Nachbarportrait Reportage
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ÜBER GROSSSTADTANONYMITÄT UND ZUSAMMENHALT
und das Licht am Anfang der Straße
„Familie ist das Wichtigste, ohne Familie bist du niemand“,
ertönt es aus der Küche. Es klingt beinahe zu
klischeehaft, aber Carlo scheint so viel Lebenserfahrung
gesammelt zu haben, dass man ihm das einfach
glauben muss. Vielleicht liegt es auch daran, dass der
Mann, dessen Gesicht von vielen kleinen Lachfalten
durchfurcht ist, sich gut in das Bild der Großfamilie
einfügt – Carlo ist Italiener. Er kommt ins Wohnzimmer,
das gleichzeitig auch sein Schlafzimmer ist,
mit einer Kanne frisch aufgebrühtem Espresso und
einer Packung Zigaretten. Sein Gang ist schlurfend,
der Rücken leicht gekrümmt. Dass er in seinem Leben
viel gearbeitet hat, kann man ihm ansehen. „Mit
17 bin ich nach Deutschland ausgewandert. In meiner
Heimat Sizilien gab es keine Arbeit mehr für
mich und hier in Deutschland konnte ich als Maurer
gut Geld verdienen.“ Seit 56 Jahren wohnt Carlo
jetzt schon in Köln. Die meiste Zeit davon in der
Einzimmerwohnung im Erdgeschoss, in der wir zusammen
auf dem Bett sitzen und aus kleinen braunen
Tassen Kaffee der Marke Lavazza trinken. Ich
schwarz, Carlo mit drei Teelöffeln Zucker.
Die Plätzchen von Regina sind zuckerfrei. Sie sei
Diabetikerin, begründet sie die Wahl ihrer Backzutaten,
während sie mir die volle Tupperbox entgegen
schiebt. Der blaue Plastiktisch, an dem wir zwei und
ihr Mann Peter sitzen, steht in einem kleinen Innenhof.
Die Blätter der Weinreben, die im Sommer eine
Art Pavillon bilden, sind schon längst abgefallen. Es
ist Anfang November. Regina trägt eine schwarze
Lederjacke mit Nieten, Stiefel mit Schlangemuster
und ein Clip-in-Ponytail, das sie in mehreren Farben
besitzt. Aktuell, passend zur Haarfarbe, ein kühles
Blond. Peter ist leger gekleidet, in Jeans, blauem
Streifenhemd und Funktionsjacke. Beide kaufen
Klamotten in Sondergrößen. In der kalten Luft führt
der Rauch ihrer Zigaretten einen Tanz auf. Begleitet
wird dieser vom penetranten Geräusch der Fritteuse.
An den gepflasterten Hof schließt unmittelbar die
Küche eines Cafés an. „Früher war das alles Rasenfläche.
Es gab sogar einen riesigen Kirschbaum der jedes
Jahr die besten Früchte abgeworfen hat. Irgendwann
bin ich dann eines Morgens von einem Krachen und
Beben im Haus aufgewacht – der Kirschbaum war
weg“ erzählt sie mit einem wehleidigen Unterton
in ihrer Stimme. Peter hört zu, generell ist er der
schweigsamere Typ der beiden. „Hättest du mir damals
gesagt, dass ich diesen Mann heirate, hätte ich
dir einen Vogel gezeigt“, erzählt Regina weiter und
lächelt Peter an. Die beiden kennen sich seit ihrer
Kindheit. Peter hat im Haus nebenan gewohnt. Die
Straße sei ihr Spielplatz gewesen, Autos fuhren hier
selten durch. „Im Sommer haben sich die Anwohner
mit Liegestühlen auf die Straße gelegt, wir Kinder
sind über Mauern geklettert, haben gebolzt und ein
Erwachsener hat vom Fenster aus aufgepasst.“
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BILDER:
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Nikolai sammelt gerne
ikonografische Dinge,
wie diese Marienabbildung
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„Ich liebe Schmuck
und Schuhe. Wenn ich
mich in ein paar Schuhe
verliebt habe dann muss
ich die auch haben“
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Im Wohnzimmer von
Regina und Peter.
„Katzen sind unser
Kinderersatz“. Neben
mehreren Bildern haben
die beiden auch zwei
lebende Exemplare
Heute ist die Straße tagsüber zugeparkt, außer am
Wochenende. Die Meisten, die ihr Auto hier abstellen,
arbeiten in einem der vielen Bürokomplexe und
hippen Agenturen, die in Ehrenfeld nahezu wie Unkraut
aus dem Boden sprießen. Dass das Szeneviertel
früher ein Arbeiter- und Industriestadtteil Kölns
war, erkennt man an den aus Backstein errichteten
Fabriken, es gibt einige davon. Vor dem alten Gelände
der Vulkan Leuchtenfabrik treffe ich Nikolai zum
ersten Mal. In weiten weißen Leinenklamotten gekleidet,
die kinnlangen schwarzen Haare fallen ihm
in nassen Locken ins Gesicht und eine Ledertasche
(aus dem ein Notizbuch spickt) geschultert, fällt
es nicht schwer, den Künstler in ihm zu erkennen.
Noch sei es ein brotloses Geschäft, erzählt er, während
er sich eine Zigarette von meinem Tabak dreht
– „im Moment rauche ich so einen ekligen Fusel zum
Stopfen aus dem Supermarkt. Schmeckt nicht, ist
aber günstig, weil im Bigpack“. Er sei vor kurzem aus
Düsseldorf nach Köln gezogen, die Gegend hier gefällt
ihm „man spürt das Kreative“. Er lädt mich ein,
ihn in seinem Atelier zu besuchen. Das Atelier ist ein
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BILDER:
4 Die Teller sind von Reginas Mutter, Sie hat vor den beiden in der Wohnung gelebt 5 Das Schlafzimmer von Regina, Peter und der zwei Katzen
6 Carlos Lieblingssohn Filipo und seine Frau bei ihrer Hochzeit 7 Carlo isst jeden Tag Pasta. „Am liebsten Spaghettini, aber nur die von Barilla.“ 8 „Ich muss Bilder immer ruhen
lassen. Kreativität ist für mich ein langsamer Prozess.“, beschreibt Nikolai seine Arbeitsweise
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2-Zimmer-Appartement im ersten Stock eines Altbaus,
es ist Wohn-, Schlaf und Arbeitsplatz zugleich.
In den größeren der beiden Räume ist ein Podest gebaut,
das beinahe die Hälfte der Fläche einnimmt.
Darauf sind ein paar Kissen verteilt, sowie ein Stuhl,
ein Malkasten und eine Staffelei, in die Nikolai fünf
Minuten nach meiner Ankunft eine bunte Leinwand
einspannt, „die müsste noch überarbeitet werden“.
„Kann ich dir helfen?“. Carlo verneint, ich sei schließlich
sein Gast und fängt an, die Datteltomaten zu
halbieren. Es gibt Spaghetti al Pomodori – nach dem
Rezept von Mama, ist ja klar. Das wichtigste sei die
Qualität der Zutaten, „am Essen sollte man mit Geld
nicht sparen“, deswegen lasse er sich auch immer das
gute Olivenöl aus der Nähe von seinem Heimatort
Santa Elisabetta mitbringen. Gleich 16 Liter. Seine
Familie in Sizilien besucht er selten. Sein Papa Filipo
ist schon lang verstorben, die Wände hängen
aber voll mit Bildern, welche die Ähnlichkeit der
beiden widerspiegelt. Auch sonst leben dort nicht
mehr viele von seinen Angehörigen. Carlos eigene
Kinder wohnen in Köln, „aber oft sehe ich die leider
auch nicht“. Seine Frau habe er damals auf der
Straße gesehen und sich sofort in sie verliebt. „Meine
Mutter musste dann zu ihrer Mutter gehen und
fragen, ob ich sie heiraten darf.“ „Und das war wirklich
so?“, hake ich nach, während ich die Spaghetti
aufrolle – manchmal ist Carlos Aussprache schwer
zu verstehen, in diesem Fall habe ich mich nicht verhört.
„Jazz höre ich am liebsten, das ist so inspirierend.“
Nikolai hat mittlerweile mit schwarzem Kohlestift
und wildem Duktus angefangen die Leinwand
zu übermalen. Seine linke Hand, die eine diverse
Auswahl an Farben bereithält, ist von den kleinen
Stummeln dunkel eingefärbt. Draußen ist es dunkel,
eine Glühbirne ohne Lampenschirm und eine
Arbeitslampe werfen spärliches Licht in den Raum
mit den großen Sprossenfenstern.
Meistens sei es in den Räumen eher dunkel, erzählt
mir Regina beim betreten ihrer Dachgeschosswohnung.
Tatsächlich scheint in diesem Moment Sonne
durch die Spitzengardinen und wirft ein Lochmuster
auf den Teppichboden des Wohnzimmers. An
den Wänden schlagen Uhren, mehrere. „Ich sammle
Zippo-Feuerzeuge, meine Frau Uhren in allen Variationen“
kommt es ausnahmsweise von Peter, der hinter
mir im Türrahmen steht. Generell kann man von
einer Leidenschaft für das Zusammentragen vieler
kleine Dinge sprechen, wenn man den Blick in der
Wohnung schweifen lässt. „Die Deko passt sich immer
den Jahreszeiten an“, erklärt mir Regina. „Bald
müssen die Halloweenfiguren den Weihnachtsengeln
weichen“. Die Frage, ob die Puppe in der Ecke
hinter dem Sofa als Gruselmaterial dient oder zur
Dauerausstattung gehört, verkneife ich mir.
Am Kleiderschrank hängt ein Sticker, Jackie Chan
BILDER:
„Früher war
die Straße
allein
schon ein
Dorf.
Auch in
diesem
Haus war
alles immer
sehr
familiär.“
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„Rotwein und Jazz
und der Abend kann
beginnen“
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„Inspiration schöpfe
ich aus Literatur und
Musik. Ich interessiere
mich vor allem für die
Klassiker. Im Moment
befasse ich mich mit
der Geschichte Europas
und der griechischen
Mythologie.“
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streckt mir den Mittelfinger entgegen, „Master of
Kung Fu, Fuck you“ lautet die Botschaft. „Ich find
die Filme super, Western mag ich auch.“ Carlos Fernseher
hat ein italienisches Programm, das fast immer
läuft. Wenn der Bildschirm aus ist sieht man ihn aus
dem Fenster lehnend Leute beobachten, immer mit
einer Zigarette in der Hand. Carlo gilt insgeheim
als Bürgermeister der Straße. Alle kennen ihn, alle
mögen ihn – den alten Mann der mit der zigarettenfreien
Hand winkt, wenn er jemanden erkennt.
„Früher war die Straße allein schon ein Dorf. Wenn
ich mal am Abend in einem fetten Auto von einem
Mann nach Hause gebracht wurde, hatte meine
Mutter mindestens drei informationsgeladene
Anrufe bis ich am Ende der Straße war, weil sich
jeder kannte. Auch in diesem Haus war alles immer
sehr familiär. Nach der griechischen Familie zogen
die Türken ein, dann die Familie aus Kasachstan –
es war schön, man hat sich immer unterstützt.“ Und
auch heute könne sich Frau Ercan, die Nachbarin
von Regina, einfach an ihrem Vorratsregal im Treppenhaus
bedienen, falls sie etwas brauche. Im Gegenzug
bekommen sie dafür albanisches Essen, wie zum
Beispiel gefüllte Weinblätter die Frau Ercan aus dem
Innenhof pflückt und bei 40 Grad in der Wohnung
ohne Unterlass zubereitet. „Ich mag das Multikulturelle
in diesem Haus, in dieser Straße. Das macht
Ehrenfeld und Köln für mich aus“.
Russisch könne er fließend, erläutert mir Nikolai,
der größte Teil seiner Familie wohnt in Moskau –
im vollen Bücherregal habe ich einige Titel entdeckt,
die ich nicht lesen kann. Er ist fertig mit dem
Übermalen der Leinwand, zumindest für Heute.
Ob ich am Wochenende auch bei der Vernissage des
Kulturcafés aufkreuzen werde, fragt mich Nikolai
beim Abschied, ich bejahe. Dann mache ich mich auf
den Heimweg.
„Ich mag
das Multikulturelle
in diesem
Haus, in
dieser
Straße.
Das macht
Ehrenfeld
und
Köln für
mich aus“
Fließen im Flur, Friteusengeruch. Ich laufe die Holztreppe
hoch, die zum Schutz mit einer PVC-Folie
überklebt worden ist. Im ersten Stock schließe ich
die Tür auf, Zuhause. Ich wohne in einem Altbau
mit drei Etagen. Über mir wohnt Familie Ercan. Der
Paketbote lässt Sendungen für Regina und Peter bei
mir lagern, weil er nicht in den dritten Stock hochlaufen
will. Meine Nachbarn heißen Carlo und Nikolai.
In der Anonymität der Großstadt ist die Lichtstraße
ein Ort voller bekannter Gesichter, denke ich
und stoße ein paar Tage später mit einem Kölsch auf
der Vernissage mit ihnen an.
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BILDER:
11 Carlo in seinem Schlaf- und Wohnzimmer 12 Die Arbeitsutensilien von Nikolai 13 Regina und Peter. Ihre kirchliche Traureede wurde auf Kölsch gehalten
14 Carlo kann nur unter Schmerzen laufen, die viele Arbeit hat seinem Rücken stark zugesetzt 8 Rezept für italienische Tomatensoße: 500 Gramm halbierte Datteltomaten,
1 TL Salz, 1 Schuss Olivenöl, 1 Dose passierte Tomaten und 1 Hand frischen Basilikum in einer großen Pfanne vermengen, 10 Sekunden pfeffern und bei mittlerer
Hitze für 2-3 Stunden köcheln lassen. Mit einem Stampfer die gekochten Tomaten zerdrücken und mit Spaghettini und Parmigiano servieren. Buon appetito!