Programmheft - Solistenensemble KALEIDOSKOP
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“Die Geschichte vom Soldaten” wird so zum Metatext<br />
in einem größeren Kontext: der Frage nämlich, was<br />
Krieg - trotz über 60jährigem Frieden in Mitteleuropa<br />
der bestimmende Zustand unserer Gesellschaft - mit<br />
den Menschen anrichtet. Dies ist auch der Kontext,<br />
in dem Igor Stravinsky und sein Textdichter Charles<br />
Ferdinand Ramuz ihr Werk 1918 schrieben, übervoll<br />
von den lebensverändernden Eindrücken des Ersten<br />
Weltkriegs. Entstanden ist ein Werk von rätselhaftnaiver<br />
Poesie, voll von Brüchen, Ungereimtheiten und<br />
Fragezeichen. Neben dem Erzählen selbst sind der<br />
Krieg und seine Schrecken Thema des Werks. Gerade<br />
weil der Krieg in Ramuz’ Text vordergründig nicht<br />
vorkommt, geradezu auffällig-dominant abwesend<br />
ist in der Geschichte, die doch einen Soldaten in den<br />
Mittelpunkt stellt, wird er zur unausweichlichen Folie<br />
alles Erzählten. Erzählen als Überlebensstrategie.<br />
Knapp neunzig Jahre nach der Entstehung dieses<br />
frühen Meisterwerks epischen Musiktheaters<br />
empfinden wir eine Notwendigkeit, uns zum Erzählen<br />
- wiederum einem zentralen Thema zeitgenös- Foto unten: Wang Qingsong<br />
Foto oben: Wang Qingsong<br />
sischer Kunst - neu zu verhalten und zu positionieren.<br />
Zentrales Moment der szenischen Konzeption ist<br />
die vollkommene Auflösung der klassischen Theaterparameter<br />
“Bühne” und “Zuschauerraum” zugunsten<br />
eines gemeinsamen Erlebnisraums, in dem für<br />
Publikum und Darsteller gleichermaßen die Vergegenwärtigung<br />
einer erzählten Geschichte stattfindet.<br />
Das bedingt auch die Eliminierung festgefügter<br />
Rollenentitäten von “Vorleser”, “Soldat”, “Teufel” und<br />
“Prinzessin”. Zu erleben sind neu geschaffene Charaktere,<br />
die im Laufe des Abends verschiedene Stadien<br />
von Deckungsgleichheit zu den von ihnen erzählten<br />
Figuren durchlaufen.<br />
In dem Nebeneinander von Schönheit und Grausamkeit,<br />
Poesie und Brutalität, Zivilisation und Archaik<br />
und Krieg als Lebensform, in der Verquickung von<br />
Normalität und Wahnsinn, Kriegszeit und Auszeit<br />
suchen wir nach der Widersprüchlichkeit und Unberechenbarkeit<br />
dessen, was “Mensch” ausmacht.<br />
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