Mensch Solothurn 2018
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Du musst jetzt stark sein<br />
Ein erster Hauch von Sommer weht durch die Stadt; ich<br />
bestelle an einem Verkaufsstand zwei Kugeln Glace, und<br />
während ich das Portemonnaie aus der Hosentasche ziehe,<br />
um diese zu bezahlen, muss ich plötzlich an ihn denken.<br />
Wie hiess er nur? Beim Abzählen der Münzen fällt<br />
mir sein Name wieder ein, ich erinnere mich deutlich, wie<br />
er mir damals seine Hand entgegenstreckte und sagte:<br />
«Meine Freunde nennen mich Röbu.» Sobald er registriert<br />
hatte, dass mein Blick an den schmutzigen Rändern seiner<br />
Fingernägel hängengeblieben war, hatte er entschuldigend<br />
hinzugefügt: «Aber eigentlich heisse ich Robert.»<br />
Ich drückte seine Hand, stammelte: «Du Robert, es tut mir<br />
wirklich leid.» Dass ich ihm meinen Namen nicht verraten<br />
habe, war mir später unangenehm.<br />
Sechs oder sieben Jahre sind seither vergangen. Es war<br />
ein Tag wie heute, die Sonne schien, die Leute wirkten froh,<br />
und auch damals hatte ich mir eine Glace gekauft. Die<br />
Gesichter der <strong>Mensch</strong>en verändern sich beim Glaceschlecken,<br />
werden spitzbübisch; das mag ich, mochte ich schon<br />
immer. Ich ging ein paar Schritte und setzte mich auf eine<br />
Bank. Ihn, der schräg hinter mir auf einer anderen Bank<br />
sass, hatte ich zuerst nicht und dann wegen des etwas<br />
strengen Geruchs und seiner für die Jahreszeit viel zu<br />
warmen Kleider doch wahrgenommen.<br />
«Da bist du ja!»<br />
Ich blickte erschrocken hoch. Eine Frau mit wild zerzausten<br />
Haaren steuerte direkt auf mich zu. «Seit zwei Tagen<br />
suche ich dich», schrie sie, «wo hast du nur gesteckt?»<br />
Meinte die mich? Nein, nicht mich. Sie setzte sich neben<br />
den Obdachlosen. Ich wandte mich wieder meiner Glace<br />
zu, blickte in kurzen Abständen zu den beiden zurück.<br />
Jetzt kauerte sie vor ihm auf den Boden, hatte ihre Hände<br />
auf seine Knie gelegt. «Du musst jetzt stark sein, Röbu»,<br />
flüsterte sie auf einmal unerwartet sanft. «Ich muss dir<br />
Regula Portillo ist 1979 geboren und<br />
im Kanton <strong>Solothurn</strong> aufgewachsen.<br />
Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte<br />
an der Universität Fribourg,<br />
Buch- und Medienpraxis an der Goethe-<br />
Universität Frankfurt am Main und<br />
lebte und arbeitete mehrere Jahre in<br />
Nicaragua, Mexiko und Deutschland.<br />
Heute lebt und arbeitet sie in Bern. 2017<br />
erschien ihr erster Roman «Schwirrflug».<br />
www.regulaportillo.com<br />
etwas sagen, aber du musst stark sein. Versprichst du<br />
mir, dass du stark bist?»<br />
Er brummte etwas Unverständliches.<br />
«Der Franz», sagte sie, brach ab, um Sekunden später einen<br />
neuen Anlauf zu nehmen. «Robert, du musst jetzt stark<br />
sein. Dein Bruder, der Franz, ist tot.» Ein Bissen der Waffel<br />
steckte in meinem Hals fest. Der Mann heulte auf wie ein<br />
Wolf, ich hustete. Da setzte sich die Frau neben ihn auf die<br />
Bank, strich über seine Haare, über seinen Rücken. «Ich bin<br />
bei dir, gemeinsam sind wir stark», säuselte sie. Ich weiss<br />
nicht, wie lange wir so verharrten, gut möglich, dass es eine<br />
ganze Weile war, denn die Glace tropfte längst auf meine<br />
Hose. «Röbu, ich muss mal los», sagte sie dann, «du sollst<br />
dich bei der Doris melden, die Doris sagt, sie hilft dir weiter.»<br />
Ich war entsetzt: Wie konnte sie ihn in dieser Situation allein<br />
lassen? Hatte sie nicht eben noch gesagt, «gemeinsam<br />
sind wir stark»? Doch Robert nickte nur, starrte geradeaus.<br />
Nachdem die Frau verschwunden war, wollte ich ebenfalls<br />
aufstehen und gehen. Ich hatte hier nichts verloren, es war<br />
nicht meine Aufgabe, hier zu bleiben, im Gegenteil: Ungewollt<br />
war ich Zeuge geworden eines persönlichen Schicksals,<br />
das mich überhaupt nichts anging. Das leichte Beben<br />
seiner Schultern hinderte mich dann doch daran; ich konnte<br />
ihn nicht zurücklassen, nicht so. Ich setzte mich neben<br />
ihn, er schaute auf, seine Erschütterung hing nahezu greifbar<br />
zwischen uns in der Luft. Da hielt er mir die Hand hin,<br />
die Ränder seiner Fingernägel waren ganz schwarz, ich zögerte.<br />
«Meine Freunde nennen mich Röbu», sagte er leise.<br />
«Aber eigentlich heisse ich Robert.» Ich nahm seine Hand,<br />
drückte sie kurz, und sagte: «Du Robert, es tut mir wirklich<br />
leid.» Er nickte andeutungsweise, ganz so, als wären wir<br />
Altbekannte, zwischen denen es keine Worte braucht. Erleichtert,<br />
meine Pflicht erfüllt zu haben, stand ich auf und<br />
entfernte mich schnellen Schrittes von ihm.<br />
«Robert», murmle ich gedankenversunken.<br />
«Wie bitte?», fragt die Glace-Verkäuferin. Noch immer<br />
stehe ich vor dem Verkaufsstand, die Glace in der Hand,<br />
schüttle verlegen den Kopf und erkläre, ich hätte nur laut<br />
nachgedacht. Ich schäme mich, ihn ohne jegliche Nachfrage<br />
allein zurückgelassen zu haben. Vielleicht wäre er<br />
ja froh gewesen, jemand wäre in dieser schweren Stunde<br />
neben ihm sitzen geblieben. Nur sitzen geblieben. Denn<br />
manchmal braucht es gar nicht mehr als neben jemandem<br />
sitzen zu bleiben. Langsam entferne ich mich vom Verkaufsstand.<br />
Ich würde den Ort aufsuchen, an dem ich Röbu<br />
kennengelernt habe.