie die Waffe vermutete.<br />
„Hat sich die junge Heldin in eine piepsende Maus verwandelt?“<br />
Plötzlich richtete der Ritter seinen Bihänder auf Miri. Sie hatte nicht<br />
einmal gesehen, wie er ihn aus der Scheide gezogen hatte. „Aus der<br />
Schlucht ist das magische Schwert zu seinem Wächter zurückgekehrt<br />
und letzte Nacht ist es mitsamt dem Golem verschwunden. Willst du<br />
immer noch behaupten, dass du nicht weißt, wo es ist?“<br />
„Ich …“ Schritt für Schritt tastet sich Miri nach hinten. „Keine<br />
Ahnung.“ Plötzlich hörte sie ein leises Klirren. Ohne den Gegner aus<br />
den Augen zu lassen, bückte sie sich und der Griff der Waffe schien<br />
ihr wie <strong>von</strong> selbst in die Hand zu springen.<br />
Mit einer Schnelligkeit, die Miri dem schwer Gerüsteten nie zugetraut<br />
hätte, stand er plötzlich vor ihr. Sie sah seine Waffe blitzen, ein<br />
derber Schlag traf ihre Brust und ließ sie taumeln. Zum Glück hatte er<br />
nur mit der flachen Seite der Klinge zugeschlagen.<br />
„Du hast es also doch. Dann sind wir in dieser Angelegenheit schon<br />
einen Schritt weiter.“<br />
Der Ritter setzte nicht gleich nach, sondern wartete, bis Miri wieder<br />
sicheren Stand hatte. Mit zitternden Händen nahm sie das Schwert<br />
hoch.<br />
„Du willst also kämpfen.“ Er nickte anerkennend. „Das ist mir auch<br />
lieber.“ Im nächsten Moment stürmte er brüllend auf sie los. Das<br />
gewaltige Schwert kreiste über seinem Kopf. bevor er jedoch<br />
zuschlagen konnte, brachte sich Miri hinter einen hüfthohen Felsen<br />
in Sicherheit.<br />
209
„Willst du tanzen oder kämpfen“, spottete er. Langsam umkreiste der<br />
Ritter den Felsen und Miri tat dasselbe. Vielleicht konnte sie in einem<br />
weiten Bogen zu Sturmtänzer rennen, den Strick einfach<br />
durchschneiden, aufsitzen und da<strong>von</strong>galoppieren. Plötzlich hörte sie<br />
in ihrem Rücken Steine den Hang hinunterrutschen. Ein ängstliches<br />
Schnauben folgte dem Klappern und das Stampfen <strong>von</strong> Hufen. <strong>Die</strong><br />
Angst um den vierbeinigen Freund packte Miri mit eisiger Hand.<br />
Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie den Gegner<br />
nicht aus den Augen lassen durfte.<br />
Sie sah den nächsten Angriff kommen und wollte ihm ausweichen,<br />
doch das Schwert schien ihre Hand zu führen. Es zerrte sie gleichzeitig<br />
nach vorne und nach oben, Metall klirrte auf Metall. <strong>Die</strong><br />
Waffen schienen sich ineinander zu verbeißen. Miri wurde <strong>von</strong> einem<br />
Funkenregen geblendet. Plötzlich brach der Widerstand der<br />
gegnerischen Klinge. Miri stolperte, der Ritter griff nach ihrer Schulter<br />
und wollte sie in eine mörderische Umarmung zu ziehen. Wie ein<br />
Raubtierzahn blitzte die abgebrochene Klinge in seiner Hand. Bevor<br />
sich die tödliche Falle schließen konnte, riss Miri die Arme hoch und<br />
ließ sich einfach fallen. Mit einer Rolle rückwärts kam sie auf die<br />
Füße. Der Ritter stand schon fast wieder über ihr. Miri riss ihre<br />
Waffenhand hoch und drehte sich zur Seite. Metall schrammte über<br />
Metall. <strong>Die</strong> schimmernde Klinge nahm den Schwung des Angreifers<br />
auf und führte seine Hand nach unten. Wie eine Stahlfeder schnellte<br />
Miri aus der halben Drehung zurück und rammte dem Gegner das<br />
linke Knie in die Seite. Sie sah ihn taumeln. Mit einem hastigen<br />
Ausfallschritt wollte er sich abfangen, aber das Gewicht seiner<br />
Rüstung zog ihn nach unten. Er donnerte schwer zu Boden, und im<br />
nächsten Moment deutete die Spitze des Zauber-schwertes auf seine<br />
Kehle.<br />
„Ergib dich“, keuchte Miri. <strong>Die</strong> Klinge glühte so hell wie ihr Zorn.<br />
210
Der Ritter schnaubte verächtlich. „Ich ergebe mich nur einem<br />
würdigen Gegner.“<br />
„Ich habe dich besiegt“, protestierte Miri. Das Licht ihrer Klinge<br />
wurde bei diesen Worten sichtlich blasser.<br />
„Besiegt bin ich erst, wenn mein Blut die Erde tränkt“, lachte der<br />
Ritter. „Du kannst mich nicht besiegen. Gewalt ist für dich doch keine<br />
Lösung.“ Blitzschnell warf er sich herum, fegte ihre Klinge beiseite<br />
und stemmte sich hoch. Miri wollte zurückweichen, doch die Klinge<br />
zuckte wie <strong>von</strong> selbst in die Höhe und traf mit der flachen Seite den<br />
ungeschützten Nacken des Gegners. <strong>Die</strong> Wucht des Treffers warf ihn<br />
erneut auf die Knie.<br />
„Tu es!“, Er beugte seinen Nacken. „Bring es endlich zu Ende.“<br />
„Nein“, entgegnete Miri. „Gewalt ist keine Lösung.“<br />
„Du kannst diesen Kampf nur gewinnen, wenn du das Gesetz der<br />
Schwerter respektierst.“<br />
Miri schüttelte den Kopf. „So kommen wir nicht weiter. Fällt dir denn<br />
gar keine vernünftige Lösung ein?“<br />
„Eigentlich habe ich keinen Streit mit dir“, entgegnete der Ritter. „Ich<br />
befolge nur die Befehle meiner Herrin. Da du mich besiegt hast, steht<br />
es dir frei, mich zu töten, meiner Waffen zu berauben oder einen<br />
Treueeid <strong>von</strong> mir zu fordern.“<br />
„Würdest du mir diesen Treueeid leisten?“<br />
„Ich diene der Herrin dieses Landes. Da du mich im Kampf besiegt<br />
hast, musst du wohl die rechtmäßige Herrscherin sein.“<br />
„Und du versprichst mir, dass du dich auch an diesen Eid hältst?“<br />
211
„Bei meiner Kriegerehre.“<br />
Miri streckte ihm die Hand entgegen. „Wenn es so einfach ist …“<br />
„Glaubst du wirklich, dass es so einfach sein könnte?“<br />
Der Schreck fuhr Miri in alle Knochen, als sie die Stimme erkannte.<br />
Nun wusste sie, wessen Schritte sie vorhin gehört hatte.<br />
„Verdammte Hexe!“ Wild entschlossen riss Miri ihre Waffe hoch und<br />
wirbelte herum. Als sie sah, dass die dunkle Königin Zügel in der Hand<br />
hielt, die zu einer Kandare in Sturmtänzers Maul führten, erstarrte sie<br />
mitten in der Bewegung.<br />
„Mit diesem Halfter kann ich mir jedes Pferd gefügig machen. Ich<br />
glaube, ich hatte es schon einmal erwähnt.“<br />
Sturmtänzer senkte ergeben den Kopf, als die dunkle Königin den<br />
Zügel schüttelte.<br />
Sie lächelte zufrieden. „Wenn keiner die Nerven verliert, finden wir<br />
sicher eine Lösung, mit der wir alle leben können, nicht wahr?“<br />
Miri atmete tief ein und zwang sich zu einem Lächeln. Es gab nichts<br />
mehr zu verhandeln. <strong>Die</strong> dunkle Königin würde ihre Bedingungen<br />
diktieren und Miri musste tun, was <strong>von</strong> ihr verlangt wurde.<br />
„Ich habe nicht vor, hier zu versauern.“ In den hautengen Hosen und<br />
den hohen Stiefeln mit breiten Stulpen sah die dunkle Königin sehr<br />
jung und beinahe verwegen aus. Mit dem langen Zopf, der ihr über<br />
die Schulter fiel, hätte sie fast ein dunkles Spiegelbild der Miri sein<br />
können, die ihre Haare noch nicht geopfert hatte.<br />
Als ihr dieser Gedanke bewusst wurde, rümpfte Miri empört die<br />
Nase. Niemals würde sie sich in ein Mieder zwängen, das eng genug<br />
war, um ihre Brüste aus dem Ausschnitt hervorquellen zu lassen.<br />
212
„Wir hätten uns gemeinsam auf die Suche nach einer netteren Welt<br />
machen können, aber dir scheint mehr an dieser Schutthalde als an<br />
meiner Gesellschaft zu liegen.“ Gelangweilt spielte sie mit einer<br />
kurzen Reitgerte herum.<br />
Sturmtänzer wollte zurückweichen, aber ein harter Ruck am Zügel<br />
ließ ihn erstarren.<br />
„Glaubst du nicht auch, dass wir beide glücklicher sind, wenn wir<br />
unsere Plätze tauschen?“<br />
„Lassen Sie zuerst Sturmtänzer frei.“ Der Anblick des vierbeinigen<br />
Freundes, dem der Schweiß über Hals und Brust rann, traf Miri<br />
mitten ins Herz. „So dürfen Sie nicht mal ein gewöhnliches Pferd<br />
behandeln.“<br />
„Was du nicht sagst.“ <strong>Die</strong> dunkle Königin lachte schrill. „So behandle<br />
ich jeden, der mir nicht gehorcht und die Methode hat sich noch<br />
immer bewährt. Zumal mir dieses Pferd nicht einmal besonders<br />
ungewöhnlich vorkommt.“<br />
Mit dem goldverzierten Halfter sah Sturmtänzer in der Tat wie ein<br />
gewöhnliches Pferd aus und genauso gebärdete er sich auch. Mit<br />
aufgerissenem Maul und rollenden Augen tänzelte er hin und her<br />
aber er machte nicht einmal den Versuch, sich loszureißen.<br />
„Steh endlich still, du dummes Vieh.“ <strong>Die</strong> dunkle Königin zog die<br />
Gerte über seine Kruppe und zerrte gleichzeitig am Zügel.<br />
Schnaubend riss der Fuchs den Kopf hoch.<br />
Miri keuchte, als hätte der Schlag sie selbst und nicht das Pferd<br />
getroffen.<br />
„Eigentlich müsste ich gekränkt sein, weil dich dieses Vieh offensichtlich<br />
mehr interessiert als meine Geschichte.“ Es sah komisch aus,<br />
213
als die erwachsene Frau ihre Unterlippe vorschob als würde sie<br />
schmollen. Aber ihre Augen funkelten dabei so gefährlich, dass es<br />
Miri keine Mühe bereitete, sich das Lachen zu verkneifen.<br />
„Andererseits schätze ich es, wenn es jemand wagt, mir die Wahrheit<br />
zu sagen.“ Das Lächeln wirkte nicht echt. „Außerdem hast du<br />
mich daran erinnert, dass meine Zeit knapp ist. Dir liegt viel an<br />
diesem Pferd, nicht wahr?“<br />
Miri wusste, dass es nicht klug war, mit offenen Karten zu spielen,<br />
aber die dunkle Königin schien sowieso schon alles zu wissen. „Ja.“<br />
Sie nickte. „Bitte, lassen Sie ihn gehen.“<br />
<strong>Die</strong> Frau nickte nachdenklich. „Wie wäre es mit einem Tausch. Du<br />
gibst mir mein Schwert zurück und ich lasse Sturmtänzer frei.“<br />
„Auf diesen Handel dürft Ihr Euch nicht einlassen, Königin Miriel“,<br />
warnte der Ritter. „Wer das Schwert des Lichts besitzt …“<br />
„Halt du dich da raus“, fauchte die dunkle Königin. „Wer sich <strong>von</strong><br />
einem Mädchen die Ehre abschneiden lässt, sollte seine Ratschläge<br />
besser für sich behalten.“ Und zu Miri gewandt fuhr sie fort: „Bist du<br />
damit einverstanden?“<br />
Ratlos schüttelte die den Kopf. „Was wollen Sie denn damit? Ich<br />
dachte, Sie brauchen das Schwert und das Windpferd, um in eine<br />
andere Welt reisen zu können.“<br />
„Aber nein. Wer hat dir denn dieses Märchen erzählt?“, schnurrte die<br />
dunkle Königin. „Das Schwert öffnet dem, der die geheimen Pfade<br />
kennt, alle magischen Tore. Auf dem Rücken des Wind-pferdes<br />
könnte ich ohne Aufenthalt in die entlegensten Welten reisen. Aber<br />
wenn dich eine Trennung so schmerzt, nehme ich die Mühe gerne auf<br />
mich. Gib mir das Schwert, dann werde ich auf Nimmerwiedersehen<br />
verschwinden.“<br />
214
„Nein!“, protestierte der Ritter. „Ihr dürft dieser Hexe kein Wort<br />
glauben, Königin Miriel. Sie wird Euch betrügen, wie sie bisher noch<br />
jeden betrogen hat.“<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin lachte böse. „Hüte deine Zunge, Waffenknecht.<br />
Ich weiß nicht, ob deine neue Herrin so nachsichtig mit dir ist, wie ich<br />
es war.“<br />
„Wenn Sie nur das Schwert brauchen, um in eine andere Welt zu<br />
reisen, warum sind Sie dann immer noch hier?“, wollte Miri wissen.<br />
„Weil ihr das Schwert nie gedient hat“, antwortete der Ritter an der<br />
Stelle seiner früheren Herrin. „Der Golem durfte es nur dem<br />
aushändigen, der ihn im Kampf besiegt.“<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin funkelte ihn zornig an. „Strapaziert meine Ge-duld<br />
nicht zu sehr.“ <strong>Die</strong> Gerte zeichnete schaumweiße Striemen auf den<br />
schweißnassen Pferdehals. Sturmtänzer wollte sich wiehernd<br />
aufbäumen, doch ein harter Ruck am Zügel hielt ihn zurück.<br />
„Bitte nicht“, flehte Miri. „Sie bekommen das Schwert. Aber lassen<br />
Sie ihn gehen.“<br />
„Eins nach dem anderen.“ Fordernd streckte die dunkle Königin ihre<br />
Hand aus.<br />
Entschlossen packte Miri die Klinge und streckte der anderen Frau<br />
das Heft entgegen.<br />
„Ich wusste doch, dass du ein braves Mädchen bist.“ <strong>Die</strong> dunkle<br />
Königin ließ die Gerte fallen, packte das Schwert und schwang sich<br />
auf den Pferderücken.<br />
Sturmtänzer machte einen erschrockenen Satz nach vorn.<br />
215
„Bleib hier.“ Miri wollte den Zügel greifen, aber Sturmtänzer scheute<br />
vor ihr zurück. „Das ist nicht fair!“<br />
„Das Leben ist niemals fair“, spottete die dunkle Königin. „Und das<br />
Spiel ist erst zu Ende, wenn alle Karten aufgedeckt sind.“ Sie trat dem<br />
Pferd in die Seiten, dass es aus dem Stand angaloppierte, und lenkte<br />
es mit harter Hand auf die Straße zu dem einsamen Turm.<br />
„Verdammt, verdammt, verdammt!“ Schreien und Stampfen machte<br />
es nicht besser. <strong>Die</strong> Hexe hatte nicht nur das Windpferd, sondern<br />
auch das Schwert des Lichts in ihre Gewalt gebracht. Jetzt konnte sie<br />
ungehindert <strong>von</strong> einer Welt in die nächste reisen, und Miri war<br />
schuld daran. Ein gellender Pfiff gefolgt vom Klappern eisenbeschlagener<br />
Hufe ließ sie herumfahren.<br />
„Ich werde sie aufhalten, Königin Miriel.“ Seiner schweren Rüstung<br />
zum Trotz schwang sich der Ritter behände in den Sattel. „Ich werde<br />
Euch, Euer Ross und Schwert zurückzubringen oder bei dem Versuch<br />
sterben.“<br />
Schnaubend setzte sich das Streitross in Trab.<br />
„Halt!“, brüllte Miri. „Nimm mich mit. Bitte.“<br />
„Nein.“ Der Ritter wandte sich nicht einmal um. „<strong>Die</strong>se Frau ist<br />
gefährlich und ich will Euch nicht in Gefahr bringen.“ Er gab seinem<br />
Rappen die Zügel frei und galoppierte da<strong>von</strong>. Badarom, badarom,<br />
donnerten die Hufe und die Silberbeschläge des Zaumzeugs klirrten<br />
im Takt dazu: klapklapp, klapklapp.<br />
„Verdammt!“ Miri stampfte noch einmal auf den Boden, doch es<br />
änderte nichts daran, dass sie sich völlig hilflos fühlte.<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Morgen? Ruft sie das Licht?<br />
216
Der Gesang tönte durch ihre trüben Gedanken, als wollte er sich<br />
daran erinnern, dass die Brücke mit dem magischen Tor frei war.<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Morgen? Ruft sie das Licht?<br />
Sie sollte endlich Vernunft annehmen und in ihre Welt zurückkehren.<br />
Hör das Sonnenlied, hör den Klang. Lausche dem Erdgesang.<br />
Tommelruf zeigt dir die Wege. Fürchte dich nicht.<br />
Leiser werdendes Hufgeklapper wies ihr den Weg zu dem Turm.<br />
„Zeigt dir die Wege. Fürchte dich nicht!“, schienen sich die Worte im<br />
Morgenlied einer Amsel zu wiederholen.<br />
„Was willst du mir damit sagen?“<br />
Keckernd flog der Vogel zur Kuppe des Hügels hinauf.<br />
„Wenn ich deine Flügel hätte, wüsste ich auch, wie ich da hinaufkomme“,<br />
schimpfte Miri.<br />
„Fürchte dich nicht!“ Eisig blies ihr der Wind in den Nacken, bevor er<br />
weiterwehte und den Nebel über der Schlucht aufwirbelte.<br />
„Wenn ich so leicht wäre, dass ich auf dem Rücken des Windes reiten<br />
könnte“, überlegte Miri halblaut. „Oder wenn ich die Flügel eines<br />
Vogels hätte …“<br />
„Fürchte dich nicht“, brummten die Steine unter ihren Füßen.<br />
<strong>Die</strong> Flügel eines Vogels …<br />
Sie hatte schon zweimal eine andere Gestalt angenommen.<br />
217
„Fürchte dich nicht“, hallte es <strong>von</strong> den Felsen wider.<br />
<strong>Die</strong> Magierin hatte ihr geholfen, sich in eine Katze zu verwandeln.<br />
„Fürchte dich nicht“, klang es leise aus dem Nebel.<br />
Am Grund der Schlucht hatte sie keine Hilfe gebraucht, um zu einer<br />
Stute zu werden.<br />
„Fürchte dich nicht“, lockte der steile Pfad, der geradewegs zu dem<br />
Turm hinaufführte.<br />
Miri erinnerte sich an den wunderbaren Körper, der sie in atemberaubendem<br />
Tempo über Hänge und Klippen getragen hatte. Mit<br />
kraftvollen Schlägen pumpte ihr Herz Blut in die Muskeln, die sich im<br />
Rhythmus des magischen Lieds zusammenzogen und wieder<br />
streckten.<br />
Klaklack, klaklack, trommelten ihre Hufe.<br />
218
Sechsundzwanzigstes Kapitel<br />
Plötzlich roch die Luft nach welkem Gras und modrig-süßen Blüten.<br />
Mit einem Sprung setzte Miri über die Felskante. Dahinter war der<br />
Boden eben und ihre Hufe mussten nicht länger auf steilen Abhängen<br />
oder rutschigen Klippen Halt suchen. Sie flog der ver-schwommenen<br />
Linie am Fuß eines flachen Hangs entgegen.<br />
Von links näherte sich Hufgetrappel. <strong>Die</strong> schärferen Sinne ihres<br />
Pferdekörpers unterschieden den akzentuierten Achter-Rhythmus<br />
unbeschlagener Hufe <strong>von</strong> dem rumpelnden Dreiertakt des Streitrosses.<br />
Offenbar hatte der schwarze Hengst Boden gutmachen<br />
können. Der Geruch <strong>von</strong> Angst stieg Miri in die Nüstern, als der<br />
feuerfarbene Hengst hinter dem Turm auftauchte. Er trug den Kopf<br />
hoch, die Mähne flatterte wie eine goldene Fahne und seine Hufe<br />
schienen den Boden kaum zu berühren. Aber der Rappe war dicht<br />
hinter ihm.<br />
<strong>Die</strong> dunkle Linie verwandelte sich allmählich in eine dornenüberrankte<br />
Mauer. <strong>Die</strong> Reiterin mit dem leuchtenden Schwert lenkte<br />
den Fuchs genau darauf zu und gab ihm den Kopf frei. Sturmtänzer<br />
streckte sich zum Galopp, aber auf dem freien Feld war der Rappe im<br />
Vorteil. Seine Sprünge wurden immer länger. Sein Reiter beugte sich<br />
im Sattel nach vorn und streckte einen Arm nach dem Zügel des<br />
anderen Pferdes aus. Doch die Reiterin schien zu ahnen, was er<br />
vorhatte. Als der Kopf des Rappen auf einer Höhe mit Sturmtänzers<br />
Schulter war, trat die Reiterin nach ihm. Das Tier wich mit einem<br />
jähen Satz zur Seite aus, sein Reiter verlor den Halt und stürzte.<br />
Keuchend blieb der Rappe neben ihm stehen.<br />
Nun waren nur noch Sturmtänzer und Miri im Rennen. Sie<br />
galoppierte ihm in einem flachen Winkel entgegen, aber sie war noch<br />
219
viel zu weit entfernt, um ihn vor der Mauer abfangen zu können. Sie<br />
sah, wie er die Mauerkrone anvisierte und noch einmal Tempo<br />
zulegte.<br />
Dann eben anders! Miri wäre fast über ihre eigenen Hufe gestolpert,<br />
als sie in eine enge Rechtskurve einschwenkte. Hoch und klotzig ragte<br />
das Hindernis vor ihr auf. Sie blinzelte den Schweiß aus ihren Augen.<br />
<strong>Die</strong> gewaltigen Muskeln in ihrer Brust verkrampften sich.<br />
Das ist zu hoch, zu weit für einen Sprung, protestierte ihr<br />
Pferdekörper. Ich werde sterben.<br />
Ich habe es schon einmal getan, erinnerte sich Miri. Noch drei kurze<br />
Galoppsprünge, tief untersetzen, die ganze Kraft auf den Punkt<br />
zwischen meinen Hufen und …<br />
Sie schnellte steil in die Höhe. Viel zu schnell kam die Mauer näher.<br />
Der Pferdeinstinkt befahl ihr, Kopf und Hals zur Seite zu reißen, um<br />
mit der Schulter auf das Hindernis zu prallen. Miri zwang sich dazu,<br />
den Kopf noch weiter vorzurecken und die Vorderbeine eng an die<br />
Brust zu pressen. Blätter streiften ihr Fell, dann ver-schwand die<br />
Mauerkrone aus ihrem Sichtfeld. Hastig streckte sie die Vorderbeine<br />
aus. Der Aufprall fuhr ihr durch Mark und Bein.<br />
Mit knapper Not wich Miri einem moosbedeckten Stein aus. Neben<br />
dem verdorrten Baum kam sie schließlich zum Stehen. Ihre Muskeln<br />
zitterten so, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.<br />
Der Hufschlag, der rasch näher kam, gab ihr die Kraft den Kopf zu<br />
heben, und sie sah Sturmtänzer über die Mauer fliegen. Schaumflocken<br />
bedeckten seine Brust, und seine Augen waren weit aufgerissen.<br />
Er landete auf einem verdorrten Rasenstück, und seine<br />
Vorderbeine wären fast unter ihm weggeknickt. Mit einem groben<br />
Ruck am Zügel riss ihn die dunkle Königin wieder hoch und trieb ihn<br />
auf den schmalen Durchgang zwischen Baum und Brunnen zu.<br />
220
„Sturmtänzer!“ Mit einem hellen Wiehern trat Miri aus dem Schatten<br />
des Baums hervor.<br />
Der Fuchshengst scheute und brach so heftig zur Seite aus, dass er<br />
seine Reiterin beinahe abgeworfen hätte. Wie versteinert stand er da<br />
und starrte sie an, als wäre sie ein Gespenst.<br />
„Schmeiß die Hexe runter“, wieherte Miri. „Wir müssen hier weg.“<br />
Sturmtänzer antwortete nicht. Er wehrte sich auch nicht, als die<br />
dunkle Königin am Zügel zerrte und gleichzeitig die flache Seite der<br />
schlanken Klinge über seine Kruppe zog.<br />
„Vorwärts, du blödes Vieh“, fauchte sie. „Das Tor! Wir müssen da<br />
durch. Ksch! Fort mit dir.“ Sie wedelte mit der Waffe in Miris<br />
Richtung. Offenbar hielt sie die Schimmelstute für ein ganz gewöhnliches<br />
Pferd.<br />
Sturmtänzer dachte nicht daran, ihrem Drängen zu folgen. Mit<br />
angstvoll aufgerissenen Augen wich er vor Miri zurück.<br />
Angst vor ihr? Unmöglich! Schnaubend schüttelte Miri den Kopf.<br />
Dabei sah sie neben ihrer Kruppe ein Schimmern wie <strong>von</strong> der<br />
Simulation der Nordlichter, die in der Vorweihnachtszeit auf die<br />
Wände der Rhein-Main-Kuppel projiziert worden waren. Etwas<br />
berührte ihr Fell wie mit Spinnenbeinen, ein unangenehmes Kribbeln<br />
rann über ihren Rücken und ihre Beine hinab. Mit einem Galoppsprung<br />
wollte sie sich vor dem geisterhaften Licht in Sicherheit<br />
bringen, doch als sie ihre Vorderbeine hochreißen wolle, wäre sie<br />
beinahe vornüber gekippt und sie ruderte mit beiden Armen, um<br />
ihren Menschkörper wieder auszubalancieren.<br />
„Du?“ Fassungslos starrte die dunkle Königin zu ihr herunter. „Wie<br />
kommst du … - Egal! Geh mir aus dem Weg!“ Sie fasste die Zügel<br />
221
kürzer und wollte Sturmtänzer mit Tritten und Schlägen vorwärtstreiben.<br />
Wiehernd bäumte sich der Hengst auf.<br />
„Das dürfen Sie nicht!“ Beherzt rannte Miri an den wirbelnden<br />
Vorderhufen vorbei, packte den linken Zügel und riss ihn der Frau aus<br />
der Hand.<br />
„Elendes Miststück!“ <strong>Die</strong> dunkle Königin führte einen wuchtigen<br />
Schwertstreich nach der Gegnerin. Der Hengst drehte sich gleichzeitig<br />
um seine eigene Achse und der Schlag ging daneben. „Blöder<br />
Gaul!“ Sie schlug mit der Zügelhand nach seinem Kopf.<br />
Sturmtänzer machte einen Satz nach vorn. Seine Kruppe streifte Miri,<br />
sie stolperte und musste den Zügel wieder loslassen.<br />
„Bleib stehen!“, brüllte sie. „Sturmtänzer bleib.“ Sie konnte sehen,<br />
dass er den Kopf nach ihr umwenden wollte, aber seine Reiterin trieb<br />
ihn weiter, dem schimmernden Tor entgegen.<br />
„Sie darf nicht entkommen“, schallte eine Männerstimme durch den<br />
Garten. „Du musst sie aufhalten.“ Miri hörte das Tor quietschen,<br />
dann näherten sich schwere Schritte und ein angestrengtes Keuchen.<br />
Sie nahm sich nicht die Zeit, um sich wenigstens mit einem Blick<br />
da<strong>von</strong> zu überzeugen, dass es tatsächlich der Ritter war, der einen<br />
anderen Weg in den Garten genommen hatte.<br />
So schnell sie konnte, rannte Miri hinter dem bockenden Hengst her.<br />
Der linke Zügel schleifte über den Boden, aber sie kam nicht einmal in<br />
seine Nähe. <strong>Die</strong> dunkle Königin bemerkte zu früh, dass die verfolgt<br />
wurde. Eine Stiefelspitze zischte an Miris Kopf vorbei und im<br />
nächsten Moment bohrte sich die Hacke tief in die empfindliche<br />
Flanke des Pferdes.<br />
„Nicht!“ Miri ächzte, als hätte der Tritt sie und nicht Sturmtänzer<br />
getroffen. Sie sah, wie sich die Muskeln unter dem schweißnassen<br />
222
Fell vor Schmerz verkrampften. In ihrem Magen schien sich etwas zu<br />
verknoten und jeder Gedanke wurde zu Eis. Sie sah, dass sich die<br />
dunkle Königin vornüber beugte, um den verlorenen Zügel wieder<br />
aufzunehmen und hörte den Ritter herbeihasten.<br />
„Vorwärts du Mistvieh!“, keifte die dunkle Königin.<br />
„Oh nein!“ Der Knoten in Miris Magen explodierte. Mit zwei Schritten<br />
war sie neben dem Pferd. <strong>Die</strong>smal griff sie nicht nach dem Zügel,<br />
sondern nach dem Bein der Reiterin. „Runter mit dir, du alte Hexe“,<br />
fauchte sie.<br />
Sturmtänzer scheute zurück, Miri hielt den Knöchel der dunklen<br />
Königin fest umklammert, und die beiden Frauen gingen gemeinsam<br />
zu Boden. Miri prallte mit dem Rücken auf etwas Hartes, gleich-zeitig<br />
traf sie der Ellbogen ihrer Gegnerin unter den Rippen. Für einen<br />
Moment wurde ihr schwarz vor Augen, dann sah sie ein grell-weißes<br />
Licht aufblitzen.<br />
„Nein!“ Eine kantige, schwarze Gestalt schob sich in Miris Blick-feld,<br />
und der Blitz traf den Arm, den der Ritter zur Abwehr erhoben hatte.<br />
Miri rollte zur Seite, der Mann schwankte, stolperte nur knapp an ihr<br />
vorbei und brach neben ihr in die Knie. Wie gebannt starrte sie auf<br />
seine Rüstung. Der Blitz hatte eine Schramme in das Schulter-stück<br />
gerissen. Ein blutiges Rinnsal sickerte daraus hervor.<br />
„Sie …“ Mit zitternden Händen deutete Miri auf die Wunde. „Sie sind<br />
verletzt.“<br />
„Das sieht schlimmer aus, als es ist.“ Er lachte grimmig.<br />
„Wir müssen …“<br />
„Nein.“ Der Ritter wehrte ihre Hände ab. „Es gibt Dringlicheres zu<br />
tun. Euer Schwert und das Windpferd ...“ Er deutete auf die Frau, die<br />
223
Sturmtänzer wieder eingefangen hatte. „Wenn sie entkommt, war<br />
alles umsonst.“<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin hielt auf den schimmernden Bogen zwischen<br />
Brunnen und Baum zu. In der rechten Hand hatte sie das Schwert und<br />
in der linken den Zügel, an dem sie Sturmtänzer hinter sich herzerrte.<br />
Mit einem Satz war Miri wieder auf den Füßen. „Bleib stehen,<br />
Sturmtänzer.“ Sie rannte auf ihn zu und wedelte dabei mit den<br />
Armen. „Du darfst nicht da durchgehen.“<br />
Er blieb tatsächlich stehen, aber er starrte sie dabei an, als würde er<br />
sie zum ersten Mal sehen. Mit einem zornigen Fluch versuchte die<br />
dunkle Königin, das Pferd zur Eile zu treiben, aber Miri hatte sie<br />
schon eingeholt.<br />
Mit beiden Händen packte sie die Schwerthand der Gegnerin. „Lass<br />
los!“<br />
Schnaubend wich der Fuchshengst zurück.<br />
„Lass du los“, fauchte die dunkle Königin, ihre Stiefelspitze traf Miris<br />
Schienbein.<br />
Sturmtänzer riss ihr den Zügel aus der Hand, doch das Manöver<br />
brachte ihn dem magischen Tor gefährlich nah.<br />
„Bleib stehen“, kreischte Miri, während sie gleichzeitig versuchte, das<br />
Schwert aus der Hand ihrer Gegnerin zu winden. „Du darfst nicht …“<br />
<strong>Die</strong> Frau lachte schallend. „Bleib stehen“, äffte sie Miri nach. „Komm<br />
zurück zu mir, mein Pferdchen.“ Sie packte Miris Haare und riss ihren<br />
Kopf mit einem jähen Ruck nach hinten. „Er versteht dich nicht, mein<br />
Täubchen“, zischte sie. „Solange er mein Halfter trägt, ist er so dumm<br />
wie jedes gewöhnliche Pferd.“<br />
224
Der Schmerz in ihrem Nacken wollte Miri in die Knie zwingen, aber<br />
ihre Hände hielten das Handgelenk der Gegnerin fest umklammert.<br />
Sie sah Sturmtänzer mit rollenden Augen und peitschendem Schweif<br />
weiter zurückweichen. Seine Kruppe berührte bereits das steinerne<br />
Rund des Brunnens.<br />
Nach rechts, dachte Miri. Dreh dich nach rechts! Stattdessen folgte<br />
der Hengst der Rundung in die andere Richtung. Direkt hinter ihm<br />
schien ein schimmerndes Gewebe wie ein Vorhang <strong>von</strong> dem<br />
leuchtenden Bogen herabzuhängen.<br />
„Sturmtänzer!“ Der erste Sonnenstrahl des neuen Tages weckte die<br />
Farbe des Feuers in dem schweißnassen Fell. „Bleib hier.“<br />
Aber er konnte sie nicht hören. Und wenn er sie hörte, konnte er<br />
nicht verstehen, was sie ihm sagen wollte. Wenn sie es zuließ, dass er<br />
den schimmernden Vorhang durchschritt, würde sie ihn für immer<br />
verlieren.<br />
Dem Zug in ihrem Nacken zum Trotz warf sich Miri mit aller Macht<br />
nach vorn. Sie rammte ihrer Gegnerin den Ellbogen in die Brust<br />
während sie sie gleichzeitig mit beiden Händen <strong>von</strong> sich stieß. Sie sah<br />
die dunkle Königin nach hinten stolpern und mit den Armen rudern.<br />
Pass auf, dass sie dir nicht in den Rücken fällt, warnte eine besorgte<br />
Stimme in ihrem Kopf. Immerhin ist sie bewaffnet und …<br />
Miri befahl der Stimme, zu schweigen. Jede Sekunde war kostbar. Sie<br />
drängte sich zwischen Sturmtänzer und den Vorhang aus blauem<br />
Licht. <strong>Die</strong> feinen Haare in ihrem Nacken richteten sich auf und ein<br />
eisiger Luftzug ließ sie frösteln. Sturmtänzer schien die<br />
elektrostatischen Entladungen ebenfalls zu spüren. Schnaubend<br />
wollte er zur Seite ausweichen, aber da war der Baumstamm. Wenn<br />
er nur einen Schritt vorwärtsgehen würde, könnte Miri ihn aus dem<br />
Engpass heraus in den Garten manövrieren. Sie warf sich mit aller<br />
225
Kraft gegen das Pferd, aber Sturmtänzer bewegte sich keinen<br />
Millimeter. Er zitterte am ganzen Leib, seine Muskeln waren steinhart<br />
und seine Kruppe sank immer tiefer, als wollte er jeden Moment mit<br />
einem Satz losschießen, ohne zu wissen, wohin.<br />
Solange er dieses Halfter trägt, ist er so dumm wie jedes gewöhnliche<br />
Pferd, flüsterte die besorgte Stimme. Miri drängte sich an<br />
Sturmtänzer vorbei und wollte gerade nach dem Zügel greifen, als sie<br />
plötzlich ein grell-weißes Licht aufblitzen sah. Gerade noch rechtzeitig<br />
duckte sie sich unter dem Schwertstreich weg. <strong>Die</strong> dunkle Königin<br />
packte die Zügel und zerrte das Pferd herum. Miris Denken erstarrte<br />
vor Schreck, doch ihr Körper schien zu wissen, was zu tun war. Sie<br />
wischte unter Sturmtänzers Hals durch. Der Hengst wollte sich in<br />
dem engen Durchgang nach rechts drehen, um dem energischen<br />
Ruck zu folgen, doch Miri riss ihm das Halfter vom Kopf. Wiehernd<br />
stieg Sturmtänzer auf die Hinterhand, die Gebissstange klirrte dabei<br />
über die Steine.<br />
Sturmtänzer hielt verblüfft inne. „Wie …?“<br />
„Mach, dass du da wegkommst“, brüllte Miri. „Vorwärts!“<br />
Mit einem Bocksprung brachte sich der Hengst in Sicherheit.<br />
„Was, zum Teufel …“, fluchte die dunkle Königin. Ungläubig starrte<br />
sie auf das leere Halfter. „Verdammt!“ Sie riss das Schwert hoch und<br />
fixierte Miri.<br />
„Das dürft Ihr nicht tun“, brüllte der Ritter. Aber er war zu weit weg,<br />
um Miri noch einmal zu Hilfe zu eilen.<br />
<strong>Die</strong> dunkle Königin schien zum Äußersten entschlossen. Miri wollte<br />
sich mit einem raschen Schritt außer Reichweite bringen, doch sie<br />
prallte mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Dabei bekam sie<br />
einen Ast zu fassen, der wohl so morsch war, dass er bei der bloßen<br />
226
Berührung abbrach. Miri riss die Arme hoch, um den Schwert-streich<br />
abzuwehren. Sie spürte den Aufprall bis in die Schultern aber der<br />
Knüppel hielt wenigstens dem ersten Treffer stand.<br />
„Haltet durch, ich bin gleich bei Euch!“<br />
Als die dunkle Königin den Ritter herbeistürmen sah, ließ sie <strong>von</strong> ihrer<br />
Gegnerin ab und wandte sich zur Flucht.<br />
„Sie darf nicht entkommen“, brüllte der Ritter.<br />
Miri folgte ihr. Dabei hob sie den Knüppel hoch über ihren Kopf. Ihre<br />
Gegnerin wandte ihr den Rücken zu. Es wäre ein Leichtes, sie<br />
niederzuschlagen.<br />
„Schnell“, keuchte der Ritter. „Ihr müsst …“<br />
„Nein!“ Miri schleuderte den Ast weit <strong>von</strong> sich.<br />
Das Schwert blitzte, das magische Gewebe zerriss mit einem<br />
hässlichen Geräusch und im nächsten Moment war die dunkle<br />
Königin verschwunden.<br />
<strong>Die</strong> ersten Strahlen der Morgensonne ließen das Portal verblassen.<br />
227
Siebenundzwanzigstes Kapitel<br />
„Muss ich jetzt für immer hierbleiben?“ Ungläubig starrte Miri auf<br />
den leeren Platz zwischen Baum und Brunnen, wo eben noch die<br />
dunkle Königin gestanden hatte. Sie hoffte fast darauf, dass der Ritter<br />
oder Sturmtänzer ja, sagen würde. Hier gab es alles, wonach sie sich<br />
immer gesehnt hatte. Pferde, Magie, Abenteuer, Wälder, Wiesen,<br />
Berge und darüber den freien Himmel und den Wind, der keine<br />
giftigen Regenwolken herantrieb. <strong>Die</strong>smal war sie nicht im Traum<br />
hier hergekommen. Sie war aus dem Seminarhaus zu dem Hügel mit<br />
dem alten Turm gelaufen. Lorenz, Ben und Merl hatten gesehen, wie<br />
sie über den Steg auf die andere Seite gegangen war.<br />
„Ich fürchte fast …“ In den Zügen des Ritters spiegelten sich Bedauern<br />
und Sorge. „Ich weiß es nicht.“ Er schüttelte den Kopf.<br />
Ben und Lorenz würden ihr fehlen, genau wie Ruth, Merl und die<br />
Klienten, die sich in den kümmerlichen Resten einer Wildnis aus lang<br />
vergangenen Tagen heimischer fühlten als in den gepflegten Parks<br />
unter den Wohnkuppeln.<br />
„Wollt Ihr denn überhaupt wieder zurückkehren, Königin Miriel?“<br />
„Ja.“ Miri wunderte sich über die Festigkeit ihrer Stimme.<br />
„Das Tor auf der Brücke verschwindet etwas später aber ich fürchte,<br />
das nützt Euch nichts. Ihr müsstet schneller sein als der Wind, um<br />
noch rechtzeitig …“<br />
„Ich bin schneller als der Wind“, wieherte Sturmtänzer. „Sitz auf,<br />
Miri. Ich bring dich hinunter, bevor die Sonne den Weg in die<br />
Schlucht gefunden hat.“<br />
228
Bevor sie etwas dazu sagen konnte, fühlte sich Miri <strong>von</strong> kräftigen<br />
Händen gepackt und auf den Pferderücken gehoben. „Sorg dafür,<br />
dass unsere Königin sicher nach Hause kommt.“ Ein aufmunternder<br />
Klaps auf die Kruppe ließ den Hengst fast in die Knie gehen.<br />
„Festhalten“, schnaubte Sturmtänzer. „Mach die Knie zu, konzentrier<br />
dich auf deinen Hintern und vergiss nicht, zu atmen.“<br />
Miri hatte sich auf dem Pferderücken noch nicht zurechtgesetzt, als<br />
Sturmtänzer lospreschte.<br />
Illustration 10: Ritt über die Brücke<br />
229
„Warte“, schrie sie. „Ich muss doch erst …“<br />
Der scharfe Gegenwind riss ihr die Worte <strong>von</strong> den Lippen.<br />
„Weiteratmen“, schnaubte der Hengst. „Oder besser noch: Sing!“<br />
Padabam, padabam. Seine Hufe trommelten den Dreier-Rhythmus in<br />
die trockene Erde.<br />
Dudupdudup, dudup, schlug Miris Herz den passenden Takt dazu.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Sturmwind? Ruft sie den Weg?“<br />
Sturmtänzers Körper zog sich zu einem gewaltigen Sprung<br />
zusammen.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie den Sturmwind? Ruft sie den Weg?“<br />
<strong>Die</strong> Mauer flog unter ihnen hinweg.<br />
„Hör der Trommel Ruf, hör den Klang, magischer Erdgesang.<br />
Trommellied öffnet die Tore, zeigt dir den Weg.“<br />
Im gestreckten Galopp preschte Sturmtänzer den Hügel hinunter. <strong>Die</strong><br />
Felsen und das dürre Gestrüpp, die ihren Weg säumten,<br />
verschwammen im Licht des frühen Morgens.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?“<br />
<strong>Die</strong> Schatten am Wegrand wurden düster als würde Sturmtänzer<br />
nicht dem Tag, sondern der anbrechenden Nacht entgegenjagen.<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?“<br />
230
Das Gelände wurde eben. Als Miri sich aufrichtete, um nach der<br />
Brücke Ausschau zu halten, erstarb der Gesang auf ihren Lippen.<br />
Über der Schlucht lag dichter Nebel.<br />
Tackatack, tacka, tackatackatack. Sturmtänzer parierte durch.<br />
Suchend drehte er sich hin und her. „Warum singst du nicht weiter?“<br />
keuchte er. „Wie soll ich uns sicher über diese Brücke bringen, wenn<br />
du nicht singst.“<br />
„Siehst du hier irgendwo eine Brücke?“, entgegnete Miri ratlos.<br />
„Nein.“<br />
„Oder einen leuchtenden Vorhang?“<br />
„Hier gibt es weder eine Brücke noch ein magisches Tor“, nickte<br />
Sturmtänzer. „Du musst sie herbeisingen.“<br />
„Wie soll ich das denn machen?“<br />
„Was weiß ich.“ Mit einem unwilligen Schnauben schüttelte der<br />
Hengst den Kopf. „Du bist die Cantadora.“<br />
„Aber ich kann doch nicht …“<br />
„Muss ich dich daran erinnern, dass du uns sogar einen Weg über das<br />
Meer herbeigesungen hast.“ Sturmtänzer prustete. Es klang, als<br />
würde er sie auslachen. „Eine Brücke über diese Schlucht kann nicht<br />
viel schwieriger sein. Aber du musst dich beeilen. Das Licht der Sonne<br />
findet die Brücke auch dann, wenn wir sie im Nebel nicht sehen.“<br />
„Und wenn ich es nicht schaffe?“ Das Schlucken fiel Miri so schwer,<br />
als hätte sie plötzlich einen dicken Kloß im Hals stecken.<br />
„Dann musst du wahrscheinlich doch hierbleiben.“<br />
231
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?“,<br />
begann Miri noch einmal. Der Gesang klang in ihren eigenen Ohren<br />
dünn und verzagt. „Hör der Trommel Ruf …“, sie schüttelte den Kopf.<br />
„Es geht nicht.“<br />
„Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?“<br />
Eine unsichere Stimme klang zuerst leise und dann immer lauter zu<br />
ihnen herüber.<br />
„Folg dem Zauberlied, dem Gesang. Folge dem Trommelklang.<br />
Ruft er dich, ruft er die Brücke, ruft er das Tor.“<br />
„<strong>Die</strong> Stimme kenne ich“, flüsterte Miri. „Das ist Ian. Aber ich kann ihn<br />
nicht sehen.“<br />
„Folg dem Zauberlied, dem Gesang“, wiederholte die Stimme aus der<br />
anderen Welt. „Folge dem Trommelklang. Hörst du ihn, siehst du die<br />
Brücke, siehst du das Tor.“<br />
„Da.“ Miri deutete auf den Schatten, der sich hinter der nebel-grauen<br />
Wand abzeichnete. „Das könnte die Brücke sein.“<br />
„Ich sehe gar nichts“, entgegnete Sturmtänzer. „Aber es reicht ja,<br />
wenn einer <strong>von</strong> uns …“<br />
„Stopp! Warte noch.“ Energisch zog Miri an seiner Mähne. „Ich bin<br />
nicht sicher, ob da wirklich etwas ist.“<br />
„Wenn ich noch länger warte, ist es zu spät.“<br />
„Glaub dem Trommellied. Trau dem Klang.<br />
Der Weg ist nicht mehr lang.“<br />
Ians Stimme schien weiter in den Nebel hinauszutreiben.<br />
232
„Folg dem Lied. Mutige Schritte finden das Tor.“<br />
„Du hast gut reden“, murmelte Miri. „Du musst ja nicht über eine<br />
unsichtbare Brücke laufen.“ Trotz der Kälte, die mit den Nebelschwaden<br />
aus der Schlucht gekrochen kam, glühten ihre Wangen vor<br />
Aufregung. Ein rhythmisches Stampfen und Klatschen schallte aus der<br />
anderen Welt herüber.<br />
Mutige Schritte finden das Tor, klang es in Miris Gedanken nach.<br />
„Lass mich absitzen“, entschied sie. „Zu Fuß finde ich die Brücke.“<br />
Der Nebel war so dicht, dass Miri nicht einmal mehr den Boden vor<br />
ihren Füßen erkennen konnte. Trotzdem ging sie weiter.<br />
„Ich bin nicht mehr das dumme Mädchen, das durch ein Loch im<br />
Boden fällt“, murmelte sie. „Ich bin Königin Miriel.“ Unter ihren<br />
Tritten löste sich ein Stein. Miri hörte ihn fallen. Klack, klack,<br />
klackklack. Das Geräusch verlor sich in der bodenlosen Tiefe. „Ich bin<br />
Königin Miriel“, wiederholte sie, während sie sich blind voran-tastete.<br />
„Du bist zu langsam.“ Ungeduldig scharrte der Hengst mit den Hufen.<br />
„Bevor du die Brücke findest, ist das Tor verschwunden.“<br />
„Ich bin Königin Miriel“, sagte Miri zum dritten Mal und sie befahl<br />
ihren Beinen, weiter auszuschreiten. „Ich bin die Herrin beider<br />
Welten.“ Dumpf hallte ihr nächster Schritt <strong>von</strong> hölzernen Planken<br />
wider. Dicht hinter ihr klapperten Sturmtänzers Hufe.<br />
„Da-da d-d-d-da …“ Plötzlich war Ians Stimme so nah, dass Miri<br />
glaubte, sie müsse nur die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren.<br />
„Hör endlich mit dem Theater auf, Ian.“ Merl schien weiter rechts zu<br />
stehen. „Da ist nichts. Da ist nur Nebel.“<br />
233
„Hast du Ruth erreicht?“ Lorenz hörte sich so an als stünde er kurz<br />
davor, zu explodieren. „Irgendwie muss dieser blöde Nebel-generator<br />
doch zu stoppen sein.“<br />
„Tut mir leid.“ Vor Miris geistigem Auge tauchte das Gesicht <strong>von</strong> Ben<br />
auf. „Ich hab noch keine Verbindung. <strong>Die</strong>se Störung …“<br />
<strong>Die</strong> Stimmen trieben wieder da<strong>von</strong>.<br />
„Ich hab hier ebenfalls kein Netz“, hörte sie Merl noch sagen. Dann<br />
klangen nur noch ihre eigenen Schritte und die Hufschläge <strong>von</strong><br />
Sturmtänzer durch den Nebel.<br />
„Ich bin Königin Miriel.“ Miri wiederholte diesen Satz wie ein Mantra.<br />
„Ich bin die Herrin beider Welten.“<br />
Plötzlich schien die Luft zu knistern. Miris Haare wurden in die Höhe<br />
geweht, obwohl kein Luftzug zu spüren war. „Das Tor“, flüsterte sie.<br />
Ihre Fingerspitzen ertasteten ein Hindernis, das sich gleichzeitig<br />
elastisch und unnachgiebig anfühlte wie eine straff gespannte<br />
Membran.<br />
„Geh weiter“, brummelte Sturmtänzer dicht hinter ihr. „Es sind nur<br />
noch ein paar Schritte.“<br />
„Aber das Schwert …“<br />
„Weiter!“ Ein Pferdemaul berührte ihre Schulter. „Geh weiter. Und<br />
denk an dein Lied.“<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?<br />
Leise summte Miri die Melodie. Wie <strong>von</strong> selbst schienen sich die<br />
Worte in ihren Gedanken zusammenzufügen.<br />
Hör der Trommel Ruf. Ruft sie die Brücke? Ruft sie das Tor?<br />
234
Sie wagte den nächsten Schritt und dann noch einen. <strong>Die</strong> Membran<br />
legte sich wie eine zweite Haut über ihr Gesicht. Für einen Moment<br />
hatte Miri das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.<br />
Klingt der Trommelklang durch die Nacht, weckt er die alte Macht,<br />
sang der Wind.<br />
<strong>Die</strong> Luft, die plötzlich in ihren Lungen strömte, duftete nach Gras und<br />
Tannen und nach dem Rauch eines Lagerfeuers, nach dem Eis eines<br />
fernen Gletschers, nach feuchter Erde und dem Salz des Meeres.<br />
„Hier ist es so schön.“ Miri fühlte sich leicht und gleichzeitig voller<br />
Kraft. Sie musste nur die Arme ausbreiten, dann würde sie der Wind<br />
aus der anderen Welt da<strong>von</strong>tragen.<br />
Folge ihm, hallte es <strong>von</strong> den Felswänden der Schlucht herauf. Tritt<br />
aus dem Nebel endlich hervor.<br />
„Weiter“, schnaubte Sturmtänzer.<br />
„Aber in meiner Welt gibt es keine Pferde.“ Miri ballte die Fäuste.<br />
Ihre Füße waren bleischwer. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um einen<br />
Schritt und dann noch einen zu machen. Etwas in ihr schien zu<br />
zerreißen.<br />
„Sturmtänzer …“ Tränen rannen über ihre Wangen aber sie blieb<br />
nicht stehen.<br />
Klingt der Trommelklang durch die Nacht, weckt er die alte Macht,<br />
sangen die Steine unter ihren Füßen.<br />
Trommelklang ruft dich nach Haus, fielen die Stimmen <strong>von</strong> Wind und<br />
Wasser mit ein.<br />
235
Achtundzwanzigstes Kapitel<br />
„Miri!“ Lorenz zerrte sie in eine ungestüme Umarmung. „Verflixt<br />
noch mal. Wo hast du denn gesteckt, Mädchen?“<br />
Der Holzknopf seiner Jacke schrammte über Miris Wange. „Aua!“ Sie<br />
tat so, als müsse sie sich vergewissern, dass sie bei der ruppigen<br />
Begrüßung keine Verletzung da<strong>von</strong>getragen hatte, dabei wischte sie<br />
verstohlen die Tränen fort.<br />
„Ist ja auch egal. Hauptsache, du bist wieder da.“<br />
Ein Schlag auf die Schulter ließ Miri fast in die Knie gehen.<br />
Ben drängte sich ebenfalls herbei. „Hast du das Schwert ge-funden?“<br />
Sein Blick fiel auf ihre leeren Hände und Miri sah die Hoffnung in den<br />
Augen des alten Mannes erlöschen.<br />
„Ich habe es gefunden und den steinernen Wächter besiegt.“ Ihre<br />
Stimme klang rau. „<strong>Die</strong> dunkle Königin hat mir das Schwert aber<br />
wieder gestohlen. Sie ist damit in eine andere Welt geflohen, und ich<br />
habe sie nicht daran gehindert, weil …“, sie holte tief Luft. Vor den<br />
Männern wollte nicht heulen. „Weil Gewalt keine Lösung ist.<br />
Außerdem war mir die Sicherheit eines Freundes wichtiger.“<br />
Seufzend schüttelte Ben den Kopf. „<strong>Die</strong>ses Schwert …“<br />
„Lass sie doch endlich mit deinem Schwert in Ruhe“, polterte Lorenz,<br />
und zu Miri gewandt fuhr er mühsam beherrscht fort: „Völlig klar,<br />
dass dir dein Freund wichtiger war. Magst du uns etwas <strong>von</strong> diesem<br />
Freund erzählen oder wollen wir erst runtergehen?“<br />
„Der Wind hat mir ein Lied erzählt <strong>von</strong> einem Pferdchen wunderschön.“<br />
236
Wie elektrisiert fuhr Miri herum, als sie Ian singen hörte.<br />
„Es ist spät“, fuhr Lorenz fort. „Es ist schon nach Mitternacht.“<br />
„Er weiß, was meinem Herzen fehlt“, sang Ian und dabei näherten<br />
sich seine Hände behutsam einem feuerfarbenen Pferdekopf mit<br />
einer langen goldenen Mähne.<br />
„Wer ist denn dieser Freund?“, erkundigte sich Lorenz in dem Tonfall,<br />
den er normalerweise für besonders verstörte Klienten reserviert<br />
hatte.<br />
„D-d-darf ich dich a-a a-anfassen?“ flüsterte Ian.<br />
„Sturmtänzer!“ Miri riss sich los. Bis zu dem jungen Mann und dem<br />
schattenhaften Pferd waren es nur ein paar Schritte. Ungestüm warf<br />
sie ihre Arme um den Pferdehals und vergrub ihr Gesicht in der<br />
Mähne. Dass sie Ian dabei unsanft zur Seite gestoßen hatte, fiel ihr<br />
erst etwas später auf. „Tut mir leid“, murmelte sie.<br />
„Frauen“, schnaubte Sturmtänzer, und zu Ian: „Natürlich darfst du<br />
mich auch anfassen.“<br />
„Miri?“ <strong>Die</strong> Stimme <strong>von</strong> Lorenz klang auf einmal wieder sehr besorgt.<br />
„Was treibt ihr denn da?“ Merl steckte sein Mobilkom in die Tasche<br />
und kam zögerlich näher. „Und mit wem redet ihr über-haupt?“<br />
„D-da ist ein Pf-pf, ein Pfe, ein Pferd“, antwortete Ian. „K-k-k-k k-k-kaka.“<br />
Er schüttelte ungeduldig den Kopf und holte noch einmal tief<br />
Luft. „S-siehst d-du es nicht?“<br />
„Siehst du da ein Pferd?“, wandte sich Merl an Miri.<br />
Sie nickte stumm.<br />
237
„Darüber würde ich mir Sorgen machen“, sagte Merl zu den beiden<br />
anderen Männern. Dann winkte er ab. „Egal. Hauptsache, wir haben<br />
Miri wieder. Wenn sie jetzt auch einen an der Waffel hat, passt sie<br />
nur umso besser in unseren erlauchten Kreis. Los Mädels, lasst uns<br />
nachsehen, ob Ruth noch ein Stückchen Pizza für uns übrig ge-lassen<br />
hat. Mir knurrt seit geraumer Zeit der Magen. Und wenn es schon<br />
nach Mitternacht ist, können wir auch gleich noch Ians Geburtstag<br />
feiern. Ich wette, er brennt schon darauf, zum letzten Mal seine<br />
Persönlichkeitsauslöschung zu beantragen.“<br />
Summend strich Ian über das glatte Pferdefell, wickelte eine Strähne<br />
des seidigen Langhaars um seinen Finger und folgte den Linien der<br />
Muskulatur. Ohne auch nur einen Augenblick in seiner Bewegung<br />
innezuhalten, schüttelte er den Kopf. „D-d-das k-k-ka-kannste v-<br />
vergessen, M-merl.“<br />
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