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SF und Fantasy von kurzgeschichten.de - Thunderbolt

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th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 1


w e l c o m e @ g o l e m 8 6<br />

{Wie konnte das bloß passieren?<br />

War ein schräger Intellekt am<br />

Werk, psycho-aktive Substanzen?<br />

Pseudokreativität o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Wahnsinn, <strong>de</strong>n wir Realität zu<br />

nennen pflegen? Phantastik <strong>de</strong>nkt<br />

das Nochnichtgedachte, erschafft<br />

das Unerwartete <strong>und</strong><br />

experimentiert mit Unmöglichkeit .<br />

Ganz an<strong>de</strong>rs die Autoren <strong>de</strong>r<br />

meisten TV-Serien: Die setzen<br />

bloß immer dieselben<br />

Puzzlestücke unterschiedlich<br />

zusammen <strong>und</strong> gruppieren sie um<br />

Werbespots mit faszinieren<strong>de</strong>n<br />

special effects herum. Damit<br />

verdient irgendjemand Geld, aber<br />

es erweitert nieman<strong>de</strong>s Horizont .<br />

Und genau <strong>de</strong>shalb ist <strong>de</strong>r<br />

GOLEM keine TV-Serie.}<br />

Die Redaktion<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 2<br />

golem 86<br />

ein magazin <strong>de</strong>s sfc th<strong>und</strong>erbolt – oktober 2008<br />

Preis: € 2,00<br />

Abo: € 12,00 = 3xGOLEM →golem.th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

ISSN: 1864-8134<br />

redaktion <strong>und</strong> kontakt<br />

uwe post - schliemannstr. 31 -<br />

40699 erkrath – uwe@th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

golem © th<strong>und</strong>erbolt 2008<br />

alle rechte <strong>de</strong>r einzelbeiträge bei <strong>de</strong>n autoren<br />

Fotos/illustration: Uwe Post<br />

th<strong>und</strong>erbolt im Internet: http://th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong>


¨DIR ↵<br />

[story] Bodo Palte – Milchkaffee mit Schokola<strong>de</strong>nflocken - -4<br />

[story] Ralf Noetzel – Global Tinnitus ------------------10<br />

[story] Markus Jendrossek – Als ich das Rad erfand ------18<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 3


6:45<br />

Mein Wecker klettert die Bettkante hoch <strong>und</strong> pfeift mir fröhlich<br />

die Erkennungsmelodie einer beliebten Kin<strong>de</strong>rsendung ins Ohr.<br />

Noch halb benommen drücke ich mir das Kopfkissen ins Gesicht <strong>und</strong> versuche ihn<br />

zu ignorieren. Unverdrossen beginnt <strong>de</strong>r Wecker mit <strong>de</strong>r Aufzählung <strong>de</strong>r Morgennachrichten<br />

<strong>und</strong> verkün<strong>de</strong>t abschließend <strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rschmettern<strong>de</strong>n Wetterbericht.<br />

Einem ungezielten Schlag meines rechten Arms weicht er durch <strong>de</strong>n Sprung auf <strong>de</strong>n<br />

Fußbo<strong>de</strong>n aus <strong>und</strong> pfeift dort fröhlich weitere Kin<strong>de</strong>rlie<strong>de</strong>r. Nicht zum ersten Mal<br />

stelle ich meine Lei<strong>de</strong>nschaft für antike Haushaltsroboter ernsthaft in Frage.<br />

6:48<br />

Die penetrant infantile Beschallung treibt mich aus <strong>de</strong>m Bett. Auf<br />

<strong>de</strong>m Weg ins Bad weicht mir <strong>de</strong>r Wecker vorsorglich unter <strong>de</strong>n<br />

Schrank aus, dafür trete ich auf <strong>de</strong>n Babysitter-Bot, <strong>de</strong>r sich neugierig hinter <strong>de</strong>r<br />

Türzarge versteckt hatte <strong>und</strong> nun mit einem verängstigtem Quietschen <strong>und</strong> weit<br />

ausgebreiteten Armen in die Küche flüchtet. Unter <strong>de</strong>r Dusche versuche ich mir vorzustellen,<br />

wie eine Maschine mit paranoi<strong>de</strong>n Zügen Kin<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Babys betreuen soll.<br />

Meine Schwester hat mir Babysitter-Bot zwei<strong>de</strong>utig überlassen, seit<strong>de</strong>m ihre Zwillinge<br />

in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rgarten gehen. Mechanisch ist er völlig fehlerfrei, doch namenlose<br />

Erlebnisse in Verbindung mit einer lernfähigen Software haben wohl zu einem ausgeprägten<br />

Multitrauma geführt. Wobei mir einfällt, dass noch eine Einladung meiner<br />

Schwester offen steht, für die ich noch keinen wichtigen Termin als Ausre<strong>de</strong> gef<strong>und</strong>en<br />

habe. Darum muss ich mich im Büro als erstes kümmern. Als ich das Bad verlasse<br />

höre ich aus <strong>de</strong>r Küche, wie <strong>de</strong>r Babysitter-Bot beruhigend auf seinen adoptierten<br />

Ficus einre<strong>de</strong>t.<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 4


6:55<br />

Kaffee! Zurück im Schlafzimmer versorge ich mich mit einem<br />

Satz gesellschaftlich anerkannter Durchschnittskleidung. Der Wecker<br />

hockt in Schlummerfunktion auf <strong>de</strong>m Induktionsla<strong>de</strong>gerät. Ich nehme mir zum<br />

wie<strong>de</strong>rholten Male vor, angenehmere Musik in seinen Speicher zu la<strong>de</strong>n. Und ihn<br />

nicht sofort aus <strong>de</strong>m Fenster zu werfen. O<strong>de</strong>r ich lösche <strong>de</strong>n Musikspeicher ganz,<br />

<strong>de</strong>r durchschnittliche Nachrichtenüberblick sollte vollkommen ausreichen, einen aus<br />

<strong>de</strong>n schönsten Träumen zu reißen. Egal. Nun noch RX einen Kaffee aufbrühen lassen<br />

<strong>und</strong> dann hinaus in die verflixte Realität.<br />

6:59<br />

Ich fin<strong>de</strong> RX-2046 erwartungsgemäß in <strong>de</strong>r Küche, wo er <strong>de</strong>m<br />

Mixer über die richtige Dekoration <strong>und</strong> Präsentation <strong>von</strong> Fruchtcocktails<br />

doziert.<br />

"RX, alter Junge, vergiss es, <strong>de</strong>r Mixer hat kein Akustikmodul."<br />

Er hält in seinen Ausführungen inne <strong>und</strong> dreht sich schwerfällig zu mir um.<br />

"Wie scha<strong>de</strong>, wir hätten gut zusammenarbeiten können. Darf ich Ihnen zum Frühstück<br />

eine meiner neuesten Kreationen, einen 'Schießwütigen Jäger' anbieten, einen<br />

antialkoholischen Cocktail aus fünf unterschiedlichen Waldbeerensorten mit drei<br />

Arten energetischer Aufputschmittel?"<br />

"Aufputschmittel? Die sind seit über 80 Jahren verboten."<br />

Gut, dass ich seine Chemie<strong>de</strong>pots mit Lebensmittelfarben aufgefüllt habe.<br />

"Aber einen kräftigen<strong>de</strong>n 'Grappa con Carne' zum Start in <strong>de</strong>n Tag, feinster italienischer<br />

Schnaps mit einem Schuss Fleischbrühe?"<br />

Igitt. Vielleicht wird er in seinem Alter doch etwas senil. Ich sollte ihm besser <strong>de</strong>n<br />

Zugang zum Kühlschrank <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Vorratsschrank entziehen.<br />

"Ist schon gut RX, mach mir einfach einen Becher mit schwarzem Kaffee, extra<br />

stark, wie immer."<br />

Ich setze mich an <strong>de</strong>n Küchentisch, langsam wird <strong>de</strong>r Morgen erträglich. Behäbig<br />

schalten ein paar uralte Relais in <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>s Automatens. Fasziniert betrachte<br />

ich durch die Sicherheitsglasscheibe, die ich in die Seitenwän<strong>de</strong> eingesetzt habe, die<br />

antiquierte Mechanik. Von diesem Umbau abgesehen ist RX-2046 noch immer in<br />

<strong>de</strong>m Originalzustand, mit <strong>de</strong>m er vor knapp einem Jahrh<strong>und</strong>ert aus <strong>de</strong>m aktiven<br />

Dienst in einer Großraumdiskothek ausgemustert wor<strong>de</strong>n ist, inklusive <strong>de</strong>r Originalsoftware.<br />

Fast zwei Meter groß <strong>und</strong> über einen Meter breit passt er kaum in meine<br />

Wohnung, doch ich musste ihn einfach kaufen: Nach <strong>de</strong>r 46er Serie wur<strong>de</strong> nie wie<strong>de</strong>r<br />

ein Getränkeautomat mit integrierter Kaffeemühle gebaut - ein unglaublicher<br />

Kulturverlust.<br />

7:01<br />

Beim Ausstrecken meiner Füße trete ich leicht gegen <strong>de</strong>n Topf <strong>de</strong>s<br />

Ficus, <strong>de</strong>n Babysitter-Bot unerklärlicherweise unter <strong>de</strong>n Tisch gebracht<br />

hat. Unter Quietschen <strong>und</strong> Zetern schiebt er die Pflanze aus <strong>de</strong>m Gefahrenbereich<br />

<strong>und</strong> unter die Spüle.<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 5


"Meine Güte, was soll <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Quatsch?" Rufe ich ihm hinterher, was dummerweise<br />

meinen Kalen<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Stand-by-Modus weckt.<br />

Mit einem scharfen Klappen springt das Display auf.<br />

"Ich muss an dieser Stelle protestieren, neben <strong>de</strong>r unrespektierlichen Anre<strong>de</strong> zeichnet<br />

sich Ihre gesamte Frage durch einen unverhältnismäßig saloppen Umgangston<br />

gegenüber ihren Mitrobotern aus."<br />

Mir war beim Herunterla<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Knigge-Plug-Ins nicht bewusst, dass "das Deaktivieren<br />

einer Testversion vor Ablauf eines gesellschaftlich anerkannten Min<strong>de</strong>stzeitraums<br />

<strong>von</strong> sieben Tagen nicht <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>de</strong>s guten Benehmens entsprechen<br />

wür<strong>de</strong>", so <strong>de</strong>r Originalkommentar meines Kalen<strong>de</strong>rs, als ich <strong>de</strong>n Unfug nach einer<br />

St<strong>und</strong>e wie<strong>de</strong>r löschen wollte. Zum wie<strong>de</strong>rholten Mal nehme ich mir vor, nach Ablauf<br />

<strong>de</strong>r sieben Tage einen Verbraucherkommentar zu verfassen, <strong>de</strong>r durchaus diametral<br />

<strong>de</strong>n vermittelten Inhalten <strong>de</strong>r Knigge-Software entgegenstehen wür<strong>de</strong>. So<br />

stolz ich auf auf die teilweise einh<strong>und</strong>ert Jahre alten Software meiner Roboter bin,<br />

so ist mir beim Kalen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Spieltrieb durchgegangen. Worunter ich nun sieben<br />

Tage lang lei<strong>de</strong>.<br />

"Aus pädagogischen Grün<strong>de</strong>n empfehle ich Ihnen, Ihre Ansprache an <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n<br />

Haushaltsmitarbeiter noch einmal zu wie<strong>de</strong>rholen."<br />

Also gut. Kaffee läuft ja durch.<br />

"Verehrtester Babysitter-Bot, entschuldigen Sie bitte meinen durchaus unbeabsichtigten<br />

Tritt. Bei meinem nächsten Versuch wer<strong>de</strong> ich natürlich nicht versehentlich<br />

<strong>de</strong>n hochgeschätzten Ficus treffen."<br />

"Sehen Sie, es geht doch w<strong>und</strong>erbar," piepst <strong>de</strong>r Kalen<strong>de</strong>r.<br />

"Twieeetüt," pfeift Babysitter-Bot zustimmend.<br />

Um die vorsichtige Annäherung unserer bilateralen Beziehungen zu stärken stehe<br />

ich auf, fülle ein Glas Wasser <strong>und</strong> krame ein Düngestäbchen aus <strong>de</strong>m Vorratsschrank.<br />

Babysitter-Bot besteht darauf, dass sie dort gelagert wer<strong>de</strong>n. Er quietscht<br />

erfreut auf, als ich ihm das Babyfutter auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n stelle. Beim Umdrehen klappe<br />

ich mit einem Handkantenschlag das Display <strong>de</strong>s Kalen<strong>de</strong>rs zu.<br />

"Der Herr, Ihr Becher Kaffee."<br />

Ich drehe mich zu RX-2046 um, vorsichtig balanciert er mit seinem Greifarm einen<br />

großen Becher Kaffee auf einem silbernen Tablett, <strong>und</strong> auch wenn ich es ungern zugebe:<br />

Mein Kalen<strong>de</strong>r hat einen guten Einfluss auf ihn. Mit <strong>de</strong>m warmen Becher <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>m dampfen<strong>de</strong>n Kaffee vor Augen steigt meine Laune <strong>de</strong>utlich. Eine I<strong>de</strong>e schießt<br />

mir durch <strong>de</strong>n Kopf.<br />

7:05<br />

"Sag mal, RX, ist die Düse für Milchschaum einsatzbereit? Und<br />

<strong>de</strong>r Schokoraspler?"<br />

"Selbstverständlich, <strong>de</strong>r Herr, ich könnte Ihnen auch einen Eiskaffee mit Melonen-<br />

Gurken-Geschmack anbieten, ich teste in meiner Kühlkammer gera<strong>de</strong> neue Eissorten<br />

<strong>und</strong> ... "<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 6


"Schon gut, danke RX, aber einen einfachen Milchkaffee mit Schokola<strong>de</strong>nflocken,<br />

das wäre cool."<br />

"Umgangssprache!", flüstert mein Kalen<strong>de</strong>r einen Spalt weit aufgeklappt.<br />

"Also nur eine Milchschaumhaube mit Schokola<strong>de</strong>nflocken, gerne."<br />

RX klingt etwas enttäuscht, lenkt aber ein.<br />

"Nur einen Moment, wenn Sie sich kurz gedul<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n."<br />

"Gerne," sage ich, schlage <strong>de</strong>n Kalen<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r zu <strong>und</strong> setze mich an <strong>de</strong>n Küchentisch.<br />

7:08<br />

Verw<strong>und</strong>ert beobachte ich aus <strong>de</strong>n Augenwinkeln, wie sich RX<br />

langsam <strong>und</strong> rumpelnd vor die Küchentür schiebt. Immer noch ein<br />

wenig verschlafen schaue ich ihm zu, ohne einen Sinn in seiner Bewegung zu erkennen.<br />

Stutzig wer<strong>de</strong> ich, als er genau in <strong>de</strong>m Moment die Stützfüße ausfährt, als er<br />

<strong>de</strong>n Türrahmen komplett ver<strong>de</strong>ckt. Als er dann mit einem lauten, vierfachen Klacken<br />

die Stützen einrastet, <strong>de</strong>n Greifer einklappt, das Ausgabefach verschließt <strong>und</strong> sich in<br />

<strong>de</strong>n Ruhezustand versetzt bin ich dann doch ein wenig besorgt - <strong>und</strong> meinen Kaffee<br />

habe ich immer noch nicht.<br />

"RX?" Frage ich vorsichtig.<br />

Keine Antwort.<br />

"RX? Hast du irgen<strong>de</strong>in Problem?"<br />

Immer noch keine Antwort.<br />

Ich springe auf <strong>und</strong> <strong>und</strong> drücke ein paar Mal <strong>de</strong>n 'Service'-Knopf rechts neben <strong>de</strong>m<br />

Display. Der Automat reagiert immer noch nicht.<br />

"Was zum Teufel ist <strong>de</strong>nn jetzt wie<strong>de</strong>r los?" Schreie ich fast.<br />

"Auch in Streitsituationen soll man immer die Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Gegenübers wahren,"<br />

wirft <strong>de</strong>r Kalen<strong>de</strong>r ein <strong>und</strong> klappt sich sofort wie<strong>de</strong>r zu.<br />

Mir reicht es langsam <strong>und</strong> kurz wäge ich ab, ob ich auf meine mühsam eingegebenen<br />

Termine pfeifen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Hauptspeicher <strong>de</strong>s Kalen<strong>de</strong>rs gleich hier plattmachen<br />

soll o<strong>de</strong>r doch noch die paar Tage aushalte bis die Testversion ausläuft. Bevor ich<br />

mich entschei<strong>de</strong>n kann, mel<strong>de</strong>t sich RX endlich.<br />

"Entschuldigen Sie bitte <strong>de</strong>r Herr, aber mein Staatssicherheitsprogramm wur<strong>de</strong> aktiviert."<br />

"Dein was?"<br />

"Mein Staatssicherheitsprogramm zum Schutz <strong>de</strong>r Gemeinschaft vor kriminellen<br />

<strong>und</strong> terroristischen Bedrohungen."<br />

"Dein was?"<br />

Unter extremen Stresseinfluss neige ich zu Wie<strong>de</strong>rholungen.<br />

"Der automatische Abgleich <strong>de</strong>r konsumorientierten sowie biometrisch <strong>und</strong> formalen<br />

Daten Ihrer Person mit meiner Datenbank ergab eine zwei<strong>und</strong>neunzig-prozentige<br />

Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m Profil einer gesuchten Person mit Zugehörigkeit zu einer<br />

konspirativ militanten Vereinigung."<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 7


"Du hältst mich für einen Terroristen?"<br />

Und für wen hält er sich eigentlich?<br />

"Ja, <strong>de</strong>r Herr."<br />

"Einen Terroristen. Und was willst du jetzt machen, mich verhaften?"<br />

"Nein, natürlich nicht, ich bin ein Getränkeautomat."<br />

"Soweit sind wir uns also einig."<br />

"Aber mein Sicherheitsprogramm gebietet mir Ihre Anwesenheit zu mel<strong>de</strong>n <strong>und</strong><br />

Ihre Handlungsfähigkeit passiv einzuschränken."<br />

Ein paar Sek<strong>und</strong>en brauche ich, bis <strong>de</strong>r Groschen fällt. Eine hübsche antiquierte Re<strong>de</strong>nsart<br />

übrigens, die mir jedoch nicht weiter hilft.<br />

"Du willst also in <strong>de</strong>r Tür stehen bleiben?"<br />

"Ja, <strong>de</strong>r Herr. Bis zum Eintreffen <strong>de</strong>r alarmierten Sicherheitskräfte."<br />

"Wen willst du eigentlich alarmieren?"<br />

"Das Ministerium für innere Sicherheit, ich habe ein entsprechen<strong>de</strong>s Mel<strong>de</strong>formular<br />

zum Versand als Datensatz im Internet."<br />

Langsam ahne ich, worauf das Ganze hier hinausläuft. Und meine Ahnung gefällt<br />

mir gar nicht. Ich muss kurz nachrechnen, bin mir aber recht sicher, dass es seit<br />

über 70 Jahren kein Ministerium für innere Sicherheit mehr gibt. Ich fasse es nicht.<br />

Das wür<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten, wenn ...<br />

"Und das gesuchte Profil ist über 100 Jahre alt, o<strong>de</strong>r?"<br />

"Ungefähr, <strong>de</strong>r Herr, genauer gesagt ... "<br />

"Dann ist die gesuchte Person seit über 30 Jahren tot," schreie ich <strong>de</strong>n Automaten<br />

an, "seit über 30 Jahren tot, <strong>de</strong>ine verfluchte Datenbank ist völlig veraltet."<br />

"Es tut mir leid, es gibt keine Hinweise auf einen Wi<strong>de</strong>rruf <strong>de</strong>s betreffen<strong>de</strong>n Datensatzes."<br />

"Weil es das beschissene Ministerium nicht mehr gibt, verflixt noch mal."<br />

"Ähem," mel<strong>de</strong>te sich dumpf <strong>de</strong>r zugeklappte Kalen<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ssen Akku ich in <strong>de</strong>n<br />

Müllschred<strong>de</strong>r stopfen wer<strong>de</strong>.<br />

Doch es hat nicht ganz unrecht, mit meinem Geschrei wer<strong>de</strong> ich RX wohl nicht<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>r Tür wegbekommen.<br />

"Schon gut, RX, gib mir erst einmal meinen Kaffee. Ich muss nach<strong>de</strong>nken."<br />

"Tut mir leid, <strong>de</strong>r Herr, aber ich darf nicht mit Ihnen kooperieren. Sie müssen wohl<br />

auf <strong>de</strong>n Kaffee verzichten."<br />

7:56<br />

Ich sitze am Küchentisch <strong>und</strong> <strong>de</strong>nke nach. Der Versuch das Ausgabefach<br />

aufzubrechen war erfolglos, auch die Tritte <strong>und</strong> Schläge<br />

gegen das Gehäuse haben keine Wirkung erzielt, außer dass Babysitter-Bot sich<br />

wimmernd vor <strong>de</strong>n Ficus geschoben <strong>und</strong> ihn in die hinterste Ecke unter <strong>de</strong>r Spüle gedrückt<br />

hat. Stumpf betrachte ich <strong>de</strong>n abgebrochenen Fingernagel an meinem rechten<br />

Daumen. Zeit für ein Fazit.<br />

Erstens: Ich habe keinen Kaffee.<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 8


Zweitens: Ich kann keine Hilfe holen, da ich meine Küche historisch <strong>und</strong> ohne<br />

Kommunikationsmedien eingerichtet habe.<br />

Drittens: RX kann nieman<strong>de</strong>n alarmieren, <strong>de</strong>r mir dann helfen könnte, da es a) kein<br />

Ministerium für innere Sicherheit <strong>und</strong> b) kein Internet mehr gibt, je<strong>de</strong>nfalls nicht in<br />

<strong>de</strong>r Form, die RX zu seiner aktiven Zeit gekannt hat. Ich musste extra ein eigenes<br />

Programm für <strong>de</strong>n Kalen<strong>de</strong>r schreiben, dass ihm die nächtliche Wartungsabfrage<br />

vorgaukelt <strong>und</strong> Datum sowie die Uhrzeit aktualisiert. Ich habe sogar eigens einen<br />

historischen WLAN-Adapter nachgebaut.<br />

Viertens: Ich habe keinen Kaffee.<br />

8:17<br />

Die Wartungsabfrage! Ich muss doch nur die Datumsangabe auf<br />

meinem Kalen<strong>de</strong>r gute 100 Jahre zurückstellen. Ich Idiot, es ist so<br />

einfach. Damit müsste nach RX Abfrage das gespeicherte Terroristenprofil noch<br />

nicht aktuell sein <strong>und</strong> er wür<strong>de</strong> die Tür freigeben. So einfach. Ich muss also nur ein<br />

paar Co<strong>de</strong>zeilen än<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> dann ... Warten. Mist! Ich müsste bis 24 Uhr warten.<br />

"Mist, verfluchter Mist."<br />

"Ähem." Klapp.<br />

"Schon gut."<br />

21:23<br />

Auf <strong>de</strong>m Rücken liegend starre ich an die Decke. Mein Kalen<strong>de</strong>r<br />

dämmert in Energiesparfunktion auf <strong>de</strong>m Küchentisch, Babysitter-Bot<br />

schlummert neben <strong>de</strong>m Ficus <strong>und</strong> murmelt immer wie<strong>de</strong>r Textzeilen aus<br />

Kin<strong>de</strong>rlie<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Wecker tickt auf <strong>de</strong>r Spüle elektronisch vor sich hin, keine<br />

Ahnung, wann <strong>de</strong>r über RX geklettert ist, vor ein paar St<strong>und</strong>en war er plötzlich mit<br />

in <strong>de</strong>r Küche. Vor <strong>de</strong>r Tür steht RX-2046 <strong>und</strong> klickt <strong>und</strong> summt seelenruhig vor sich<br />

hin. Inzwischen habe ich mitgezählt: Alle 30 Minuten startet er einen internen Systemcheck,<br />

<strong>de</strong>r drei Minuten andauert, alle fünfzehn Minuten spült er die Hauptleitungen<br />

für Heißgetränke, bei je<strong>de</strong>m zweiten Zyklus auch die <strong>de</strong>r Kaltgetränke <strong>und</strong><br />

alle zehn Minuten wechselt er die drei Werbebotschaften im Auswahlmenü, <strong>von</strong> <strong>de</strong>nen<br />

er bei acht Hauptgetränkegruppen 24 unterschiedliche zur Auswahl hat.<br />

Die Langeweile ist schlimmer als <strong>de</strong>r Frust.<br />

21:24 Um kurz nach Zwölf wer<strong>de</strong> ich meinen Kaffee bekommen.<br />

21:25<br />

Bodo Palte (alias 'snord') wur<strong>de</strong> 1976 geboren, studierte später<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften <strong>und</strong> schlägt sich inzwischen als<br />

Freiberufler durch. In <strong>de</strong>r Regionalbahn zwischen Bremen <strong>und</strong> Hannover<br />

reifte Anfang 2008 <strong>de</strong>r Beschluss, nicht mehr nur für sich selbst zu<br />

schreiben. Ganz ernsthaft.<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 9


New York 17.05.2009, 16:52<br />

Diesmal überraschte es mich im Taxi<br />

auf <strong>de</strong>m Westsi<strong>de</strong> Highway, mitten im<br />

Berufsverkehr.<br />

Ganz leise, aber darum nicht weniger<br />

einnehmend. Das hatte mir noch gefehlt,<br />

so kurz vor <strong>de</strong>r Präsentation<br />

meiner Ausarbeitung über das Konsumverhalten<br />

<strong>de</strong>r neuen Unterschicht.<br />

Die nötigen Vorbereitungungen hatte<br />

ich aufgr<strong>und</strong> eines Wie<strong>de</strong>rsehens mit<br />

Caren Leshinsky sowieso arg vernachlässigt.<br />

An Schlaf war auch danach<br />

nicht zu <strong>de</strong>nken gewesen, da Nancy,<br />

meine Ridgeback Hündin, einfach<br />

nicht aufhören wollte zu winseln.<br />

Ich versuchte mich durch die Erinnerungen<br />

an <strong>de</strong>n stürmischen Abend abzulenken,<br />

was mir nur partiell gelang.<br />

Caren ist schon ne Sau.<br />

Immer wie<strong>de</strong>r mogelte sich das noch<br />

kaum hörbare Piepen in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> erinnerte mich nur zu gut<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 10<br />

daran, wohin das führen wür<strong>de</strong>.<br />

Auch die Nachrichten, die sich aus <strong>de</strong>n<br />

schäbigen Boxen <strong>de</strong>s Autoradios<br />

zwangen, vermochten es nicht länger,<br />

meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.<br />

Ich wühlte die Arbeit <strong>de</strong>r letzten Tage<br />

<strong>und</strong> Wochen aus meinem nagelneuen<br />

Krokodilsle<strong>de</strong>rkoffer. Ein paar letzte<br />

Vorbereitungen konnten nicht scha<strong>de</strong>n.<br />

Das Koks hätte ich mir besser gespart.<br />

Caren hatte, wie eigentlich immer, etwas<br />

dabei. Ablehnen wäre besser gewesen,<br />

wohl auch für meine Gehörgänge.<br />

Schon damals, als wir gemeinsam<br />

Bloombergs Wahlkampf leiteten, kam<br />

das Wort „Nein“ in ihrer Gegenwart<br />

für mich nicht in Frage.<br />

„Ist übell ...“<br />

„Was?“ Ich konnte mich nicht erinnern,<br />

<strong>de</strong>n Fahrer zu einem Gespräch<br />

ermuntert zu haben.


„Animal muerte ...“ Heißt mer<strong>de</strong> nicht<br />

Scheiße auf Französisch?<br />

„Ja, ich mag die Viecher auch nicht.“<br />

Und jetzt lass mich arbeiten, du Fanatiker.<br />

„Is Schuld Sonido ...“ Kann ich mal<br />

ihre Aufenthaltsgenehmigung sehen?<br />

„Ich muss mich eigentlich ...!“<br />

„Como ...?“ Ein Stirnrunzeln sollte als<br />

Übersetzung reichen.<br />

„Ah, okay ...“ Das hätten wir geklärt.<br />

Nach<strong>de</strong>m ich ein paar Minuten versucht<br />

hatte, die ersten Worte meines<br />

Vortrags in einen sinnvollen Zusammenhang<br />

zu bringen, gab ich auf.<br />

„Konzentrieren Sie sich auf etwas<br />

Schönes“, hatte Doktor Dixon mir bei<br />

meinem ersten Besuch geraten.<br />

In einem nach Kreuzkümmel <strong>und</strong><br />

Knoblauch stinken<strong>de</strong>n Taxi, im Stau<br />

auf <strong>de</strong>m Westsi<strong>de</strong> an etwas Positives<br />

zu <strong>de</strong>nken, gehörte nicht gera<strong>de</strong> zu<br />

<strong>de</strong>n Vorhaben, die sich leicht umsetzen<br />

ließen. Schon gar nicht, wenn dieser<br />

bohnenfressen<strong>de</strong> Analphabet es<br />

nicht hinbekam, <strong>de</strong>n Empfang seines<br />

Radios richtig einzustellen.<br />

„Könnten Sie ihr Radio bitte ...“ Die<br />

ausbleiben<strong>de</strong> Reaktion ließ meinen<br />

Blick kurz in <strong>de</strong>n Rückspiegel gleiten,<br />

obwohl ich <strong>de</strong>n Augenkontakt mit<br />

meinen Fahrern eigentlich immer zu<br />

mei<strong>de</strong>n versuchte.<br />

Man kann ja nie wissen, ob sich diese<br />

Wil<strong>de</strong>n vielleicht irgendwann an einen<br />

erinnern.<br />

„Das Radio ... Signor ...!“ Zu <strong>de</strong>m<br />

Summen gesellte sich mittlerweile ein<br />

ebenfalls zunehmen<strong>de</strong>r Druck auf<br />

meinem Schä<strong>de</strong>l. Er musste das mit<br />

<strong>de</strong>m Empfang hinbekommen o<strong>de</strong>r es<br />

ausschalten.<br />

„Mach jetzt das scheiß Radio aus!“<br />

Erst jetzt bemerkte ich <strong>de</strong>n gehetzten<br />

Blick <strong>de</strong>s Südamerikaners im Aus-<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 11<br />

schnitt <strong>de</strong>s Spiegels. Seine Pupillen<br />

flackerten über tiefschwarzen Augenringen<br />

wie die Anzeige eines Geigerzählers<br />

auf Three Mile Island. Er hielt,<br />

scheinbar unbeeindruckt <strong>von</strong> meinem<br />

Kreischen, starr sein Lenkrad umschlossen,<br />

als dachte er, es wür<strong>de</strong><br />

ohne sein Zutun einen Fluchtversuch<br />

unternehmen.<br />

„Sonido ...“<br />

„Was re<strong>de</strong>st du da für einen Scheiß,<br />

Mann?“ Von <strong>de</strong>m immer schriller wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Klingeln getrieben, schmiss<br />

ich ihm einen Zehner durch die offenstehen<strong>de</strong><br />

Scheibe <strong>und</strong> presste die verdreckte<br />

Tür auf. Der Wagen hatte sich<br />

schon seit einer Viertelst<strong>und</strong>e nicht<br />

mehr <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Stelle gerührt, was meine<br />

Flucht begünstigte.<br />

„Du bist doch irre!“, schrie ich noch in<br />

die Kabine, während ich erkannte,<br />

dass wohl die pinkfarbenen Wattebäusche<br />

in seinen Ohren ihn vom Hören<br />

meines Gezeters abhielten.<br />

Erleichtert, <strong>de</strong>r Lärmhölle entflohen<br />

zu sein, stand ich einen kurzen Augenblick<br />

orientierungslos am Straßenrand.<br />

Die akustische Plage war mir gefolgt,<br />

aber wenigstens hatte ich das<br />

kranke Radio <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Enchiladagestank<br />

hinter mir gelassen. Nach<strong>de</strong>m<br />

ich mich entschie<strong>de</strong>n hatte, meinen<br />

Blick vom Hudson-River zu lösen,<br />

dauerte es ein Weilchen, bis ich begriff,<br />

dass es sich bei diesem Stau keinesfalls<br />

um <strong>de</strong>n Berufsverkehr han<strong>de</strong>lte.<br />

Rio <strong>de</strong> Janeiro 17.05.2009, 19:03<br />

Dichter schwarzer Rauch schwebte<br />

über <strong>de</strong>r Autoschlange auf <strong>de</strong>r Rodigues<br />

Alves. Aufgeregte Schreie übertönten<br />

die Kakofonie <strong>de</strong>r Hupen <strong>und</strong><br />

ließen mich für einen Augenblick <strong>de</strong>n


Zustand meines eigenen Ohres vergessen.<br />

Aber nur kurz.<br />

Es war keine Zeit, mich um irgendwelche<br />

Unfallopfer kümmern. Ich musste<br />

es schaffen, noch vor <strong>de</strong>r Veranstaltung<br />

<strong>de</strong>n Arzt aufzusuchen, um dann<br />

pünktlich zur Ausstellungseröffnung<br />

an <strong>de</strong>r Chácara do Céu anzukommen.<br />

In diesem Zustand konnte ich da ein<strong>de</strong>utig<br />

nicht aufkreuzen.<br />

Zumin<strong>de</strong>st Pentoxyphillin fürs Erste<br />

<strong>und</strong> was zur Beruhigung.<br />

Das Taxi stand immer noch an <strong>de</strong>rselben<br />

Stelle. Ich schlug <strong>de</strong>m verrückten<br />

Americano zum Abschied noch mal<br />

aufs Dach <strong>und</strong> begann Richtung City<br />

zu traben, wo <strong>de</strong>r Doktor seine Praxis<br />

hatte. Eine knappe St<strong>und</strong>e blieb mir<br />

noch.<br />

Eine ohrenbetäuben<strong>de</strong> Detonation, gefolgt<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>n obligatorischen Schreckenslauten<br />

lenkte meine Aufmerksamkeit<br />

einen Sek<strong>und</strong>enbruchteil <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>r Strecke ab. Das kostete mich eine<br />

gute Minute, da ich mich <strong>von</strong> einem<br />

umgestoßenen Kin<strong>de</strong>rwagen samt seiner<br />

schreien<strong>de</strong>n Fracht befreien musste.<br />

Unter <strong>de</strong>r Costa E Silva waren anscheinend<br />

zwei Schiffe kollidiert.<br />

Ich rannte vorbei an verkeilten Lastwagen,<br />

<strong>de</strong>ren Fahrer bei <strong>de</strong>r Flucht<br />

vor <strong>de</strong>n Flammen anscheinend <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>n Resten geborstener Windschutzscheiben<br />

aufgehalten wur<strong>de</strong>n. So erklärte<br />

ich mir zumin<strong>de</strong>st die verkohlten<br />

Leiber, die aufgespießt in <strong>de</strong>n ansonsten<br />

leeren Rahmen hingen. Über<br />

die Ästhetik <strong>de</strong>s mir gebotenen Schauspiels<br />

nachzu<strong>de</strong>nken verschob ich auf<br />

später.<br />

Nach<strong>de</strong>m ich einem Haufen toter Tauben<br />

lei<strong>de</strong>r nur teilweise ausweichen<br />

konnte, zwang sich mir ein neues Problem<br />

auf: Wo krieg ich jetzt noch neue<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 12<br />

Schuhe her?<br />

Doch das weiter anschwellen<strong>de</strong> Piepen<br />

brachte mich schnell zurück zur Essenz<br />

meiner Sorgen:<br />

Was, wenn um die Uhrzeit keiner<br />

mehr in <strong>de</strong>r Praxis ist?<br />

Ich riss im Laufen mein Handy aus <strong>de</strong>r<br />

Tasche <strong>und</strong> drückte die verwen<strong>de</strong>te<br />

Kurzwahlziffer. Noch bevor ich es<br />

richtig an meine Ohrmuschel pressen<br />

konnte, hielt mich das schrille Pfeifen,<br />

das aus <strong>de</strong>m Hörer drang, da<strong>von</strong> ab.<br />

„Mist, verfluchter!“<br />

Wutentbrannt schleu<strong>de</strong>rte ich das Telefon<br />

auf <strong>de</strong>n fe<strong>de</strong>rübersäten Asphalt.<br />

Der Doktor wird schon da sein.<br />

Es war noch eine Abbiegung zu nehmen,<br />

dann sollte die Praxis erreicht<br />

sein. Der Druck in meinem Kopf nahm<br />

<strong>von</strong> Schritt zu Schritt zu. Diesmal war<br />

es irgendwie an<strong>de</strong>rs.<br />

Ich kam schließlich auf die Pista central.<br />

Das sich mir bieten<strong>de</strong> Bild ähnelte<br />

<strong>de</strong>m auf <strong>de</strong>m Rodigues Alves, nur<br />

dass hier anscheinend ein in einen<br />

Reisebus gestürzter Hubschrauber das<br />

Seine zur Vollendung <strong>de</strong>r Misere beigetragen<br />

hatte. Flammen schossen aus<br />

<strong>de</strong>m Inneren <strong>de</strong>r Fahrzeuge. Menschen<br />

(o<strong>de</strong>r was da<strong>von</strong> übrig war)<br />

rannten in kopfloser Panik gegen Autos,<br />

manche suchten das retten<strong>de</strong><br />

Wasser. Geschmolzene Li<strong>de</strong>r machten<br />

die Suche nicht einfacher. Die rauchgesättigte<br />

Luft machte mir das Atmen<br />

schwer. Es roch, als hätten tausend<br />

Köche an Stelle <strong>de</strong>r Würstchen ihre<br />

Hän<strong>de</strong> samt <strong>de</strong>r Latexhandschuhe auf<br />

die heiße Grillplatte gelegt. Gummi<br />

<strong>und</strong> Fleisch ...<br />

Das diese Vorstellung begleiten<strong>de</strong> Zischen<br />

hatte allerdings eine an<strong>de</strong>re Ursache.<br />

In meiner Sorge um das wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong><br />

Übel hatte ich das Ausmaß<br />

dieser Katastrophe anscheinend un


terschätzt. Jetzt erwischte es mich mit<br />

voller Wucht. Ich taumelte, fand Halt<br />

an einer Ampel. Überall brennen<strong>de</strong><br />

Autos.<br />

„Helfen Sie mir!“ Was ist hier<br />

passiert?<br />

“Ich brauche Hilfe!“ Ein Blick nach<br />

unten präsentierte mir <strong>de</strong>n stören<strong>de</strong>n<br />

Bittsteller.<br />

Die Ampel eng umschlingend lag ein<br />

Polizist zu meinen Füßen. Seine Hose<br />

brannte, war aber zu seinem Glück nur<br />

noch halb gefüllt. Blut sickerte durch<br />

je<strong>de</strong> Naht seiner zerfled<strong>de</strong>rten Kleidung.<br />

Seine offene Stirn presste er an<br />

meine Schuhspitzen.<br />

“Hören Sie, da ist lauter Taubenzeugs<br />

dran, besser Sie tun Ihren Kopf woan<strong>de</strong>rshin.“<br />

„Hilf ...!“ Er brachte nur noch ein gurgeln<strong>de</strong>s<br />

Röcheln zustan<strong>de</strong>.<br />

„Tut mir wirklich leid, ich muss zum<br />

Arzt“, sagte ich <strong>und</strong> rannte weiter.<br />

Der Gr<strong>und</strong> dafür fraß sich unnachgiebig<br />

in mein Gehör wie eine Termite in<br />

ein Stück Kork.<br />

Nach<strong>de</strong>m ich noch mal umgekehrt<br />

war, um mir seine Dienstwaffe anzueignen<br />

(selbstverständlich nicht ohne<br />

als Gegenleistung ein erstes Mal da<strong>von</strong><br />

Gebrauch zu machen), rannte ich<br />

schließlich über die Straße, die mich<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>r erlösen<strong>de</strong>n Medizin trennte.<br />

Das Geräusch legte zu, es war allerhöchste<br />

Zeit.<br />

London 17.05.2009, 22:17<br />

Als ich um die Ecke bog, traf mich ein<br />

Schlag so hart wie <strong>de</strong>r Morgenschiss<br />

nach zehn Kilo Bananen. Auf <strong>de</strong>r<br />

Gray’s Inn war kein Durchkommen<br />

mehr. Dicht an dicht stan<strong>de</strong>n sie da,<br />

als wür<strong>de</strong>n sie auf <strong>de</strong>n Startschuss<br />

beim Schlussverkauf <strong>von</strong> Harrods<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 13<br />

warten. Das Personal versuchte mit<br />

Hilfe einiger Bobbys die Menge da<strong>von</strong><br />

abzuhalten, die Klinik zu stürmen,<br />

doch <strong>de</strong>r Durchbruch war nicht mehr<br />

fern. Einer <strong>de</strong>r Bullen versuchte ungeschickt<br />

eine Ansage durch ein Megafon<br />

zu machen, doch das Ergebnis<br />

brachte die Menschen in Aufruhr.<br />

Noch bevor die Rückkopplung verklungen<br />

war, hatte sich die kreischen<strong>de</strong><br />

Menge um min<strong>de</strong>stens vier Meter <strong>de</strong>m<br />

Gebäu<strong>de</strong> genähert, was rein rechnerisch<br />

für die Leute aus <strong>de</strong>n ehemals<br />

vor<strong>de</strong>ren Reihen keine allzu gute Position<br />

darstellte. Das Schrillen in meinen<br />

Ohren hatte durch diesen verfickten<br />

Penner Futter gekriegt <strong>und</strong> saß<br />

jetzt fett <strong>und</strong> faul mitten in meinem<br />

Audiocortex.<br />

Eine gute halbe St<strong>und</strong>e hatte ich noch,<br />

bis Bacon-Neck mich im Venus erwartete,<br />

<strong>und</strong> bis Soho war es noch eine<br />

gute Strecke zu fahren. Mit einem Taxi<br />

konnte ich bei <strong>de</strong>m Verkehrschaos<br />

nicht mehr rechnen <strong>und</strong> mein Handy<br />

war weg. Trotz <strong>de</strong>r minütlich nachlassen<strong>de</strong>n<br />

Konzentration bemerkte ich,<br />

dass diese Ausgangssituation keine<br />

gute war.<br />

„Fuck!“ Ich begann mich in die Menge<br />

zu drängeln, allerdings nicht ohne auf<br />

Gegenwehr zu stoßen.<br />

Empörtes Raunen. Grapschen<strong>de</strong>, zerren<strong>de</strong><br />

Hän<strong>de</strong> <strong>und</strong> eine immer weiter<br />

zunehmen<strong>de</strong>, alles zerpressen<strong>de</strong> Enge<br />

hin<strong>de</strong>rten mich daran, gemütlich<br />

in <strong>de</strong>n Klinikvorraum zu spazieren<br />

<strong>und</strong> mit meiner Selbstdiagnose an <strong>de</strong>r<br />

mir nur allzu vertrauten Rezeption<br />

vorstellig zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Ich hatte mich mittlerweile ganz gut<br />

vorgearbeitet <strong>und</strong> merkte an <strong>de</strong>m<br />

nachgeben<strong>de</strong>n Untergr<strong>und</strong>, dass ich<br />

die Viermeterzone erreicht haben<br />

musste. Ich sah auch schon <strong>de</strong>n Verur


sacher <strong>de</strong>s zermalmen<strong>de</strong>n Gedränges,<br />

wie er dastand mit seinen schwulen<br />

Ohrenschützern <strong>und</strong> mit um <strong>de</strong>n<br />

M<strong>und</strong> geschirmten Handflächen versuchte,<br />

<strong>de</strong>m Mob etwas mitzuteilen.<br />

Ich wie<strong>de</strong>rum hatte mit rabiater wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>m<br />

Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Massen zu<br />

kämpfen, da sie sich, ähnlich wie ich,<br />

ihrem Ziel schon so nah wähnten.<br />

Doch eine erhobene Kanone wirkte gera<strong>de</strong><br />

in solch angespannten Situationen<br />

W<strong>und</strong>er.<br />

Wogegen die Waffe nichts ausrichten<br />

konnte, war irgend etwas, in das sich<br />

mein rechter Fuß verhed<strong>de</strong>rt hatte. Ich<br />

steckte verficktnochmal irgendwo fest.<br />

Mit Nachdruck <strong>und</strong> einem Warnschuss<br />

in das Gesicht eines beson<strong>de</strong>rs<br />

ungehaltenen Zeitgenossen bekam ich<br />

die Chance, das Dilemma unter die<br />

Lupe zu nehmen.<br />

So langsam begann die Sache an meinen<br />

Nerven zu zerren. Mein Ohrgeräusch<br />

hatte seinen höchsten Pegel anscheinend<br />

noch nicht erreicht,<br />

schraubte sich höher <strong>und</strong> höher, um<br />

dann wie<strong>de</strong>r abzufallen <strong>und</strong> sich mit<br />

einem Brummen zu vermischen.<br />

Ich bückte mich langsam, nach<strong>de</strong>m<br />

ich einen <strong>de</strong>r Umstehen<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r<br />

stählernen Mündung an seinen Eiern<br />

überzeugt hatte, für ein reibungsloses<br />

Wie<strong>de</strong>rauftauchen zu sorgen. Als ich<br />

schließlich gebückt dastand, ohne<br />

mich eigenständig auch nur einen weiteren<br />

Millimeter bewegen zu können,<br />

wur<strong>de</strong> mir sie<strong>de</strong>ndheiß klar, dass dies<br />

keine Position war, in <strong>de</strong>r ich sterben<br />

wollte. Also befreite ich hektisch meinen<br />

Fuß aus <strong>de</strong>r Schä<strong>de</strong>l<strong>de</strong>cke, in die<br />

er sich verkeilt hatte, <strong>und</strong> schoss meinem<br />

Zwangspartner als Zeichen für<br />

mein Vorhaben, wie<strong>de</strong>r aufzutauchen,<br />

ins Schienbein.<br />

Als ich wie<strong>de</strong>r oben war, hatte ich lei-<br />

<strong>de</strong>r keine Gelegenheit, mich für die engagierte<br />

Hilfe zu bedanken, da ich <strong>de</strong>n<br />

Kerl nicht wie<strong>de</strong>rerkannte. Was ich<br />

aber sah, jagte mir einen verfickten<br />

Schrecken ein. Der Ausdruck in <strong>de</strong>n<br />

Gesichtern <strong>de</strong>r Leute war es, dieser geplagte<br />

lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Blick. Sie sahen aus<br />

wie ... wie Becky, wenn sie einen ihrer<br />

Migräneanfälle hatte ... wie Simon, als<br />

er über Monate dieses komische Brennen<br />

in seiner Bauch<strong>de</strong>cke hatte ...<br />

wie ... wie ich, als ich ...<br />

Ich packe <strong>de</strong>n mir am nächsten Stehen<strong>de</strong>n.<br />

„Was hast du? Warum bist du<br />

hier?“<br />

„W ... wegen meinen Ohren“, stotterte<br />

<strong>de</strong>r Mann.<br />

Und die Nächste: „Du, was ist mit<br />

dir?“<br />

„Tinnitus.“ Sie schaute mir forsch in<br />

die Augen, konnte ihre Panik aber<br />

nicht verbergen.<br />

Und ich glaubte nicht, dass ich <strong>de</strong>r<br />

verfickte Gr<strong>und</strong> dafür war.<br />

Berlin 17.05.2009 23.42<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 14<br />

Es dauerte eine Weile, bis ich mich aus<br />

<strong>de</strong>m Gedränge befreit hatte. Den Termin<br />

mit Moschinsky <strong>und</strong> meinen rechten<br />

Schuh hatte ich schon länger abgeschrieben.<br />

Er musste sich mit <strong>de</strong>n Flyern<br />

wohl etwas gedul<strong>de</strong>n. Das neu gesteckte<br />

Ziel war meine Wohnung, dort<br />

hatte ich, soweit ich mich erinnerte,<br />

noch ein paar Valium <strong>von</strong> Gitte herumfliegen.<br />

Vielleicht sogar noch ein<br />

Päckchen Pentox <strong>von</strong> damals, o<strong>de</strong>r<br />

auch gerne was Härteres. Aber ich vermutete,<br />

dass ich sie entsorgt hatte, als<br />

es besser gewor<strong>de</strong>n war.<br />

Ich zog mir die Zahnwurzel aus <strong>de</strong>r<br />

Ferse, die ich mir irgendwie eingetreten<br />

hatte, <strong>und</strong> verfiel wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n


Trab, <strong>de</strong>r mich schon hierhin gebracht<br />

hatte. Um zu meiner Wohnung zu gelangen,<br />

musste ich <strong>de</strong>n Alex überqueren<br />

<strong>und</strong> weiter bis zur Karl-Liebknecht,<br />

wo ich seit ein paar Wochen<br />

wohnte.<br />

Eine S-Bahn war aus <strong>de</strong>n Gleisen gesprungen<br />

<strong>und</strong> hing wie eine abgeschossene<br />

Riesenschlange <strong>von</strong> <strong>de</strong>r<br />

Brücke.<br />

Verlassene Feuerwehrwagen stan<strong>de</strong>n<br />

umher <strong>und</strong> gaben mit ihrem Blaulicht<br />

die zynische Lightshow für das Spektakel.<br />

Die Skyline <strong>de</strong>r nächtlichen Stadt<br />

war in ein dunkles Orange gehüllt, das<br />

sich Richtung Tempelhof zu einem<br />

leuchten<strong>de</strong>n Gelb verfärbte. Überall<br />

brannten Autos, rannten Menschen<br />

orientierungslos durch <strong>de</strong>molierte<br />

Straßen. Von irgendwoher kamen<br />

Schüsse.<br />

Ich fühlte mich zurückversetzt in meine<br />

Zeit in Kreuzberg, Mitte <strong>de</strong>s letzten<br />

Jahrzehnts. Ungefähr da hatte sich<br />

mein Geräusch das erste Mal gemel<strong>de</strong>t.<br />

Nach einem durchgefeierten Wochenen<strong>de</strong><br />

mit Julia im Tresor.<br />

Ein südländisch wirken<strong>de</strong>r Junge in<br />

Jogginganzug riss mich auf <strong>de</strong>r Mitte<br />

<strong>de</strong>s Alexan<strong>de</strong>rplatzes aus meinen Erinnerungen.<br />

Sein Messer machte keinen<br />

Eindruck auf mich. Zu sehr zitterte<br />

die Hand, die es hielt.<br />

„Hau ab, Mann!“ Der Kolben <strong>de</strong>r SIG<br />

auf seiner Nase unterstrich meine Entschlossenheit.<br />

„Keine Zeit für sowas.“<br />

Auf <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>s Alex war die verheeren<strong>de</strong><br />

Frequenz bereit für ihren nächsten<br />

Aufguss.<br />

Ein panischer Aufschrei ging durch die<br />

sowieso schon planlose Menge. Etliche<br />

gingen durch die Schallwelle zu Bo<strong>de</strong>n,<br />

einer da<strong>von</strong> ich. Es war nicht<br />

mehr auszuhalten. Mein Herz raste,<br />

drohte sich selbst zu überholen, wäh-<br />

rend mein Gehirn an die Schä<strong>de</strong>l<strong>de</strong>cke<br />

schlug wie ein Sträfling in seiner ersten<br />

Nacht in Haft an die Tür seiner<br />

Zelle.<br />

Als mit einem Lauten Knall die Glasscheiben<br />

<strong>de</strong>r umliegen<strong>de</strong>n Geschäfte<br />

barsten, entlud sich <strong>de</strong>r Druck <strong>und</strong> das<br />

Tor sprang auf. Wie in Zeitlupe regneten<br />

die bunt beleuchteten Scherben<br />

<strong>de</strong>s Fernsehturms auf die Er<strong>de</strong> herab<br />

<strong>und</strong> vollen<strong>de</strong>ten <strong>de</strong>n Eindruck, <strong>de</strong>r<br />

neuesten André Heller-Show beizuwohnen.<br />

Dubay 18.05.2009 3:24<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 15<br />

Ich erwachte aus einer Ohnmacht.<br />

Das unnachgiebige Klingeln <strong>de</strong>s<br />

Weckers drang in je<strong>de</strong> meiner gesch<strong>und</strong>enen<br />

Poren. Winzigkleine Ohrmuscheln<br />

waren an je<strong>de</strong>r <strong>von</strong> ihnen<br />

gewachsen. Ich kicherte wie eine Irre<br />

über diese I<strong>de</strong>e, aber <strong>de</strong>r Alarm zwang<br />

mich aufzustehen. Lei<strong>de</strong>r gab es keinen<br />

Knopf, <strong>de</strong>n ich betätigen konnte,<br />

um mich noch mal umzudrehen, <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>r neue Tag war bereits im vollen<br />

Gange. Kein Aufschub, keine Sleep-<br />

Taste, ich musste weiter.<br />

Ich drückte mich stöhnend vom Bo<strong>de</strong>n<br />

ab <strong>und</strong> quälte mich aus <strong>de</strong>m menschlichen<br />

Bo<strong>de</strong>nbelag. Die Glassplitter lagen<br />

überall verstreut, be<strong>de</strong>ckten die<br />

Szene mit glitzern<strong>de</strong>m Staub.<br />

Als ich das Hotel am Abend verlassen<br />

hatte, war es noch das stolze Segel,<br />

wofür es so berühmt war. Nun wirkte<br />

es wie die Karkasse eines überdimensionalen<br />

Fisches. Es überragte die zucken<strong>de</strong>n<br />

Körper orientierungslos angespülter<br />

Meereslebewesen, wie ein<br />

Mahnmal <strong>von</strong> Greenpeace.<br />

Ich griff nach <strong>de</strong>r Uzi, die ich mit einem<br />

letzten Funken Geistesgegenwart<br />

vor <strong>de</strong>r Ohnmacht unter mein Kleid


geschoben hatte <strong>und</strong> machte mich auf<br />

<strong>de</strong>n Weg. Meine Ferse schmerzte bei<br />

je<strong>de</strong>m Schritt, aber einer meiner 300-<br />

Dollar-Louis-Vuitton-Schuhe steckte<br />

in jemand an<strong>de</strong>rem. Die Verzweiflung,<br />

die ich vor einiger Zeit noch gespürt<br />

hatte, war <strong>de</strong>m reinen Überlebenstrieb<br />

gewichen <strong>und</strong> brachte mich vorwärts.<br />

Ich musste in die siebte Etage, was mir<br />

angesichts <strong>de</strong>r offensichtlich kaputten<br />

Glasaufzüge einen kurzen Angstschub<br />

einbrachte. Die in <strong>de</strong>n leeren Stahlgehäusen<br />

hängen<strong>de</strong>n, an blutgetränkte<br />

Schwämme erinnern<strong>de</strong>n Kadaver riefen<br />

mir allerdings in <strong>de</strong>n Sinn, dass ich<br />

es auch als Vorteil werten konnte,<br />

nicht in einem <strong>von</strong> ihnen gewesen zu<br />

sein, als sie implodierten.<br />

Omsk 18.05.2009, 5:38<br />

Ich fand die Treppenhäuser hinter <strong>de</strong>r<br />

Rezeption. Die Lampen, die normalerweise<br />

auf die Notausgänge hinwiesen,<br />

hatten sich in Staub verwan<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>r<br />

unter meinem beschuhten Fuß ein<br />

kaum noch wahrnehmbares Knirschen<br />

verursachte. Der Ton stieg weiter an.<br />

Ich brauchte die Medikamente, obwohl<br />

ich mir nicht mehr sicher war,<br />

was genau sie mir bringen sollten.<br />

In diesem Chaos noch an das Treffen<br />

mit Servidijin zu <strong>de</strong>nken, erschien mir<br />

wie ein schlechter Scherz, aber er hatte<br />

gedroht, sich meine Familie vorzunehmen,<br />

wenn ich nicht liefere. Meine<br />

Familie ...<br />

Nach<strong>de</strong>m ich einige Male Gebrauch<br />

<strong>von</strong> meiner Makarov machen musste,<br />

um <strong>de</strong>m Tod durch Zertrampeln zu<br />

entgehen, machte ich eine kurze Rast.<br />

Ich verband meinen bluten<strong>de</strong>n Fuß<br />

mit <strong>de</strong>r Krawatte eines auf <strong>de</strong>n Treppenstufen<br />

kauern<strong>de</strong>n Jungen, <strong>de</strong>ssen<br />

zersprungene Brillengläser ihm das<br />

Augenlicht nahmen. Ich strich <strong>de</strong>m<br />

Weinen<strong>de</strong>n über <strong>de</strong>n Kopf <strong>und</strong> setzte<br />

meinen Aufstieg fort. Trösten war nie<br />

meine Stärke.<br />

„Wenigstens kannst du noch hören,<br />

Junge.“ Ich selber hörte mich nicht.<br />

Tokio 18.05.2009 7:57<br />

Der Gegenverkehr wur<strong>de</strong> geringer, je<br />

höher ich kam.<br />

Ich riss die Tür zu meiner Etage auf.<br />

Eine frische Morgenbrise wehte mir<br />

entgegen, angereichert mit kaltem<br />

Rauch <strong>und</strong> <strong>de</strong>r <strong>von</strong> Gott geschickten<br />

Strafe für unseren Leichtsinn.<br />

Das Gerippe <strong>de</strong>s gegenüberliegen<strong>de</strong>n<br />

Shiodomes, das <strong>de</strong>n Ausschnitt <strong>de</strong>s<br />

leeren Fensterrahmens am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Flurs ausfüllte, zog für einen Augenblick<br />

meine Aufmerksamkeit auf sich.<br />

Es hin<strong>de</strong>rte mich aber nicht daran, zu<br />

bemerken, dass meine Wohnungstür<br />

offenstand.<br />

Ich lupfte meine Dienstwaffe aus <strong>de</strong>m<br />

Halfter <strong>und</strong> schlich mich, wie in H<strong>und</strong>erten<br />

<strong>von</strong> Trainingsst<strong>und</strong>en bei <strong>de</strong>r<br />

Einheit geübt, mit <strong>de</strong>m Rücken an <strong>de</strong>r<br />

Wand in Richtung <strong>de</strong>s Apartments.<br />

Die Intensität <strong>de</strong>s Pfeifens nahm mit<br />

je<strong>de</strong>m Schritt zu. Mein Herz hämmerte<br />

stakkatisch, doch ich überwand<br />

meine Angst <strong>und</strong> sprang vor.<br />

Sydney 18.05.2009 9:17<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 16<br />

Meine frisch gewaschenen Vorhänge<br />

wehten im Wind. Auf <strong>de</strong>m Teppich<br />

mischten sich verschie<strong>de</strong>nste Glassorten<br />

<strong>und</strong> ergaben mit <strong>de</strong>n leeren Medikamentendöschen<br />

ein Mosaik <strong>de</strong>s<br />

Schreckens. Das Getöse war hier<br />

markerschütternd, füllte <strong>de</strong>n Raum<br />

aus <strong>und</strong> ließ keinen Platz für menschliches<br />

Leben. Der Zorn <strong>de</strong>r Regenbo


genschlange war groß <strong>und</strong> laut.<br />

Auf <strong>de</strong>m Sofa lag Betty, mit leerem<br />

Blick die Decke betrachtend. Ihre leblosen<br />

Fingern hielten mein Radio umkrallt,<br />

aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Lärm zu kommen<br />

schien. Ich been<strong>de</strong>te die Übertragung<br />

mit einem gezielten Schuss aus <strong>de</strong>r<br />

Pumpgun.<br />

Wellington 18.05.2009 11:29<br />

Verzweifelt kniete ich auf <strong>de</strong>m Flokati<br />

<strong>und</strong> wühlte mich durch das Gemisch<br />

aus Dreck, Glas <strong>und</strong> zwei Blutgruppen.<br />

Die Schlampe hat sich meine Tabletten<br />

gekrallt!<br />

Alle meine Medikamente hatte dieses<br />

Aas gefressen <strong>und</strong> mit meinem 79er<br />

Sauvignon runtergekippt.<br />

„Erst mit <strong>de</strong>r halben Nachbarschaft ficken<br />

<strong>und</strong> dann meine Pillen fressen,<br />

du Sau!“<br />

Meine letzte Patrone zerschmetterte<br />

ihren Unterkiefer.<br />

Honolulu 17.05.2009 14:32<br />

Heulend wie ein angefahrener H<strong>und</strong><br />

hockte ich in <strong>de</strong>n Überbleibseln meines<br />

Wohnzimmers, aber außer <strong>de</strong>m<br />

Geräusch war da nichts mehr.<br />

Langsam rappelte ich mich auf. Wo<br />

eine Flasche ist ...<br />

Auf allen Vieren begab ich mich auf<br />

die Suche nach <strong>de</strong>m Werkzeug <strong>de</strong>r Erlösung,<br />

ungeachtet <strong>de</strong>r Schmerzen, die<br />

die Splitter in meiner Haut verursachten.<br />

... ist auch ein Korken.<br />

Hakamaii 17.05.2009 15:05<br />

Das Knacken meines Trommelfells<br />

beim Eindringen <strong>de</strong>s Korkenziehers<br />

erinnerte mich an die Muschelschalen,<br />

die ich als Kind immer zerdrückt hatte.<br />

Ich lachte, ließ es aber schnell wie<strong>de</strong>r.<br />

Bei Ohr Nummer zwei war die<br />

Scheu schon nicht mehr so groß. Erneut<br />

ein Erinnerungsfetzen an meine<br />

Kindheit unten am Strand.<br />

Juneau 17.05.2009 15:37<br />

Wie<strong>de</strong>r lachte ich, diesmal länger. Wie<br />

kann das sein?<br />

Angenehm warm floss es meinen Hals<br />

herab. das Gefühl aus meinem Kopf<br />

verschwand. Was lei<strong>de</strong>r blieb, war das<br />

Geräusch.<br />

Mexico City 17.05.2009 16:38<br />

Tiefer <strong>und</strong> immer tiefer trieb ich das<br />

Gewin<strong>de</strong> in meine Gehörgänge, wie<br />

ein Specht auf Beutejagd. Doch es hörte<br />

...<br />

Winnipeg 17.05.2009 17:38<br />

... einfach nicht ...<br />

New York 17.05.2009 18:39<br />

... auf.<br />

Ralf Noetzel – <strong>de</strong>r 1972er So<strong>und</strong>tüftler <strong>und</strong> Hobbyquer<strong>de</strong>nker, ist<br />

beson<strong>de</strong>rs stolz auf seine Zucht erlesener Bandwurmsätze.<br />

Kurzgeschichten.<strong>de</strong>-Insi<strong>de</strong>rn ist er vielleicht unter <strong>de</strong>m Namen krilliam<br />

Bol<strong>de</strong>rson bekannt.<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 17


»Zigarette?«<br />

»Was?«<br />

»Ob Sie eine Zigarette möchten.«<br />

»Was ist das <strong>de</strong>nn für eine Frage?«<br />

»Eine höfliche. Hoffe ich zumin<strong>de</strong>st.«<br />

»Versuchen Sie ja nicht, mich aufzuhalten.«<br />

»Nein. Nein, keine Angst. Darum bin ich nicht hier.«<br />

»Warum sind Sie dann hier?«<br />

»Ich wollte die Aussicht genießen. Bisschen Luft schnappen <strong>und</strong> so. War<br />

einfach ein harter Tag... Geht ziemlich tief runter, o<strong>de</strong>r?«<br />

»Das hoffe ich.«<br />

»Meinen Sie, Sie sollten das tun?«<br />

»Was soll ich sonst tun?«<br />

»Weiß nicht. Sie könnten Ihr Leben genießen.«<br />

»Ich habe kein Leben.«<br />

»Und das soll sich dort unten än<strong>de</strong>rn? Glauben Sie mir, nichts än<strong>de</strong>rt sich,<br />

nichts wird besser. Es ist nur dunkler.«<br />

»Woher wollen Sie das wissen?«<br />

»Es ist mein Job, das zu wissen. Setzen wir uns doch einen Moment.«<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 18


Es war einer dieser<br />

schwülen Sommernachmittage,<br />

die <strong>von</strong> Schweiß<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r verzweifelten Suche<br />

nach kühlen<strong>de</strong>m Schatten dominiert<br />

wer<strong>de</strong>n, einer Suche,<br />

die <strong>von</strong> vornherein zum Scheitern<br />

verurteilt ist, da die Sonne<br />

bereits je<strong>de</strong>n noch so kleinen<br />

Winkel <strong>de</strong>r Welt in einen Mikrokosmos<br />

aus Hitze verwan<strong>de</strong>lt<br />

hat. Einer dieser Nachmittage,<br />

die niemals en<strong>de</strong>n wollen, egal,<br />

wieviel eiskaltes Bier man sich<br />

in <strong>de</strong>n ausgetrockneten Körper<br />

kippt, egal, wieviele Eiswürfel<br />

man sich auf <strong>de</strong>n schmelzen<strong>de</strong>n<br />

Bauch legt <strong>und</strong> egal, wieviele<br />

hektisch kreiseln<strong>de</strong> Ventilatoren<br />

versuchen, einem die warme<br />

Luft vom Hals zu halten.<br />

Alles klebt, man ist gefangen in<br />

seiner eigenen Körperflüssigkeit,<br />

die unaufhaltsam an <strong>de</strong>r<br />

Haut hinabrinnt. Literweise. So<br />

ein Tag war es. Es war außer<strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>r letzte Tag.<br />

»Du hast uns also ein<br />

Auto besorgt«, begann<br />

Fred. Er schwitzte, ich<br />

nicht. Ich schwitze niemals.<br />

»Ja.«<br />

»Und du hast nicht...«<br />

»Nein.«<br />

»Nicht einen Blick?«<br />

»Ich hab nicht dran gedacht.«<br />

»Aber... verdammt nochmal, ich<br />

meine, das ist <strong>de</strong>in Job. Wenn<br />

du nicht an sowas <strong>de</strong>nkst, wer<br />

dann?«<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 19<br />

»Hör mal, Fred«, sagte ich.<br />

»Ich hole sie nur ab. Das An<strong>de</strong>re<br />

ist <strong>de</strong>ine Domäne.«<br />

»Ja. Aber das riecht man doch<br />

auch.«<br />

»Ähem...« Ich räusperte mich<br />

geräuschvoll <strong>und</strong> <strong>de</strong>utete auf<br />

meine Nase.<br />

»Ach ja. Entschuldige. Aber<br />

hast du dafür nicht einen sechsten<br />

Sinn o<strong>de</strong>r so?«<br />

»Wie gesagt, die Körper interessieren<br />

mich nicht. Außer<strong>de</strong>m<br />

bin ich nicht für H<strong>und</strong>e... das<br />

ist gar nicht mein Bereich nämlich.<br />

Was meinst du, wie lange<br />

liegt er da wohl schon drin?«<br />

»Naja, <strong>de</strong>n Fliegen nach zu urteilen,<br />

ein paar Wochen. Hier,<br />

siehst du die Larven da?« Fred<br />

nahm einen Stock <strong>und</strong> stocherte<br />

interessiert in <strong>de</strong>m Kadaver<br />

herum, <strong>de</strong>r wenig appetitliche<br />

Schmatzgeräusche <strong>von</strong> sich<br />

gab.<br />

»Können wir... ich meine, ich<br />

wür<strong>de</strong> gerne... das ist echt...«<br />

»Jaja... erst uns so ne Scheiße<br />

hier anschleppen <strong>und</strong> dann <strong>de</strong>n<br />

Schwanz einziehen. Das sieht<br />

dir ähnlich.«<br />

»Hey! Ich habe noch nie... ich<br />

meine, hab ja nichtmal einen...«<br />

»Du bist zu bedauern. Wirklich.<br />

Manchmal bedaure ich dich.«<br />

Er stocherte <strong>de</strong>monstrativ mit<br />

seinem Stock ein wenig im<br />

Auge <strong>de</strong>s H<strong>und</strong>es herum.<br />

»Weißt du, was ich an dir toll<br />

fin<strong>de</strong>?«<br />

»Na?«<br />

»Dass wir uns nur alle paar


h<strong>und</strong>ert Jahre mal sehen.«<br />

»Was machen wir <strong>de</strong>nn jetzt<br />

mit dieser beschissenen Leiche<br />

da?« Er sah mich fragend an,<br />

was insofern ungewöhnlich ist,<br />

da Fred mich noch nie fragend<br />

angesehen hatte. Fred ist einfach<br />

nicht <strong>de</strong>r Typ, <strong>de</strong>r Fragen<br />

stellt.<br />

»Also, ich wür<strong>de</strong> sie jetzt einfach<br />

irgendwo im Wald...«<br />

»Ja, Klasse! Ey, je<strong>de</strong>n Moment<br />

kommen Uschi <strong>und</strong> Klaus zurück.<br />

Und ich sag dir, ich hab<br />

keinen Bock, daß Klaus sich<br />

wie<strong>de</strong>r irgendwas wegholt <strong>und</strong><br />

Uschi hier ins Auto kotzt. Du<br />

weißt, wie anfällig die bei<strong>de</strong>n<br />

sind. Die sollten die Leiche auf<br />

keinen Fall sehen.«<br />

»Darum meinte ich ja, wir sollten...«<br />

»Weißt du, wie schwer es ist,<br />

Löcher zu bud<strong>de</strong>ln? Klar, du<br />

schwitzt natürlich nicht, weil<br />

du transzenirgendwas bist.«<br />

»<strong>de</strong>nt.«<br />

»Ja, <strong>von</strong> mir aus. Aber für je<strong>de</strong>n<br />

an<strong>de</strong>ren ist das echt schwer,<br />

wenn man nicht gera<strong>de</strong> einen<br />

verschissenen Spaten dabei<br />

hat. Hast du einen Spaten dabei?«<br />

»Nein, aber ich habe Chantal.«<br />

Ich zog mein Werkzeug aus<br />

<strong>de</strong>m Mantel. Die Klinge <strong>de</strong>r<br />

Ewigkeit, Schnitter <strong>de</strong>r Dimensionen,<br />

Erntewerkzeug gefallener<br />

Seelen längst vergessener<br />

Kriege. Menschen sterben, Universen<br />

verglühen im Strom <strong>de</strong>r<br />

Zeit – nur ich bin ewig. Und<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 20<br />

meine Chantal ist es auch.<br />

Bis in die Unendlichkeit <strong>und</strong><br />

noch viel weiter o<strong>de</strong>r so. Ihre<br />

Klinge war durch tausend Jahre<br />

Schleifen – es gibt Äonen, da<br />

hat man nicht viel zu tun – inzwischen<br />

in <strong>de</strong>r Lage, das Sonnenlicht<br />

auf mehr als kreative<br />

Art zu reflektieren, in<strong>de</strong>m sie<br />

<strong>de</strong>n infraroten <strong>und</strong> <strong>de</strong>n ultravioletten<br />

Teil nun direkt in<br />

Freds Augen zurückwarf.<br />

»Machst du das eigentlich mich<br />

Absicht?«<br />

»Manchmal schon.« Ich erlaubte<br />

mir ein Grinsen, das erste an<br />

diesem Tag, das erste, seit<strong>de</strong>m<br />

ich heute Morgen die Nachricht<br />

vom Aufbruch bekommen hatte.<br />

»Wir wer<strong>de</strong>n kein Loch bud<strong>de</strong>ln,<br />

klar? Wir brauchen verdammt<br />

nochmal ein neues<br />

Auto, bevor...«<br />

Es war kein gewöhnlicher<br />

Nieser, <strong>de</strong>r dort<br />

vom Tankstellenhäuschen<br />

zu uns herüberdrang. Es<br />

hatte nichts mit diesen neckischen<br />

halb unterdrückten Geräuschen<br />

zu tun, die manche<br />

Damen <strong>von</strong> Welt <strong>von</strong> sich geben,<br />

auch nichts mit diesen gebellten<br />

Niesern, <strong>de</strong>nen man<br />

sich morgens in <strong>de</strong>r Bahn gegenübersieht<br />

<strong>und</strong> sich dabei<br />

nur die Frage stellt, welche interessanten<br />

Krankheiten man<br />

sich jetzt wie<strong>de</strong>r gefangen hat.<br />

Dieses Niesen steckte keinen<br />

Menschen an, es machte die


ganze Welt krank.<br />

Klaus wischte sich mit einem<br />

Taschentuch über die Nase <strong>und</strong><br />

ließ es unauffällig im Ärmel seines<br />

Pullis verschwin<strong>de</strong>n. Er sah<br />

furchtbar aus – rot gerän<strong>de</strong>rte<br />

Augen, fiebriger Blick, geschwollener<br />

Hals. Sein Rucksack<br />

war voller Medikamente,<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>nen kein einziges jemals<br />

helfen wür<strong>de</strong>.<br />

Uschi trabte leichten Schrittes<br />

hinter ihm her, schenkte einem<br />

zufällig hinschauen<strong>de</strong>n Trucker<br />

einen dieser Blicke, <strong>von</strong> <strong>de</strong>m<br />

sie genau wusste, dass er die<br />

Ehe <strong>de</strong>s Mannes unweigerlich<br />

zerstören wür<strong>de</strong>, was ihr aber<br />

herzlich egal war. Sie rückte<br />

ihr Dekolletee ins rechte Licht,<br />

bemalte sich im Gehen die Lippen<br />

<strong>und</strong> lächelte irgendwem,<br />

vermutlich einer Person ihrer<br />

Erinnerung, verschmitzt zu.<br />

»Hallo, Leute«, begann Klaus<br />

<strong>und</strong> reichte Fred die Hand.<br />

»Nee, lass stecken«, sagte <strong>de</strong>r.<br />

»Wer weiß, welche Rotzklumpen<br />

ich mir damit einhandle.«<br />

»Rotzklumpen? Nein... nein, ich<br />

bin nicht... bin nicht anste...<br />

ste... ste... tschi!«<br />

»Hallo, meine Häschen«, trällerte<br />

Uschi im feinsten Sopran.<br />

»Ich freue mich ja unheimlich,<br />

euch endlich mal wie<strong>de</strong>rzusehen.<br />

Es muss eine Ewigkeit her<br />

sein, seit <strong>de</strong>m letzten Mal.«<br />

»Tu nicht so, okay? Du warst<br />

doch noch nie dabei.«<br />

»Ja, aber darum freue ich mich<br />

umso mehr, es jetzt zu sein,<br />

nicht wahr. Sagt mal, Herzchen,<br />

wo habt ihr eigentlich<br />

<strong>de</strong>n Wagen? Ich muss mich unbedingt<br />

setzen, die Hitze bringt<br />

mich sonst noch um. Ist es <strong>de</strong>r<br />

da?«<br />

...<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 21<br />

Fred verfluchte die<br />

Welt, Klaus versuchte<br />

sich selbst ins Nirvana<br />

zu schniefen, Uschi entledigte<br />

sich im Gehen ihrer Unterwäsche<br />

<strong>und</strong> ich... ich war einfach<br />

nur froh, endlich mal wie<strong>de</strong>r<br />

rauszukommen. Je<strong>de</strong>r hat so<br />

seine Metho<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>r Hitze<br />

fertigzuwer<strong>de</strong>n.<br />

»Wer <strong>von</strong> euch hatte eigentlich<br />

die glorreich beschissene I<strong>de</strong>e,<br />

sich an dieser Tanke am hinteren<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Welt zu treffen?«<br />

»Wir treffen uns immer hier,<br />

Fred. Weißt du noch, beim letzten<br />

Mal, da gabs hier noch diese<br />

Dings... Tempelgeschichte«,<br />

sagte ich. »Du weißt schon, wo<br />

diese okkulten Feiern... ähh,<br />

gefeiert wur<strong>de</strong>n.«<br />

»Ja.«<br />

»Naja, <strong>und</strong> jetzt hat halt in <strong>de</strong>r<br />

Zwischenzeit jemand... also, ich<br />

fin<strong>de</strong>, so eine Tankstelle ist ja<br />

auch nicht so schlecht.«<br />

»Es wäre nicht schlecht, wenn<br />

wir ein Auto hätten.«<br />

»Wir hatten ein Auto. Aber ich<br />

durfte ja kein Loch bud<strong>de</strong>ln.«<br />

»Du hättest verdammt nochmal<br />

auf <strong>de</strong>n toten H<strong>und</strong> achten sollen.<br />

Dann wäre das gar nicht


passiert!«<br />

»Ich habe...«<br />

»Toter H<strong>und</strong>?« Klaus Augen begannen<br />

zu leuchten, was angesichts<br />

ihrer Trübheit einen witzigen<br />

Kontrast ergab. Scheinbar<br />

dachte er an die mannigfaltigen<br />

Möglichkeiten <strong>von</strong> Bazillenkombinationen,<br />

die so ein<br />

Kadaver mit sich bringt.<br />

»Ja, da war verdammt nochmal<br />

ein toter H<strong>und</strong> in diesem verkackten<br />

Kofferraum. Und wenn<br />

unser Fre<strong>und</strong> ohne Nase da<br />

drauf Acht gegeben hätte, dann<br />

müssten wir jetzt nicht...«<br />

»Ach, Buffelchen, reg dich<br />

nicht so auf.« Uschi gab Fred<br />

einen dicken Schmatzer auf die<br />

Wange, was diesen noch mehr<br />

in Rage brachte.<br />

»Und wenn hier nicht bald irgen<strong>de</strong>iner<br />

hält, blase ich die<br />

Sache einfach ab <strong>und</strong> geh nach<br />

Hause. Ich hab echt keinen<br />

Bock auf sowas!«<br />

Eines musste man Fred<br />

lassen, Recht hatte er.<br />

Wir waren jetzt seit<br />

zwei St<strong>und</strong>en unterwegs in <strong>de</strong>r<br />

brüten<strong>de</strong>n Hitze <strong>de</strong>s Nachmittages,<br />

immer am Rand <strong>de</strong>r Straße,<br />

die Daumen gehoben, auf<br />

<strong>de</strong>r Suche nach einer Fahrgelegenheit.<br />

Aber in diesem Teil<br />

<strong>de</strong>r Welt schien es keine Autos<br />

zu geben, <strong>und</strong> wenn es doch<br />

welche gab, dann keine, die in<br />

unsere Richtung fuhren. Es war<br />

beinahe wie damals, in <strong>de</strong>r Zeit,<br />

bevor ich das Rad erf<strong>und</strong>en hat-<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 22<br />

te.<br />

»Wisst ihr noch«, begann ich,<br />

einfach um das Thema zu wechseln,<br />

»wie wir damals immer<br />

auf Pfer<strong>de</strong>n... ich meine, mir ist<br />

dabei immer schlecht gewor<strong>de</strong>n<br />

<strong>und</strong> so, aber es war trotz<strong>de</strong>m<br />

ne tolle Zeit.«<br />

»Ja, total schön. Klaus hat ständig<br />

sein eigenes Pferd mit Katzenhusten<br />

angesteckt, du hast<br />

dich wie ein seekrankes Mädchen<br />

benommen <strong>und</strong> an Ulfs<br />

gebrochenes Bein will ich gar<br />

nicht <strong>de</strong>nken, Gott hab ihn selig.«<br />

Und dann, nach einer Pause:<br />

»Katzenhusten! Das muss<br />

man sich mal vorstellen. Ich<br />

meine, eigentlich gibt’s das gar<br />

nicht <strong>und</strong> <strong>de</strong>r steckt damit sein<br />

Pferd an.«<br />

»Natürlich gibt es Katzenhu...<br />

hu... hu... tschi!... husten. Gibt<br />

es nämlich.«<br />

»Manchmal ärger ich mich ja<br />

beinahe, dass ich das Rad<br />

erfu...«<br />

»Jetzt hör doch endlich mal mit<br />

dieser verschissenen Geschichte<br />

auf! Je<strong>de</strong>s Mal, ja, je<strong>de</strong>s Mal<br />

gehst du uns allen damit auf die<br />

Eier! Ich kanns nicht mehr hören.<br />

Hui, seht mich an, ich hab<br />

damals das Rad erf<strong>und</strong>en. Nein,<br />

hast du nicht. Das war dieser<br />

verkackte In<strong>de</strong>r.«<br />

»Ich dachte immer, das Rad<br />

wäre in <strong>de</strong>r Steinzeit erf<strong>und</strong>en<br />

wor<strong>de</strong>n, Schnuckelpützelchen.«<br />

Uschi zog ein Taschentuch zwischen<br />

ihren Brüsten hervor <strong>und</strong><br />

tupfte sich damit eine Schweiß


perle <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Stirn, die genau<br />

wusste, wie sie an ihr herunterrinnen<br />

muss, um Männer um<br />

<strong>de</strong>n Verstand zu bringen. Aber<br />

für so etwas war Uschi momentan<br />

nicht in <strong>de</strong>r Stimmung.<br />

»Glaubst du <strong>de</strong>nn, in Indien gab<br />

es keine Steine?«<br />

»Damals auch?«<br />

»Ja, Uschi... ja, damals auch.<br />

Und da hat ein In<strong>de</strong>r das Rad<br />

erf<strong>und</strong>en. Ein In<strong>de</strong>r <strong>und</strong> nicht<br />

dieser Spinner hier.«<br />

»Aber ich hab ihm <strong>de</strong>n Tip gegeben,<br />

dass er die Ecken abfeilen<br />

soll <strong>und</strong>... naja, das hat er<br />

dann auch gemacht. Aber nur,<br />

weil ich es ihm gesagt habe.«<br />

»Das glaubst du doch selber<br />

nicht! Meine Fresse, wer sollte<br />

in so wichtigen Fragen schon<br />

auf dich hören.«<br />

»Musst du <strong>de</strong>n Armen immer so<br />

runterputzen, Liebelein? Wollen<br />

wir uns nicht lieber wie<strong>de</strong>r<br />

vertragen? Immerhin müssen<br />

wir zur Arbeit.« Uschis Lächeln<br />

kann niemand wie<strong>de</strong>rstehen.<br />

Niemand.<br />

»Also, je<strong>de</strong>nfalls waren das tolle<br />

Zeiten«, sagte ich.<br />

»Ja, tolle Zeiten«, sagte Klaus.<br />

»Ja... ja, waren tolle Zeiten«,<br />

gab auch Fred zu.<br />

...<br />

»Is dat wirklich kein<br />

Problem für euern<br />

Fre<strong>und</strong>?«<br />

»Nein, ist kein Problem. Er ist<br />

das gewohnt.«<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 23<br />

»Aber hier wär noch Platz gewesen...«<br />

»Glauben Sie mir, junger Mann,<br />

Sie hätten ihn nur sehr ungerne<br />

neben sich sitzen gehabt. Er<br />

hat eine Menge interessanter<br />

Krankheiten.« Wenn er mit<br />

Leuten sprach, <strong>von</strong> <strong>de</strong>nen er<br />

Hilfe brauchte, konnte Fred erstaunlich<br />

fre<strong>und</strong>lich sein.<br />

»Umso schlimmer.«<br />

»Nein, das ist wirklich in Ordnung.<br />

Klaus fühlt sich wohl im<br />

Kofferraum.«<br />

Drei Mann <strong>und</strong> eine<br />

Frau in einem alten<br />

Opel Ka<strong>de</strong>tt ohne Klimaanlage<br />

<strong>und</strong> mit kaputten Fenstern,<br />

dazu je<strong>de</strong> Menge Zigarettenqualm<br />

<strong>und</strong> feurige Blicke<br />

zwischen Uschi <strong>und</strong> unserem<br />

Fahrer im Rückspiegel. Fred<br />

auf <strong>de</strong>m Beifahrersitz, Uschi<br />

<strong>und</strong> ich auf <strong>de</strong>r Rückbank.<br />

Uschis Hand auf meinem Knie,<br />

aber nicht lange.<br />

»Na sowas... sowas habe ich<br />

noch nie gefühlt, Schnäuzelchen.«<br />

»Niemand hat so etwas schonmal<br />

gefühlt. Kann ich ein Fenster<br />

aufmachen? Mir wird<br />

schlecht. Ich mag keinen Zigarettenqualm.«<br />

»Nee, Jungs, ich hab euch doch<br />

gesagt, dat die Fenster in Arsch<br />

sind.«<br />

»Können Sie bei <strong>de</strong>m Nebel<br />

überhaupt was sehen?«<br />

»Wat ich nich sehe, dat is auch<br />

nich da. Ich sach immer, wenn


<strong>de</strong>r Tod mich haben will, soll er<br />

halt kommen.« Der Fahrer<br />

nahm einen weiteren tiefen Zug<br />

aus seiner Marlboro <strong>und</strong> blies<br />

eine Schneise aus Rauch in <strong>de</strong>n<br />

Rauch.<br />

Fred drehte sich um <strong>und</strong> warf<br />

mir einen vielsagen<strong>de</strong>n Blick<br />

zu. Ich zuckte mit <strong>de</strong>n Schultern<br />

<strong>und</strong> schüttelte <strong>de</strong>n Kopf.<br />

Noch nicht formten meine Lippen,<br />

was Fred sehr zu beruhigen<br />

schien.<br />

»Sagen Sie mal«, begann Fred,<br />

»wie lange wer<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>nn<br />

etwa fahren, bis wir da sind?«<br />

»Dat is nich mehr so weit, mein<br />

Fre<strong>und</strong>. Hier gleich die nächste<br />

links ab <strong>und</strong> dann noch zweimal<br />

rechts <strong>und</strong> ehe du Schnappatmung<br />

sagen kannst, sin wa da.<br />

Wobei ich mich echt frag, wat<br />

ihr da nur wollt... naja, nich<br />

mein Ding. Übrigens, wer <strong>von</strong><br />

euch is <strong>de</strong>nn mit <strong>de</strong>r scharfen<br />

Schnecke dahinten an zusammensein?«<br />

»Ich habe viele Herzen zu füllen,<br />

Schnuckelchen. Sie alle lieben<br />

mich <strong>und</strong> in meinem Herzen<br />

ist Platz für alle.«<br />

»Dann bist du ne Nutte o<strong>de</strong>r<br />

so?«<br />

»Nein. Nein, das bin ich nicht.<br />

Sicher nicht.« Wie auf Knopfdruck<br />

stellte Uschi ihr zauberhaftes<br />

Lächeln ab, dieses Lächeln<br />

für das Männer töten<br />

wür<strong>de</strong>n, ganze Landstriche ausradieren<br />

<strong>und</strong> Weltenherrscher<br />

stürzen – <strong>und</strong> es zum Teil auch<br />

schon getan hatten. »Der wird<br />

nie wie<strong>de</strong>r ein liebes Wort <strong>von</strong><br />

an<strong>de</strong>ren Menschen hören«,<br />

raunte sie mir ins Ohr <strong>und</strong> dann<br />

kicherte sie. »Hach, ich bin ja<br />

so gemein.«<br />

...<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 24<br />

Einmal links <strong>und</strong> zweimal<br />

rechts o<strong>de</strong>r einmal<br />

Schnappatmung später<br />

waren wir tatsächlich da. Unser<br />

Fahrer versuchte, Uschi noch<br />

einen Abschiedskuss abzuringen,<br />

aber die ließ ihn kalt abblitzen.<br />

Wir stan<strong>de</strong>n vor einer Art Lagerhalle,<br />

die in dieser Gegend<br />

vollkommen <strong>de</strong>platziert wirkte.<br />

Mitten in <strong>de</strong>r Ödnis erhob sich<br />

dieser gewaltige Betonbunker<br />

ohne Fenster, Türen o<strong>de</strong>r sonstige<br />

Verzierungen. Nichts <strong>de</strong>utete<br />

darauf hin, dass sich im Inneren<br />

die letzte Instanz <strong>von</strong> allem<br />

befand. An <strong>de</strong>r Kopfseite<br />

<strong>de</strong>s Bunkers stand ein vergleichsweise<br />

unscheinbarer<br />

Würstchenstand, hinter <strong>de</strong>m<br />

ein offenbar übel gelaunter<br />

Mann die Würste drehte. Verständlich,<br />

immerhin war es saumäßig<br />

heiß <strong>und</strong> weit <strong>und</strong> breit<br />

war kein einziger K<strong>und</strong>e auszumachen.<br />

»Was wollt ihr <strong>de</strong>nn?«, blaffte<br />

er uns <strong>von</strong> weitem an.<br />

»Ich bin... also, mein Name...<br />

wir sind...«, begann ich ein wenig<br />

unsicher. Ich hasse es, mich<br />

vor an<strong>de</strong>ren rechtfertigen<br />

zu müssen. Normalerwei


se sind es die an<strong>de</strong>ren, die<br />

sich vor mir rechtfertigen.<br />

»Wir sind die Letzten Vier <strong>und</strong><br />

gekommen, weil man uns gerufen<br />

hat.«<br />

»Was <strong>de</strong>nn, isses schon wie<strong>de</strong>r<br />

soweit? Kann nich sein.«<br />

»Doch, das stimmt. Ich hab<br />

heu... heu... htschi!... heute<br />

morgen hab ich <strong>de</strong>n Anruf bekommen.«<br />

»Mhh... das is mal echt komisch,<br />

Jungs. Und Mä<strong>de</strong>l. Wartet,<br />

ich guck mal nach.«<br />

Der Mann wischte sich die fettigen<br />

Hän<strong>de</strong> am noch fettigeren<br />

Unterhemd ab <strong>und</strong> zog ein<br />

Buch unter <strong>de</strong>m Tresen hervor,<br />

das er auf die ebenfalls vor Fett<br />

starren<strong>de</strong> Theke legte <strong>und</strong> aufschlug.<br />

Er setzte sich eine albern<br />

aussehen<strong>de</strong> Lesebrille auf<br />

die Nase, befeuchtete elegant<br />

Daumen <strong>und</strong> Zeigefinger mit<br />

<strong>de</strong>r Zunge <strong>und</strong> begann zu blättern.<br />

Seine Finger fuhren über<br />

die Seiten, als er angestrengt<br />

las. Dann erhellte sich seine<br />

Miene <strong>und</strong> wur<strong>de</strong> um ein vielfaches<br />

fre<strong>und</strong>licher.<br />

»Also... mal sehen, heute ist<br />

<strong>de</strong>r... ja. Ja. Und ihr wur<strong>de</strong>t also<br />

herbestellt? Sek<strong>und</strong>e. Oh ja,<br />

das steht... das steht hier. Ja.<br />

Wer <strong>von</strong> euch ist Krieg, Sohn<br />

<strong>de</strong>s Ha<strong>de</strong>s, Zerstörer <strong>de</strong>r Welten,<br />

Schlächter endloser Körper<br />

auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r falschen<br />

Ehre?«<br />

»Kannst Fred sagen«, sagte<br />

Fred.<br />

»Ach was. Okay. Und wer ist<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 25<br />

Pest, Fäuler <strong>de</strong>r Ewigkeit, Geißel<br />

<strong>de</strong>r Kranken, Zermürber<br />

<strong>de</strong>s Fleisches <strong>und</strong> Schutzpatron<br />

<strong>de</strong>r Krankenkassen?«<br />

»Ich war mal Pest«, sagte<br />

Klaus. »Aber inzwischen bin ich<br />

Husten.«<br />

»Oh ja, das steht hier auch.<br />

Entschuldige. Du hast <strong>de</strong>ine<br />

Namensän<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>m<br />

großen Butterschnupfen beantragt,<br />

richtig?«<br />

»Ja. Ja, das stimmt. War eine<br />

wil<strong>de</strong> Zeit damals. Ich habe<br />

einen Weg gefu... gefu... gefu...<br />

nanu, ich hätte schwören können,<br />

dass ich nies... na, egal.<br />

Also, ich hab einen Weg gef<strong>und</strong>en,<br />

nicht mehr die Bakterien<br />

über Lebensmittel zu übertragen,<br />

son<strong>de</strong>rn die Lebensmittel<br />

selber krank zu ma... ma...<br />

tschi! Ah, da war's endlich.«<br />

»Ziemlich ausgefuchst. Und du<br />

bist vermutlich Tod, Schnitter<br />

<strong>de</strong>r Seelen, Sammler <strong>de</strong>r Zeit<br />

<strong>und</strong> letzter Richter <strong>de</strong>r Ewigkeit,<br />

kann das sein?«<br />

»Hast mich an <strong>de</strong>r Nase erkannt,<br />

o<strong>de</strong>r?«, antwortete ich.<br />

»Sag mal, stimmt es, was man<br />

sich erzählt? Hast du damals<br />

echt das Rad erf<strong>und</strong>en?«<br />

»Man erzählt es sich, ja.« Ich<br />

versuchte, mir das Grinsen zu<br />

verkneifen, während ich mir<br />

Freds Gesichtsausdruck vorstellte.<br />

Funktionierte nicht.<br />

»Fin<strong>de</strong> ich gut. Rä<strong>de</strong>r sind<br />

wichtig. Kann man immer mal<br />

brauchen. So, zurück zum Geschäft.<br />

Also, hier steht was <strong>von</strong>


vier Männern. Wo ist <strong>de</strong>nn...«<br />

»Ulf ist verhungert. Und er hat<br />

sich das Bein gebrochen«, sagte<br />

Fred.<br />

»Oh, <strong>de</strong>r Arme. Und dann ist<br />

dieses reizen<strong>de</strong> Geschöpf<br />

also...«<br />

»Ich bin die Liebe, Trüffelchen.<br />

Die Verwirrung <strong>de</strong>r Herzen,<br />

Schöpferin schrecklichster<br />

Gräuel <strong>und</strong> Qual, Vernichterin<br />

ewiger Fre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> Tochter<br />

<strong>de</strong>r Missgunst«, grinste<br />

Uschi fröhlich. »Wegen mir<br />

wur<strong>de</strong>n schon ganze Welten gestürzt.«<br />

»Na, da habt ihr euch ja ne tolle<br />

Vertretung rausgesucht,<br />

Jungs. Also, hier steht, ihr habt<br />

gleich nen Termin beim Chef<br />

wegen <strong>de</strong>m Weltenen<strong>de</strong>.«<br />

»Ja. Ja, genau. Darum sind wir<br />

hier.«<br />

»Sek<strong>und</strong>e, ich trage euch dann<br />

mal als anwesend ein. Also, da<br />

hätten wir Krieg, Husten, Liebe<br />

<strong>und</strong> Tod... Gut, dann bräuchte<br />

ich eure Ausweise, Führerschein<br />

geht auch, <strong>und</strong> natürlich<br />

<strong>de</strong>n Drei<strong>und</strong>zwanzig A Strich<br />

Neunzehn.«<br />

»Was zur Hölle ist <strong>de</strong>r Drei<strong>und</strong>zwanzig<br />

A Strich Neunzehn?«,<br />

fragte Fred.<br />

»Das ist das Formblatt nebst<br />

Anlage B zur fristgerechten<br />

Auslöschung <strong>von</strong> allem. Wur<strong>de</strong><br />

damals eingeführt, nach<strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>r Chef bemerkt hat, dass<br />

nach <strong>de</strong>r großen Inventur zuviel<br />

Stempelfarbe übrig war.<br />

Und, naja, die muss man ja ir-<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 26<br />

gendwie verbrauchen, nicht<br />

wahr? Habt ihr <strong>de</strong>nn das Memo<br />

nicht gelesen?«<br />

»Nein, mein Otternäschen, ich<br />

habe kein Memo gelesen. Und<br />

wenn ich in die fragen<strong>de</strong>n Äuglein<br />

meiner herzallerliebsten<br />

Begleiter schaue, haben sie es<br />

auch nicht gelesen.«<br />

»Tja, dann... dann kann ich<br />

wohl nichts für euch tun. Aber<br />

ich bin sicher, bald ist wie<strong>de</strong>r<br />

ein Termin für euch frei.«<br />

»Hörmal, du dreimal durchgefi...«<br />

»Nana, Krieg, wir wollen doch<br />

nicht ungehalten wer<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r?<br />

Hört mal, ich wür<strong>de</strong> euch gerne<br />

die Tür aufmachen, ja wirklich.<br />

So ein schönes Weltenen<strong>de</strong><br />

wäre mal wie<strong>de</strong>r was. Aber ich<br />

hab hier die Anweisung, nieman<strong>de</strong>n<br />

reinzulassen ohne<br />

Drei<strong>und</strong>zwanzig A Strich Neunzehn.<br />

Und da ihr keinen Drei<strong>und</strong>zwanzig<br />

A Strich Neunzehn<br />

habt, lass ich euch auch nicht<br />

rein. Kann ja nichts dafür,<br />

wenn ihr eure Memos nicht<br />

lest, o<strong>de</strong>r?«<br />

»Ja... <strong>und</strong> jetzt?«<br />

»Was, <strong>und</strong> jetzt? Jetzt packt<br />

ihr eure Sachen <strong>und</strong> geht wie<strong>de</strong>r<br />

nach Hause. Und seid<br />

beim nächsten Mal gefälligst<br />

vorbereitet, klar? So, <strong>und</strong> jetzt<br />

lasst mich in Frie<strong>de</strong>n, ich hab<br />

ne Wurst zu grillen.«<br />

Und das ist alles, was es dazu<br />

zu sagen gibt.


»Möchten Sie jetzt eine Zigarette?«<br />

»Nein. Nein, ich rauche nicht, danke.«<br />

»Kluge Entscheidung. Ich auch nicht. Bringt einen um auf Dauer.«<br />

»Warum haben Sie mir das alles erzählt?«<br />

»Ich weiß nicht... Vielleicht steckt ja eine Botschaft dahinter.<br />

Irgendwas <strong>von</strong> wegen, dass es immer irgendwie weitergeht.<br />

Was auch immer passiert, es ist nicht das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Welt.<br />

Nichtmal das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Welt ist das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Welt. Irgendwie<br />

sowas halt.«<br />

»Ja.«<br />

»Vielleicht brauchte ich nach so einen Tag auch einfach jeman<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>m ich da<strong>von</strong> erzählen kann. Keine Ahnung.«<br />

»Wer<strong>de</strong>n Sie mich jetzt... ich meine, wenn ich gesprungen<br />

bin... also, mit <strong>de</strong>r Sense...«<br />

»Nein. Nein, wer<strong>de</strong> ich nicht. Sie wer<strong>de</strong>n nicht springen.«<br />

»Woher wollen Sie das wissen?«<br />

»Ich weiß es. Wenn ich sowas nicht weiß, wer dann?«<br />

»Kann ich Sie etwas fragen?«<br />

»Klar.«<br />

»Haben Sie... ich meine, haben Sie wirklich das Rad<br />

erf<strong>und</strong>en?«<br />

»Natürlich. Also, gebaut hat's dieser In<strong>de</strong>r, aber ich habe ihm<br />

gesagt, wo er die Ecken abschleifen soll.«<br />

»Wissen Sie was? Ich glaube Ihnen.«<br />

»Das freut mich, danke.«<br />

Ȇbrigens, Sie sollten sich <strong>von</strong> diesem Fred nicht so rumschubsen<br />

lassen.«<br />

»Manche Leute sind einfach gut im Schubsen. Aber jetzt muss<br />

ich weiter, irgendwo wird heute Nacht gestorben. Gute Nacht.«<br />

»Gute Nacht.«<br />

Markus Jendrossek alias gnoebel hat nach eigener Aussage zweimal <strong>de</strong>n Teufel<br />

erschossen, aber nur einmal da<strong>von</strong> mit Absicht. Ob das was mit seinen<br />

Geschichten zu tun hat, lassen wir mal dahingestellt.<br />

Jendrossek lebt in Hannover <strong>und</strong> hält diese Stadt für die schönste <strong>de</strong>r Welt.<br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 27


<strong>SF</strong> <strong>und</strong> <strong>Fantasy</strong> <strong>von</strong> <strong>kurzgeschichten</strong>.<strong>de</strong><br />

mit Storys <strong>von</strong> krilliam Bol<strong>de</strong>rson, snord <strong>und</strong> gnoebel<br />

Bereits erschienen:<br />

GOLEM 78 UMWANDLUNG | als eZine auf th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

GOLEM 79 EINSCHNITTE | als eZine auf th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

GOLEM 80 BESEITIGUNG | als eZine auf th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

GOLEM 81 AUSLÖSCHUNG | als eZine auf th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

GOLEM 82 als eZine auf th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

GOLEM 83 als eZine auf th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

GOLEM 84 als eZine auf th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

GOLEM 85 als eZine auf th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

In Arbeit:<br />

GOLEM 87 | erscheint Winter 2008/2009<br />

Mitmachen? Wir suchen ständig interessante Geschichten.<br />

Einfach Kontakt aufnehmen: uwe@th<strong>und</strong>erbolt.<strong>de</strong><br />

th<strong>und</strong>erbolt.phantastik.magazin * 28

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