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Auf der Straße

Über 650 000 Menschen sind nach Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in

Deutschland ohne Wohnung. Wie viele es genau sind, weiß keiner, die Dunkelziffer ist hoch. Die meisten

schlafen in Notunterkünften, über 50 000 Menschen jedoch auch regelmäßig auf der Straße. Unsere

Autorin hat sich herangewagt an ein schwieriges Thema und hat das auf der Straße verbracht, was es

dort zur Genüge gibt: Zeit.

Thomasz kommt aus Polen. Er schaut mich

mit seinen klaren, blauen Augen an, die

sonst oft ins Nichts blicken. Er sitzt auf einer

Matratze in einer Unterführung, einer „Platte“,

bewohnt von zwei Männern. Robert, der

andere der beiden Männer, nennt Thomasz

„Abi“, Bruder auf Türkisch. Er habe ihn vor

ein paar Wochen aufgelesen, am Tag, an

dem Roberts Bruder gestorben sei. Thomasz

sei wie sein Bruder, genauso unruhig,

genauso eine gute Seele. Robert ist Sinti,

sich selbst bezeichnet er als Zigeuner und

ist 54 Jahre alt. Wenn Passanten vorübergehen,

wirft er ihnen einen flotten Spruch zu:

„Danke für deine Schönheit, nicht du, deine

Freundin!“. Wenn ihm gerade nichts einfällt,

schmettert er Passanten ein kräftiges „Hallo“

oder „Guten Abend“ entgegen, das ist

sein Job, Passanten ansprechen und Geld

auftreiben. Und er macht ihn gut, seinen Job.

Thomasz ist eher ruhig. Öfter sitzt er in sich

gekehrt da und denkt nach. Gedanken, die

ihm weh tun, Gedanken an seine Familie.

Er hat zwei Kinder, zwei Töchter. Eine davon

benutzt er als Hintergrundbild in seinem

Smartphone. Sein Smartphone, von

dem er später eine Line Crystal Meth ziehen

wird. Robert hasst das. Er schreit Thomasz

an, sagt ihm, er solle sowas nicht machen

und schon gar nicht vor mir, er habe keine

Scham. Ich versuche zu beschwichtigen, das

sei okay, ich sei ja da, um die Realität zu sehen,

sie bräuchten sich vor mir nicht zu verstellen.

Thomasz schreit zurück, Robert sei nicht sein

Vater, er solle ihn in Ruhe lassen. Er brauche

Medikamente, gegen seine Gedanken. Dass

er das lassen solle, wiederholt Robert lautstark,

seine halbe Familie sei an dem Zeug

verreckt, sein Bruder habe sogar auf dem Totenbett

der Mutter noch eine Line gezogen.

Dabei nimmt er immer wieder einen Schluck

aus seiner Wodkaflasche. Robert erzählt mir,

er sei mehr als 20 Jahre „an der Nadel gehangen“,

jetzt nicht mehr, nur Alkohol trinke er.

Die beiden werden immer lauter, ich spüre die

Aggressivität, die unter der Oberfläche lauert.

Robert ist es wichtig, was ich von ihm denke. Er

macht Komplimente und zeigt sich von seiner

besten Seite. Ich hatte vergessen, dass ich eine

Frau bin, das macht es schwieriger, schließlich

will ich nicht flirten, sondern wissen, was Sache

ist. Thomasz hingegen kann nicht mehr. Er ist

ziemlich am Ende, hat kaum mehr Hoffnung.

Robert sagt, er genieße die kleinen Momente,

Thomasz sei gekommen, um zu sterben. Roberts

Sprüche gehen Thomasz auf die Nerven.

Vier Tage vorher treffe ich Thomasz allein.

Er ist unruhig, sagt, es sei Feiertag, das hasse

er. Ich erkläre ihm, dass nur Rosenmontag

sei, die Supermärkte aber geöffnet hätten. Er

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