4 TITELTHEMAMünchner Ärztliche AnzeigenCannabisverordnungenTherapie für junge Männer?Das „Cannabis als Medizin“-Gesetz von 2017 sollte die Versorgung vonschwer Erkrankten ergänzen. Hat das Gesetz erreicht, was es bezweckt hat?Die MÄA sprachen darüber mit dem Apotheker und GesundheitswissenschaftlerProf. Dr. Gerd Glaeske von der Universität Bremen.Zwanzig- bis dreißigjährigeMänner erhalten etwa zehnmal soviel Cannabisverordnungen wiegleichaltrige Frauen.Foto: Shutterstock
Münchner Ärztliche AnzeigenTITELTHEMA 5Herr Prof. Glaeske, war das „Cannabisals Medizin“-Gesetz von2017 erfolgreich?Aus meiner Sicht nein. Weil die Indikationsgebieteim Gesetz nichtgenannt sind, gibt es noch immerviel zu wenige Informationen fürÄrzt*innen und Patient*innen. Durchdas Gesetz wurde lediglich geregelt,dass Ärzt*innen Cannabis verschreibenkönnen, wenn sie glauben, dasses in einer bestimmten Krankheitssituationhilfreich sein könnte. AlsWirksamkeitsnachweis wird oftschon gesehen, dass Patient*innendies ihren Ärzt*innen bestätigen. Wiebei allen anderen Mitteln bräuchtees aber auch hier gute medizinischeStudien gegen Placebo oder andereSubstanzen: Was sind die besonderenVorteile von Cannabis, was diegeeigneten Indikationen? Die Frageder Evidenz ist sträflich vernachlässigtworden. Man weiß aus der beider Bundesopiumstelle durchgeführtenBegleitforschung, dassknapp 40 Prozent der mit Cannabisbehandelten Patient*innen angeben,es habe ihnen nicht, wie erhofft,geholfen und etwa 25 Prozent überunerwünschte Wirkungen berichtenwie z.B. über Müdigkeit, Schwindel,Aufmerksamkeits- oder Gleichgewichtsstörungen.Gibt es denn ansonsten gar keineguten Studien?Bei neuen Arzneimitteln und Therapienspielt heute das AMNOG-Verfahren,die Bewertung durch denGemeinsamen Bundesausschuss,eine wichtige Rolle. Das wurde beiCannabis aber nicht angewendet. Esgab keine Vergleiche mit einerzweckmäßigen Vergleichstherapie,also z.B. mit bestimmten Schmerzmitteln,bezogen auf die Wirksamkeitoder Verträglichkeit. Zwar gibt eseinige wenige Studien zu Schmerzoder psychischen Störungen, auchbeispielsweise zum Glaukom, dochdie meisten sind methodisch undCannabis-Report 2020:bezogen auf die dort getroffenenAussagen sehr schwach, weil sie zumBeispiel nur sehr kleine Fallzahlenhaben. In vielen Fällen weisen dieAutor*innen der Studien auch selbstdarauf hin, dass die Ergebnissezumindest weitere Studien notwendigmachen, um mit mehr SicherheitAussagen treffen zu können. Wobleibt also die ausreichende Evidenz,die sonst bei allen Therapien undArzneimitteln verlangt wird?Ist Cannabis also nutzlos?Nein, in ganz bestimmten Bereichenkann es offenbar zu mehr Lebensqualitätin bestimmten Krankheitssituationenbeitragen. Nicht nur in der palliativenVersorgung, bei der die Krankenkassenund die medizinischenDienste innerhalb von drei Tagen überden Einsatz entscheiden müssen unddies in fast 100 Prozent aller Fälleauch befürworten. Auch viele Patient*innenmit Ernährungs- und Verträglichkeitsproblemenbei einer Chemotherapie,Schmerzpatient*innenoder einige HIV-AIDS-Patient*innenempfinden eine Unterstützung. Vielevertragen starke Schmerzmittel ausder Familie der Opioide nicht so gut,weil diese sehr dämpfend wirken undzur Verstopfung führen. Doch unserejetzigen Studien zu Cannabis basierenfast alle ausschließlich auf Erfahrungswissen.In einem großen Reviewin der Zeitschrift JAMA im September2019 wurde festgestellt, dass fast alleIndikationen fragwürdig sind, weilman noch zu wenige klare Erkenntnissebezogen auf den Patientennutzenhat, also bezogen auf die Wirksamkeitund Unbedenklichkeit.Sie haben gemeinsam mit der inMünchen ansässigen Mobil Krankenkasse(früher BKK Mobil Oil)einen Report zu Cannabis publiziert.Was waren die wichtigstenErgebnisse?Im Rahmen der Versorgungsforschunghaben wir die reale→ wwww.socium.uni-bremen.de/ueber-das-socium/mitglieder/gerd-glaeske/publikationen/?publ=10310Thesenpapier Nr. 7 zur Covid-19-Pandemie von Prof. Schrappe et al.:→ www.matthias.schrappe.com/index_htm_files/Thesenpap7_210110_endfass.pdf→ https://corona-netzwerk.infoVersorgung mit Cannabis betrachtet.Bei welchen Indikationen wurdenvon welchen Ärzt*innen Rezepte fürwelche Dosierungen wie lange ausgestellt?Und wer bekam die Mittel?Aus Datenschutzgründen brauchtman für diese Fragen die Unterstützungeiner Kasse. Die Ergebnissewaren interessant: Bayern zum Beispielscheint innerhalb der gesetzlichenKrankenkassen, nicht nur beider Mobil Krankenkasse, einenhohen Anteil von Cannabisverordnungenzu haben. Wir sehen außerdemgroße Unterschiede je nachGeschlecht und Alter: Zwanzig- bisdreißigjährige Männer erhalten etwazehnmal so viel Cannabisverordnungenwie gleichaltrige Frauen, in denAltersgruppen der 40- bis 59-Jährigenbekommen Männer doppelt sohäufig solche Verordnungen. Es wirdgemutmaßt, dass junge Männer einehöhere Affinität zu Cannabis-Produkten,vor allem zu Cannabisblüten,haben als Frauen. Auch die verordnetenMengen differierten stark. Ineinigen Fällen wurden übertriebenhohe Dosen von bis zu 20 Grammam Tag verordnet. Die empfohlenenDosierungen liegen bei rund 1Gramm pro Tag. Einzelne Patient*innenverursachten durch die hohenDosen, vor allem von Cannabisblüten,außerdem extreme Kosten vonum die 15.000 Euro in 1,5 Jahren.Insgesamt wurden 2020 knapp 150Millionen Euro für Cannabisprodukteausgegeben. 2017 waren es nochinsgesamt 27 Millionen Euro – dieSteigerungsrate liegt bis heute alsobei mehr als 500 Prozent.Hinsichtlich der Darreichungsformenentfiel der größte Anteil der Verschreibungenauf Cannabisblüten,was mich sehr nachdenklich stimmt,da jede pflanzliche Therapie jazunächst standardisiert werdenmuss. Wir wissen, dass die Pflanzenin unterschiedlichen Regionen wegender sehr unterschiedlichen Wachstumsbedingungenauch sehr unterschiedlicheGehalte von Tetrahydrocannabinol(THC) haben. Zudem wurdendie Cannabisblüten zum größtenTeil von Allgemeinmediziner*innenverordnet, während in der palliativenTherapie und bei der Therapie durchFachärzt*innen eher standardisierteTHC-haltige Arzneimittel wie Dronabinol-Tropfenzum Einsatz kamen. Letzteresind aus meiner Sicht für eine