Vom Marktflecken zum Mittelzentrum
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Schriftenreihe zur Geschichte der<br />
Stadt Radolfzell am Bodensee<br />
<strong>Vom</strong> <strong>Marktflecken</strong><br />
<strong>zum</strong> <strong>Mittelzentrum</strong><br />
Zur Wirtschaftsgeschichte Radolfzells<br />
VERLAG STADLER
Impressum<br />
Band 3<br />
Schriftenreihe zur Geschichte der Stadt Radolfzell am Bodensee<br />
<strong>Vom</strong> <strong>Marktflecken</strong> <strong>zum</strong> <strong>Mittelzentrum</strong><br />
Zur Wirtschaftsgeschichte Radolfzells<br />
Herausgeber: Stadt Radolfzell am Bodensee, Abteilung Stadtgeschichte<br />
Gestaltung und Satz: Mediendesign Ellegast, Konstanz<br />
Druck und Bindung: Druckerei Uhl GmbH & Co. KG, Radolfzell<br />
Verlag und Vertrieb:<br />
Stadler Verlagsgesellschaft mbH<br />
Max-Stromeyer-Straße 172<br />
78467 Konstanz<br />
E-Mail: info@verlag-stadler.de<br />
www.verlag-stadler.de<br />
1. Auflage 2018<br />
© Copyright by<br />
Verlag Friedr. Stadler GmbH & Co. KG, Konstanz<br />
ISBN 978-3-7977-0733-8<br />
2
Vorwort<br />
Bürgermeisterin der Stadt Radolfzell<br />
Monika Laule<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
die wirtschaftliche Entwicklung steht im Fokus<br />
dieses dritten Bandes der Schriftenreihe zur<br />
Geschichte der Stadt Radolfzell am Bodensee<br />
mit dem Titel „<strong>Vom</strong> <strong>Marktflecken</strong> <strong>zum</strong> <strong>Mittelzentrum</strong><br />
– Die Wirtschaftsgeschichte Radolfzells“.<br />
2015 bildete die Publikation „Das ist<br />
mir in Erinnerung geblieben – ZeitzeugInnen<br />
in Radolfzell 1930–1950“ den Auftakt der<br />
Schriftenreihe. Im Jahr 2016 folgte der zweite<br />
Teil: „Von Alefanz bis Zeno – Brauchtum in Radolfzell“.<br />
Zentrale Fragestellung für den dritten Band<br />
ist die ökonomische Entwicklung. Zeigt sich<br />
hier ein schwankendes Bild oder verlief die<br />
Entwicklung geradlinig? In ihren Beiträgen<br />
liefern die Autoren Hildegard Bibby, Christof<br />
Stadler und Patrick Wiesenbacher Antworten<br />
auf dieses komplexe Thema. Zeiten des wirtschaftlichen<br />
Wohlstands aber auch Umbrüche<br />
und Krisen werden in diesem Gemeinschaftswerk<br />
analysiert. Wir wollen uns anhand dieses<br />
Bandes bewusst machen, wie unsere Stadt zu<br />
dem geworden ist, was sie heute darstellt.<br />
Welche äußeren Einflüsse spielten eine Rolle<br />
und wie haben sich diese historisch gesehen<br />
ausgewirkt? Das sind Fragen, die die Autoren<br />
Bürgermeisterin Monika Laule<br />
beschäftigen. Ein Rückblick kann vieles über<br />
unsere Gegenwart aussagen und uns selbst<br />
für die Zukunft Hilfestellung geben. Die Maßstäbe<br />
für Lebensqualität heute und in Zukunft<br />
werden zu einem großen Teil von den Erfahrungen<br />
mit der Vergangenheit gebildet. Eine Erfahrung<br />
können wir aus der Geschichte mit<br />
Sicherheit übernehmen: Entscheidungen wollen<br />
gut überlegt sein, wenn sie Bestand haben<br />
und zukunftsfähig sein sollen. So mancher<br />
Weg hat sich als Irrweg herausgestellt und<br />
war für spätere Generationen eher belastend<br />
als hilfreich. Allerdings darf der Blick in die<br />
Vergangenheit keine Bremse sein und somit<br />
verstehen wir die Rückschau als Ratgeber für<br />
unsere Zukunft. Mein herzlicher Dank gilt den<br />
Autoren, die bei diesem Werk viel Fachwissen<br />
und Vertrautheit mit den örtlichen Verhältnissen<br />
sowie Liebe zur Heimat bewiesen<br />
haben. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der<br />
Lektüre.<br />
3
Inhalt<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Hildegard Bibby: Die Radolfzeller Wirtschaftsgeschichte von<br />
den Anfängen bis heute im Überblick .................................... 6<br />
Die wirtschaftliche Entwicklung Radolfzells hat Höhen und<br />
Tiefen. Es ist die Geschichte der Stadt am Untersee, die sich<br />
von einem <strong>Marktflecken</strong> mit Bauern und Handwerkern über<br />
ein Zentrum für den Getreidehandel zu einem Industriestandort<br />
und <strong>Mittelzentrum</strong> in der Bodenseeregion entwickelt hat.<br />
Hildegard Bibby: Radolfzell spezial – die städtischen<br />
Eigenbetriebe Mettnau und Milchwerk ................................ 36<br />
Zwei Eigenbetriebe prägen die Wirtschaftsgeschichte Radolfzells<br />
und sind ein Markenzeichen der Stadt: die 1958 als „Sport-<br />
Kur“ gegründete Mettnau-Kur und das Milchwerk. Wo einst<br />
Milch und Quark abgefüllt wurden, ist seit 1992 das Tagungsund<br />
Kulturzentrum Milchwerk untergebracht.<br />
Patrick Wiesenbacher: Von Pionieren, Konkurrenten und<br />
einem Konkurs ...................................................................... 62<br />
Pioniere und Konkurrenten, entschlussfreudige Männer und<br />
ihre Ideen sind charakteristisch für die Wirtschaftsgeschichte<br />
Radolfzells im 19. und 20. Jahrhundert. Dazu gehören auch<br />
Fehlschläge, wie der Konkurs einer großen Baufirma beweist.<br />
Christof Stadler: Von Adler, Bären, Löwen und Engeln –<br />
Streifzug durch die Wirtschaften in Radolfzell...................... 79<br />
Der Streifzug durch die Wirtschaftsgeschichte der „Wirtschaften“<br />
bringt dem Leser sowohl die traditionelle „Kneipenlandschaft“<br />
der Altstadt nahe als auch die Besonderheiten einzelner Gasthäuser<br />
und zeigt die vielfältige Gastronomielandschaft von<br />
ihren Anfängen bis heute.<br />
4
5<br />
6<br />
Hildegard Bibby: Seit wann gibt es Handwerk und<br />
Gewerbe in Radolfzell? ........................................................ 115<br />
Ein kleiner Abstecher zu einzelnen Gewerben soll verdeutlichen,<br />
dass es in Radolfzell noch den klassischen Handwerker<br />
wie den Schuhmacher und alteingesessene Geschäfte gibt,<br />
dass aber auch manche Geschäfte und Dienstleister verschwunden<br />
sind.<br />
Hildegard Bibby: Wirtschaftsförderung der<br />
Stadt Radolfzell heute .......................................................... 121<br />
Die aktuelle Wirtschaftsförderung Radolfzells ist Teil der Stadtverwaltung.<br />
Aus Anlass der Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung<br />
wurde 2016 ein Strategiepapier entwickelt, das die<br />
Kernaussagen der Wirtschaftsförderung zusammenfasst.<br />
5
1 Hildegard Bibby: Die Radolfzeller Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen bis heute im Überblick<br />
Werbeanzeige von Schiesser auf dem Radolfzeller Adressbuch von 1950. © Stadtarchiv Radolfzell<br />
6
1. Hildegard Bibby: Die Radolfzeller Wirtschaftsgeschichte<br />
von den Anfängen bis heute im Überblick<br />
Die Frage, wann die Wirtschaftsgeschichte Radolfzells<br />
beginnt, lässt sich nicht genau beantworten.<br />
Beginnt sie mit der Ankunft Ratolds<br />
oder doch schon früher? Bevor er kam, sollen<br />
hier Hörige der Abtei Reichenau in Fischerhütten<br />
gelebt haben. Die Quelle beschreibt<br />
die Situation wie folgt:<br />
„Es war dies eine überaus schöne Stelle, vom<br />
Kloster zwei Meilen entfernt, jenseits des Sees<br />
gegen Nordwesten, mit Fischerhütten besetzt,<br />
sonst aber zu keinem Anbau geeignet. Diesen<br />
Platz begann Ratold herrichten zu lassen, mit<br />
Häusern sowie mit einer Kirche zur Ehre<br />
Gottes zu bebauen und diese Zellenanlage<br />
mit seinem Namen (ratoltescella) zu benennen,<br />
wie es bis heute der Fall ist“ 1<br />
Ratold kam nicht allein nach Radolfzell, in seiner<br />
Cella lebten und arbeiteten mit ihm<br />
Mönche und Kanoniker als Glaubens- und<br />
Lebensgemeinschaft. Die Gründung der Cella,<br />
der Bau der Kirche und die Beschaffung der<br />
Reliquien, zunächst von Senesius und Theopontus,<br />
später die des Veroneser Bischofs<br />
Zeno, lockten sowohl Gläubige und Pilger als<br />
auch Gewerbetreibende nach Radolfzell.<br />
Bischhof Ratold auf dem Hausherrenschrein. Zeitgenössische<br />
Abbildungen des Stadtgründers sind jedoch nicht überliefert.<br />
© Christof Stadler<br />
Wir dürfen uns die Siedlung aber nach wie vor<br />
nur als Gebiet um den Reichenauer Kellhof,<br />
die Cella, und einen kleinen Hörigenbereich<br />
vorstellen. Das Kloster Reichenau hatte ein<br />
Interesse an der Förderung von Handel und Gewerbe<br />
in der nahe gelegenen Ansiedlung und<br />
verlieh um 1100 das Marktrecht an Radolfzell.<br />
„Aus Marktbesuchern wurden Marktbewohner“.<br />
Menschen wurden angelockt, sich in Radolfzell<br />
anzusiedeln, sich langfristig niederzulassen<br />
und somit für eine kontinuierliche Wirtschaftsbelebung<br />
zu sorgen. Mit dem Marktrecht<br />
und einem Hafen konnte das günstig am<br />
Untersee gelegene Radolfzell seine wirtschaftliche<br />
Bedeutung etablieren. War das Marktrecht<br />
der eine Meilenstein in der Entwicklung<br />
der Cella Ratoldi, denn dadurch konnten sich<br />
die Radolfzeller aus der Vogtei-Herrschaft lösen,<br />
war das Stadtrechtsprivileg von 1267 der<br />
zweite. Die Stadtgemeinde, zu der neben dem<br />
„Kernbereich“ Äcker und Reben, Wiesen und<br />
Weiden, Gärten, Mühlen und Fischweiher gehörten,<br />
war geboren. Der Reichenauer Abt Albrecht<br />
von Ramstein verlieh den Radolfzellern<br />
1 Mone, Franz-Joseph (Hg.): Quellensammlung der badischen Landesgeschichte Band 1, 1848, S. 62ff.<br />
7
1 Hildegard Bibby: Die Radolfzeller Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen bis heute im Überblick<br />
die Besteuerung aller im Burgfrieden<br />
Wohnenden brachte. Mit einem gut gefüllten<br />
Stadtsäckel lässt sich gut wirtschaften! Seit<br />
dem Wechsel der Stadt zur österreichischen<br />
Landesherrschaft um 1300 bestimmten die<br />
Habsburger bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />
maßgeblich das Schicksal der Stadt – auch in<br />
wirtschaftlicher Hinsicht.<br />
Die Marktrechtsurkunde von 1100, überliefert in einem Kopialbuch aus dem<br />
15. Jahrhundert © Pfarrarchiv Radolfzell, Foto Christof Stadler<br />
das Stadtrecht nicht uneigennützig, profitierte<br />
er doch wirtschaftlich von einer nun selbstständigen<br />
Stadt.<br />
Für den Ausbau Mitte des 13. Jahrhunderts wurden<br />
Häuser gebaut, für die Neuzugezogenen<br />
und für die Mitglieder des Chorherrenstifts –<br />
dafür waren Baumeister und Handwerker<br />
nötig. Auch für den Bau der Stadtmauer Mitte<br />
des 13. Jahrhunderts mussten Arbeitsplätze<br />
geschaffen werden. Die Siedlung wuchs, ein<br />
Beweis für ihr wirtschaftliches Gedeihen.<br />
Weitere Baumaßnahmen wie der Bau des<br />
Rathauses ab 1421, die Erweiterung des<br />
Pfarrhauses 1480/82 und der Bau der spätgotischen<br />
Basilika 1480/90 legen Zeugnis dieser<br />
Prosperität ab. Einen finanziellen Vorteil<br />
brachte das Recht Herzog Rudolfs IV. von<br />
Österreich aus dem Jahr 1361, das der Stadt<br />
Während des Konstanzer Konzils 1414-1418<br />
profitierte Radolfzell sowohl als Quartiergeber<br />
und Dienstleiter für Gäste als auch von zusätzlichen<br />
Aufträgen für Handwerker. Selbst<br />
der König wählte für zehn Tage Radolfzell als<br />
Ausweichquartier.<br />
Die älteste Stadtsatzung von Radolfzell aus<br />
den Jahren 1421/25 gibt (erstmals) Hinweise<br />
zu den Gewerbetreibenden: Bäcker, Rebleute<br />
und Metzger werden genannt und der Handel<br />
mit Salz angesprochen. Diese Zeit um und<br />
nach dem Konzil, als Radolfzell den Status<br />
der Reichsfreiheit innehatte, kann als Blütezeit<br />
bezeichnet werden. Allerdings wurde die<br />
Stadt zu Beginn des 15. Jahrhunderts in politische<br />
Auseinandersetzungen hineingezogen,<br />
die auch finanzielle Folgen hatten. Es waren<br />
die Appenzellerkriege, die Hussitenkriege,<br />
die Konflikte der Habsburger mit den Eidgenossen,<br />
an denen sich Radolfzeller beteiligten<br />
und die ihren Blutzoll forderten. Schlussendlich<br />
verlor Radolfzell 1454 seine Reichsfreiheit<br />
wieder, doch erlitt die Stadt dadurch wirtschaftlich<br />
keinen Schaden. Profitiert hat sie<br />
jedenfalls durch die Präsenz der Rittergesellschaft<br />
<strong>zum</strong> St. Jörgenschild, die seit 1427 ihren<br />
Tagungsort in Radolfzell hatte und der Stadt<br />
manch klingende Münze in die Kasse brachte.<br />
Die Verleihung der Schifffahrtsgerechtigkeit<br />
8
Ausschnitte aus den ältesten Radolfzeller Stadtsatzungen mit der Erwähnung der Bäcker und Metzger.<br />
© Leopold-Sophien-Bibliothek Überlingen, Foto Christof Stadler<br />
1493 durch Kaiser Maximilian als Dank für die<br />
Treue der Stadt <strong>zum</strong> Hause Habsburg hat ihr<br />
wirtschaftlich sicher nicht geschadet. In dieser<br />
Urkunde steht: „also daz si [die Stadt Radolfzell,<br />
H.B.] und nimands anders nu furbas solch<br />
obgemelt far innhoben, das mit leuten und<br />
schiffen der notdurft nach besetzen, verwalten<br />
und einen zimlichen lon davon nehmen<br />
mugen.“ 2<br />
Die folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen,<br />
der Schweizer- oder Schwabenkrieg<br />
1499 und der Bauernkrieg 1525 beeinträchtigten<br />
das Gedeihen der Stadt. Im Juni 1525 wurde<br />
Radolfzell durch aufständische Bauern belagert<br />
und beteiligte sich an der Niederschlagung<br />
derselben im Klettgau – Aktivitäten, die<br />
den Stadtsäckel belasteten. Allerdings wurde<br />
Radolfzell durch seine wiederholte Treue <strong>zum</strong><br />
Hause Habsburg mit der Verbesserung des<br />
Wappens belohnt und erhielt finanzielle und<br />
materielle Kompensation. Während der Reformationswirren<br />
wurde Radolfzell Zufluchtsort<br />
für Adel und Kleriker und ein Zentrum der katholischen<br />
Partei in der Region. Auch in wirtschaftlicher<br />
Sicht brachte dies Vorteile, da sich wohlhabende<br />
Händler wie der Patrizier Caspar von<br />
Ulm hier niederließ und mit Getreide und Wein<br />
handelte. Im 16. Jahrhundert lässt sich auch<br />
ein „Bildungswohlstand“ beobachten; es wurden<br />
qualifizierte Lehrkräfte eingestellt und<br />
Studenten aus Radolfzell – Söhne aus Bürgersund<br />
Adelsfamilien – waren an der Universität<br />
Freiburg eingeschrieben.<br />
Zum Wohlstand dieser Zeit passt die rege Bautätigkeit,<br />
sowohl von städtischer als auch privater<br />
Seite. Die Stadt erwarb Besitzungen im<br />
Umland; dazu gehörten der Kauf der Mettnau<br />
2 Albert, Peter Paul: Geschichte der Stadt Radolfzell am Bodensee. Radolfzell 1896, S. 237.<br />
9
1 Hildegard Bibby: Die Radolfzeller Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen bis heute im Überblick<br />
in den Jahren 1516 und 1527, der von Dorf und<br />
Schloss Friedingen 1539 und 1544 der Erwerb<br />
des Dorfes Hausen an der Aach. Der in diesen<br />
Jahrzehnten angesammelte Besitz war ein wichtiges<br />
wirtschaftliches Polster, das der Stadt in<br />
den folgenden Zeiten während und nach dem<br />
Dreißigjährigen Krieg vor allem finanziell helfen<br />
sollte.<br />
Zu Wohlstand kam die Stadt nicht nur durch<br />
den eben beschriebenen Zuzug, sondern auch<br />
durch den Getreidehandel. Die schon erwähnte<br />
„Schifffahrtsgerechtsame“ und eine Abgabenerhöhung<br />
auf Kornlieferungen hatten zur Folge,<br />
dass man eine Landungsbrücke bauen konnte.<br />
Das war teuer, aber die Stadt durfte, um die<br />
entstandenen Kosten auszugleichen, die<br />
Korn- und Brückenzölle erhöhen. Auf dem<br />
Seetorplatz stand das Gredhaus, hier fand der<br />
Handel statt, der durch eine „Korn-, Fässerund<br />
Masse-Ordnung“ geregelt wurde. Der<br />
„Zollrodel“ von 1547 listet alle Gebühren auf,<br />
die der Stadt zustanden: von Vieh und Lebensmitteln,<br />
von Getreidekäufen sowohl Einheimischer<br />
als auch Fremder. Zu dieser Zeit war<br />
Radolfzell neben Überlingen und Lindau einer<br />
der drei wichtigsten Häfen für den Export von<br />
Getreide, das vor allem in die Schweiz verkauft<br />
wurde.<br />
Diese Prosperität ging um 1550 zu Ende.<br />
Nachdem das reformierte Konstanz sich wieder<br />
zur katholischen Religion bekennen musste,<br />
verließen Domkapitel, Domherren und Chorherren<br />
Radolfzell und zogen in die Bischofsstadt<br />
Konstanz zurück. Damit verlor Radolfzell<br />
seine Rolle als temporäres Zentrum der<br />
Region. Immerhin wird es 1563 als ein „clains<br />
doch wol erpawtes guts stätl“ beschrieben.<br />
Rund 1.000 Einwohner lebten hier.<br />
Während des Dreißigjährigen Krieges blieb<br />
die Region zunächst von Kampfhandlungen<br />
verschont. Als sich aber ab 1630 die Schweden<br />
am Krieg beteiligten, wurde auch der Hegau<br />
mit in den Konflikt hineingezogen. Radolfzell<br />
litt unter Kriegskontributionen (Belastungen<br />
der Einquartierungen) und Krankheiten. 1635<br />
grassierte eine Pestepidemie in Radolfzell –<br />
nicht die erste Krankheitswelle; seit 1628 war<br />
die Zahl der Toten jährlich angestiegen. Die<br />
Stadt konnte kein Wachstum mehr verzeichnen,<br />
vermutlich sank die Einwohnerzahl bis<br />
1638 auf 400 Personen. Folglich war die erste<br />
Hälfte des 17. Jahrhunderts für Radolfzell politisch<br />
und wirtschaftlich eine Katastrophe. Die<br />
Stadtkasse war leer – selbst Reparaturen an<br />
Stadtmauer und öffentlichen Gebäuden konnten<br />
nicht mehr bewerkstelligt werden – und<br />
der Handel zusammengebrochen. Es dauerte<br />
lange, bis sich die Stadt von den wirtschaftlichen<br />
Folgen von Krieg und Pest erholte.<br />
Ende des 17. Jahrhunderts produzierte Radolfzell<br />
wieder Getreideüberschüsse und<br />
zählte zu den wichtigsten Häfen mit Absatz in<br />
die Schweiz und nach Vorderösterreich. Radolfzell<br />
war in dieser Zeit vom funktionierenden<br />
Fruchtmarkt abhängig und konnte sich –<br />
letztendlich erfolgreich – gegen den „Konkurrenzmarkt“<br />
in Bodman durchsetzen.<br />
10
Das 18. Jahrhundert begann für die Stadt am<br />
Untersee mit finanziellen Sorgen, die Zahl der<br />
Handwerker nahm bis zur Mitte des Jahrhunderts<br />
ab, der bauliche Zustand war schlecht und<br />
die Landwirtschaft von geringer Bedeutung.<br />
Den Handwerkern kommt für die Wirtschaftskraft<br />
einer Stadt eine nicht zu unterschätzende<br />
Bedeutung zu. Die Radolfzeller Zünfte, in<br />
denen die Handwerker ihre Interessen vertreten<br />
sahen, waren jedoch nicht stark genug für eine<br />
einflussreiche, auch politische „Lobbyarbeit“.<br />
Es muss berücksichtigt werden, dass man in<br />
Radolfzell von seinem Ortsgründer auch wirtschaftlich<br />
profitierte. Denn die Verehrung Ratolds<br />
erlebte in der Barockzeit einen Aufschwung.<br />
Die Pilger übernachteten hier, sie<br />
kauften Verpflegung und Souvenirs.<br />
Das 18. Jahrhundert war nicht arm an kriegerischen<br />
Konflikten, in die das Haus Habsburg<br />
verwickelt war, und Radolfzell hatte als vorderösterreichische<br />
Provinzstadt seinen Beitrag zu<br />
leisten. Gerade die Revolutionskriege am Ende<br />
dieses Jahrhunderts belasteten die Stadt mit<br />
Kontributionen und Einquartierungen schwer.<br />
Radolfzell befand sich in einer „Periode der<br />
Abnahme“, wie es der Chronist Peter Paul Albert<br />
formulierte.<br />
In den Jahren nach den napoleonischen Kriegen,<br />
ab 1806, verschlechterte sich die wirtschaftliche<br />
Lage weiter. Grund dafür waren<br />
die Missernten – in erster Linie im Weinbau,<br />
welche die Rebbauern und Landwirte zu spüren<br />
bekamen, war doch der Wein das „vorzüglichste<br />
Erzeugnis der Stadt“, so Kasimir Walchner.<br />
Die Jahre 1816/17 waren von Missernte,<br />
Der alte Radolfzeller Landungssteg, Detail des sogenannten Hausherrenbildes.<br />
© Stadtmuseum Radolfzell, Foto Christof Stadler<br />
Hungersnot, Überschwemmung, Teuerung und<br />
Armut geprägt. Wie bereits dargelegt, waren<br />
für Radolfzell Markt und Handel von wirtschaftlicher<br />
Bedeutung und so empfand man es hier<br />
als positive Entwicklung, als man 1823 die<br />
Genehmigung erhielt, zusätzlich zu den schon<br />
bestehenden vier Jahr- und Viehmärkten noch<br />
regelmäßig von März bis Oktober einmal im<br />
Monat einen Viehmarkt abzuhalten. Mit diesem<br />
zusätzlichen Viehmarkt hatte die Stadt eine<br />
weitere Einnahmequelle und der bisherige<br />
Viehhandel konnte belebt werden.<br />
11
1 Hildegard Bibby: Die Radolfzeller Wirtschaftsgeschichte von den Anfängen bis heute im Überblick<br />
Die städtische Viehmarkthalle auf einer Postkarte. © Stadtarchiv Radolfzell<br />
Ab 1891 fanden Zentralzuchtviehmärkte in Radolfzell<br />
statt. Organisator war der Verband der<br />
oberbadischen Zuchtviehgenossenschaften.<br />
Die „Badische Zuchtviehgenossenschaft“<br />
baute im Jahre 1898 die Zentralviehhalle, die<br />
später in städtischen Besitz überging.<br />
Während der Radolfzeller Hafen in der Frühen<br />
Neuzeit eine bedeutende Rolle gespielt hatte,<br />
war er nun in einem bedauernswerten Zustand,<br />
was dem Getreidehandel (in die Schweiz)<br />
nicht dienlich war. Erst in den Jahren 1873/74<br />
konnte eine neue Hafenanlage gebaut werden.<br />
Ein Jahr später verkehrten die Dampfschiffe<br />
auf dem Untersee regelmäßig. Aber der Radolfzeller<br />
Getreidemarkt hatte längst seine<br />
Blütezeit hinter sich. Im letzten Drittel des 19.<br />
Jahrhunderts seien, so bemerkt Carl Diez, „die<br />
Fruchtmärkte, die in den Jahren sehr bedeutend<br />
waren (…), zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken.<br />
Da dem Landwirt sein Getreide heute<br />
zu Hause abgekauft wird und er dieses direkt<br />
zur Bahn fährt, ist das Bedürfnis für den<br />
Schrannenverkehr gesunken.“ 3 Unter „Schranne“<br />
versteht man einen Getreidemarkt oder<br />
auch Kornspeicher.<br />
Neben den vielen Gaststätten in der Stadt verzeichnete<br />
man in den 1830er- und 1840er-<br />
Jahren auch einen Anstieg der Gewerbebetriebe.<br />
So nimmt es nicht Wunder, dass 1855<br />
die städtische Sparkasse Radolfzell gegründet<br />
wurde, denn die Existenz von Banken und<br />
Sparkassen ist ein Gradmesser für die wirtschaftliche<br />
Entwicklung einer Kommune.<br />
3 Diez, Carl: Radolfzell in Vergangenheit und Gegenwart. Radolfzell 1916, S. 62.<br />
12
Werbung der beiden Banken „Bezirkssparkasse“ und „Vorschuss-Verein“ im Adressbuch der Stadt Radolfzell von 1911.<br />
© Stadtarchiv Radolfzell<br />
Durch großherzoglichen Erlass wurde die<br />
Genehmigung zur Errichtung einer Sparkasse<br />
(„Privatersparnisgesellschaft“) im Amtsbezirk<br />
Radolfzell erteilt. Die erste Einlage erfolgte am<br />
27. Februar 1855. Fortan konnten die Gewerbetreibenden<br />
ihr Geld vor Ort anlegen und verwalten<br />
lassen sowie Kredite in Anspruch nehmen.<br />
Die Umwandlung der Sparkasse in eine<br />
Bezirkssparkasse erfolgte 1904.<br />
Am 25. Juni 1865 gründeten entschlossene<br />
Radolfzeller Bürger den „Vorschuss-Verein“,<br />
der Anfang Oktober des Jahres seine Tätigkeit<br />
aufnahm. Dieses Geldinstitut, besser bekannt<br />
unter dem Namen „Volksbank“, zählte zu den<br />
ersten zehn Gründungen gewerblicher Kreditgenossenschaften<br />
im oberbadischen Raum und<br />
trug wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung<br />
Radolfzells und Umgebung bei.<br />
Trotz des Anstiegs der Gewerbebetriebe und<br />
trotz des regen Handels auf den Märkten blieb<br />
die wirtschaftliche Situation vieler Bewohner<br />
bis in die 1860er-Jahre hinein bescheiden; viele<br />
konnten von ihrem Einkommen aus Landwirtschaft,<br />
Gewerbe und/oder Handwerk nicht leben.<br />
So ist es nicht erstaunlich, dass etliche<br />
RadolfzellerInnen ein besseres Leben im Ausland<br />
suchten und auswanderten. Schon 1832<br />
waren die Ersten nach Nordamerika ausgewandert,<br />
die meisten Personen verließen Radolfzell<br />
zwischen 1848 und 1857.<br />
13