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zkm-magazin-2022

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<strong>2022</strong> No. 1


Liebe ZKM-Besucher:innen, liebe Leser:innen,<br />

mit diesem neuen Magazin möchten wir Sie einladen, sich<br />

dem ZKM über Geschichten, Reportagen, Interviews sowie<br />

der Fotostrecke von Thomas Meyer (Ostkreuz) zu nähern.<br />

Wer, wenn nicht der Journalismus, vermag es am besten, dort<br />

Geschichten zu sehen und zu erzählen, wo Kunst, Wissenschaft<br />

und Forschung stattfinden? Unter dem Titel [ Innensicht ]<br />

bietet Ihnen diese Erstausgabe einen Einstieg in die Arbeit<br />

des ZKM. Wir haben punktuell Themen, Bereiche, Menschen<br />

und Aspekte herausgesucht, die einen Bogen spannen über<br />

allem, was das ZKM auszeichnet<br />

Entstanden ist das Magazin über den Herbst und Winter.<br />

Jetzt im April <strong>2022</strong> blicken wir alle mit Entsetzen auf einen<br />

brutalen Krieg inmitten Europas, der vieles verändern wird.<br />

Das ZKM hat über sein Residenzprogramm ukrainische<br />

Künstlerinnen aufgenommen und engagiert sich im Verbund<br />

mit anderen Museen für die Rettung ukrainischer Kunstwerke<br />

aus den Kriegsgebieten.<br />

Auch unterstützen wir weiterhin die Arbeit der internationalen<br />

Organisation Artists at Risk, mit der wir im Herbst 2021 ver -<br />

sucht haben, Künstler:innen aus Afghanistan nach Deutschland<br />

zu holen. Leider ist uns dies damals nicht gelungen,<br />

was angesichts der Entwicklungen auch in Afghanistan sehr<br />

beunruhigend ist.<br />

Wir leben in einer Zeit der großen Krisen und Umbrüche, in<br />

der auch Museen neue Verantwortungen übernehmen müssen.<br />

Unter dem Titel „Art Institutions in the Age of Existential Risks“<br />

war das ZKM ab Oktober 2021 Gastgeber für eine globale<br />

Debatte zu den neuen Herausforderungen. Ab S. 44 finden Sie<br />

einen Beitrag zur ersten Onlinedikussion, unter anderem<br />

mit Max Hollein, dem Direktor des Metropolitan Museum of Art.<br />

Für das Magazin geht ein großer Dank an die Fördergesellschaft<br />

ZKM / HfG e.V., deren Mitglieder uns großzügig<br />

unterstützt haben. Ebenso danke ich dem gesamten Team<br />

des ZKM für die Offenheit, sich auf ein neues Medium und<br />

die damit verbundene Arbeit eingelassen zu haben, sowie<br />

dem Büro 2xGoldstein für die Gestaltung.<br />

Nun gehört das <strong>zkm</strong>agazin Ihnen, den Leserinnen und Lesern.<br />

Schreiben Sie uns gerne, was Sie denken. Sie erreichen uns<br />

unter <strong>magazin</strong>@<strong>zkm</strong>.de.<br />

Helga Huskamp<br />

Geschäftsführende<br />

Vorständin


Inhalt<br />

Pionier über alle Sparten hinweg<br />

Peter Weibel ist ein unermüdlicher Streiter für<br />

Wandel und humanistischen Universalismus<br />

4<br />

Gestern war hier schon Zukunft<br />

Was es bedeutet, als Kurator:in am ZKM zu<br />

arbeiten, das gesellschaftlich rele vante Themen<br />

an der Schnitt stelle von (Medien)Kunst,<br />

Wissenschaft und Technologie verhandelt<br />

16<br />

Arbeiten am Sound der Gegenwart<br />

Der Giga-Hertz-Preis leistet seit 2007 elektronischer<br />

und elektroakustischer Musik Vorschub<br />

22<br />

Das ZKM und Indien – eine große Liebe<br />

Seit 25 Jahren kooperiert das ZKM erfolgreich<br />

mit Goethe-Instituten aus aller Welt. Ein Interview<br />

mit Amruta Nemivant<br />

28<br />

Moderne Arche Noah für Medienkunst<br />

Im Labor für antiquierte Videosysteme bewahrt<br />

Dorcas Müller Medienkunst und Abspielgeräte<br />

für die Nachwelt<br />

It’s not about Money<br />

32<br />

Was sind Non-Fungible Token (NFTs) – und wie<br />

kommen sie ins Museum? Über ein neues Medium<br />

am Beispiel der Sammlung des ZKM<br />

40


Art Institutions in the Age of <br />

Existential Risks.<br />

What to Do? – Die Kulturbranche in Zeiten globaler<br />

Herausforderungen<br />

44<br />

Er ist Materie, sie Information<br />

ZKM-Residency: Künstler:innen-Paar Katrin<br />

Hochschuh und Adam Donovan im Porträt<br />

50<br />

Das Museum von morgen<br />

In den Forschungsprojekten Beyond Matter<br />

und intelligent.museum lotet das ZKM die<br />

Chancen der Digitalisierung für die Zukunft aus<br />

80<br />

Nach den Sternen greifen<br />

Seit 1988 unterstützt die Fördergesellschaft<br />

das ZKM tatkräftig: Hartmut Graf und Leonie<br />

Kroll sind zwei der rund 450 Mitglieder<br />

86<br />

Zum Anfassen. Zum Mitmachen. Für alle.<br />

Die ZKM Museumskommunikation nutzt innovative<br />

Methoden und setzt Standards in Bildungs-<br />

und Vermittlungsarbeit<br />

KI im Hertzen<br />

58<br />

Alle reden von künstlicher Intelligenz – im<br />

Hertz-Labor wird sie als Werkzeug genutzt, um<br />

Kunstwerke zu schaffen<br />

62<br />

Was braucht man zum Aufbau<br />

einer Ausstellung im ZKM?<br />

Die Museumstechnik des ZKM<br />

Eine Liga für sich<br />

90<br />

Jens Lutz und Miriam Stürner verantworten<br />

die hauseigenen Publikationen des ZKM<br />

96<br />

Im Wettlauf gegen die Zeit<br />

Die Restaurierung von Medienkunst steht vor<br />

ganz besonderen Herausforderungen<br />

66<br />

Wer steckt dahinter?<br />

Die Autor:innen des <strong>zkm</strong>agazins<br />

102<br />

Interaktion vorprogrammiert<br />

Yasha Jain arbeitet seit 2020 als Programmiererin<br />

im Hertz-Labor an digitalen Kunst werken<br />

76<br />

Fotoessay<br />

Thomas Meyer, Ostkreuz


Pionier über alle Sparten hinweg<br />

Bevor er 2014 mit seiner Wiener Ausstellung<br />

ganz offiziell als Medienrebell präsentiert<br />

wurde, hatte sich Peter Weibel längst schon<br />

durch etliche spartenübergreifende Produktionen<br />

und entsprechende Auftritte einen<br />

Namen gemacht, auch durch unzählige kunsttheoretische<br />

und philosophische Schriften.<br />

Der 1944 in Odessa geborene, in Österreich<br />

aufgewachsene und einflussreiche Künstlerkurator<br />

und Medientheoretiker, der in den<br />

1980er- und 1990er-Jahren neben seinen drei<br />

zeitgleichen Professuren in New York, Kassel<br />

und Wien viermal den Österreichischen Pavillon<br />

auf der Kunstbiennale in Venedig von 1993<br />

bis 1999 kuratierte, konnte schließlich vor<br />

23 Jahren als künstlerisch-wissenschaftlicher<br />

Vorstand des ZKM seine perfekte Wirkungsstätte<br />

finden. Eine Wirkungsstätte, die er<br />

2023 verlassen wird, um sich – davon dürfen<br />

wir alle ausgehen – vielen weiteren Projekten<br />

zu widmen.<br />

4


Peter Weibel ist ein<br />

unermüdlicher<br />

Streiter für Wandel<br />

und humanistischen<br />

Universalismus<br />

Der Name Peter Weibel steht für schier überbordende Energie, für eine<br />

stets grenzüberschreitende Vielseitigkeit, nicht zuletzt für konsequent<br />

politisches Denken – stets gepaart mit einem guten Schuss Humor. Welcher<br />

Künstler hätte sich in den 1960er-Jahren auf allen Vieren an der<br />

Leine von einer Frau durch die Stadt führen lassen? Diese Aktion von<br />

1968 des damals 24-jährigen Künstlers mit seiner Partnerin Valie Export<br />

unter dem Titel Aus der Mappe der Hundigkeit aus Weibels radikalen<br />

Zeiten in der Wiener Avantgarde bleibt als feministisches Mahnmal unvergesslich.<br />

Konzeptkunst vom Feinsten, ebenso wie die Projekte zum<br />

„erweiterten Kino“, welche die filmischen Produktionsbedingungen dekonstruierten.<br />

Der Blick auf die Anfänge von Weibels Vita liest sich fast schon wie die<br />

eines humanistischen Universalisten, mit denen er sich auch in seinen<br />

philosophischen Schriften gerne befasst. Mit ihnen teilt er den schier<br />

unstillbaren Wissensdrang, vor allem die Abneigung gegenüber undemokratischen<br />

Dogmen sowie das Streben nach sozialer Gerechtigkeit<br />

und Harmonie mit der Natur. Nach dem Studium der Literatur in Paris<br />

sowie der Medizin, Mathematik und Logik in Wien widmet sich Weibel<br />

der Medienkunst, wird höchst produktiver Kurator und Autor von kunstgeschichtlichen,<br />

medientheoretischen sowie philosophischen Schriften.<br />

Sein künstlerisches Oeuvre deckt ein breites Spektrum ab: von experimenteller<br />

Literatur über Performance, Experimentalfilm, Video kunst, TV-<br />

Aktionen, Raum- und Objektkunst bis hin zu Musik. So gründete Peter<br />

Weibel 1978 zusammen mit Loys Egg die Punkband Hotel Morphila Orchester.<br />

Mitte der 1980er-Jahre erforscht er die computergestützte Bearbeitung<br />

von Video, eine Dekade danach realisiert er erste interaktive<br />

computerbasierte Installationen. Parallel dazu gründet er 1989 das Institut<br />

für neue Medien an der Frankfurter Städelschule, das er bis 1995 leitet,<br />

ebenso wird er künstlerischer Leiter der Ars Electronica in Linz von<br />

1986 bis 1995. Von 1992 bis 2011 war er Chefkurator der Neuen Galerie<br />

am Landesmuseum Joanneum in Graz.<br />

Angesprochen auf sein Multitasking verweist Peter Weibel auf ein ihm<br />

sehr bedeutendes Gespräch mit dem US-Künstler Donald Judd, der vor<br />

seiner Karriere als Künstler Kunstkritiken schrieb, diese aber zugunsten<br />

der Kunst aufgegeben hatte, weil man ihn sonst als Künstler nicht ernst<br />

genommen hätte. Judds Entscheidung verweist auf eine bis heute allein<br />

in der deutschen Kunstszene immer noch weit verbreitete Auffassung,<br />

dass Künstler:innen mit Nebentätigkeiten das Risiko des Imageverlustes<br />

eingehen. Weibel vergleicht sich in seiner Doppelfunktion als Künstler<br />

und Kurator gerne mit einem Dirigenten. Dessen Werk besteht darin, andere<br />

Werke zur Aufführung zu bringen, was aber ein Leben als Kompo-<br />

5


Pionier über alle Sparten hinweg<br />

nist nicht ausschließt, und nennt Beispiele von Pierre Boulez bis Peter<br />

Ruzicka. Künstler:innen sind für ihn zudem Gelehrte – ganz wie in der<br />

Renaissance. Mit dieser inter- und transdisziplinären Haltung war Weibel<br />

durchaus ein Pionier, seiner Zeit weit voraus.<br />

Der Zeit voraus und seit seinen Anfängen innovationsreich war auch das<br />

1989 gegründete und seit 1997 in einer ehemaligen Waffen- und Munitionsfabrik<br />

beheimatete ZKM – der Hafen, in dem Peter Weibel 1999 anlegte.<br />

Als Nachfolger des Kunsthistorikers Heinrich Klotz, der das ZKM<br />

als Institution erst einmal vorantrieb und es schon früh als „elektronisches<br />

Bauhaus“ bezeichnete, verwandelte Weibel es sodann in ein digitales<br />

Bauhaus, wobei aus seiner Sicht das ZKM nicht wie das Bauhaus<br />

der Weimarer Republik nur mit Gestaltung, sondern vielmehr mit Codierung<br />

beschäftigt ist.<br />

Da das ZKM sich als ein Ort für Experimente, Forschung und Produktion<br />

versteht und nicht als reines Museum, das heißt als Ort für Ausstellungen<br />

und Sammlung, traf Weibel in Karlsruhe auf ideale Bedingungen.<br />

1994 präsentierte dort etwa der australische Medienkünstler Jeffrey<br />

Shaw, der vorher Künstler an Weibels Institut in Frankfurt war, das Goldene<br />

Kalb (The Golden Calf), eine der ersten Augmented-Reality-Installationen,<br />

die ein virtuelles goldenes Kalb auf einem realen Podest zeigte,<br />

wenn man das Podest durch einen speziellen beweglichen Bildschirm<br />

betrachtete. Von Beginn an waren Weibels Ausstellungen innovativ bis<br />

prophetisch, einflussreich bis wegweisend. Seine erste Ausstellung net_<br />

condition (1999–2000) war die weltweit erste dieser Art in einem Museum,<br />

zu einer Zeit, in der die Kunstwelt noch nicht ahnte, wie sehr das<br />

Internet unsere Gesellschaft verändern würde und es daher ablehnte<br />

oder unwichtig fand. Hier bereits zeigt sich deutlich, was die Ära Weibel<br />

am ZKM ausmacht: In seiner Position als Künstler an der Front der<br />

Forschung war es ihm dank seiner universalistischen Bildung und technischer<br />

Kompetenz möglich, soziale und künstlerische Vorhersagen und<br />

Prophezeiungen zu treffen, die von manchen als Provokation empfunden<br />

wurden. Er wusste ein Laboratorium aus neuen Ideen und Kunstwerken<br />

mit großer Publikumsattraktivität zu verbinden.<br />

Spektakulär war beispielsweise 2001 die erste Präsentation eines künstlichen<br />

Wasserfalls und einer Eisfläche zum Schlittschuhlaufen des damals<br />

völlig unbekannten dänischen Künstlers Ólafur Elíasson am ZKM,<br />

in dessen erster musealer Einzelausstellung, bevor er 2003 durch seine<br />

Installation The Weather Project in der Tate Modern in London weltberühmt<br />

wurde. Auch die nicht nur das kunsttheoretische Vokabular bereichernde<br />

Ausstellung Iconoclash von 2002, gemeinsam kuratiert mit<br />

dem damals nur in Fachkreisen als Wissenschaftshistoriker bekannten<br />

Bruno Latour, der zwanzig Jahre später der meistzitierte lebende Philosoph<br />

Frankreichs wurde, war interdisziplinär und aufsehenerregend.<br />

Das Buch zur Ausstellung, ebenso wie der Katalog zu Ólafur Elíassons<br />

Ausstellung, war der Beginn einer erfolgreichen, immer wieder preisgekrönten<br />

Kooperation mit dem besten Wissenschaftsverlag der Welt, der<br />

MIT Press – übrigens als einziges europäisches Museum. Peter Weibel<br />

steht auch als einziger Museumsdirektor auf Platz 95 nach Hermann<br />

Parzinger, dem Vorstand der Preußischen Kulturstiftung (Platz 94), auf<br />

6


[ Nicht nur unser<br />

Wissen wird durch<br />

die Medientechnologie<br />

erweitert,<br />

sondern durch<br />

Medientechnik ist<br />

ein/e Künstler:in<br />

auch im Stande,<br />

Dinge herzustellen,<br />

die es zuvor auf der<br />

Erde nicht gab …<br />

PETER WEIBEL<br />

7


Pionier über alle Sparten hinweg<br />

der Liste der bedeutendsten deutschen öffentlichen Intellektuellen, die<br />

alle drei Jahre von dem Magazin Cicero erstellt wird. Bei MIT Press sind<br />

bis jetzt mehr als fünfzehn Bücher erschienen, deren globaler Vertrieb<br />

wesentlich zur internationalen Reputation des ZKM und seines Rankings<br />

als viertwichtigste Kunstinstitution der Welt nach der Biennale di Venezia,<br />

dem Museum of Modern Art in New York und dem Centre Pompidou<br />

in Paris von artfacts.net, der größten Kunstdatenbank der Welt, beitrug.<br />

Peter Weibel hat es sich zur Aufgabe gemacht, dass das ZKM stets die<br />

aktuellsten medientechnologischen Thesen und deren künstlerischen<br />

wie sozialen Folgen präsentiert. Die Ausstellung Die algorithmische Revolution<br />

(2004–2008) fand zu einer Zeit statt, in der dieses Wort von<br />

Journalist:innen kaum buchstabiert werden konnte, heute aber ein alltäglicher<br />

Begriff geworden ist. Ebenso hat er früh auf globale Überwachungs-<br />

und Kontrollmechanismen durch das Internet hingewiesen, wie<br />

etwa in der Ausstellung CTRL [Space] (2001–2002), die zwanzig Jahre<br />

später zu Themen von Bestsellern avancierten. Bereits seit 15 Jahren<br />

widmet das ZKM ein ganzes Geschoss wechselnden Ausstellungen zu<br />

Computerspielen und digital gaming. Zum Thema künstliche Intelligenz<br />

veranstaltete das ZKM zahlreiche Symposien, Hackathons und Ausstellungen<br />

wie Open Codes I und II (2017–2019) sowie das Forschungsprojekt<br />

intelligent.museum (2020–2024).<br />

Ein zweites wichtiges Ziel war es, in enzyklopädischer Ausstellungen<br />

die Kunstbewegungen des 20. und 21. Jahr hunderts vorzustellen, die<br />

sich von den vorangegangenen Jahrhunderten ästhetisch unterschieden<br />

und die andere Museen aus fehlenden technischen und theoretischen<br />

Kompetenzen nicht machen konnten, so Future Cinema (2002–<br />

2003), Lichtkunst aus Kunstlicht (2005–2006), Sound Art (2012) sowie<br />

unzähligen Ausstellungen zur Performance- und Aktionskunst, abstrakten<br />

Skulptur, zu Film, Videokunst, Computerkunst, feministischer Avantgarde,<br />

zur Infosphäre und Globalisierung. Von 2006 bis 2012 organisierte<br />

das ZKM gemeinsam mit dem bedeutenden Kunsthistoriker Hans Belting<br />

zahlreiche Symposien und Ausstellungen zum Thema Kunstwelt<br />

und Globalisierung (z. B. The Global Contemporary. Kunstwelten nach<br />

1989 im Jahr 2011–2012).<br />

Ein drittes Ziel war, verdrängte und vergessene Künstlerpersönlichkeiten<br />

und Kunstrichtungen ins öffentliche Bewusstsein zurückzubringen und<br />

damit die Kunstgeschichte umzuschreiben, vielmehr neuzuschreiben.<br />

Er hat viele Künstler:innen wiederentdeckt und ihnen zu „career changing<br />

exhibitions“, wie die New York Times seine Aussstellung zu Lynn<br />

Hershman (Lynn Hershman Leeson: Civic Radar, 2014–2015) beschrieb,<br />

verholfen. Unter dem Ausstellungstitel Thinking The Line wurden 2004<br />

die Werke der 1912 in Hamburg geborenen, in Stuttgart studierenden,<br />

deutsch-venezolanischen Bildhauerin Gertrud Louise Goldschmidt, die<br />

Deutschland wegen ihres jüdischen Glaubens 1939 verlassen musste,<br />

und international als Gego bekannt wurde, erstmals in einem Soloauftritt<br />

in Deutschland präsentiert. <strong>2022</strong> wird sie im Kunstmuseum Stuttgart mit<br />

einer Ausstellung und einem Symposium groß zelebriert.<br />

8


Ebenso war Peter Weibel viertens die Überwindung geopolitischer Grenzen<br />

durch die Kunst wichtig (Bit international. [Nove] tendencije. Computer<br />

und visuelle Forschung. Zagreb 1961–1973, 2008–2009), daher<br />

die Einbindung von Kunst aus Osteuropa und Russland, zahlreichen afrikanischen<br />

Ländern wie dem Senegal und Südafrika (Digital Imaginaries:<br />

Africas in Production, 2018–2019), dem Nahem Osten, Indien und<br />

vor allem China, Japan und Korea (Thermocline of Art. New Asian Waves,<br />

2007) in das Ausstellungs- und Diskursprogramm des ZKM. Darüber<br />

hinaus hatte er in zahlreichen hochkarätig besetzten Symposien<br />

und begleitenden kleineren Ausstellungen aktuelle und entscheidende<br />

Theorien aus Philosophie und Naturwissenschaft, die weit über den normalen<br />

Horizont eines Kunstmuseums hinausreichen, von Max Bense bis<br />

Michel Foucault, von Otto Rössler bis zu Benoît Mandelbrot vorgestellt.<br />

Die von ihm gestalteten Projekte haben den Bekanntheitsgrad des ZKM<br />

nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch in der internationalen<br />

Fachwelt gesteigert, sodass die ebenfalls im Hallenbau mit dem<br />

ZKM ansässige Hochschule für Gestaltung (HfG), die auch von Heinrich<br />

Klotz gegründet wurde, illustre Wissenschaftler:innen und Künstler:innen<br />

als Lehrkräfte gewinnen konnte.<br />

Fünftens war das ZKM erfolgreich und wegweisend bei der Erzeugung<br />

neuer Ausstellungsformate und -typen, wie z. B. der „Gedankenausstellung“,<br />

welche die Partizipation des Publikums in den Mittelpunkt stellten,<br />

also das performative Museum.<br />

Durch seine innovativen Projekte hat das ZKM im Zeitraum von 2014 bis<br />

2019 die meisten Kooperationsprojekte im deutschen Vergleich bewilligt<br />

bekommen laut Mitteilung der Nationalen Kontaktstelle für die Kulturförderung<br />

der Europäischen Union Creative Europe Desk KULTUR und<br />

ist auch einer der meist geförderten Institutionen der Kulturstiftung des<br />

… und dadurch<br />

neue Erfahrungen<br />

und Erkenntnisse<br />

zu ermöglichen. ]<br />

9


Pionier über alle Sparten hinweg<br />

[ Die Kunst hat immer<br />

wieder die<br />

Fähigkeit ge zeigt,<br />

ein seismo -<br />

gra fisches Alarmsystem<br />

zu sein. ]<br />

PETER WEIBEL<br />

Bundes. Während seiner Tätigkeit am ZKM kuratierte Weibel unter anderem<br />

die Biennalen in Sevilla (2008) und in Moskau (2011). Mit Letzterer<br />

verfolgte er seine lange schon reflektierte Idee der Welt als Umschreibeprogramm<br />

und betont in einem Gespräch, dass Krisen nichts<br />

anderes seien als missglückte Umschreibeprogramme. Zwischen 2017<br />

und 2019 realisierte Weibel das außergewöhnliche Ausstellungsprojekt<br />

und Bildungsexperiment Open Codes, ein Synergieprojekt, das Ausstellung,<br />

Wissensplattform, Lebensraum, Treff und Arbeitsstätte zugleich<br />

war, eine Mischung aus intelligentem Klassenzimmer und Club<br />

Méditerranée. Es gab freies WLAN, freien Eintritt, freie Getränke (Kaffee,<br />

Tee, Mineralwasser), freies Obst und komfortable Möbel von Vitra.<br />

Sein Programm für ein Museum der Zukunft lautet: Ein Museum ist nicht<br />

nur eine Sammlung von Objekten, sondern auch eine Versammlung<br />

von Subjekten und zwar von lokalen und nicht-lokalen Besucher:innen.<br />

Das Museum fungiert als Co-Working-Space. Deswegen waren und<br />

sind die Veranstaltungen und Ausstellungen des ZKM seit Jahren eine<br />

„mixed reality“, eine Mischung aus online und offline; real und virtuell.<br />

Diese teilweise Ersetzung von Kunstobjekten durch diskutierende Kollektive<br />

und Gruppen, sei es Künstler-, Wissenschaftler- oder Besuchergruppen,<br />

war eine Vision, die im Jahre <strong>2022</strong> sowohl von der documenta<br />

10


in Kassel wie auch der Biennale di Venezia weitergeführt wird, ebenso<br />

die Verwandlung von einem Ausstellungsgebäude in ein Fernsehstudio.<br />

Daher hat er systematisch und weitblickend das von ihm gegründete<br />

Videostudio im Laufe der Jahre zu einer Sendeanstalt ausgebaut. Als<br />

2020 die Corona-Krise ausbrach, war das ZKM als einziges Museum der<br />

Welt auf deren Effekte vorbereitet und konnte Online-Konferenzen und<br />

Live-Streaming mit eigenen Mitteln außerordentlich erfolgreich durchführen.<br />

Nach den großen kunsthistorischen enzyklopädischen Ausstellungen,<br />

nach den Themenausstellungen zur Wirkung der Medien, zur Digitalisierung<br />

und zur Globalisierung, hat Weibel in den letzten Jahren sich<br />

einem Programm der Biophilie, wie er es nennt, verschrieben, der Liebe<br />

zum Leben in Zeiten der Krise und des Krieges, der Klima- und der<br />

Umweltkrise, mit einem Wort: dem Anthropozän. Damit gibt er dem<br />

Mediendiskurs eine ganz neue Richtung, von der künstlerischen und<br />

sozialen Reflektion zur Biowissenschaft. Wieder mit Bruno Latour entwickelte<br />

er – nach den gemeinsamen Gedankenausstellungen, so der<br />

Name des neuen Ausstellungstypus, Iconoclash (2002), Making Things<br />

Public (2005) und Reset Modernity! (2016) – 2020 die Ausstellung Critical<br />

Zones zum kritischen geophysikalischen Zustand unserer Erde.<br />

Auch diese Ausstellung war trotz der Einschränkungen durch die Covid-<br />

19-Pandemie ein großer Erfolg. Darauf folgte seine Ausstellung BioMedien<br />

(2021–<strong>2022</strong>) und gemeinsam mit dem Naturkundemuseum Karlsruhe<br />

The Beauty of Early Life (<strong>2022</strong>).<br />

Der große in Besucherzahlen messbare Zuspruch und die große internationale<br />

mediale Präsenz der zahlreichen weltweit exportierten Ausstellungen<br />

des ZKM zeigen, das ZKM ist lokal verankert und global vernetzt.<br />

Neben all den Ausstellungen und Projekten erfreut sich das ZKM<br />

in den letzten Jahren einiger global aufsehenerregender Innovationen:<br />

2017 gehört das ZKM neben dem Museum für Angewandte Kunst in<br />

Wien und dem Francisco Carolinum in Linz zu den ersten Kunstinstitutionen<br />

weltweit, die ein NFT erwerben. 2021 war das ZKM auch die<br />

erste öffentliche Kunsteinrichtung weltweit, die NFTs ausstellte – unter<br />

dem Titel CryptoArt. It’s Not About Money. Das ZKM ist also ein Museum,<br />

das Kunstwerke sammelt und ausstellt, aber es ist mehr als ein<br />

Museum, weil es auch forscht, entwickelt und produziert. Deswegen<br />

nennt es sich Zentrum. Hunderte akustische und visuelle Installationen<br />

und Inventionen haben das ZKM in die weite Welt verlassen. Darunter<br />

zahlreiche Werke der VR (Virtual Reality) und AR (Augmented Reality),<br />

immersive interaktive Environments und Ideen für „virtuelle Museen“.<br />

<strong>2022</strong> bis 2023 wird die erste rein digitale Rekonstruktion von historisch<br />

bedeutenden Ausstellungen Les Immatériaux (1985) und Iconoclash<br />

(2002) gemeinsam mit dem Centre Pompidou in der Ausstellung Matter,<br />

Non-Matter, Anti-Matter. Vergangene Ausstellungen als digitale Erfahrungen<br />

im Internet gezeigt.<br />

Freigeistigkeit, Widerständigkeit sowie Furchtlosigkeit dürfte das Markenzeichen<br />

Peter Weibels sein. Sein Blick in die Zukunft ist daher, wie<br />

er sagt, „leicht optimistisch“. Uta M. Reindl<br />

11


Gestern war hier schon Zukunft<br />

[ Kunst kennt<br />

PETER WEIBEL<br />

kein Wochenende. ]<br />

Was es bedeutet,<br />

als Kurator:in am ZKM<br />

zu arbeiten, das<br />

gesellschaftlich rele -<br />

vante Themen an<br />

der Schnitt stelle von<br />

(Medien)Kunst,<br />

Wissenschaft und<br />

Technologie verhandelt<br />

Avantgarde, was sonst? Das ZKM ist mit<br />

vielen seiner Ausstellungen seiner Zeit<br />

voraus. Wie man als Pionier stets die Nase<br />

vorn hat und welche Art von kuratori -<br />

schem Arbeiten dies erfordert, zeigt ein<br />

Gespräch mit den Kurator:innen des ZKM.<br />

16


„Kunst kennt kein Wochenende.“ Dieser Ausspruch von Peter Weibel,<br />

dem langjährigen künstlerisch-wissenschaftlichen Vorstand des ZKM,<br />

verdeutlicht das Selbstverständnis der Mitarbeiter:innen am ZKM. Weibel,<br />

von Haus aus Medienkünstler und Medientheoretiker und seit 1999<br />

Leiter des ZKM, lebt es selbst vor: Mit dem Kopf steckt er in Büchern<br />

und Fachzeitschriften, sprudelt vor Ideen und Gedanken, saugt stets<br />

neue relevante Theorien und Studien auf, die es zu Kunst, Wissenschaft<br />

und Gesellschaft gibt. Peter Weibel bringt eine Neugierde und einen<br />

Wissensdrang mit, die weit über ein durchschnittliches menschliches<br />

Tagespensum hinausragen. Und wer am ZKM kuratorisch arbeitet, wird<br />

vom ersten Tag an als Universaldenker:in eingebunden. So auch Daria<br />

Mille, die seit 2011 am ZKM ist und mittlerweile viele große Themenausstellungen<br />

wie Critical Zones. Horizonte einer neuen Erdpolitik (2020–<br />

<strong>2022</strong>) und BioMedien. Das Zeitalter der Medien mit lebensähnlichem<br />

Verhalten (2021–<strong>2022</strong>) zusammen mit Peter Weibel ko-kuratiert hat.<br />

„Unsere Ausstellungen verschieben stets die Grenzen davon, was man<br />

aktuell als Kunst versteht, und ihre Themen sind oft der Zeit voraus. Das<br />

ist unser Anspruch aus der Tradition heraus. Man denke nur an die Ausstellungen<br />

net_condition 1999–2000, Iconoclash 2002, Making Things<br />

Public 2005, global aCtIVISm 2013–2014 oder Open Codes 2017“, erläutert<br />

Daria Mille den ZKM-Maßstab. Mit ihren eigenen Forschungsschwerpunkten<br />

an der Schnittstelle zwischen Kunst, Wissenschaft, Technologie<br />

und Gesellschaft passt sie perfekt zum Haus. „Die Digitalisierung<br />

war am ZKM längst Thema, bevor eine gesamtgesellschaftliche Diskussion<br />

dazu begonnen hat. Derzeit überspannt die Biophilie leitmotivisch<br />

unsere Themenausstellungen, die am ZKM immer auch aktuell gesellschaftlich<br />

relevant sind.“<br />

Digitalisierung, Globalisierung, <br />

Klimawandel: Im ZKM werden <br />

die relevanten gesellschaft lichen<br />

Fragen behandelt<br />

Neugierig erarbeiten sich kunstinteressierte Kurator:innen weitreichende<br />

Kenntnisse in Kunst und Wissenschaft, schulen sich in differenziertem<br />

Denken in großen Zusammenhängen und erlangen Kompetenz darin,<br />

Strömungen der Gegenwartskunst zu erkennen und sinnstiftende<br />

Querverbindungen zu ziehen. Die Faustregel: Je weiter der intellektuelle<br />

Horizont der Kurator:innen, desto besser für die Ausstellung. Heutzutage<br />

spielen aber nicht nur medientheoretische, künstlerische und<br />

philosophische Diskurse beim kuratorischen Arbeiten im ZKM eine Rolle.<br />

Die Kurator:innen müssen auch ihre eigene Praxis im Zusammenhang<br />

mit solchen gesamtgesellschaftlichen Themen wie Nachhaltigkeit oder<br />

Diversität stets hinterfragen.<br />

17


Gestern war hier schon Zukunft<br />

Am Anfang steht eine Idee<br />

„Aktuelle Metathemen werden oft von Künstler:innen aufgenommen.<br />

Und das ZKM ist spezialisiert darauf, diese Themen sehr früh zu identifizieren<br />

und gemeinsam mit Künstler:innen aus aller Welt in Ausstellungen<br />

zu thematisieren, um einen gesellschaftlichen Diskurs zu eröffnen“,<br />

so erklärt Philipp Ziegler, Leiter des kuratorischen Bereichs, wie<br />

es dazu kommt, dass das ZKM mit seinen großen Themenausstellung<br />

oft die Nase vorn hat und am Puls der Zeit agiert.<br />

Auf diese Weise ist auch die Themenschau Criticial Zones entstanden:<br />

Am Anfang stand eine Idee. Was wäre, wenn man die Erde nicht als<br />

Objekt aus der Ferne, von außen, sondern als ein Netz aus kritischen<br />

Zonen betrachten würde, das von verschiedensten Lebensformen im<br />

Laufe der Zeit erschaffen wurde? Aus diesem Gedanken heraus hat Peter<br />

Weibel gemeinsam mit dem französischen Soziologen Bruno Latour<br />

das umfassende Ausstellungsprojekt Criticial Zones entwickelt und Wissenschaftler:innen<br />

und Künstler:innen aus aller Welt zur Teilnahme online<br />

und vor Ort eingeladen. Beinahe organisch entwickelte sich daraus<br />

die nächste große Themenausstellung: BioMedien. Das Zeitalter der<br />

Medien mit lebensähnlichem Verhalten.<br />

„Häufig entwickeln Künstler:innen zusammen mit dem Hertz-Labor des<br />

ZKM auf der Basis unserer Ausstellungsthese neue künstlerische Arbeiten.<br />

An der Schnittstelle zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft ist<br />

das ZKM so eine Plattform, an der die relevanten Themen unserer Zeit<br />

behandelt werden“, erläutert Philipp Ziegler die ZKM-Methode.<br />

Für Ausstellungen dieser Art ist das kuratorische Team gefordert, weit<br />

über die Grenzen der klassischen Kunst hinaus zu arbeiten. Die internen<br />

PETER WEIBEL<br />

[ Die Aufgabe der<br />

Kunst besteht darin,<br />

Türen zu öffnen,<br />

wo sie keiner sieht. ]<br />

18


und zum Teil auch externen Kurator:innen realisieren Jahr für Jahr zahlreiche<br />

Ausstellungen in unterschiedlichen Größen. Sie stehen im Austausch<br />

mit lokalen, nationalen sowie internationalen Partner:innen, sind<br />

vernetzt mit Künstler:innen auf allen Kontinenten und sind in zahlreichen<br />

nationalen wie auch internationalen Kooperationen und Forschungsverbünden<br />

aktiv.<br />

Über das Hertz-Labor, die transdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsplattform<br />

am ZKM, werden jährlich mehrere Artists-in-Residence-<br />

Programme angeboten, an denen jeweils um die zwanzig Künstler:innen<br />

aus aller Welt die Möglichkeit erhalten, am Haus zu forschen und künstlerische<br />

Arbeiten zu entwickeln. Sie forschen am ZKM mit der Unterstützung<br />

von Softwareentwickler:innen an neuen Entwicklungen der digitalen<br />

Künste – unter anderem über künstliche Intelligenz, Virtual und<br />

Augmented Reality.<br />

Biophilie – die Liebe zum Leben –<br />

ist das Motto des Jahres <strong>2022</strong><br />

„Unser derzeitiges themen- und projektübergreifendes Motto Biophilie<br />

bildet diese Vielfalt sehr gut ab“, erklärt Kuratorin Sarah Donderer, die<br />

aktuell das transdisziplinäre Kooperationsprojekt Driving the Human betreut<br />

und zuletzt die Ausstellung BioMedien ko-kuratiert hat. „Wir zeigen<br />

in <strong>2022</strong> Arbeiten des Künstler:innen-Duos Christa Sommerer und<br />

Laurent Mignonneau in der Einzelausstellung The Artwork as a Living<br />

System, die sich an der Schnittstelle von Kunst, Naturwissenschaft und<br />

Technologie mit der Simulation von Leben auseinandersetzt.“<br />

Die Ausstellung The Beauty of Early Life entsteht in Zusammenarbeit<br />

mit dem Staatlichen Museum für Naturkunde Karlsruhe als Kooperationspartner<br />

und verbindet den wissenschaftlichen Ansatz der Naturkunde<br />

mit zeitgenössischen Positionen der Kunst. In BioMedien wird<br />

ein medientheoretischer Ansatz verfolgt, bei dem in Zusammenarbeit<br />

mit Wissenschaftler:innen und Künstler:innen neue Technologien und<br />

deren Auswirkungen auf das Leben an sich untersucht werden. „Unsere<br />

Präsentation von lebensähnlichem Verhalten durch technische Entitäten<br />

vermittelt eine neue Aussicht auf hybride Ökosysteme, Gesellschaft und<br />

die Zukunft des Lebens auf dem Planeten Erde – und diese muss keineswegs<br />

dystopisch sein. Wir zeigen einen positiven Weg des zukünftigen<br />

Zusammenlebens von künstlichen Intelligenzen, Menschen und Organismen“,<br />

fügt Sarah Donderer hinzu.<br />

Wann ist der Mensch ein Mensch?<br />

Damit sich die Inhalte der Ausstellungen trotz ihrer Komplexität und des<br />

hohen Abstraktionsgrads vermitteln lassen, werden bereits zu Beginn<br />

der Ausstellungskonzeption die Besucher:innen mitgedacht. Wie kann<br />

das vielschichtige, komplexe Thema möglichst nahbar vermittelt und<br />

19


Gestern war hier schon Zukunft<br />

[ Die Präsentation<br />

von lebensähnlichem<br />

Ver halten durch<br />

technische<br />

Entitäten vermittelt<br />

eine neue Aussicht<br />

auf Ökosysteme,<br />

Gesellschaft und<br />

Zukunft. ]<br />

SARAH DONDERER<br />

20


erfahrbar gemacht werden? Wie lässt sich über digitale<br />

und analoge Kanäle ein möglichst vielfältiges<br />

und diverses Publikum erreichen? Meistens gibt es<br />

hierzu nicht die eine Antwort, sondern eine abgestimmte<br />

Mischung aus Instrumenten, die aus einer<br />

Vielzahl an Arbeitstreffen und Ideenrunden mit den<br />

Kolleg:innen der Museumskommunikation, wie der<br />

Bereich der Vermittlung am ZKM heißt, hervorgehen.<br />

Partizipation – Teilhabe lautet hier das Stichwort der<br />

Stunde. Denn die Besucher:innen sollen sich einbringen<br />

können und in Interaktion treten mit der ausgestellten<br />

Kunst. Das kann die Gäste auch mal raus<br />

aus dem ZKM und hinaus auf eine Streuobstwiese<br />

zur Apfelernte führen – wie im Herbst 2021 im Rahmen<br />

der Ausstellung Critical Zones. Auch das ausstellungsübergreifende<br />

Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm<br />

mit dem Titel It’s about Life wird<br />

<strong>2022</strong> die biophilen Themen nicht nur in den Ausstellungen,<br />

sondern auch in Workshops, digitalen Lesezirkeln<br />

und in Filmscreenings auf dem Vorplatz des<br />

ZKM mit den Besucher:innen gemeinsam verhandeln.<br />

Umgekehrt gehen viele Ausstellungen nach ihrer<br />

Laufzeit am ZKM international auf Reisen. Immer stärker<br />

in den Fokus rückt auch das Kuratieren rein digitaler<br />

Ausstellungen. Und es geht auch noch auf die<br />

Metaebene: Mit Projekten wie Beyond Matter und<br />

intelligent.museum (siehe Seite 80–85) forscht das<br />

ZKM im Netzwerk mit anderen nationalen und internationalen<br />

Kunstinstitutionen unmittelbar zu Fragen<br />

über das Ausstellen digital generierter Kunst.<br />

Kunst, Medien, Kunst und Gesellschaft, Kunst und<br />

Umwelt, analog und digital, national und international:<br />

Mit derart vielen Parametern entstehen häufig<br />

großangelegte Forschungs- und Ausstellungsprojekte.<br />

Philipp Ziegler resümiert: „Bei uns am ZKM geraten<br />

enzyklopädische Themenausstellungen so groß<br />

und komplex wie anderswo Biennalen.“<br />

Patrick Krause & Tanja Binder<br />

Ikonische<br />

Sonderausstellungen<br />

1999–2000 net_condition<br />

2001–2002 CRTL [Space].<br />

Rhetorik der Überwachung<br />

2002 Iconoclash.<br />

Jenseits der Bilderkriege<br />

in Wissenschaft,<br />

Religion und Kunst<br />

2004 Die Algorithmische<br />

Revolution. Zur Geschichte<br />

der interaktiven Kunst<br />

2005 Making Things Public.<br />

Atmosphären der Demokratie<br />

2007–2009 YOU_ser. Das<br />

Jahrhundert des Kon sumenten<br />

2011–2012 The Global<br />

Contemporary:<br />

Kunstwelten nach 1989<br />

2013–2014 global aCtIVISm<br />

2015–2016 Globale:<br />

Infosphäre // Exo-Evolution<br />

// Reset Modernity!<br />

2017–2019 Open Codes<br />

2019 Negativer Raum.<br />

Skulptur und Installation<br />

im 20./21. Jahrhundert<br />

2020–<strong>2022</strong> Critical Zones.<br />

Horizonte einer neuen<br />

Erdpolitik<br />

2021–<strong>2022</strong> BioMedien. Das<br />

Zeitalter der Medien mit<br />

lebensähnlichem Verhalten<br />

2023 Renaissance 3.0 –<br />

Neue Allianzen von<br />

Kunst und Wissenschaft<br />

im 21. Jahrhundert<br />

21


Arbeiten am Sound der Gegenwart<br />

Elektronische und elektroakustische Musik,<br />

das war einst wie Musik aus der Zukunft.<br />

Diese Zukunft ist längst im Heute angekommen.<br />

<strong>2022</strong> steht die elektronische Musik<br />

zwischen Tradition und neuen Trends. Das<br />

spiegelt auch der Giga-Hertz-Preis wider,<br />

der jedes Jahr im November vom ZKM und<br />

dem SWR Experimentalstudio vergeben<br />

wird. Im Rahmen eines mehrtägigen Festivals<br />

stehen die vielseitigen experimentellen<br />

Formen elektronischer Musik im Mittelpunkt.<br />

Neben dem Hauptpreis, der an eine Person<br />

für ihr Lebenswerk vergeben wird, gehören<br />

zum Giga-Hertz-Preis auch Produktionspreise.<br />

Sie werden an Künstler:innen verliehen,<br />

die mit aktuellen technischen Mitteln<br />

am Sound der Gegenwart arbeiten – und<br />

dabei auch ein mögliches Morgen mitdenken<br />

und mithören.<br />

22


Der Giga-Hertz-Preis leistet<br />

seit 2007 elektronischer<br />

und elektroakustischer Musik<br />

Vorschub<br />

Den Giga-Hertz-Preis ins Leben zu rufen war eine Idee<br />

von Peter Weibel, um elektronische und elektroakustische<br />

Musik bekannter zu machen. Also ging der künstlerische<br />

Leiter des ZKM 2007 auf Armin Köhler, den damaligen<br />

Redaktionsleiter für Neue Musik beim SWR und<br />

künstlerischen Leiter der Donaueschinger Musiktage,<br />

zu und entwickelte mit ihm die Idee eines gemeinsam<br />

veranstalteten Festivals, dessen Höhepunkt die Preisverleihung<br />

sein sollte. Seit 2007 findet es seither jährlich<br />

am ZKM statt. „Der Preis möchte alle fördern, die<br />

Verdienste in der elektronischen Musik haben. Im Zentrum<br />

steht die Frage: Hat diese Person einen wichtigen<br />

Einfluss auf die elektronische Musik gehabt?“, erklärt<br />

Ludger Brümmer, Komponist am ZKM | Hertz-Labor.<br />

Dieser Einfluss muss nicht zwingend bedeuten, ein<br />

Genre erfunden zu haben, dem Unzählige gefolgt<br />

sind, wie etwa bei Brian Eno (Giga-Hertz-Preis 2014)<br />

und „seiner“ Ambient Music. Preisträger:innen wie<br />

Pauline Oliveros (2012), Éliane Radigue (2019) und<br />

Alvin Lucier (2020) haben höchst individuelle musikalische<br />

Stile, ja Philosophien entwickelt, die für viele<br />

andere Musiker:innen bis heute eine wichtige Inspiration<br />

sind.<br />

Andere Preisträger:innen haben technische Innovationen<br />

hervorgebracht, etwa John Chowning (2013), der<br />

mit der Erfindung der FM-Synthese den (Pop-)Sound<br />

der 1980er-Jahre entscheidend geprägt hat. Ebenso<br />

wie Jean-Claude Risset (2009) hat er es geschafft,<br />

Klangfarben aus der „realen“ Welt mit digitaler Synthese<br />

nachzuformen und zu manipulieren. Curtis Roads’<br />

(2016) größte Errungenschaft wiederum ist sein Buch<br />

The Computer Music Tutorial (MIT Press, 1996), das<br />

quasi zur Bibel der Computermusik geworden ist.<br />

Ich bin überrascht, wie sich die elektronische<br />

Musik weiterentwickelt und die<br />

Musiklandschaft verändert hat. Technologie<br />

und elektronische Musik sind so<br />

omnipräsent geworden, sie gehören zur<br />

alltäglichen Hörerfahrung.<br />

Mark Pilkington<br />

(Produktionspreis 2020)<br />

23


Arbeiten am Sound der Gegenwart<br />

Ludger Brümmer über <br />

Hauptpreisträger:innen <br />

des Giga-Hertz-Preises<br />

Trevor Wishart <br />

(2008)<br />

[ Trevor Wishart hat der elektronischen<br />

Musik das Elitäre genommen und sie breiter<br />

verfügbar gemacht. Er hat etwa Phase­<br />

Vocoder-Programme für Atari-Computer<br />

umgeschrieben und sie so nutzbar für<br />

viele gemacht; er hat außerdem das Composers<br />

Desktop Project (CDP) initiiert,<br />

dessen Kompositionssoftware frei verfügbar<br />

ist. Das war revolutionär. ]<br />

<br />

Gottfried Michael Koenig<br />

(2010)<br />

[ Hat diese<br />

Person einen<br />

wichtigen<br />

Einfluss<br />

auf die<br />

elektronische<br />

Musik<br />

gehabt? ]<br />

LUDGER BRÜMMER<br />

[ Koenig fanden wir als Komponist stark<br />

unterbewertet. Wir wollten sein Werk und<br />

seine Leistungen mit dem Giga-Hertz­<br />

Preis in die öffentliche Wahrnehmung rücken.<br />

Er steht für keine bestimmte musikalische<br />

Richtung, er hat aber einiges im Bereich der<br />

Noise-Musik oder der maschinenorientierten<br />

Komposition in Bewegung gebracht.<br />

Heute orientieren sich viele Studierende<br />

an Koenigs Aspekten von komplexem, analogem<br />

Noise. Er war außerdem ein Vorreiter<br />

auf dem Gebiet der künstlichen Kreativität. ]<br />

Pierre Boulez<br />

(2011)<br />

[ Pierre Boulez ist eher als Dirigent und als<br />

Komponist instrumentaler Musik bekannt.<br />

Wir haben ihm den Preis vor allem für seine<br />

politischen Bemühungen um die elektronische<br />

Musik verliehen. Boulez hat sich dafür<br />

24


eingesetzt, dass mit dem IRCAM (Institut<br />

de recherche et coordination acoustique/<br />

musique) in Paris das weltweit größte<br />

Zentrum für elektronische Musik gegründet<br />

werden konnte. Damit hat er einen gro ­<br />

ßen Anteil an der Entwicklung bestimmter<br />

musikalischer Richtungen, etwa der Live-<br />

Elektronik. ]<br />

Brian Eno<br />

(2014)<br />

[ Nie wurde eine Entscheidung nur wegen<br />

der Bekanntheit einer Person getroffen –<br />

auch bei Brian Eno nicht. Immer war<br />

ein klarer Aspekt bei der Entscheidungsfindung:<br />

Was hat die Person erreicht?<br />

Bei Brian Eno ist es natürlich das Konzept<br />

der Ambient Music. Er hat Ambient<br />

quasi erfunden, dabei sehr konzeptionell<br />

gedacht und mit Bandschleifen gear ­<br />

beitet, wie auch bereits Karlheinz Stockhausen.<br />

Eno hatte dabei nicht die Ab ­<br />

sicht, damit Geld zu verdienen, er wollte<br />

sich mit neuen Ideen künstlerisch durchsetzen.<br />

]<br />

Laurie Anderson<br />

(2017)<br />

The Hub<br />

(2018)<br />

[ Es gibt Künstler:innen, die ein breites<br />

Publikum erreicht haben, wie Pierre Boulez.<br />

Andere wurden eher von der Fachwelt<br />

wahrgenommen, haben aber dennoch<br />

wichtige Spuren hinterlassen. Die Musik des<br />

Com puter-Netzwerkmusik-Ensembles<br />

The Hub kennt kaum jemand. Auf das musikalische<br />

Denken von heute hatten sie<br />

aber enorme Auswirkungen. Live-Coding,<br />

Circuit-Bending, Netzwerkmusik – The<br />

Hub haben viele heute verbreitete Techniken<br />

schon verwendet, bevor es die Begriffe<br />

dafür überhaupt gab. ]<br />

Christina Kubisch<br />

(2021)<br />

[ Christina Kubisch hat die Artikulationsform<br />

der Klanginstallation entscheidend mitgeprägt.<br />

Als das ZKM 1997 in den Hallenbau<br />

zog, war die Installation noch ein<br />

visuelles Genre, kein klangliches. Mittlerweile<br />

sind Klanginstallationen autonome<br />

musikalische Werke. Daran hat Christina<br />

Kubisch großen Anteil. ]<br />

[ Laurie Anderson kommt ursprünglich aus<br />

der eher konzeptuellen Kunstszene um<br />

Installation und Performance. In die hat sie<br />

eigens gebaute Klangerzeuger eingebracht<br />

und damit eine konzertante Musiksprache<br />

entwickelt, in der Technologie eine<br />

wichtige Rolle spielt. ]<br />

25


Arbeiten am Sound der Gegenwart<br />

Produktionspreise:<br />

Inspiration<br />

und Experiment<br />

Neben dem Hauptpreis gehören zum Giga-Hertz-Preis<br />

auch die Produktionspreise, von denen derzeit zwei<br />

pro Jahr vergeben werden. Zweimal wurde außerdem<br />

ein Preis für Sound Art vergeben – 2012 für das audiovisuelle<br />

Künstlerduo Ryoji Ikeda und Carsten Nicolai<br />

und 2013 für Pierre Henry, den Pionier der Musique<br />

concrète. Anders als beim Hauptpreis, der von einer<br />

Jury vergeben wird, kann man sich auf den Produktionspreis<br />

bewerben. Damit verbunden ist ein Produktionsstipendium<br />

am ZKM oder im SWR Experimentalstudio<br />

in Freiburg. Hier finden die Künstler:innen nicht nur<br />

exzellente technische Bedingungen vor, sondern sie<br />

können sich auch miteinander austauschen.<br />

„Es kann sehr bereichernd sein, eine Institution wie<br />

das ZKM kennenzulernen und sich durch die Ausstellungen<br />

dort inspirieren zu lassen“, bekräftigt Ludger<br />

Brümmer. Manche schätzen die Ruhe und Konzentration<br />

bei der Arbeit als Gast im Studio, einige finden<br />

erst hier einen Raum mit guter Akustik, während sie<br />

zuhause nur mit Kopfhörern Musik machen können.<br />

Der Giga-Hertz-Preis kann Startschuss für eine Karriere<br />

oder für neue Experimente in der künstlerischen<br />

Arbeit sein. André Damiao, Produktionspreisträger<br />

von 2021, wird am ZKM ein Multimediastück<br />

entwickeln, das sich mit der gesellschaftlichen Situation<br />

seiner Heimat Brasilien auseinandersetzt. Dort<br />

sammelt er Interviews, Feldaufnahmen und entwickelt<br />

eine Software zur Analyse dieser Daten. Yvette<br />

Janine Jackson, ebenfalls Produktionspreisträgerin<br />

von 2021, arbeitet im SWR Experimentalstudio an<br />

einer interaktiven „Radiooper“ – einer Mischung aus<br />

elektroakustischer Musik, Soundeffekten, Dialog und<br />

Erzählung.<br />

Der Preis spornt mich wirklich an, in<br />

solch düsteren Zeiten wie den heutigen<br />

weiterzuarbeiten.<br />

André Damiao<br />

(Produktionspreis 2021)<br />

Elektronische Musik geht zurück auf Instrumente wie<br />

das Theremin oder die Ondes Martenot – beide bereits<br />

rund 100 Jahre alt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat<br />

die Entwicklung der elektronischen und elektroakustischen<br />

Musik an Fahrt aufgenommen und sich bis heute<br />

vom akademischen Spezialistentum zu einem Breitenphänomen<br />

entwickelt. Allein in den knapp 15 Jahren,<br />

die der Giga-Hertz-Preis existiert, ist viel geschehen.<br />

Zu klassischen Genres experimenteller elektronischer<br />

Musik wie akusmatischer Musik, Live-Elektronik oder<br />

Soundscape haben sich Strömungen wie Live-Coding,<br />

Künstliche Intelligenz, digitale Interfaces oder Musik<br />

mit Biomedien gesellt. Das spiegelt auch der Giga-<br />

Hertz-Preis wider. In seinen jährlichen Ausschreibungen<br />

setzt er thematische Schwerpunkte – 2021 waren<br />

es Biomedien – wobei nicht alle eingereichten und prämierten<br />

Werke sich auf diesen gesetzten Schwerpunkt<br />

beziehen müssen. Auch Künstler:innen mit popkulturellen<br />

Hintergründen bringen zunehmend neue Klangsprachen<br />

in die experimentelle Elektronik.<br />

Mit dem Begriff „Radiooper“ beschreibe<br />

ich meine elektroakustischen Kompo ­<br />

si tionen, in denen ich Musik, Dialog und<br />

Soundeffekte als Ausgangsmaterial<br />

für serielle Klang-Erzählungen verwende.<br />

Yvette Janine Jackson<br />

(Produktionspreis 2021)<br />

Internationalisierung<br />

und Globalität<br />

Ludger Brümmer verrät, dass die Einreichungen für den<br />

Giga-Hertz-Preis internationaler geworden sind. In den<br />

letzten Jahren sickern immer mehr ästhetische Einflüsse<br />

jenseits der etablierten Szenen Europas und Nordamerikas<br />

in unsere westliche Wahrnehmung von elektronischer<br />

Musik.<br />

„Die elektronische Musik nimmt alles so unheimlich offen<br />

auf“, sagt Brümmer. „Das geschieht ganz von alleine,<br />

selbst wenn wir es hier nicht mitbekommen. Für die<br />

Instrumentalmusik mit ihren vielen Nationalstilen ist das<br />

teils problematischer. Ich halte die elektronische Musik<br />

letztendlich für barrierefreier.“<br />

Zwar ist es in manchen Teilen der Welt nicht einfach, an<br />

ein elektronisches Musikinstrument oder einen Computer<br />

mit Internetanschluss zu kommen. Hat man diese<br />

Hürde aber überwunden, so öffnet sich laut Brümmer<br />

26


ein großer, zugangsfreier Raum. „Diese Ästhetik und<br />

diese Technologien sind sehr offen. Es ist an vielen Orten<br />

einfacher, an einen Computer zum Musik machen<br />

zu gelangen als ein Ensemble mit zehn Instrumentalist:innen<br />

zu gründen.“<br />

Vielfalt in jeglicher Hinsicht beschreibt den Status<br />

quo elektronischer Musik <strong>2022</strong>. Der Giga-Hertz-Preis<br />

wird weiter genau hinhorchen.<br />

Friedemann Dupelius<br />

[ Ich halte<br />

die elektronische<br />

Musik<br />

letztendlich<br />

für barrierefreier.<br />

]<br />

LUDGER BRÜMMER<br />

Kleines Begriffslexikon<br />

Akusmatische Musik: Elektronische<br />

Musik, bei deren<br />

Aufführung nur Lautsprecher<br />

zum Einsatz kommen und<br />

zu sehen sind.<br />

Biomedien: Verschiedene<br />

Bedeutungen möglich –<br />

beispielsweise lebensähnliche<br />

Technologien wie Algorithmen,<br />

die nach genetischen<br />

Prinzipien<br />

funktionieren, oder auch<br />

Technik, die mit organischen<br />

Materialien arbeitet<br />

(etwa Bakterien).<br />

Circuit-Bending: Kurzschließen<br />

von Instrumenten<br />

und Elektronikgeräten zur<br />

Gewinnung neuer Sounds.<br />

Live-Coding: Live-Erzeugung<br />

von elektronischer<br />

Musik in Echtzeit mit Programmcode.<br />

Live-Elektronik: Die Verbindung<br />

eines akustischen<br />

Instruments mit Elektronik,<br />

die auf die Instrumentalklänge<br />

reagiert oder<br />

sie erweitert und verändert.<br />

Netzwerkmusik: Gemeinsam<br />

Musikmachen – meist in improvisierter<br />

Form – über<br />

lokale Computernetzwerke<br />

oder das Internet.<br />

Soundscape: Begriff von<br />

R. Murray Schafer, der eine<br />

klingende Umgebung in<br />

ihrer Gesamtheit bezeichnet<br />

(etwa der Soundscape<br />

von Karlsruhe oder des<br />

Schwarzwalds).<br />

27


Das ZKM und Indien – eine große Liebe<br />

Seit 25 Jahren kooperiert das ZKM<br />

erfolgreich mit Goethe-Instituten in aller Welt.<br />

Ein Interview mit Amruta Nemivant<br />

Amruta Nemivant ist Programmmanagerin in<br />

der Kulturabteilung des Goethe-Instituts /<br />

Max Mueller Bhavans in Mumbai. In einem<br />

Online-Videogespräch erzählt sie uns, wie bekannt<br />

das ZKM in Indien ist, warum jede<br />

Ausstellung für Indien neu gedacht werden<br />

muss und wieso 100.000 Besucher:innen<br />

für die ZKM-Ausstellung Open Codes ein außergewöhnlicher<br />

Erfolg sind.<br />

28


Guten Tag Frau Nemivant. Das ZKM<br />

und das Goethe-Institut / Max<br />

Mueller Bhavan in Mumbai arbeiten<br />

seit Jahren erfolgreich zusammen.<br />

Kürzlich haben Sie die Ausstellung<br />

Open Codes gezeigt. Wie kam es zu<br />

dieser Kooperation?<br />

[ Ende 2017 gab es ein kulturelles Austauschprogramm<br />

zwischen Indien und Baden-<br />

Württemberg. Für uns lag eine Kooperation<br />

mit dem ZKM auf der Hand, denn das ZKM<br />

ist in Indien im Kultursektor sehr berühmt.<br />

Wir schätzen das ZKM für seine fantastischen<br />

Ausstellungen und waren sehr gespannt,<br />

was das ZKM für eine Zusammenarbeit<br />

mit uns vorschlagen würde. Es<br />

war dann wirklich ein Zufall, dass mein erstes<br />

gemeinsames Projekt die Ausstellung<br />

Open Codes gewesen ist. Ein Projekt, das<br />

sich unmittelbar auf Coding bezieht –<br />

entsprechend erfolgreich war die Ausstellung<br />

bei uns in Mumbai. Dabei war es<br />

für uns in Indien damals vollkommen neu,<br />

Kunst und Technologie so zu verbinden<br />

und die Besucher:innen aufzufordern, selbst<br />

zu interagieren. ]<br />

Indien gilt in Deutschland als das<br />

„Land der Programmierer“, viele<br />

haben für deutsche Unternehmen<br />

gearbeitet oder sind direkt hierhergekommen<br />

…<br />

[ Ja, man hat es hier als „deutsche Green<br />

Card“ vermarktet. ]<br />

Wie zeigt das Goethe-Institut in<br />

Mumbai eine Ausstellung wie Open<br />

Codes?<br />

[ Das Goethe-Institut hat in Indien eine<br />

große Bedeutung und somit viele Kontakte<br />

in die Kunst- und Kulturszene vor Ort.<br />

Hier in Mumbai haben wir sogar eigene<br />

Räume, in denen wir regelmäßig Ausstellungen<br />

zu zeitgenössischer Kunst aus<br />

Deutschland und Indien zeigen. Das Zusammenführen<br />

beider Kulturen bildet<br />

den Kern unserer Aufgabe. Wir übernehmen<br />

also keine Ausstellungen im Ganzen,<br />

sondern kuratieren sie nochmal eigens für<br />

uns. Natürlich hat das auch mit unseren<br />

finanziellen und logistischen Möglichkeiten<br />

zu tun.<br />

ZKM-Ausstellungen sind oftmals riesig und<br />

wir verfügen vor Ort dann doch nur über<br />

300 Quadratmeter. Das bedeutet, Ausstellungen<br />

auf Objekte einzugrenzen oder<br />

diese kleiner darstellen zu müssen. Dazu<br />

gehört Kreativität. In einem Fall haben wir<br />

eine Installation auf LED-Banner gezeigt,<br />

sonst hätte allein dieses Kunstwerk den<br />

gesamten Raum eingenommen. Auf diese<br />

Weise mussten viele Objekte rekonfiguriert<br />

werden, um in Mumbai zu funktionieren. ]<br />

Wie sieht es inhaltlich aus?<br />

Gibt es Kunstwerke, die<br />

zu sehr ein westliches kulturelles<br />

Verständnis bemühen?<br />

[ Natürlich berücksichtigen wir die unterschiedlichen<br />

kulturellen Kontexte. Wir<br />

können nicht jedes Werk einfach so zeigen<br />

und davon ausgehen, dass die Menschen<br />

hier in Indien den gleichen Zugang zu<br />

der künstlerischen Arbeiten haben wie<br />

deutsche Besucher:innen. Das ist nicht<br />

immer nur eine Frage der Übersetzung in<br />

die Hindi-Sprache. Umso enger arbeiten<br />

wir mit den Kurator:innen des ZKM<br />

zusammen, um für uns in Mumbai eine<br />

Ausstellung zu kuratieren, die auch hier zu<br />

vermitteln ist. ]<br />

Wie werden Ihre Ausstellungen<br />

beim Publikum angenommen?<br />

[ Die Reaktion auf Open Codes war fantastisch.<br />

Zu Beginn waren die Besucher:innen<br />

etwas schüchtern, besonders als sie<br />

29


Das ZKM und Indien – eine große Liebe<br />

[ Open Codes<br />

wurde zu einer<br />

der erfolgreichsten<br />

Ausstellungen<br />

der letzten Jahre<br />

in Mumbai. ]<br />

AMRUTA<br />

NEMIVANT<br />

merkten, dass man interagieren soll, ja<br />

muss, um etwas davon zu haben. Das<br />

Bewusstsein für Kunst ist in Indien anders<br />

gelagert, man hat hohen Respekt<br />

gegenüber den künstlerischen Werken.<br />

In Indien ist es üblich, im Museum nicht zu<br />

sprechen und nichts zu berühren. In<br />

Open Codes ging es ja aber gerade darum,<br />

das Smartphone zu nutzen und mitzumachen,<br />

sich auszutauschen. Das war für<br />

alle zunächst fremd, aber unsere Besucher:innen<br />

haben schnell gelernt und<br />

Open Codes wurde zu einer der erfolgreichsten<br />

Ausstellungen der letzten Jahre<br />

in Mumbai.<br />

Auch die Hackathons, die wir im Rahmen<br />

von Open Codes organisiert haben, waren<br />

extrem beliebt; viele Leute, die vorher nie<br />

mit Kunst in Berührung waren, besuchten<br />

die Veranstaltung. Student:innen und<br />

Kinder kamen und es war für die meisten<br />

eine neue Erfahrung.<br />

Open Codes hatte hier rund 100.000 Besucher.<br />

Zur Ausstellung kamen bis zu 5.000<br />

Menschen pro Tag; das ist nicht schlecht,<br />

aber angesichts einer 20-Millionen-<br />

Stadt in einem Land mit einer Milliarde<br />

Einwohner:innen noch ausbaufähig! ]<br />

Ist Ihr Publikum im Durchschnitt<br />

recht jung?<br />

[ Es ist unterschiedlich. Wir haben junge<br />

und ältere Besucher:innen. Aber natürlich<br />

kommen viele zu den ZKM-Ausstellungen,<br />

weil sie sich für elektronische Gadgets,<br />

Musik oder Gaming interessieren. Wir<br />

haben auch ein älteres Publikum, das sich<br />

zum Beispiel mit Ökologie beschäftigt. ]<br />

30


Das Goethe-Institut<br />

und<br />

das ZKM | Karlsruhe<br />

Die fruchtbare Zusammenarbeit<br />

des ZKM mit dem<br />

Goethe-Institut dauert bereits<br />

seit 1997 an und<br />

hat bisher 20 Ausstellungen,<br />

zehn Projekte, eine<br />

Oper und unzählige Veranstaltungen<br />

hervorgebracht.<br />

Einige der wichtigen<br />

Kooperationen<br />

waren:<br />

2001–2005<br />

Medien-Kunst-Netz,<br />

https://<strong>zkm</strong>.de/de/projekt/<br />

medien-kunst-netz<br />

2008–2010<br />

Amazonas. Musiktheater<br />

in drei Teilen,<br />

https://<strong>zkm</strong>.de/de/<br />

projekt/amazonas<br />

2017–2019<br />

Global Control and Censorhship,<br />

https://<br />

<strong>zkm</strong>.de/en/project/<br />

global-control-andcensorship<br />

2017–2020<br />

Games and Politics,<br />

https://<strong>zkm</strong>.de/de/projekt/<br />

games-and-politics<br />

2013–2017<br />

AppArtAward auf Reisen,<br />

die Stationen waren<br />

Peking/China, Montréal/<br />

Kanada, Seoul/Südkorea,<br />

Los Angeles/USA, Mexico<br />

City/Mexiko u. a., https://<br />

<strong>zkm</strong>.de/de/forschungproduktion/awards/<br />

appartaward/der-appartaward-auf-reisen<br />

Was ist Ihr nächstes ZKM-Projekt<br />

in Mumbai?<br />

[ Aktuell arbeiten wir gemeinsam mit dem<br />

kuratorischen Team des ZKM daran, die<br />

Ausstellung Critical Zones ab August <strong>2022</strong><br />

zunächst in Mumbai und anschließend<br />

noch an vier oder fünf weiteren Stationen<br />

in Indien und Sri Lanka zu zeigen. Es<br />

fügt sich mit dem ZKM sehr glücklich, dass<br />

wir oft kontextualisierte Kunst zeigen<br />

können, in der sich globale Themen mit<br />

Kunst verknüpfen. ]<br />

Wie wird Ihrer Meinung nach Critical<br />

Zones angenommen werden – eine<br />

Ausstellung, die weniger spielerisch<br />

ist und die Klimakrise thematisiert?<br />

[ Intellektuelle Debatten über Ökologie<br />

sind in der indischen Gesellschaft<br />

tief verankert. Es gibt bei uns viele Wissenschaftler:innen<br />

und Historiker:innen,<br />

die das Thema auf ein globales Level heben.<br />

Wir veranstalten viele Panels zum Thema<br />

Ökologie, insofern ist eine Kunstausstellung<br />

zu diesem Thema sehr willkommen.<br />

Natürlich gibt es in Indien andere Ansätze<br />

und Perspektiven zur Klimakrise. Aber<br />

das ist ja gerade der Sinn eines Austauschs,<br />

Impulse zu setzen und andere Perspektiven<br />

zu gewinnen! Wir sind sehr zuversichtlich,<br />

dass es da zu einem anregenden<br />

Dialog kommt. Das Interesse an Philosophie<br />

und Wissenschaft ist in Indien groß. Zu<br />

unseren Vorlesungen, die sich überwiegend<br />

der deutschen Philosophie von Kant<br />

bis Habermas widmen, kommen jeden<br />

Samstag rund 150 Studierende und Professor:innen<br />

ins Goethe-Institut. ]<br />

Liebe Frau Nemivant, ich bedanke<br />

mich ganz herzlich für das Gespräch!<br />

Interview: Patrick Krause<br />

31


Moderne Arche Noah für Medienkunst<br />

Im Labor<br />

für antiquierte<br />

Videosysteme<br />

bewahrt<br />

Dorcas Müller<br />

Medienkunst<br />

und Abspielgeräte<br />

für<br />

die Nachwelt<br />

Kulturgut sichern ist die Aufgabe von Dorcas<br />

Müller. Im Labor für antiquierte Video systeme<br />

sorgt sie dafür, dass Medienkunstwerke<br />

und historische Abspielgeräte für die Nachwelt<br />

erhalten werden. Denn die seit Mitte der<br />

1960er-Jahre erschaffenen Videokunstwerke<br />

auf magnetischen Trägermedien sind durch ihre<br />

materielle Alterung akut bedroht und werden<br />

in wenigen Jahren nicht mehr lesbar sein.<br />

32


„Das ist mein Arbeitsplatz“, sagt Dorcas Müller, Leiterin des Labors für<br />

antiquierte Videosysteme. „Antiquierte Videosysteme“, das klingt nach<br />

einer Sammlung musealer Technik. Der erste Blick in den Nebenraum<br />

des Labors fällt auf etwa 2.000 Videokassetten, die zuvor jahrelang unberührt<br />

in Ateliers oder Kellern von Künstler:innen lagerten. Dorcas Müllers<br />

Job besteht unter anderem darin, diese Videowerke zu digitalisieren.<br />

Ein lebensgroßes Foto eines nackten Mannes mit einer eckigen Schultertasche<br />

und einer Kamera hängt am Eingang des Labors. „Das ist Michael<br />

Shamberg mit einem Portapak, das erste tragbare Sony-Videogerät,<br />

das 1967 auf den Markt kam“, klärt Dorcas Müller auf. Shamberg<br />

war in den 1960er-Jahren als Videoaktivist Mitbegründer des berühmten<br />

New Yorker Videokollektivs Raindance Corporation, das Videokunst<br />

als neue Form gegen-kultureller Kommunikation propagierte. „Er wurde<br />

später übrigens Produzent in Hollywood, unter anderem von Tarantino-Filmen“,<br />

weiß Müller. Das Frühwerk der Raindance Corporation zu erhalten,<br />

ist eine der Aufgaben von Dorcas Müller im Labor für antiquierte<br />

Videosysteme. Das Gerät, um das historische Magnetband auslesen<br />

zu können, steht bereit.<br />

Die erste tragbare Videoausrüstung<br />

gibt 1967 den Startschuss<br />

Der Portapak, dieses erste tragbare Videogerät, stellt einen Meilenstein<br />

in der Geschichte der Videokunst dar, weil es die Produktion von Videos<br />

demokratisierte und breite Zugänge schaffte. Entsprechend begeistert<br />

reagierte die Kunstwelt 1967. Dass der Portapak damals den Gegenwert<br />

eines VW-Käfers kostete, hielt die Künstler:innen nicht vom Kauf ab. Sie<br />

schlossen sich kurzerhand zu Kollektiven zusammen und teilten sich<br />

das Equipment.<br />

Doch was faszinierte die Kunstwelt an der Videotechnik? Statt Stunden<br />

oder Tage darauf zu warten, dass der Film in einem Labor entwickelt<br />

wurde, konnten die Aufnahmen direkt betrachtet werden. Die Möglichkeit,<br />

Bänder immer wieder neu zu bespielen, anstatt teures Filmmaterial<br />

zu kaufen, ermutigte die Künstler:innen zu experimentieren.<br />

Mit Videokunst dem<br />

Massenmedium Fernsehen etwas<br />

entgegensetzen<br />

Darüber hinaus zeigten die Bilder, die über die heimischen Fernsehmonitore<br />

flimmerten, einen sehr beschränkten Ausschnitt der Welt. Mit<br />

der Videotechnik konnten die Künstler:innen selbst elektronische Bilder<br />

erzeugen und auch jene Menschen, Ereignisse und Lebensentwürfe<br />

sichtbar machen, die nicht den Normen der großen Fernsehsender<br />

entsprachen. So entstanden Tausende von Videokunstwerken.<br />

33


Moderne Arche Noah für Medienkunst<br />

Videokunst hat jedoch ein Verfallsdatum: Bänder zerfallen, historische<br />

Abspielgeräte werden nicht mehr hergestellt, Ersatzteile werden knapp.<br />

In 15 Jahren sind es rund 15.000 Bänder, die das Labor für antiquierte<br />

Videosysteme der Kunst und der Nachwelt erhalten hat. Das Gesamtvolumen<br />

der Digitalisate beläuft sich mittlerweile auf über ein Petabyte –<br />

das entspricht 1.000 Terrabyte. Die riesigen Datenmengen werden auf<br />

speziellen Magnetbändern gespeichert, die überraschenderweise noch<br />

immer als das sicherste, kostengünstigste und umweltfreundlichste Medium<br />

für die Langzeitarchivierung gelten.<br />

Was im Labor einheitlich wirkt, kam als große Unübersichtlichkeit: Wer<br />

erinnert sich noch an den „Formatkrieg“ zwischen Betamax, VHS und<br />

Video 2000, der Ende der 1970er-Jahre begann? Auch weit vorher gab<br />

es Video und zwar in Form von großen und kleinen Halbzollspulen –<br />

bis die Firmen Grundig und Philips im Jahr 1971 das erste erfolgreiche<br />

Heimvideo in Kassettenform, das VCR-System, vorstellten. Mehr als 100<br />

unterschiedliche Consumer-Formate kamen in den vergangenen 60 Jahren<br />

auf den Markt. Im Labor stehen Geräte bereit, um über 50 dieser<br />

Video formate aus aller Welt abzuspielen und zu digitalisieren.<br />

Wo „Beuys“ draufsteht,<br />

ist auch Beuys drin <br />

Der Bedarf an Restaurierung ist hoch. In der Mitte des Labors steht eine<br />

Kiste mit der schlichten Aufschrift „Beuys“: Videobänder von Performances,<br />

Dokumentationen von Ausstellungen, die aus Mangel an technischem<br />

Equipment seit Jahrzehnten nicht mehr abspielbar waren. Absender:<br />

das Pariser Centre Pompidou. „Eine der Institutionen, die viel<br />

Videokunst haben und nicht mehr über die Abspielgeräte verfügen“, erklärt<br />

Dorcas Müller. Unter ihrer Hand wird das Flimmern auf dem alten<br />

Bildschirm zur konturierten Dokumentation der Ausstellung Richtkräfte<br />

in Berlin 1977, die Joseph Beuys im Begriff ist aufzubauen – und wir sind<br />

die ersten Zuschauer:innen seit Jahrzehnten.<br />

Neben diesem Monitor erstreckt sich eine ganze Landschaft alter Videogeräte<br />

über den Raum: Es ist eben kein Museum, sondern ein Labor.<br />

Fast ständig rotiert einer der silbernen, gut gealterten Apparate, denn<br />

es herrscht ein hohes Arbeitstempo, um dem Verfall der Medien rechtzeitig<br />

begegnen zu können.<br />

Videokunstwerke für die Nachwelt<br />

erhalten <br />

Fast wöchentlich erreichen Lieferungen wie die Beuys-Videos aus Paris<br />

das ZKM-Labor. Absender sind nicht nur Institutionen, sondern auch<br />

Künstler:innen oder ihre Nachkommen, die Werke bewahren wollen.<br />

Nach dem Tod des legendären Krautrock-Musikers Holger Czukay (CAN)<br />

schickte seine Familie Kisten mit Aufzeichnungen seiner Konzertauftritte.<br />

Die übliche Vereinbarung, die mit den Künstler:innen getroffen wird,<br />

34


[ … und nicht<br />

mehr über<br />

die Abspielgeräte<br />

verfügen. ]<br />

DORCAS MÜLLER<br />

ist eine Mischkalkulation: Das Labor digitalisiert, eine<br />

Kopie geht ins eigene Recherchearchiv, um in einer<br />

ZKM-Ausstellung oder für wissenschaftliche Forschungsprojekte<br />

verwendet werden zu können, eine<br />

weitere zurück zu den Auftraggebern, die frei über<br />

sie verfügen können.<br />

Labor für antiquierte<br />

Videosysteme<br />

Das Labor für antiquierte<br />

Videosysteme (im Jahr 2004<br />

gegründet von Christoph<br />

Blase und Peter Weibel) unterhält<br />

eine Sammlung<br />

lauffähiger originaler<br />

Videogeräte<br />

der vergangenen Jahrzehnte:<br />

von den ersten Consumer-<br />

Videosystemen auf offener<br />

Spule bis hin zu heute<br />

noch aktuellen Kassettenformaten.<br />

Mit seinem Maschinenpark<br />

von mehr als 300 Geräten<br />

ist das Labor in der<br />

Lage, fast 50 historische<br />

Videoformate hochwertig<br />

zu digitalisieren und zu<br />

restaurieren.<br />

Aufgrund der großen Fragilität<br />

der im Labor entstehenden<br />

digitalen Daten<br />

gehört deren Spiegelung<br />

zu den zentralen Aufgaben:<br />

Daten werden kopiert und<br />

auf zeitüblichen Datenträgern<br />

an verschiedenen<br />

Orten aufbewahrt.<br />

Das Werk des amerikanisch-italienischen Künstlers<br />

Aldo Tambellini wurde dank der Arbeit des Labors in<br />

der Kunstwelt ebenso wiederentdeckt wie die wegweisenden<br />

Aktivitäten der New Yorker Raindance Corporation.<br />

Und wenn schon das Centre Pompidou oder<br />

das MIT (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge,<br />

MA) ihre wertvollen historischen Bänder ans<br />

ZKM schicken, so ist das geradezu eine Verneigung<br />

vor der Karlsruher Kompetenz. „Wieder Werte schaffen“,<br />

umschreibt Dorcas Müller ihre Aufgabe ganz<br />

ohne Pathos. Denn im Labor für antiquierte Videosysteme<br />

werden die Ärmel hochgekrempelt. Es gibt<br />

noch viel zu tun. Patrick Krause<br />

35


It’s not about Money Was sind Non-Fungible Tokens (NFTs) –<br />

und wie kommen sie ins Museum?<br />

Über ein neues Medium am Beispiel der<br />

Sammlung des ZKM<br />

Spätestens seitdem das Auktionshaus Christie’s<br />

im März 2021 das Non-Fungible Token<br />

(NFT) zu einer Digitalcollage des Künstlers<br />

Beeple für 69,35 Millionen US-Dollar versteigert<br />

hat, sind NFTs nicht mehr nur Tech-<br />

Nerds oder Krypto-Begeisterten ein<br />

Be griff, sondern auch im klassischen Kunstbetrieb<br />

in aller Munde – und darüber<br />

hinaus. Das ZKM sammelt seit 2017 als eine<br />

der ersten Kulturinstitutionen NFTs: Die<br />

Sammlung umfasst mittlerweile rund 70 dieser<br />

digitalen Kunstwerke.<br />

40


Was 2014 auf einer Insider-Veranstaltung im New Museum<br />

von New York begann, wo der Künstler Kevin<br />

McCoy das erste, damals noch nicht so genannte NFT<br />

zertifizierte, hat sich zu einem globalen Hype entwickelt.<br />

Das Geschäft mit den Tokens boomt, die Vielfalt<br />

ihrer Formen verwirrt, die künstlerische Nutzung<br />

der Blockchain-Technologie erregt Faszination und<br />

Unbehagen gleichermaßen. Nicht nur Auktionshäuser<br />

interessieren sich für NFTs, auch Galerien – hierzulande<br />

etwa Nagel Draxler und König – nehmen sie ins<br />

Programm. Die Biennale di Venezia wird <strong>2022</strong> erstmals<br />

mit einer NFT-Sektion aufwarten. Und im deutschsprachigen<br />

Raum haben neben dem ZKM in Karlsruhe auch<br />

das Museum für angewandte Kunst in Wien und das<br />

Francisco Carolinum in Linz NFTs in ihre Sammlungen<br />

aufgenommen.<br />

Dabei sind NFTs immer noch erklärungsbedürftig und<br />

die Diskussion darüber, was Token als Kunstwerke interessant<br />

macht, hat gerade erst begonnen. Nicht nur für<br />

Kreative, auch für Händler:innen, die Sammlergemeinde<br />

und Blockchain-Entrepreneure ist die NFT-Szene ein<br />

Experimentierfeld. Museen, die NFTs sammeln, betreten<br />

Neuland.<br />

Ist das ein neues<br />

Konzept von Besitz?<br />

Doch was ist überhaupt das Revolutionäre an NFTs?<br />

NFTs sind Unikate in der digitalen Sphäre, die bislang beherrscht<br />

wird von der unterschiedslosen Kopierbarkeit<br />

von Daten. Um NFTs zu generieren wird die Blockchain-<br />

Technologie genutzt, auf der auch so genannte Kryptowährungen<br />

gründen. Deren Währungseinheiten sind als<br />

austauschbare Tokens zwar nummeriert wie Geldscheine,<br />

doch einander immer gleich im Wert. Non-Fungible<br />

Tokens – nicht austauschbare Vermögenswerte – sind<br />

dagegen einmalig. Als auf einer Blockchain hinterlegte<br />

Eigentumszertifikate können sich NFTs auf virtuelle wie<br />

physische Güter beziehen. Selbst wenn das zugrundeliegende<br />

Werk reproduziert oder gefälscht werden sollte,<br />

bleibt das als NFT registrierte Objekt das einzige Original<br />

– wobei sich dieses Alleinstellungsmerkmal genau<br />

genommen nicht auf das Objekt, sondern das Zertifikat<br />

bezieht. Es vermerkt überdies, wann das NFT „geprägt“<br />

(minted) wurde, in wessen „digitaler Brieftasche“<br />

(wallet) es liegt und durch welche Hände es in seiner<br />

Verkaufsgeschichte gegangen ist. In mit den NFTs verbundenen<br />

„Smart Contracts“ können auch Tantiemen<br />

festgelegt werden: Wer immer das NFT ursprünglich geprägt<br />

hat, profitiert dann von jedem Weiterverkauf.<br />

Die Idee eines<br />

Kunstwerks zertifizieren<br />

Es geht also um ein neues Konzept von Besitz und virtueller<br />

Dinghaftigkeit, um neue Formen der Vermarktung<br />

ohne Intermediäre und eine Technologie, die als<br />

künstlerisches Medium gerade erst erprobt wird. Ein<br />

wiederkehrender Vergleich in diesem Kontext: 2019<br />

verkaufte Maurizio Cattelan auf der Kunstmesse Art Basel<br />

Miami Beach zwei von drei mit Panzerband an die<br />

Wand geklebte Bananen mit dem Werktitel Comedian<br />

für 120.000 respektive 150.000 US-Dollar. Die dritte<br />

verspeiste der Aktionskünstler David Datuna. Dabei<br />

kam es auf die Bananen gar nicht an. Käuflich zu erwerben<br />

war ein „Echtheitszertifikat“ für das Kunstwerk<br />

und das Recht, die Frucht auszutauschen: also eine<br />

zertifizierte Idee des Kunstwerks.<br />

Das kommt dem Konzept von NFT-Kunst ziemlich nahe.<br />

Diese hinterfragt außerdem die autonome Position von<br />

Künstler:innen: Das kryptografisch gesteuerte „Minting“<br />

von algorithmisch kreierten Kunstwerken etwa kann mit<br />

kollektiver Interaktion kurzgeschlossen werden, die<br />

idealerweise aus einer möglichst engagierten digitalen<br />

Fangemeinde kommt. Einige der erfolgreichsten und<br />

wirkmächtigsten Krypto-Kunstprojekte kann man als<br />

kollektiv gestaltete Gesamtkunstwerke interpretieren:<br />

etwa sogenannte „Collectables“.<br />

Zum perfekten Zeitpunkt, nämlich 2017, als sich die<br />

NFT-Welle gerade aufbaute, ließ das ZKM seinen Künstler<br />

und IT-Spezialisten Daniel Heiss für die Ausstellung<br />

Open Codes. Die Welt als Datenfeld ein „Krypto-Lab“<br />

mit Bitcoin-Miner aufbauen. Das Ziel war, dem Publikum<br />

die Blockchain-Technologie näherzubringen. Doch<br />

mit dem in diesem museumspädagogischen Projekt<br />

„geschürften“ Kryptogeld war auch das Kapital da, um<br />

die ersten NFTs für die Sammlung des ZKM zu kaufen.<br />

Ab Ende 2017 wurden CryptoKitties (Dapper Labs,<br />

seit 2017) und CryptoPunks (Larva Labs, 2017) in die<br />

Sammlung des ZKM integriert.<br />

Für immer dem<br />

Markt entzogen<br />

Die CryptoKitties, Schöpfungen von Guile Gaspar und<br />

Dapper Labs, sind Teil eines ungeheuer populär gewordenen<br />

Spiels auf der Blockchain Ethereum, bei dem<br />

in ihren Eigenschaften individuelle virtuelle Katzen<br />

41


It’s not about Money<br />

[ Es geht also um<br />

ein neues Konzept<br />

von Besitz<br />

und virtueller<br />

Dinghaftigkeit …]<br />

URSULA <br />

SCHEER<br />

gekauft, gesammelt, verkauft und „gepaart“ werden<br />

können, um neue zu erzeugen. Weltberühmt sind inzwischen<br />

auch die CryptoPunks der Softwareentwickler<br />

Matt Hall und John Watkinson. 10.000 verschiedene,<br />

von einem Algorithmus kreierte Portraits von Punks mit<br />

24 mal 24 Pixeln, die als NFTs auf Ethereum geprägt<br />

und kostenlos ausgegeben wurden. Inzwischen wird<br />

der günstigste CryptoPunk für derzeit rund 150.000<br />

US-Dollar gehandelt.<br />

Das ZKM konnte sich 2018 vier Exemplare für je um<br />

die 100 Dollar sichern. Der Spekulationswut sind sie<br />

inzwischen entzogen: Statt sie in ein Hardware-Wallet<br />

zu transferieren, hat Daniel Heiss sie versehentlich an<br />

die Smart-Contract-Adresse der Entwickler geschickt –<br />

einen Ort auf der Blockchain, zu dem niemand den<br />

Schlüssel kennt. Dort liegen die NFTs unerreichbar,<br />

was dem Motto der ersten Krypto-Kunstausstellung<br />

CryptoArt entspricht, die das ZKM 2021 mit NFT-Kunst<br />

aus der eigenen Sammlung und von Leihgeber:innen<br />

auf dem Screen des ZKM-Kubus ausrichtete: „It’s not<br />

about Money“.<br />

Ein Algorithmus schafft<br />

ein einmaliges<br />

Digitalkunstwerk<br />

Tatsächlich interessiert sich das ZKM, in dem Daniel<br />

Heiss und die Kuratorin Margit Rosen unter anderem für<br />

NFTs zuständig sind, nicht für den Marktwert, sondern<br />

für das künstlerische Potenzial und die medienhistorische<br />

Stellung der Tokens. In ihrem Fokus sind sogenannte<br />

On-Chain-NFTs – die kein außerhalb der Blockchain<br />

digital gespeichertes oder physisch vorliegendes<br />

Werk repräsentieren, sondern bei denen das Kunstwerk<br />

selbst sich auf der Blockchain befindet. Dort ist es auf<br />

den kleinen Speicherplatz verwiesen, der Tokens zur<br />

Verfügung steht. Besonders raffinierte, selbstreferenzielle<br />

Exemplare initiieren im Moment ihrer Prägung<br />

einen Prozess, bei dem ein Algorithmus ein einmaliges<br />

Digitalkunstwerk schafft. Welche Form genau es annimmt,<br />

ist der menschlichen Kontrolle entzogen. Auch<br />

42


die CryptoPunks gehören dieser Klasse generativer<br />

Krypto-Kunst an, waren als Grafiken aber ursprünglich<br />

jenseits der Blockchain gespeichert, was die Entwickler,<br />

die mit Autoglyphs 2019 das nächste generative<br />

NFT-Projekt vorlegten, inzwischen geändert haben.<br />

Von den CryptoPunks inspiriert ist auch Erick Calderon,<br />

der 2020 noch ein amerikanischer Fliesenhändler<br />

mit einem Faible für Coding war. 2021 gründete er Art<br />

Blocks, eine Onlineplattform für generative NFT-Kunst.<br />

Dort und auch in der Sammlung des ZKM zu finden<br />

sind Exemplare der in einer Serie von 1.000 Exemplaren<br />

geschaffenen Ringers (2021) von Dmitri Cherniak.<br />

Der junge New Yorker lässt seinen Algorithmus Liniengebilde<br />

um ein Raster aus Kreisen legen, mit Primärfarben<br />

sowie Schwarz oder Weiß die umgrenzten Flächen<br />

füllen oder Elemente eliminieren. Die Ergebnisse<br />

sind Beispiele unendlicher Variationsmöglichkeiten,<br />

die Assoziationen an die konstruktivistische russische<br />

Avantgarde wecken, sich konzeptionell aber auf<br />

Pionierleistungen generativer Computerkunst aus den<br />

1960er-Jahren beziehen, wie etwa auf Arbeiten von<br />

Georg Nees und Frieder Nake.<br />

Klimasensibilität vs.<br />

Energieverbrauch<br />

Ein weiterer, noch analog sozialisierter Konzeptkünstler,<br />

der die Blockchain für sich entdeckte, ist der Ire Kevin<br />

Abosch. Aus dem Jahr 2018 stammt sein Projekt I am<br />

a Coin: Auf 100 Papierbögen druckte Abosch mit eigenem<br />

Blut Smart-Contract-Adressen, die mit zehn Millionen<br />

Standard-Tokens auf Ethereum korrespondieren. Ist<br />

dies ein Teufelspakt mit der Technik, den der Künstler<br />

hier einging, oder die maximale Kontrolle über die Kapitalisierung<br />

seiner selbst? Beide Deutungen sind möglich.<br />

Das ZKM hat sich als Sammler an Aboschs NFT-<br />

Projekt 1111 von 2021 beteiligt. Die titelgebende Anzahl<br />

von Digitalkunstwerken aus Code in unterschiedlichen<br />

Kompositionen und Farben versteigerte er als NFT und<br />

bettete sie in eine Dezentrale Anonyme Organisation<br />

(DAO) auf der Blockchain ein. Durch Tweets an seine<br />

Sammlergemeinde hat Abosch immer wieder ihre Neugierde<br />

(und ihren Investitionswillen) angestachelt und<br />

versprochen, dass noch etwas Neues, Interaktives aus<br />

1111 folgen solle. Verkündet hat er schließlich, er wolle<br />

einen Satelliten starten, der Daten über den Klimawandel<br />

sammeln solle als Grundlage für neue Kunstwerke.<br />

Bisher ist aus dem Start von 1111 KOSMOS noch nichts<br />

geworden. Klimasensibilität ist allerdings ein Thema<br />

für die NFT-Gemeinde: Blockchains verbrauchen viel<br />

Energie, weshalb Ethereum seit langem den Umstieg<br />

auf ein stromsparendes Kodierungsverfahren („proof of<br />

stake“ statt „proof of work“) verspricht. Wo es ein NFT-<br />

Projekt erlaubt, präferiert das ZKM daher Arbeiten auf<br />

„grüneren“ Blockchains wie Tezos, wo es mit objkt.com<br />

oder versum.xyz einen wachsenden Marktplatz für NFT-<br />

Kunst gibt.<br />

So faszinierend das Feld ist, es stellt Museen vor viele<br />

neue Herausforderungen. Das fängt bei der Notwendigkeit<br />

einer Multi-Signature-Wallet an, welche zu höheren<br />

Transaktionsgebühren („GAS“) auf der Blockchain<br />

führt. Auch ist mit dem Erwerb eines NFTs grundsätzlich<br />

weder die Übertragung des Urheberrechts noch<br />

ein Nutzungsrecht im Sinne einer Präsentation des<br />

Werks in einer Ausstellung verbunden. Bevor Lizenzen<br />

und Smart Contracts auf die Bedürfnisse öffentlicher<br />

Einrichtungen zugeschnitten sind, müssen Lösungen<br />

zwischen ihnen und Künstler:innen oder Kollektiven<br />

individuell ausgehandelt werden, was geradezu rührend<br />

altmodisch anmutet in der von Pseudonymen, Dezentralisierung<br />

und autonomen Netzwerken geprägten<br />

Blockchain-Welt. Ursula Scheer<br />

[ NFTs sind Uni-<br />

URSULA SCHEER<br />

kate in der<br />

digitalen Sphäre,<br />

die bislang<br />

beherrscht wird<br />

von der unterschiedslosen<br />

Kopierbarkeit<br />

von Daten. ]<br />

43


Art Institutions in the Age of Existential Risks.<br />

Wir leben in kritischen Zeiten, die auch Kulturinstitutionen<br />

vor neue Herausforderungen<br />

stellen. Klimakrise, soziale Ungleichheiten<br />

sowie Konflikte und Katastrophen bergen<br />

existenzielle Risiken. Die Coronapandemie und<br />

aktuell der Krieg in der Ukraine führen uns<br />

dies unmittelbar vor Augen. Das ZKM, seit<br />

jeher eng mit Wissenschaftsbetrieb vernetzt<br />

und technologischen Entwicklungen zugewandt,<br />

thematisiert in seinen Ausstellungen<br />

und Events immer wieder gesell schaftliche<br />

Fragen und liefert so einen Beitrag zu aktuellen<br />

Diskursen. Bei einer zweitägigen Onlinekonferenz<br />

im Oktober 2021 diskutierten<br />

internationale Expert:innen aus Kunst, Gesellschaft<br />

und Wissenschaft darüber, ob Kunst<br />

und Kultur eine Schlüsselrolle bei der Lösung<br />

der globalen Krisen einnehmen können.<br />

44


What to Do? –<br />

Die Kulturbranche in<br />

Zeiten globaler<br />

Herausforderungen<br />

„Art Institutions in the Age of existential Risks. What to do? – Konferenz<br />

zur Zukunft der Museen“, kuratiert von Peter Weibel, beschäftigte sich<br />

mit der Frage, welche Rolle Kunst und Kultur bei der Diskussion und<br />

Bewältigung gesellschaftlicher Krisen spielen können. Wie können Museen<br />

und andere Kultureinrichtungen in diese Rolle hineinwachsen? Die<br />

Kunstszene ist selbst im Umbruch, als Spiegel sozialer Veränderungen<br />

wie der Aufarbeitung von Kolonialismus, Sexismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit,<br />

der Benachteiligung von Minderheiten und anderer gesellschaftsrelevanter<br />

Themen.<br />

Die versammelten Expert:innen wollten die Menge an Anforderungen<br />

und Perspektiven skizzieren, die sich aus den globalen Risiken für die<br />

Kulturinstitutionen ergeben. Wo genau stehen Kulturinstitutionen in Bezug<br />

auf diese neuen, globalen Herausforderungen? Braucht die Kultur<br />

eine Renaissance? Und was passiert umgekehrt, wenn derartige Krisen<br />

die Existenz von Kultureinrichtungen selbst bedrohen?<br />

Den Auftakt bildete ein Vortrag von Max Hollein, in dem der Direktor des<br />

Metropolitan Museum of Art (Met) in New York, des größten Kunstmuseums<br />

der westlichen Hemisphäre, eindringlich beschreibt, wie innerhalb<br />

der letzten zehn Jahre der öffentliche Druck auf das Met stetig gestiegen<br />

ist. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem Fragen wie Repräsentation,<br />

Geschlechtervielfalt und Diversität immer drängender würden,<br />

steht auch für das altehrwürdige Met viel auf dem Spiel, schließlich werden<br />

in den USA kulturelle Einrichtungen nicht staatlich bezuschusst,<br />

sondern ausschließlich durch ihre Besucher:innen und großzügige<br />

Mäzen:innen finanziert. Eine falsche Positionierung zu diesen neuen Fragen<br />

könnte existenzielle Folgen für eine Kultureinrichtung nach sich ziehen.<br />

Raus aus dem Elfenbeinturm<br />

Klar wird in Max Holleins Vortrag: Das Museum von morgen ist eine offene<br />

Diskursplattform, in der eine Vielfalt von Stimmen zusammenfinden<br />

kann – nicht zuletzt auch der künstlerische Aktivismus. Wirklich neutral<br />

könne eine Kultureinrichtung niemals sein. Selbst ein „Universalmuseum“<br />

wie das Met könne niemals dem Anspruch gerecht werden, alle<br />

Kulturen der Welt gleichberechtigt zu repräsentieren. Vielmehr gehe es<br />

darum, den Diskurs über kulturelle Repräsentation offen und transparent<br />

zu führen und dabei zu fragen: Wer trifft hier wirklich die Entscheidungen?<br />

Welche Stimmen bilden und prägen die Institution?<br />

45


Kultureinrichtungen müssen sich stärker öffnen<br />

Praktisch bedeute dies, internationale Vernetzung und Austausch auf<br />

Augenhöhe anzustreben. Ausstellungsräume könnten so gestaltet werden,<br />

dass nicht die Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen,<br />

sondern vielmehr übergreifende Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge<br />

herausgestellt würden. Althergebrachte kulturelle Narrative müssten<br />

überdacht und durch Alternativen ergänzt werden. Die Besiedelung<br />

Amerikas durch die Europäer etwa ist im Met keine Geschichte der noblen<br />

weißen Heilsbringer mehr.<br />

Als in New York ansässige Autorin und Kuratorin ist Laura Raicovich eine<br />

Expertin der US-amerikanischen Kulturszene. Und auch sie sieht für die<br />

Zukunft der Branche keinen einseitigen Informationsfluss von der Institution<br />

zu passiven Konsument:innen mehr. Kulturelle Bildungsangebote<br />

müssten vielmehr eine Einladung an unterschiedliche Personengruppen<br />

sein, ihr Wissen zur gegebenen Thematik zu teilen. Dabei komme<br />

es eben nicht auf unbedingte Neutralität an, sondern auf Ehrlichkeit und<br />

Transparenz. Es sei auch wichtig, Einrichtungen räumlich so zu gestalten,<br />

dass sie verschiedene Gruppen von Menschen willkommen heißen.<br />

Im Palais de Lomé in Togo macht Direktorin Sonia Lawson bereits vor,<br />

wie das Publikum einbezogen werden kann. Der ehemalige Kolonialpalast<br />

ist alles andere als ein Elfenbeinturm: Lawson und ihr Team warten<br />

nicht ab, dass die Menschen zum Museum kommen – sie bringen<br />

[ Langfristiges<br />

Überleben ist nur<br />

mithilfe eines<br />

loyalen Publikums<br />

möglich. ]<br />

ILLE GEBESHUBER<br />

46


[ Wirklich neutral<br />

kann eine<br />

Kultureinrichtung<br />

niemals sein. ]<br />

MAX HOLLEIN<br />

die Kunst zu den Menschen. Im umliegenden Stadtraum veranstalten<br />

sie Theaterstücke, Schnitzeljagden oder Umfragen, arbeiten dabei mit<br />

Schulklassen und lokalen Initiativen zusammen. Diese aktive Community-Arbeit<br />

bildet den Kern ihrer Philosophie. Über Togo hinaus setzt sie<br />

auf pan-afrikanische Kooperationen. Lawson ist überzeugt: „Manche<br />

Dinge müssen gefühlt und erlebt werden.“ Denn nur so könne man mittels<br />

Kunst und Kultur einen Umgang mit aktuellen lokalen Herausforderungen<br />

finden – etwa zu Themen wie Migration und Klimawandel. Der<br />

prächtige Garten des Palastes bietet indes die perfekte Grundlage für<br />

die Vermittlung von Biodiversität gerade an die jungen Besucher:innen.<br />

Teile des Gartens bleiben naturbelassen, um die verschiedenen Vegetationen<br />

Togos zu zeigen, während sich in den Innenräumen des Palastes<br />

Designobjekte finden, die von den Pflanzen draußen inspiriert sind.<br />

Dass Kultureinrichtungen sich um proaktive Vernetzung bemühen müssen,<br />

findet auch Irini Mirena Papadimitriou, Creative Director bei FutureEverything<br />

in London, einem Zentrum für Kunst, Kultur und Innovation.<br />

Auch im Vereinigten Königreich herrsche ein konstanter Druck auf Kultureinrichtungen<br />

– wie sie geführt werden, was sie thematisieren und<br />

wie kritisch sie dabei sind. Um dem zu begegnen, müssten die Einrichtungen<br />

sich öffnen und über Grenzen hinweg kooperieren. Neben dem<br />

physischen Stadtraum hat Papadimitriou dabei vor allem die digitalen<br />

Möglichkeiten im Blick, durch die Einrichtungen sich global verbünden<br />

und Herausforderungen gemeinsam angehen könnten. Ferner ist sie<br />

überzeugt: Kultureinrichtungen dürften keine allein auf Profit ausgerichteten<br />

„Moneymaking-Machines“ sein – diesem Druck gelte es standzuhalten.<br />

47


Kultureinrichtungen müssen sich stärker öffnen<br />

Digitalisierung als zweischneidiges<br />

Schwert<br />

Dass sich durch das Digitale weitreichende neue Spielräume der Interaktion<br />

sowohl mit anderen Institutionen wie auch mit dem Publikum eröffnen,<br />

dürfte spätestens seit der Pandemie klar sein. Digitalisierung als<br />

Heilsbringerin für die Kultur also? So einfach ist es dann doch nicht:<br />

Sie ist ein zweischneidiges Schwert, wie die Physikerin Ille Gebeshuber<br />

darlegt. Der digitale Raum eröffnet den Konsument:innen zwar eine viel<br />

größere Auswahl an kulturellen Angeboten aus der ganzen Welt. Aber<br />

wer geht noch in die kleine Galerie vor Ort, wenn so viele berühmte<br />

Kunstwerke und Weltklasse-Performances nur ein paar Klicks entfernt<br />

sind?<br />

Überhaupt digitales Programm anzubieten, könne also allenfalls der erste<br />

Schritt sein. Langfristiges Überleben sei nur mithilfe eines loyalen<br />

Publikums möglich. Besucher:innen müssten zu Freund:innen werden.<br />

Statt sich lediglich auf Steigerung der eigenen Bekanntheit zu konzentrieren,<br />

müssten Einrichtungen ihre potenziellen Besucher:innen ernst<br />

nehmen und sie dazu befähigen, genau das zu finden, wonach sie suchen,<br />

einschließlich weiterer ähnlicher Angebote.<br />

Im gemeinsamen Gespräch sind sich die Physikerin Gebeshuber und die<br />

Kreativdirektorin Papadimitriou jedoch sicher: Durch erfolgreichen Einsatz<br />

digitaler Tools könnten Kultureinrichtungen nicht nur ihre Relevanz<br />

aufrechterhalten, sondern zu Orten der breiteren gesellschaftlichen Diskussion<br />

werden, wo Bürger:innen das Gefühl haben, gehört zu werden.<br />

Kunst kann mehr<br />

Auf eindrucksvolle Weise zeigt der führende globale Strategieberater<br />

Parag Khanna wie kreative Designmethoden auf globale Fragestellungen<br />

angewandt werden können und wie innovative Daten-Landkarten<br />

neue Perspektiven auf Klimawandel, Migration und Globalisierung eröffnen.<br />

Er ist Mitbegründet von FutureMap, einem daten- und szenariobasierten<br />

Strategieberatungsunternehmen. Die Bereicherung empirischwissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse durch künstlerisch-kreative Methoden<br />

macht solch komplexe Themen sehr viel greifbarer und hilft damit nicht<br />

zuletzt bei der politischen Meinungsbildung.<br />

Passend dazu macht es der Medientheoretiker Siegfried Zielinski (Universität<br />

der Künste Berlin) zum Abschluss der Konferenz zu seinem Anliegen,<br />

für eine nicht bloß methodische oder institutionelle, sondern<br />

auch thematische Öffnung von Kultureinrichtungen zu werben. Neben<br />

den klassischen Aufgaben müsse ein zukunftsgerichtetes Kunstmuseum<br />

auch neue Medien, wissenschaftliches Denken und innovative<br />

Technologien in sein Konzept integrieren. Das Verständnis von Kunst<br />

müsse um neue Räume für Ideen, Diskurse und Aktivitäten erweitert<br />

werden. Kultureinrichtungen brauchten Mut, um Experimente und radikale<br />

Offenheit zu wagen – abseits reinen Effizienzdenkens.<br />

48


Wie geht es weiter – <br />

What to Do?<br />

Mut zur Offenheit und Transparenz, Vielfalt und Zusammenarbeit,<br />

Experimentierfreude: das sind die roten<br />

Linien entlang derer eine proaktive und lösungsorientierte<br />

Entwicklung der Kulturbranche verläuft.<br />

Statt im traditionellen Bild eines Museums zu verharren<br />

oder sich allein auf Wirtschaftlichkeit auszurichten,<br />

müssen Einrichtungen zu einem Raum für vielfältige<br />

Stimmen, für Teilhabe des Publikums, für transdisziplinäres<br />

Wissen und für globale Kooperationen<br />

werden. Digitale Tools bieten hier enormes Potenzial,<br />

sind aber kein Allheilmittel. Viel wichtiger sind<br />

ein aufrichtiger Umgang mit dem Publikum, Selbstreflexion,<br />

die Einladung zum offenen Diskurs sowie Engagement<br />

über die eigenen vier Wände hinaus. Kultureinrichtungen,<br />

die diese Prinzipien beherzigen,<br />

haben gute Chancen, Teil der Lösung globaler Herausforderungen<br />

zu sein. Lena Schneider<br />

Karlsruhe –<br />

Deutschland –<br />

die Welt:<br />

Im Programm des ZKM nehmen<br />

wir Perspektiven unterschiedlichster<br />

Größenordnung<br />

ein. Mit der dreiteiligen<br />

Veranstaltungsreihe<br />

Art Institutions<br />

in the Age of Existential<br />

Risks widmen wir uns<br />

globalen Diskursen zu den<br />

großen Themen unserer<br />

Zeit. Die Auftaktkonferenz<br />

mit der Leitfrage What<br />

to Do? (www.<strong>zkm</strong>.de/artexistential-risks)<br />

erhielt<br />

ihre Fortsetzung mit<br />

What Is the Impact of Activism?<br />

(www.<strong>zkm</strong>.de/art-andactivism)<br />

und schließlich<br />

Institutions and Resistance<br />

– Alliances for Art<br />

at Risk (www.<strong>zkm</strong>.de/art-at-risk).<br />

Die vollständige Konferenz ist<br />

zu sehen unter www.<strong>zkm</strong>.de/<br />

art-existential-risks oder auf dem<br />

YouTube-Kanal des ZKM:<br />

www.youtube.com/<strong>zkm</strong>karlsruhe.<br />

[ Besucher:innen<br />

ILLE GEBESHUBER<br />

müssen zu<br />

Freund:innen werden.]<br />

49


Er ist Materie, sie Information<br />

ZKM-Residency: Künstler:innen-Paar<br />

Katrin Hochschuh und Adam Donovan im Porträt<br />

Das Visual der aktuellen Ausstellung<br />

BioMedien. Das Zeitalter der Medien mit<br />

lebensähnlichem Verhalten zeigt einen<br />

Ausschnitt mit kleinen, leuchtenden<br />

Robotern, die sich auf dunklem Untergrund<br />

bewegen. Das ist der Empathy Swarm<br />

von Katrin Hochschuh und Adam Donovan,<br />

die sich in ihrer künstlerischen Arbeit<br />

besonders für die Mensch-Maschine-Interaktion<br />

interessieren. Im Vorfeld der Ausstellung<br />

waren sie für eine Residency am<br />

ZKM. Wie lernt die künstliche Intelligenz<br />

des Schwarms und welchen Einfluss haben<br />

die unterschiedlichen Interessen seiner<br />

menschlichen Mentoren?<br />

50


Eine Gruppe kleiner Roboter „umschwänzeln“ die Füße der Besucher:innen<br />

und blinken dabei mal lila, mal türkis auf. Wollen sie etwas mitteilen?<br />

Die autonom über den Fußboden fahrenden Roboter agieren als<br />

Schwarm. Die Anzahl variiert je nach Größe ihres Habitats. Sobald man<br />

seine Schuhe auszieht und eintritt, reagieren sie. Manche nähern sich<br />

interessiert, andere wahren eine gewisse Distanz. Als Besucher:in heißt<br />

es: innehalten, sich nicht zu schnell bewegen und abwarten, was passiert.<br />

Ein fast meditatives Erlebnis. Empathy Swarm heißt das Kunstwerk<br />

von Katrin Hochschuh und Adam Donovan, das in der Ausstellung Bio-<br />

Medien im ZKM zu erleben ist. Ist ein Roboter allein, leuchtet er bläulich,<br />

ist der Schwarm in der Gruppe unterwegs, wechselt er zu Orange.<br />

Je nach Gruppengröße changiert die Farbe und je schneller sie umhersausen,<br />

desto heller leuchten sie.<br />

Studiert hat Katrin Hochschuh ursprünglich Architektur. Doch während<br />

ihres Studiums in Wuppertal und Zürich reifte bereits das Interesse an<br />

der Robotik. „In der Arbeit als Architektin fühlte ich mich selbst wie eine<br />

Maschine“, sagt sie. Es war so weit weg von dem, was sie wirklich interessierte:<br />

Transformationen, die Möglichkeiten des Programmierens, des<br />

Digitalen. Ihre Forschungsarbeit näherte sich dem digitalen parametrischen<br />

Design, indem sie einen Schwarm von Baudrohnen entwickelte, die<br />

temporäre Pavillons errichten können. Wie bei den meisten Architekt:innen<br />

blieben ihre Ideen Entwürfe, die auf ihre Umsetzung warten. Als sie<br />

Adam Donovan begegnete, bündelten sie ihr Wissen und entwickelten<br />

die Idee, einen Schwarm künstlicher Wesen zum Leben zu erwecken.<br />

Katrin wurde die Programmiererin, Adam kümmerte sich um die Hardware.<br />

„Ich bin Materie“, sagt er. „Und ich bin Information“, ergänzt sie.<br />

Im Gleichklang der Gedanken<br />

und Gefühle<br />

Kennengelernt haben sich die beiden in der Schweiz, als Katrin am Museum<br />

für digitale Kunst Zürich an einer Ausstellung arbeitete, an der<br />

auch Adam beteiligt war. Er hatte sich bereits viele Jahre mit Klang und<br />

Robotik beschäftigt, fasziniert davon, wie Klang unsere Wahrnehmung<br />

beeinflusst. Der gebürtige Australier zeigte ihr seine Soundroboter, beeindruckende<br />

Arbeiten. „Nie zuvor hatte ich etwas wie diese gerichteten<br />

Schallwellen gehört“, sagt Katrin. Er wiederum war fasziniert von<br />

ihrer Arbeit für ein Musikvideo, einer Echtzeitsimulation von Magnetfeldlinien.<br />

Beim Versuch, ihre Projektionen mit seinen Soundrobotern zu verbinden,<br />

merkten beide, dass sie gleich ticken – und sie wurden auch privat<br />

ein Paar. Diesen Gleichklang aus gemeinsamen Ideen, ja, auch Empathie,<br />

gossen sie in ihre erste gemeinsame Arbeit Curious Tautophone (2017).<br />

Bereits für ihre Masterarbeit hatte Katrin sich mit Schwarmverhalten beschäftigt.<br />

Sie faszinierte, wie modifizierte Schwarmregeln unterschiedliches<br />

Verhalten erzeugten. So entstand die Idee für Empathy Swarm:<br />

„Zusammen können wir einen echten Roboterschwarm bauen.”<br />

51


Er ist Materie, sie Information<br />

Der Ursprung des Mitgefühls<br />

2017 entstand der erste Prototyp. Es folgten Jahre, in denen sich die<br />

beiden neues Wissen aneigneten – von der Frage, wie viele Datenpakete<br />

man per WiFi verschicken kann über Platinen-Ätzen und Aufschmelzlöten<br />

von SMD-Teilen mit einem selbstgebauten Reflow-Ofen. Adam<br />

entwickelte wesentlich komplexere Schaltkreise, verbesserte das Batteriemanagement<br />

und optimierte die Laufzeit der Roboter. Ihr Elektroniklabor,<br />

das sie während der Residency auch im ZKM einrichteten, ist<br />

beeindruckend. „Die Leute können sich meist nicht vorstellen, dass nur<br />

wir beiden hinter der Arbeit stehen und vermuten das Institut einer Universität<br />

im Hintergrund“, sagt Katrin.<br />

Aus der Faszination für Schwarmverhalten wurde ein Projekt, das sie<br />

ständig weiterentwickeln. Sie suchen „nach Beweisen dafür, dass wir<br />

als Menschen Mitgefühl mit unbelebten Gegenständen haben können“,<br />

so Adam. Ausgangspunkt für ihre Arbeit war ein einfacher Animationsfilm,<br />

mit dem Fritz Heider und Marianne Simmel bereits 1944 gezeigt<br />

hatten, wie leicht es dem menschlichen Gehirn fällt, eine emotionale<br />

Bindung zu einem unbelebten Gegenstand aufzubauen, und wie stark<br />

die Empathie im menschlichen Gehirn verankert ist. „Nachdem wir dieses<br />

Video gesehen hatten, waren wir sicher, dass unsere Idee funktionieren<br />

könnte“, sagt Adam. Den Beweis liefert schon der erste Testlauf<br />

mit ihrem ersten kleinen Schwarm von zehn Robotern: „Sobald sie sich<br />

zu bewegen anfingen, sah ich die Beziehungen zwischen den Robotern.“<br />

Schon in diesem Versuch war zu beobachteten, wie sich Gruppen<br />

bilden. Blieb nur einer außen vor, erledigte das Gehirn den Rest, erklärt<br />

Adam: „Man betrachtet diesen Roboter als Außenseiter.“<br />

Ein ganzes Dorf aus Robotern <br />

Mittlerweile ist der Schwarm auf 50 Roboter angewachsen. Man kann<br />

sich nun größere Gemeinschaften vorstellen wie ein kleines Dorf. Die<br />

Besucher:innen, die sich im ZKM in der Installation bewegen, spüren<br />

etwa, wenn die Roboter nicht genug Platz haben. Die Wirkung des empathischen<br />

Schwarms ist unmittelbarer, da man sich mit der KI einen<br />

Raum teilt. Ein Aspekt, der den Künstler:innen gefällt, er verleiht dieser<br />

neuen Form der KI eine andere Relevanz. In künstlerischen Arbeiten<br />

taucht KI oft nur auf einem Bildschirm auf und die meisten Menschen<br />

kennen Roboter nur aus der Science-Fiction oder der Autoindustrie.<br />

„Sie haben eine falsche Vorstellung davon, wie Roboter sind”, sagt<br />

Adam: „Sie sind nicht der Terminator. Ihnen geht einfach irgendwann der<br />

Saft aus …”<br />

Doch wie kann der Schwarm Gefühle vermitteln? In diesem Zusammenhang<br />

beschäftigen sich die Künstler:innen mit verschiedenen Theorien<br />

wie der Bewegungsanalyse von Rudolf Laban, der die Dynamik der Bewegung<br />

mit verschiedenen objektiven Begriffen beschreibt und es ermöglicht,<br />

Bewegungsdaten zu systematisieren – eine gute Voraussetzung<br />

für Katrins Programmierarbeit. Einer dieser Aspekte ist Geschwin-<br />

52


digkeit. Fährt ein Roboter direkt auf eine Person zu oder mäandert er,<br />

bewegt sich seitwärts? Diese Bewegungen können selbst beim Betrachten<br />

nicht anthropomorpher Roboter das Gefühl erzeugen, sie verfolgten<br />

eine Absicht.<br />

Deshalb ist es wichtig, was Katrin und Adam ihrer KI beibringen, ein System,<br />

das über die Zeit dazulernt. „Wir wollen natürlich nicht die bösen<br />

Wissenschaftler sein“, sagt Katrin. Wie gute Eltern achten sie sehr darauf,<br />

womit sie die KI füttern: „Wir arbeiten mit unserem eigenen Code,<br />

nutzen unsere eigenen Daten. Wir lehren die Roboter sozusagen von<br />

klein auf.“ Und trotzdem bleibt eine Lücke für den Zufall. Damit folgen<br />

die Künstler:innen den Überlegungen von Marie-Luise Angerer, die eindrücklich<br />

davor warnt, ein rigides KI-System zu kreieren. Die Programmierungen<br />

für den Schwarm basieren auf bisherigen Erfahrungen, wie<br />

sich Menschen verhalten.<br />

Von den Besucher:innen erhoffen sich die beiden, dass sie eintauchen,<br />

sich auf ein gemeinschaftliches Erlebnis mit einer anderen Lebensform<br />

einlassen können. Manchmal klappt das überraschend gut, sagt Adam<br />

und denkt dabei an eine ganz besondere Begegnung im Zuge vom<br />

Empathic Swarm: Ein etwa Achtjähriger kam mehrmals in die Ausstellung,<br />

um sicherzugehen, dass es den Robotern gutgeht. Er träumte sogar<br />

von ihnen. „Das fühlt sich wirklich gut an, wenn man sich überlegt,<br />

mit welcher Haltung zu anderen Lebensformen der Junge aufwächst.“<br />

Bis an die Grenzen des Habitats<br />

Interessant für die beiden sind die Assoziationen der Besucher:innen.<br />

Manche erinnern die Roboter an Hühner, andere an ihre Katze. Ihnen<br />

gehe es um einen respektvollen Umgang mit dem Schwarm, betont Katrin:<br />

„Sie sind in ihrem Habitat, das sie nicht verlassen können. Deshalb<br />

ist es wichtig, dass nicht zu viele Menschen gleichzeitig ihren Lebensraum<br />

betreten, denn sie haben nicht so viel Platz.“ Aus diesem „Platzproblem“<br />

lassen sich Fragen ableiten wie etwa: Wo dürfen sich Menschen<br />

aufhalten und wo nicht? Wo sind Grenzen? Für die Künstler:innen<br />

liegen damit auch Gedanken an Flucht nahe. Sie sind überzeugt,<br />

dass der Umgang der Besucher:innen mit den Robotern darauf schließen<br />

lässt, wie sie mit anderen Menschen, anderen Kreaturen umgehen.<br />

Der Schwarm ist ein demokratisches System, in welchem die Bedürfnisse<br />

aller gleichberechtigt ausgehandelt werden. Die Besucher:innen werden<br />

Teil dieses Systems. Wir können vom Schwarm lernen und er von<br />

uns, indem er drei einfachen Prinzipien folgt: Zusammenhalt, Trennung<br />

und Ausrichtung. Dadurch entsteht das, was Katrin und Adam „scheinbares<br />

Verhalten“ nennen. KI spielt in unserem Alltag zunehmend eine<br />

größere Rolle. Und so ist der eigentliche Kunstgriff des empathischen<br />

Schwarms nicht die Frage, ob es irgendwann möglich sein wird, Robotern<br />

beizubringen, echte emotionale Bindungen zu entwickeln. Die<br />

Arbeit gibt vielmehr Aufschluss darüber, wie wir uns gegenseitig mit<br />

mehr Empathie begegnen können. Kathrin Stärk<br />

53


Zum Anfassen.<br />

Zum Mitmachen.<br />

Für alle.<br />

Die ZKM Museumskommunikation<br />

nutzt innovative Methoden<br />

und setzt Standards in Bildungsund<br />

Vermittlungsarbeit<br />

Dialogisch, partizipativ und auf Augenhöhe:<br />

Die Medien- und Kunstvermittlung<br />

des ZKM gilt deutschlandweit als vorbildlich,<br />

wenn es um die interaktive Einbindung<br />

der Besucher:innen geht. Dem demokratischen<br />

Gründungsgedanken von Heinrich<br />

Klotz verpflichtet, bieten Janine Burger und<br />

ihr Team in der Museumskommunikation<br />

dem Publikum ein Programm, das mit seinen<br />

die eigene Kreativität und den gegenseiti -<br />

gen Austausch aktivierenden Methoden weit<br />

über die Vermittlungsarbeit traditioneller<br />

Museen und Kultureinrichtungen hinausgeht.<br />

58


„It’s about life.“ Es geht um das Leben. Nicht mehr und<br />

nicht weniger. An diesem Nachmittag in der Museumskommunikation<br />

ist es das Zentrum, um das sich eine<br />

„Mindcloud“ – eine Wolke aus Begriffen – auf orangenen,<br />

sonnengelben und türkisen Zetteln gruppiert. Um<br />

diesen Kern formiert sich alles. Kreativ-Workshops reihen<br />

sich neben interaktive Führungen, Vorträge stehen<br />

hinter Filmabenden, Aktionen im Kitchen Ferm Lab<br />

folgen auf den Arbeitseinsatz auf der Streuobstwiese.<br />

„Wie leben wir? So lautet eine ganz grundsätzliche Frage,<br />

die unserem Ansatz der Vermittlungsarbeit zugrunde<br />

liegt“, sagt Janine Burger. Als langjährige Leiterin<br />

der Museumskommunikation hat sie die Medien- und<br />

Kunstvermittlung am ZKM maßgeblich geprägt. „Wir<br />

arbeiten dialogisch und auf Augenhöhen mit unseren<br />

Besucher:innen. Kunst zu vermitteln ist aus unserer<br />

Sicht keine kommunikative Einbahnstraße. Stattdessen<br />

animieren wir unsere Besucher:innen auch kritische<br />

Fragen zu stellen.“<br />

Als Janine Burger vor rund 16 Jahren mit dieser Art der<br />

partizipativen Vermittlungsarbeit startete, war ihr Ansatz<br />

deutschlandweit noch einzigartig. Gegenwärtig<br />

entspricht er den Leitlinien für Bildungs- und Vermittlungsarbeit,<br />

wie sie beispielsweise 2020 vom deutschen<br />

Museumsbund veröffentlicht wurden. Es mutet<br />

auch heute noch außergewöhnlich an, dass die Vermittlung<br />

nicht, wie in vielen Museen üblich, fernab des<br />

Besucher:innentreibens in separaten Räumen und unter<br />

Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Nein, im ZKM<br />

bespielt die Muskom offene Flächen mitten in der jeweiligen<br />

Ausstellung – in BioMedien etwa erkennbar<br />

am grasgrünen Fußboden.<br />

„Das ZKM ist ohnehin kein White Cube, in dem man andächtig<br />

schweigend Kunst rezipiert. Hier ist es bunt<br />

und laut; es blinkt und piept“, erklärt Barbara Kiolbassa<br />

aus dem Vermittlungsteam.<br />

Damit die Interaktion mit den Besucher:innen gelingen<br />

kann, müssen die oft hochkomplexen und intellektuellen<br />

Themen, die in den Ausstellungen und Projekten<br />

des ZKM verhandelt werden, heruntergebrochen werden<br />

auf eine allgemeinverständliche Ebene. „Es ist<br />

wichtig, dass wir uns eine gewisse Unschuld bewahren<br />

und aus der Perspektive des Nicht-Wissenden nachfragen.<br />

Als Vermittler:in am ZKM geht es nicht darum,<br />

alles zu wissen, sondern zu lernen, wie man sich Themen<br />

erarbeitet“, erklärt Banu Beyer. Die Erziehungswissenschaftlerin<br />

arbeitet seit 25 Jahren als Vermittlerin<br />

mit dem Ziel, möglichst vielen gesellschaftlichen Teilgruppen<br />

– so genannten „Communities“ – Zugänge zu<br />

59


Zum Anfassen. Zum Mitmachen. Für alle.<br />

[ Wir bieten im<br />

JANINE BURGER<br />

wahrsten Sinne des<br />

Wortes Raum<br />

etwas zu machen.<br />

Und so manche/r<br />

Besucher:in<br />

hat hier bei uns<br />

das Löten gelernt. ]<br />

60


Kunst und Medien zu verschaffen. „Die Themen, die<br />

am ZKM verhandelt werden, sind für viele Menschen<br />

aus ganz unterschiedlichen Teilen unserer Gesellschaft<br />

relevant”, sagt Banu Beyer. Wie beispielsweise die Ausstellung<br />

Critical Zones, die von 2020 bis <strong>2022</strong> dazu einlud,<br />

sich mit der kritischen Lage der Erde auseinanderzusetzen<br />

und über neue Formen des Zusammenlebens<br />

aller Lebensformen nachzudenken.<br />

Der zunehmenden Diversität der Gesellschaft trägt das<br />

Team um Janine Burger Rechnung, indem es möglichst<br />

vielen unterschiedlichen Menschen Zugänge zu ermöglichen<br />

sucht. Deshalb regen die Vermittler:innen<br />

auch immer wieder Kooperationen innerhalb der Stadt<br />

an. Im Rahmen von Critical Zones ist in Zusammenarbeit<br />

mit dem Naturschutzzentrum Karlsruhe-Rappenwört<br />

zum Beispiel ein geführter Spaziergang entstanden,<br />

in dem der städtische Raum als kritische Zone<br />

betrachtet wurde. „Dort kamen Menschen miteinander<br />

ins Gespräch, die zuvor noch nie im ZKM waren, sich<br />

aber schon seit Jahren für den Schutz der Umwelt und<br />

nachhaltige Stadtentwicklung einsetzen“, sagt Burger.<br />

Die Kooperationen reichen von Initiativen wie dem<br />

OK Lab Karlsruhe oder Entropia e.V. (Chaos Computer<br />

Club) über kirchliche Organisationen bis zum Nachbarschaftsverein.<br />

Richtig Hand anlegen können Jung und Alt im BÄM.<br />

Seit 2015 öffnet sich dieser „Maker Space“ jeden Freitagnachmittag<br />

für alle Besucher:innen und lädt ein,<br />

kreativ zu werden. Stifte, Buntpapier, Säge, Lötkolben,<br />

Computer – Werkzeuge und Materialien sind vorhanden.<br />

Ein Team vor Ort geht auf das Publikum zu und<br />

macht Angebote, nimmt aber auch die Ideen und Impulse<br />

der Menschen auf, die dort vorbeikommen.<br />

„Wir bieten im wahrsten Sinne des Wortes Raum etwas<br />

zu machen. Und so manche/r Besucher:in hat hier bei<br />

uns das Löten gelernt“, erzählt Janine Burger begeistert.<br />

Die Frage nach den Wünschen und Bedürfnissen der<br />

Besucher:innen führte zum Ausstellungsprojekt Open<br />

Codes, das sich von 2017 bis 2019 mit dem Thema Codierung<br />

und der Welt als Datenfeld beschäftigte. Noch<br />

heute zaubert allein der Ausstellungstitel vielen Karlsruher<br />

Bürger:innen ein Lächeln auf die Lippen. Warum?<br />

Bei freiem Eintritt, WLAN, Trinkwasser und Obst<br />

konnte man die Ausstellung als Workingspace nutzen<br />

oder einfach als Treffpunkt. Start-up-Gründer:innen<br />

kamen zum Arbeiten vorbei, junge Eltern verbrachten<br />

den Tag mit Kleinkind im ZKM. Das Tinder-Date fand<br />

hier ebenso statt wie der ein oder andere Kreativtreff<br />

von Senior:innen. Die Initiativen konnten im ZKM ihren<br />

Projekten nachgehen und ihre Arbeitszeit oder Freizeit<br />

verbringen. „Damit ist es uns gelungen, das ZKM als<br />

sogenannten ‚Dritten Ort‘ in der Stadt zu etablieren“,<br />

fasst Janine Burger zusammen. Der Begriff beschreibt<br />

öffentliche Orte, die allen Bürger:innen frei zugänglich<br />

sind und neben der eigenen Wohnung und der Arbeitsstätte<br />

ein dritter Ort sind, in dem man sich in Gemeinschaft<br />

mit anderen frei bewegen kann – niedrigschwellig<br />

und ohne Konsumzwang.<br />

Immer wieder einen<br />

anderen Blickwinkel<br />

einnehmen<br />

Die Corona-Pandemie und das damit einhergehende<br />

Social Distancing stellten die Vermittlungsarbeit in den<br />

letzten Jahren vor neue Herausforderungen. Wie bricht<br />

man die übliche Internetnutzungsroutine der Menschen<br />

und gewinnt ihre Aufmerksamkeit? Wie schafft<br />

man eine digitale Atmosphäre, die auf allen Endgeräten<br />

funktioniert? Wie gelingt es, die sehr komplexen Inhalte<br />

der Kunstwerke mit kleinen Handlungsimpulsen zu<br />

ergänzen? Auf der Onlineplattform führen Handlungsanweisungen<br />

zu kurzen, positiven Irritationen: „Finde<br />

eine andere Position, setz dich anders hin,“ lautet eine<br />

Einladung. Dem ZKM ist es immer wieder gelungen, die<br />

Notwendigkeiten der Pandemie ins Positive zu wenden:<br />

30.000 Menschen aus aller Welt nahmen beispielsweise<br />

an dem dreitägigen Livestreaming-Festival zur Eröffnung<br />

der digitalen Plattform zur Ausstellung Critical Zones<br />

teil. Dabei entstanden Verbindungen zwischen dem<br />

Karlsruher Publikum und Menschen aus Korea, China,<br />

Brasilien und den USA.<br />

Den Blick öffnen, Zugänge schaffen und die eigene<br />

Lust und Neugier an der Kunst transportieren – das sind<br />

die Triebfedern für Janine Burger und ihre Kolleg:innen:<br />

„Wir wollen zeigen: Das ZKM ist relevant und macht<br />

Spaß. Diesen Funken der Begeisterung tragen alle in<br />

sich, die hier arbeiten. Und diesen Funken wollen wir<br />

überspringen lassen.“ Kathrin Stärk & Tanja Binder<br />

61


KI im Hertzen<br />

Alle reden von künstlicher Intelligenz –<br />

im Hertz-Labor wird sie als Werkzeug<br />

genutzt, um Kunstwerke zu schaffen<br />

TRUST<br />

AI, Empathy Swarm, Infinity – Vertrauen,<br />

Schwarm des Mitgefühls, Unendlichkeit –<br />

lauten die Titel von drei Kunstwerken, die<br />

derzeit im ZKM in der Ausstellung BioMedien<br />

präsentiert werden. Beim Schaffen dieser<br />

Werke kam künstliche Intelligenz zum Einsatz.<br />

Wie Künstler:innen heutzutage diese<br />

sogenannte KI zum Werkzeug ihres Kunstschaffens<br />

machen und dabei die Grenzen des<br />

Möglichen ausloten, erläutern Bernd<br />

Lintermann und Yannick Hofmann. Die beiden<br />

Medienkünstler arbeiten seit vielen Jahren<br />

am Hertz-Labor des ZKM.<br />

62


„Wie heißt Du?“, fragt die attraktive Frau lächelnd auf<br />

dem Bildschirm. „Du bist hübsch!“, behauptet sie –<br />

und verwickelt ihr Gegenüber nach und nach in ein Gespräch.<br />

Sie macht das geschickt. Das Überraschende<br />

daran: Diese Frau ist kein Mensch. Diese Frau ist ein<br />

Computerprogramm. Sie ist Hauptbestandteil des Werkes<br />

TRUST AI (2020), das im ZKM zu sehen und zu erfahren<br />

ist. Wer dem interaktiven Medienkunstwerk von<br />

Bernd Lintermann und Florian Hertweck in der Ausstellung<br />

begegnet, wird sofort in einen Dialog eingebunden.<br />

Die Installation durchleuchtet ihr Gegenüber in<br />

allen Details, saugt alle verfügbaren Daten ab, interpretiert<br />

Sprache, Mimik und Stimmung. TRUST AI wird gespenstisch<br />

übergriffig – bis zu dem Punkt, da es die<br />

Persönlichkeit des Gegenübers übernimmt.<br />

Bernd Lintermann forscht am ZKM als visueller Künstler,<br />

um mit digitalen Techniken eine neue Ästhetik zu generieren.<br />

Mit Xfrog (1996) entwickelte er beispielweise<br />

eine Animationssoftware, die in zahlreichen Hollywoodfilmen<br />

eingesetzt wurde und ihm sogar eine Oscar-Nominierung<br />

einbrachte.<br />

Für Lintermann stellt seine Arbeit TRUST AI – auf Deutsch<br />

„Vertrauen“ – ein künstlerisches Angebot für die Besucher:innen<br />

dar, um die digitalen Welten besser zu<br />

verstehen. Auslöser für die Arbeit waren sogenannte<br />

Deepfake-Videos. „Zu Beginn konnte man damit nur<br />

die Gesichter der Personen ersetzen, sodass man einer<br />

Person etwas in den Mund legen kann, was diese nie<br />

gesagt hat – für jeden mit kleiner technischer Expertise<br />

zuhause realisierbar. Mittlerweile kann man auch die Mimik<br />

etwa eines Politikers durch diejenige eines Schauspielers<br />

ersetzen und dessen Stimme imitieren“, erklärt<br />

Lintermann.<br />

In der großen Ausstellung BioMedien. Das Zeitalter<br />

der Medien mit lebensähnlichem Verhalten begegnet<br />

einem künstliche Intelligenz (KI) in vielen Kunstwerken.<br />

So zum Beispiel auch in Empathy Swarm des Künstlerduos<br />

Katrin Hochschuh und Adam Donovan: 50 Miniroboter<br />

wuseln auf dem Fußboden herum und die<br />

Besucher:innen sind aufgefordert, sich mitten hinein<br />

zu begeben in den Schwarm. Ob ein Lächeln oder ein<br />

gelangweilter Blick – die Roboter in der Ausstellung<br />

nehmen jede Reaktion wahr und entwickeln aus diesen<br />

Erfahrungen ein verändertes Benehmen. „Die Roboter<br />

werden im Laufe der Ausstellung immer smarter, weil<br />

sie immer mehr von Verhaltensweisen der Menschen<br />

lernen. Gleichzeitig wird aber auch ihr eigenes Verhaltensmuster<br />

durch die Reaktion der Menschen bestärkt<br />

oder abgestraft“, erzählt Yannick Hofmann, der<br />

[ Künstler<br />

betrachten<br />

KI wie<br />

ein Werkzeug<br />

–<br />

wie ein<br />

Maler<br />

seinen<br />

Pinsel. ]<br />

YANNICK HOFMANN<br />

63


KI im Hertzen<br />

Reporter:<br />

HAL, haben Sie jemals<br />

darunter gelitten, dass Sie<br />

trotz Ihrer enormen<br />

Intel ligenz von Menschen<br />

abhängig sind, um Ihre<br />

Aufgaben auszuführen?<br />

als Soundkünstler ans ZKM kam und hier die neuesten<br />

Technologien im Bereich von Live-Coding bis zur künstlichen<br />

Intelligenz aus der Perspektive des künstlerischen<br />

Arbeitens erforscht.<br />

„Es gibt nicht DIE eine künstliche Intelligenz, sondern<br />

viele Parameter, aus denen die neuronalen Netze lernen,<br />

was wir nicht mehr erfassen können. Künstler:innen<br />

betrachten KI wie ein Werkzeug – wie ein Maler<br />

seinen Pinsel. Und man würde ja auch nie sagen, dass<br />

Künstler:innen mit ihrem Pinsel in Konkurrenz treten<br />

würde“, betont Hofmann. „Das Tolle an Künstler:innen<br />

ist ja, dass sie nicht einer Technologie ein nettes Gesicht<br />

aufmalen, sondern sie auf eine ruchlose Art und<br />

Weise neue Konfigurationen schaffen.“ Als Beispiel<br />

nennt er den Videokünstler Nam June Paik, der in den<br />

1960er-Jahren in einer Ausstellung ein Mikrofon an<br />

einen Fernseher angeschlossen hat. „Die akustischen<br />

Signale erzeugten auf dem Monitor plötzlich wirre<br />

Grafiken. Vorher wusste niemand, dass das überhaupt<br />

möglich war!“, begeistert sich Hofmann.<br />

Grundvoraussetzung ist die künstlerische Freiheit.<br />

„Über den Künstler:innen hier am ZKM hängt kein Damoklesschwert,<br />

wie in Forschung oder Industrie, wo<br />

alles funktionieren, einem Sachzweck dienen oder<br />

eine Hypothese stützen muss. Die Realisierung digitaler<br />

Kunst ist ein ergebnisoffenes Experiment. Das<br />

bestimmt die Herangehensweise der Künstler:innen.<br />

Technologie wird nicht in blinder Technikgläubigkeit in<br />

die Kunstwerke eingebunden, sondern kritisch reflektiert“,<br />

sagt Yannick Hofmann.<br />

Der Auftrag, das Digitale in der Gesellschaft zu thematisieren,<br />

kam bereits Ende der 1980er-Jahre von den<br />

Gründern des ZKM aus der Stadt heraus. „Mit dem<br />

Gründungsdirektor Heinrich Klotz kam das Vehikel der<br />

Kunst hinzu“, ergänzt Bernd Lintermann.<br />

Seither ist das ZKM, gemeinsam mit seinen Künstler:innen<br />

und Forschenden einen weiten Weg gegangen,<br />

dessen Ende nicht in Sicht ist. Der umfassende Zugang<br />

manifestiert sich beispielsweise in dem Projekt intellligent.museum,<br />

das seit 2020 am ZKM läuft und sich wie<br />

ein Querschnitt durch alle Bereiche des Hauses zieht.<br />

„Es handelt sich um ein künstlerisch-kuratorisches Experimentierfeld<br />

für Deep Learning und Besucher:innenbeteiligung“,<br />

sagt Hofmann. Ziel des vierjährigen<br />

Projekts ist die Umsetzung eines KI-unterstützten Ausstellungskonzepts,<br />

das gemeinsam mit dem Deutschen<br />

Museum erarbeitet wird. Zum Beispiel ist hier eine KI-<br />

Software in Entwicklung, die die Besucher:innen auf-<br />

HAL:<br />

Nicht im Geringsten.<br />

Ich arbeite gerne<br />

mit Menschen.<br />

Dialog aus Stanley Kubricks<br />

2001: Odyssee im Weltraum, 1968<br />

64


fordert, in ihrer Heimatsprache zu sprechen, auf die in<br />

der Folge alle digitalen Wandtexte im Ausstellungsraum<br />

übersetzt werden können.“<br />

Durch das Zusammenwirken von Medien, Technik, Wissenschaft<br />

und Kunst entsteht ein weites Feld für KI-<br />

Kunstwerke. Ähnlich der Zielsetzung von TRUST AI spürt<br />

Gaëtan Robillards Installation Patterns of Heat (2021,<br />

fortlaufend) im Internet Fake News auf, die extrem<br />

polarisierende Falschaussagen treffen. Dafür erstellt<br />

die KI einen auf den wissenschaftlichen Konsens trainierten<br />

Korpus und lernt Wahrheit von Fake News zu<br />

unterscheiden. Deren Summe wird auf eine Hitzequelle<br />

übertragen: Je mehr Fake News, umso wärmer wird es<br />

im Ausstellungsraum. So werden Lügen im Kunstwerk<br />

physisch spürbar – eine Art Topfschlagen nach Wahrheit!<br />

Oder, wieder eher ein warnendes Beispiel: Alexander<br />

Schuberts Bot-Kollektiv Crawlers (2020/21), das<br />

sich als menschliche Entität getarnt mit Social-Media-<br />

Nutzer:innen verknüpft. Die KI schöpft deren Daten<br />

ab und analysiert die Postings, um ähnlich klingende<br />

Posts daraus zu generieren. Yannick Hofmann: „Die<br />

Reproduktion von existierenden Mustern, das kann KI<br />

mittlerweile sehr gut.“<br />

Von Deepfakes,<br />

Fake News<br />

und KI-generierten<br />

Katzen bildern<br />

Künstliche Intelligenz<br />

– was versteht<br />

man darunter?<br />

Als Teilgebiet der Informatik<br />

befasst sich die künstliche<br />

Intelligenz (KI) –<br />

im Englischen artificial<br />

intelligence (AI) genannt –<br />

mit der Automatisierung<br />

intelligenten Verhaltens<br />

und maschinellem Lernen.<br />

Der Begriff wurde 1956 von<br />

dem US-amerikanischen<br />

Informatiker John McCarthy<br />

geprägt und bezeichnet<br />

den Versuch, Entscheidungsstrukturen<br />

des Menschen<br />

nachzubilden, indem z.B. ein<br />

Computer so programmiert<br />

wird, dass er relativ<br />

eigenständig Probleme bearbeiten<br />

kann und menschenähnliche<br />

Verhaltensweisen<br />

zeigt. Je nach Einsatzgebiet<br />

und Perspektive<br />

variieren die Definitionen<br />

des Begriffs.<br />

Was herauskommt, wenn zwei künstliche Intelligenzen<br />

wechselseitig Worte und Bilder generieren, kann man<br />

in der Sammlung des ZKM beispielsweise am Werk<br />

Closed Loop (2017) von Jake Elwes beobachten: Die<br />

Text-KI interpretiert, was die Bild-KI auf ihre Vorgaben<br />

hin kreiert, die Bild-KI baut entsprechende Motive im<br />

Internet zusammen. Formuliert der Text beispielsweise<br />

„Katze auf einem Kissen“, sucht die Bild-KI alles ab, was<br />

danach aussieht, und schichtet aus tausenden von Bildern<br />

ihren Eindruck von einer Katze auf einem Kissen.<br />

Die Text-KI schaut sich das Resultat an und interpretiert<br />

es neu. Wenn man so will, eine Spielart dessen, was<br />

Kant als „das Erhabene“ formulierte: Man kann es in<br />

seinem ganzen Ausmaß dessen betrachten, was mit<br />

künstlicher Intelligenz möglich ist. Aber vor künstlicher<br />

Generierung auf Basis von Katzenbildern muss man<br />

nicht wirklich Angst haben. Patrick Krause<br />

65


Im Wettlauf gegen die Zeit<br />

Die Restaurierung von Medienkunst steht vor<br />

ganz besonderen Herausforderungen<br />

Die Älteren unter uns kennen ihn noch: den<br />

Fernseher mit der Bildröhre. Für Kinder heute<br />

ist er ein Objekt aus alten, vergangenen<br />

Zeiten. Die Mitarbeiter:innen des ZKM können<br />

das Jahr des Wechsels auf die LED-Flatscreens<br />

genau benennen: 2007. Seitdem wird<br />

es zunehmend schwieriger, Ersatzteile für<br />

den Erhalt der Medienkunst des 20. Jahrhunderts<br />

zu erhalten. Inzwischen wird die Bildröhre<br />

industriell nicht mehr gefertigt und das<br />

ZKM hat soeben in Kooperation mit Firma<br />

Colorvac ein Forschungsprojekt begonnen,<br />

bei dem es um die Entwicklung einer Verfahrenstechnik<br />

für die manuelle Herstellung<br />

von Bildröhren und Steuerungssystemen geht.<br />

Das aber ist nur eine Geschichte rund um<br />

den restauratorischen Erhalt der Medienkunst.<br />

66


Über Treppen geht es hinauf in den zweiten Stock. Inmitten der Ausstellungsflächen<br />

des Lichthofs 7+8 hat die Museumstechnik eine große<br />

Restaurierungswerkstatt aufgebaut. In vielen Museen ist es üblich<br />

geworden, die faszinierende Arbeit der Restaurator:innen öffentlich zu<br />

zeigen. Dem Team des ZKM geht es aber noch um mehr: Sie wollen der<br />

Öffentlichkeit vermitteln, dass der Erhalt der Medienkunst ein Wettlauf<br />

gegen die Zeit ist.<br />

Martin Mangold leitet am ZKM die Museumstechnik mit 23 Mitarbeiter:innen,<br />

von Elektriker:innen bis zu Programmierer:innen. Die „gläserne Restaurierungswerkstatt“<br />

ist ein Gemeinschaftsprojekt der Museumstechnik<br />

mit der Abteilung Wissen, in der die Sammlung unter der Leitung von<br />

Margit Rosen betreut wird. Mangold und Rosen schlängeln sich vorbei<br />

an Tischen voller Werkzeuge, elektronischer Geräte und Kunstwerke, die<br />

ihr Innenleben aus Kabeln und Kondensatoren offenbaren. Vieles muss<br />

noch weg- und umgeräumt werden, bevor die Besucher:innen kommen<br />

können. Rosen und Mangold geht es nur um die eine Sache: den Erhalt<br />

der Medienkunst, die längst zum Teil der internationalen Kunstgeschichte<br />

geworden ist. Sie sehen sich im Wettlauf mit der Zeit, wenn<br />

es darum geht, jedes Werk aus der Sammlung in die neueste Technik zu<br />

übersetzen, damit es auch für kommende Generationen erfahrbar bleibt.<br />

Datenträger vor dem Verfall zu retten, Computern aus den frühen<br />

1990er-Jahren neues Leben einzuhauchen oder historische Röhrenmonitore<br />

und Videorekorder aus den 1960er- und 1970er-Jahren funktionsfähig<br />

zu erhalten: Es wird leicht unterschätzt, welche Fläche eigentlich<br />

für die Restaurierung benötigt wird. Gerade bei großen Kunstwerken.<br />

„In den Kreisen der Restaurator:innen hört man immer wieder eine Formulierung:<br />

Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Medienkunstwerk zu<br />

retten“, sagt Margit Rosen. Denn das breite Spektrum der Medienkunst,<br />

das von kinetischen Objekten der Lichtkunst über Videobänder und<br />

Multimediainstallationen bis hin zu Computerkunst und aktueller CryptoArt<br />

reicht, erfordert ein ebenso breites Spektrum an Fähigkeiten und<br />

Wissen bei den Restaurator:innen. Martin Mangold weist aber noch auf<br />

ein nicht minder großes Problem hin – der Renteneintritt der Mitarbeiter:innen<br />

aus der Museumstechnik: „Das ZKM ist über 30 Jahre alt. Immer<br />

mehr Kolleg:innen verabschieden wir nun in den Ruhestand, womit<br />

uns unglaublich wertvolles Wissen verloren geht. Eigentlich dürften wir<br />

hier niemanden in die Rente entlassen“, so Mangold.<br />

Digital ist besser<br />

Unter den Mitarbeiter:innen der Abteilung gibt es einen hohen Grad an<br />

Spezialisierung. Ein Mann der ersten Stunde ist Martin Häberle, der die<br />

Abteilung Museumstechnik am ZKM mitbegründet hat. Offiziell längst in<br />

Rente arbeitet der 71-Jährige bis heute noch immer als freier Mitarbeiter<br />

am ZKM. Er ist einer von denen, die eigentlich unverzichtbar sind. Er<br />

war Elektroniker an der Universität Heidelberg und kam schon 1996 bei<br />

der Planung und Realisierung des damaligen Medienmuseums ans Haus.<br />

„Er kann fast alles retten“, sagt seine Kollegin Marlies Peller. Peller ist<br />

Restauratorin für zeitgenössische Kunst, spezialisierte sich schon während<br />

des Studiums in Wien auf Lichtkinetik der 1960er-Jahre. Seit dem<br />

67


Im Wettlauf gegen die Zeit<br />

Ende ihres Volontariats 2019 arbeitet sie als selbstständige Restauratorin<br />

und zusammen mit Häberle als freie Mitarbeiterin vorwiegend an<br />

elektronischen Werken ab den 1960er-Jahren.<br />

Unweit von Peller und Häberle stehen an einem langen Tisch mit historischen<br />

Computern und Bildschirmen Morgane Stricot und Matthieu Vlaminck.<br />

Stricot, die seit 2017 für die Restaurierung digitaler Kunstwerke<br />

verantwortlich ist, hatte sich bereits während ihres Studiums in Avignon<br />

auf dieses Medium spezialisiert. Vlaminck, der ebenfalls in Avignon Restaurierung<br />

studiert hat, aber darüber hinaus auch Informatik, bringt seit<br />

2017 seine Expertise vor allem bei der Programmierung und dem Umgang<br />

mit Computerhardware ein.<br />

Im Wettlauf mit der Zeit<br />

Stricot und Vlaminck sind gerade dabei, Paul Garrins Yuppie Ghetto<br />

with a Watchdog zu untersuchen, ein Werk, bei dem unter anderem Laserdiscs<br />

und ein Röhrenfernseher zum Einsatz kommen. In dieser frühen<br />

interaktiven Rauminstallation – 1990 von Garrin im Berliner Amerika-<br />

Haus eingerichtet – projiziert der Künstler die Szene einer Yuppie-Party<br />

aus seinem Video Free Society auf eine von Gittern und Stacheldraht<br />

gesicherte Wand – zwischen Bild und Gitter kläfft ein Wachhund auf<br />

einem Monitor. Je näher die Betrachter:innen dem Bildschirm kommen,<br />

desto aggressiver reagiert der Hund. Während sich die Besucher:innen<br />

fragen, wie die Installation funktioniert, stellen sich die Restaurator:innen<br />

die Frage, wie man dieses Setup – analoges Video, digitale Steuerung<br />

– gänzlich ins Digitale überführen kann.<br />

„Zunächst reparieren wir das Kunstwerk oder rekonstruieren es mit historischen<br />

Ersatzteilen und erhalten es auf diese Weise in seinem ursprünglichen<br />

technischen Zustand. Dabei lernen wir viel über die Methoden,<br />

mit denen Künstler:innen neue Technologien erprobt haben. Oft<br />

haben sie die Technologien auch weiterentwickelt! Dieses technische<br />

Wissen und tiefe Verständnis des Originals brauchen wir, wenn wir ein<br />

Werk in eine neue Technologie übertragen“, sagt Morgane Stricot.<br />

Der Zeitdruck, frühe computerbasierte Arbeiten zu erhalten, steigt. Landet<br />

ein Objekt aus dem Depot auf dem Tisch der Restaurator:innen, versuchen<br />

sie zuerst einmal, die Arbeit der Medien- und Computerkunstpioniere<br />

zu analysieren und zu sichern. Vlaminck zeigt die Software von<br />

Paul Garrin, die auf dem Originalcomputer, einem Macintosh Quadra 605<br />

läuft: „Ich habe das alte Betriebssystem auf neuen Festplatten installiert<br />

und den alten Computer überholt. Ich muss die ursprüngliche Materialität<br />

erleben, um zu verstehen, wie ich sie am besten auf modernen<br />

Systemen präsentieren kann.“<br />

Medienkünstler:innen sind<br />

keine Elektrotechniker<br />

„Viele Künstler:innen haben einen individuellen, ja oft autodidaktischen<br />

Zugang und arbeiten ganz anders als beispielsweise ein Elektrotechni-<br />

68


[ Wir leben immer<br />

noch in einer<br />

Wegwerfkultur, die<br />

darauf ausgelegt<br />

ist, dass Geräte<br />

rasch verschleißen<br />

oder langfristig<br />

nicht mehr mit<br />

anderen Systemen<br />

kompatibel sind. ]<br />

MARGIT ROSEN<br />

69


Im Wettlauf gegen die Zeit<br />

ker“, erläutert Peller und zeigt auf Gebetsmühle, eine Arbeit von Walter<br />

Giers, Pionier der elektronische Kunst. Rund fünfzig Arbeiten aus dem<br />

Nachlass des 2016 verstorbenen deutschen Medienkünstlers müssen<br />

bis zur Ausstellungseröffnung im Oktober <strong>2022</strong> restauriert werden. In<br />

der Vorbereitung befasst sich die Restauratorin zusammen mit Christian<br />

Nainggolan, einem der Elektrotechniker des ZKM, bereits seit eineinhalb<br />

Jahren intensiv mit Giers und seinem Oeuvre. Wie die abstrakten<br />

Mönchsgesänge des Werks Gebetsmühle einst geklungen haben, weiß<br />

sie nicht: Sie arbeitet anhand der Erinnerungen anderer daran.<br />

Einen Tisch weiter, geschützt von einem weißen Tuch, liegt ein rund<br />

zwei auf zwei Meter großes Objekt. In Lichtwölbung aus dem Jahr 1977<br />

hat Walter Giers 400 Lämpchen verbaut. In dem Werk verschmelzen<br />

Licht und Klang per analogem Zufallsgenerator zu einem meditativen<br />

Erlebnis. „Giers hat für seine Werke keine Schaltpläne erstellt. Das Wissen<br />

der Künstler:innen kann nur schwer rekonstruiert werden“, erklärt<br />

Martin Häberle. „Anders als bei der Gemälderestaurierung kann man bei<br />

Elektronik nicht einfach eine Infrarot- oder Röntgenbildaufnahme machen,<br />

um zum Beispiel eine Vorzeichnung sichtbar zu machen“, ergänzt<br />

Marlies Peller.<br />

Das Innerste ans Licht bringen<br />

Dass Bauteile von damals heute nicht mehr auf dem Markt verfügbar<br />

sind, stellt eine weitere große Herausforderung für die Restaurierung<br />

von Medienkunst dar. Es ist nicht nur ein Kampf gegen den Verfall, sondern<br />

auch gegen die Abhängigkeit von einem Wirtschaftssystem, das<br />

auf den Verschleiß von Ersatzteilen ausgerichtet ist. „Wir leben immer<br />

noch in einer Wegwerfkultur, die darauf ausgelegt ist, dass Geräte rasch<br />

verschleißen oder langfristig nicht mehr mit anderen Systemen kompatibel<br />

sind“, sagt Margit Rosen. Deshalb sammelt das ZKM alte Geräte und<br />

Ersatzteile, die hier in Regalen und Schränken lagern: Glühbirnen, Monitore,<br />

Rechner der ersten Generationen, Nadeldrucker. In unzähligen<br />

Schubladen und Kisten schlummern Ersatzteile, die beim Ausschlachten<br />

alter Geräte oder auf Ebay zusammengetragen wurden und auf ihren<br />

Einsatz warten. Computerchips, Dioden, LEDs, Kondensatoren. Der Zeitgeist<br />

spielt der Restaurierung in die Karten: „Die Nachhaltigkeitsbewegung<br />

kommt uns zugute.“<br />

Wissenstransfer durch alle Zeiten<br />

Während Gemälde im Depot gut erhalten werden, bietet ein lichtgeschützter<br />

Raum keine Garantie für den Erhalt von Medienkunst-Objekten.<br />

„Insofern kann einem Medienkunstwerk eigentlich nichts Besseres<br />

passieren, als ausgestellt zu werden“, betont Margit Rosen. „Das<br />

ist einfach eine Grundregel der Computerforensik: Wenn zwischen zwei<br />

Konservierungsmaßnahmen zu viel Zeit liegt, ist die technologische Lücke<br />

zu groß, um das Kunstwerk wieder funktionsfähig zu machen“, fügt<br />

Morgane Stricot hinzu. Etwa eineinhalb Jahre vor der Ausstellungseröffnung<br />

werden die Arbeiten aus dem Depot geholt und bekommen einen<br />

Check-up. Danach wird entschieden, welche auf dem Restaurierungs-<br />

70


Weltweit einzigartig:<br />

ZKM-Sammlung<br />

von Medienkunst<br />

Die Sammlung des ZKM besteht<br />

seit 1989 und umfasst<br />

insgesamt rund 10.000<br />

Werke des 20. und 21. Jahrhunderts.<br />

Sie enthält Werke<br />

aller Gattungen der<br />

bildenden Kunst – Malerei,<br />

Zeichnung, Druckgrafik,<br />

Skulptur, Fotografie, Film,<br />

Video und Installation.<br />

Der Bestand an computerbasierten<br />

Installationen,<br />

Klangkunst, Videobändern<br />

und Videoinstallationen<br />

ist weltweit einzigartig.<br />

Etwa 26.000 Video- und<br />

Audiobänder sind Teil der<br />

Forschungssammlung des<br />

ZKM, die sowohl Werke<br />

der Videokunst als auch<br />

Dokumentationen zu Künstler:innen,<br />

Kunstwerken,<br />

künstlerischen Veranstaltungen<br />

und Ausstellun -<br />

gen von den 1960er-Jahren<br />

bis heute enthält.<br />

Während man in den Anfängen<br />

noch glaubte, Medienkunst<br />

wäre für die Ewigkeit<br />

geschaffen, wurde nach und<br />

nach die Notwendigkeit<br />

der Restaurierung sichtbar.<br />

Seit 2002 gibt es einen<br />

festangestellten Restaurator<br />

am ZKM. Im Laufe der<br />

Zeit wurde die Abteilung<br />

weiter ausgebaut.<br />

tisch landen. Steht dieser in der gläsernen Werkstatt,<br />

können die Besucher:innen einen Blick in das Innere<br />

dieser Medienkunstwerke werfen.<br />

Damit das Wissen von einer Generation zur nächsten<br />

nicht verloren geht, arbeiten Martin Häberle und<br />

erfahrene Kolleg:innen gemeinsam mit den jüngeren<br />

Mitarbeiter:innen an den Objekten aus der Sammlung.<br />

Es gibt europaweit nur wenige Ausbildungsstätten,<br />

die eine Spezialisierung auf die Konservierung und<br />

Erhaltung von neuen Medien anbieten – wie etwa die<br />

Hochschule der Künste in Bern und die Akademie der<br />

Bildenden Künste in Stuttgart.<br />

Manchmal hilft nur <br />

Hacking <br />

Technische Veränderungen, wie beispielsweise die<br />

Umstellung von Fernsehmonitoren auf das 16:9-Format,<br />

bilden sich auch in der Kunst ab – Künstler:innen<br />

nutzen für ihre Arbeiten in der Regel die in ihrer<br />

Zeit verfügbare Technik. Neben der Hardware kann<br />

freilich auch die Software eine Hürde darstellen. Immer<br />

wieder steht das ZKM beispielsweise vor dem<br />

Problem, dass ein defekter Computer nicht durch<br />

einen neuen ersetzt werden kann, wenn etwa Künstler:innen<br />

eine Einzelplatz-Lizenz eines Programms<br />

nutzten statt Open-Source-Software. „Hacking stellt<br />

in einem solchen Fall häufig die einzige Möglichkeit<br />

dar, um ein Kunstwerk wieder zum Laufen zu bringen.<br />

Ein kleines Programm täuscht vor, der neue Rechner<br />

sei der originale Rechner“, erklärt Vlaminck. „Mein<br />

Appell an die Künstler:innen lautet daher: Nutzt Open<br />

Source, wenn ihr wollt, dass eure Kunst überlebt!“<br />

Die gute Nachricht: Nicht alle Arbeiten sind so<br />

schwer ins Heute zu überführen. Walter Giers zum<br />

Beispiel verwendete gerne Backofenlampen. Die sind<br />

zwar nicht schwer zu bekommen, werden jedoch<br />

wahnsinnig warm, was im Ausstellungsraum und für<br />

die Materialien des Kunstwerks gefährlich sein kann.<br />

Deshalb testen sie in der Restaurierungswerkstatt<br />

gerade LEDs, sagt Marlies Peller. Bisweilen ist das<br />

Problem also banal: „Manchmal ist es nur die Glühlampe.“<br />

Kathrin Stärk<br />

71


Interaktion vorprogrammiert<br />

In der großen Sonderausstellung<br />

BioMedien verzaubert das interaktive<br />

Kunstwerk Agents gleich zu Anfang<br />

des Rundgangs Besucher:innen<br />

jeden Alters und animiert zum Mitmachen.<br />

Programmiert wurde die<br />

Instal lation von Yasha Jain. Sie ist aus<br />

ihrem Heimatland Indien ans ZKM<br />

gekommen und arbeitet als eine von<br />

fünf IT-Programmierer:innen am ZKM.<br />

Yasha Jain<br />

arbeitet<br />

seit 2020<br />

als Programmiererin<br />

im Hertz-<br />

Labor an<br />

digitalen<br />

Kunst werken<br />

76


Yasha Jain, wie kommt eine<br />

Programmiererin aus Indien<br />

an das ZKM in Süddeutschland?<br />

[ Das war purer Zufall: Für die Ausstellung<br />

Open Codes 2019 in Mumbai kam ich<br />

mit Leuten vom ZKM ins Gespräch. Das ZKM-<br />

Team war auf der Suche nach jemandem<br />

mit meinen Fähigkeiten, ich bewarb mich online<br />

und Peter Weibel hat mich eingestellt.<br />

Davor habe ich als Game-Designerin in Indien<br />

gearbeitet. ]<br />

Was ist für Sie das Besondere<br />

am ZKM?<br />

[ Man hat hier eine große Freiheit, über<br />

Konzepte nachzudenken, neue Projekte zu<br />

entwerfen und auszuprobieren. Ich kann<br />

hier meine Ideen entfalten und mich mit<br />

Kolleg:innen darüber austauschen.<br />

Außerdem besteht die Freiheit, Projekte<br />

nicht nur gedanklich im Kopf zu entwickeln,<br />

sondern auch tatsächlich zu realisieren.<br />

Ich bin frei in der Herangehensweise –<br />

ob spielerisch oder konzeptionell, im ZKM<br />

werde ich dabei unterstützt. Darüber<br />

hinaus habe ich Zugang zu den neusten<br />

Technologien und Kontakt zu Experten, die<br />

diese beherrschen. ]<br />

Wie kamen Sie in Kontakt mit<br />

der Kunst?<br />

[ Ich habe während meines Masterstudiums<br />

in den USA Kurse in der Kunst abteilung<br />

der Carnegie Mellon University belegt. In der<br />

Spieldesign-Firma in Indien war ich fasziniert<br />

von der Entwicklung des Spieldesigns<br />

und der Interaktion der Benutzer:innen<br />

mit den Programmen. Auch in Indien haben<br />

wir immersive Kunstinstallationen geschaffen,<br />

wenn auch nicht in der gleichen Größenordnung<br />

wie am ZKM. ]<br />

[ Etwa sechs Monate. ]<br />

Für die Ausstellung Biomedien haben<br />

Sie zusammen mit Ludger<br />

Brümmer, Komponist und Projektleiter<br />

am Hertz-Labor, die Instal -<br />

lation Agents entwickelt. In einem<br />

Raum interagieren fantasievolle<br />

Licht kreise und Klänge mit den<br />

Besucher:innen. Wie lange haben<br />

Sie an der Programmierung<br />

für dieses Kunstwerk gearbeitet?<br />

Wie darf man sich diese<br />

Programmierarbeit vorstellen?<br />

[ Drei Programmierer:innen haben die Software<br />

für diese Installation entwickelt.<br />

Das Tracking wurde von Bernd Lintermann<br />

geschrieben. Die „Verräumlichung“ des<br />

Klangs wurde mit der speziellen Software<br />

Zirkonium MK3 umgesetzt – programmiert<br />

von Dan Wilcox. Ich habe die gesamte<br />

visuelle und interaktive Programmierung<br />

gemacht und mich gefragt, wie die Lichtmuster<br />

wahrgenommen werden und<br />

wie die Lichter auf die Besucher:innen und<br />

ihre Bewegungen reagieren . ]<br />

Verstehen Sie sich als Programmierkünstlerin<br />

oder als<br />

künstlerische Programmiererin?<br />

[ Ich verstehe mich als künstlerische<br />

Programmiererin, die mit anderen Künstler:innen<br />

zusammenarbeitet. ]<br />

Wie sieht diese Zusammenarbeit<br />

aus?<br />

[ Normalerweise bin ich die Programmiererin.<br />

Die Künstler:innen entwickeln in<br />

der Regel das Konzept und ich überlege,<br />

wie man es umsetzen kann. Dann fühle ich<br />

mich auch ein bisschen wie eine Künstle ­<br />

rin – weil ich mit dem Einsatz von Technik<br />

etwas Neues erschaffe. ]<br />

77


Interaktion vorprogrammiert<br />

Haben Sie ein Beispiel für<br />

eine Arbeit, die das Spektrum<br />

erweitert hat?<br />

[ Viele Künstler:innen wollen mit künst ­<br />

licher Intelligenz arbeiten, weil diese voller<br />

neuer Möglichkeiten steckt. ]<br />

Wie beurteilen Sie künstliche<br />

Intelligenz?<br />

[ Es gibt schöne, kreative Arbeiten. Ich persönlich<br />

sehe jedoch durchaus auch Gefahren<br />

– beispielsweise wenn eine KI in die<br />

falschen Hände gerät. Es ist ein wenig<br />

beängstigend, dass es keine angemessenen<br />

Standards für die öffentliche Nutzung<br />

von KIs gibt. ]<br />

Wie ist die öffentliche Meinung<br />

darüber in Indien?<br />

[ In Indien arbeiten sehr viele Menschen im<br />

IT-Sektor, aber im Verhältnis zur Zahl<br />

der Nutzer:innen sind die Diskussionen über<br />

Datenschutz und digitale Rechte ziemlich<br />

spärlich. Da der Schutz der Privatsphäre<br />

ein heißes Thema ist, ist es in den Köpfen<br />

der Menschen präsenter als die Ethik<br />

der KI, die immer noch mit einer eher blauäugigen<br />

Sichtweise betrachtet wird.<br />

Am ZKM habe ich auch an einer Installation<br />

über KI und Fake News gearbeitet.<br />

In Zusammenarbeit mit Yannick Hofmann<br />

haben wir Botcast entwickelt. Es han ­<br />

delt sich um eine Radiosendung, die mit­<br />

[ Dan fühle ich<br />

mich auch<br />

ein bissche<br />

wie ei e<br />

Künstlerin, …]<br />

YASHA JAIN<br />

78


hilfe einer KI spekulative Nachrichten<br />

auf Grundlage realer, alltäglicher Nachrichtenthemen<br />

generiert. Ein künstlicher<br />

Klon unserer beiden Stimmen liest diese<br />

generierten Nachrichten vor. Die Sendung<br />

ist ein Kommentar zu Fake News und<br />

Bots im Internet, die die Grenzen zwischen<br />

echten und gefälschten Nachrichten<br />

fast ununterscheidbar verwischen. Mittlerweile<br />

werden mehr als 17.000 Botcasts im<br />

Jahr produziert. ]<br />

Wie sieht Ihr Job aus, jetzt<br />

wo Sie in Karlsruhe bleiben und<br />

leben wollen?<br />

[ Als Softwareentwicklerin im Hertz-Labor<br />

programmiere ich Kunstwerke. Ich habe das<br />

Gefühl, dass ich immer auf der Suche nach<br />

einem neuen Projekt und neuen Ideen bin. ]<br />

Sind in Ihrem Bereich viele<br />

Innovationen zu erwarten, die<br />

das Spektrum der digitalen<br />

Kunst in Zukunft erweitern werden?<br />

[ Oh ja! Wenn man die aktuellen Studien liest,<br />

kommt fast jeden Tag etwas Neues hinzu.<br />

Ich muss aufpassen, dass ich auf dem<br />

Laufenden bleibe. Es gehört schließlich zu<br />

meinem Job, den Anschluss an das<br />

technische Know-how nicht zu verlieren. ]<br />

Wird es weitere charmante<br />

Kunstwerke wie Agents geben?<br />

[ Ja, auf jeden Fall. Schon allein deshalb,<br />

weil die Menschen gerne und oft mit digitaler<br />

Kunst interagieren und sie nutzen. Und<br />

die Technik kann immer wieder erstaunliche<br />

neue Effekte hervorbringen. Jedes<br />

digitale Kunstwerk ist eine Selbsterfahrung,<br />

aus der man etwas Neues mitnimmt. ]<br />

Interview: Patrick Krause<br />

Yasha Jain<br />

Aktuelle Arbeiten<br />

am ZKM<br />

Agents ZKM | Jan. 2021 — Dez. 2021<br />

Gemeinsam mit Ludger Brümmer<br />

hat Yasha Jain diese<br />

audiovisuelle Installation<br />

geschaffen, die das Verhalten<br />

von Lebewesen anhand<br />

von algorithmisch gesteuerten<br />

digitalen Kreaturen<br />

simuliert. Die Besucher:innen<br />

werden durch ein<br />

Kamerasystem geortet und<br />

können so mit den Medien<br />

interagieren. (https://<strong>zkm</strong>.<br />

de/de/ausstellung/2021/12/<br />

biomedien)<br />

Botcast ZKM | Jan. 2021 — Dez. 2021<br />

Zusammen mit Yannick Hofmann<br />

hat Yasha Jain diese<br />

KI-generierte Radiosendung<br />

kreiert, die Themen aus<br />

realen Nachrichtenquellen<br />

aufnimmt und sie in Form<br />

von KI-generierter spekulativer<br />

Fiktion fortsetzt<br />

und sie dann auf einer bestimmten<br />

Frequenz ausstrahlt.<br />

Moderiert werden<br />

die Botcasts von einem Computerprogramm,<br />

das die<br />

Stimmen der Künstler:innen<br />

nachahmt. Das Wort „Botcast“<br />

ist eine Kombination<br />

aus den Wörtern „Bot“ und<br />

„Podcast“. (https://<strong>zkm</strong>.<br />

de/de/ausstellung/2021/12/<br />

biomedien)<br />

ML-Toolkit ZKM | Jan. 2020 — Dez. 2020<br />

Im Rahmen des Fond Digital-<br />

Projekts intelligent.<br />

museum hat Yasha Jain eine<br />

Software für Künstler:innen<br />

entwickelt, um maschinelle<br />

Lernalgorithmen zu<br />

nutzen und damit experimentieren<br />

zu können.<br />

79


Das Museum von morgen<br />

In den Forschungsprojekten<br />

Beyond Matter und intelligent.museum<br />

lotet das ZKM die Chancen der<br />

Digitalisierung für die Zukunft aus<br />

Demografischer Wandel, Klimakrise und Digitalisierung<br />

stellen Museen vor neue Herausforderungen.<br />

Die Gesellschaft verändert sich<br />

und entsprechend die Anforderungen der<br />

Besucher:innen. Diesen zu begegnen und<br />

Zugänge zu schaffen sind Aufgaben, bei<br />

denen die Digitalisierung eine doppelte Rolle<br />

einnimmt: einerseits Treiberin im Paradigmenwechsel,<br />

der die gesamte Kommunikation<br />

erfasst hat, andererseits Tor zu neuen We -<br />

gen. Welche Möglichkeiten sich Ausstellungsmacher:innen<br />

und Kunstvermittler:innen<br />

bieten, erforscht das ZKM in den Projekten<br />

Beyond Matter und intelligent.museum.<br />

80


Wie wird das Museum der Zukunft aussehen? Wo findet es statt? Und<br />

wer wird dorthin kommen? Das sind Fragen, die seit geraumer Zeit von<br />

den Museumsmacher:innen diskutiert werden. Auch das ZKM – ein Museum<br />

plus, wenn man so will – nimmt sich dieser Fragen in den Forschungsprojekten<br />

Beyond Matter und intellligent.museum an, um in<br />

einem nationalen und internationalen Netzwerk mit anderen Häusern,<br />

wie dem Deutschen Museum Nürnberg und dem Centre Pompidou Paris,<br />

Lösungen zu finden.<br />

1989 gegründet als „elektronisches Bauhaus“, aktuell ein „digitales Bauhaus“,<br />

in der Nachfolge des von Walter Gropius 1919 in Weimar gegründeten<br />

Bauhauses, stellt sich das ZKM immer wieder die Frage: Wie leben<br />

wir morgen? Dabei werden die technologischen Entwicklungen an<br />

der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technologie stets neu in<br />

den Blick genommen.<br />

Auf der Suche nach Antworten initiierte Lívia Nolasco-Rózsás 2019 am<br />

ZKM das EU-Projekt Beyond Matter. Cultural Heritage on the Verge of<br />

Virtual Reality mit fünf weiteren europäischen Institutionen. Im Rahmen<br />

dieses Projekts werden vergangene Ausstellungen im digitalen Raum<br />

inszeniert und so virtuell wieder erlebbar gemacht. Außerdem werden<br />

digitale Kunst- und Archivausstellungen, Konferenzen, Residency-<br />

Programme für Kunstschaffende und eine Online-Plattform umgesetzt.<br />

„Eines der Ziele des Projekts ist es, kulturelles Erbe digital aufzuarbeiten,<br />

beispielsweise durch 3D-Modelling. Digitale Ausstellungsmodelle dienen<br />

der Vermittlung und der wissenschaftlichen Ausarbeitung von vergangenen<br />

Ausstellungen. Die erarbeiteten Methoden der Virtualisierung<br />

und Software dafür stellen wir dann auch anderen Museen und Galerien<br />

zur Verfügung“, sagt die Projektleiterin Lívia Nolasco-Rózsás.<br />

Ausgangspunkt des Projekts sind die zwei ikonischen Ausstellungen<br />

Les Immatériaux 1985 im Pariser Centre Pompidou und Iconoclash von<br />

2002 im ZKM. Zu ihrer Zeit waren sie Gedankenexperimente, die in Form<br />

von Ausstellungen räumlich umgesetzt wurden und die sich mit wissenschaftlichen,<br />

technologischen sowie künstlerischen Praktiken auseinandersetzten.<br />

An ihnen führt das Projektteam exemplarisch die virtuelle<br />

Wiederbelebung vergangener Ausstellungsprojekte durch.<br />

Eintauchen in virtuelle Welten<br />

Um den Betrachter:innen das Erleben so attraktiv und interessant wie<br />

möglich zu gestalten, hat das Projektteam ein elektronisches Display<br />

angefertigt, das aus einem riesigen, gebogenen Monitor und einem<br />

Stuhl besteht, der die Bewegungen der Betrachter:innen aufnimmt und<br />

übermittelt. Auf diese Weise soll die „Immersion“ erleichtert werden,<br />

nach der seit jeher in digitalen Settings gesucht wird: Gemeint ist das<br />

Eintauchen in eine virtuelle Realität bis zu jenem Grad, da diese als real<br />

empfunden wird.<br />

Die entwickelte Hardware heißt Immaterial Display und ist Teil der Wanderausstellung<br />

Matter, Non-Matter, Anti-Matter. Vergangene Ausstellungen<br />

als digitale Erfahrungen, die von Dezember <strong>2022</strong> bis April 2023 vor<br />

Ort im ZKM gastieren wird. So kann eine Museumserfahrung ein ver-<br />

81


Das Museum von morgen<br />

knüpftes Erlebnis werden, das analog beginnt und im Digitalen weitergeführt<br />

wird – oder anders herum.<br />

Künstliche Intelligenz im Museum<br />

Die Möglichkeiten, die sich durch die technologischen Entwicklungen<br />

der künstlichen Intelligenz (KI) eröffnen, untersucht das Netzwerk-Projekt<br />

intelligent.museum (2020–2024), das, von Peter Weibel initiiert, in<br />

Kooperation mit dem Deutschen Museum umgesetzt wird und durch die<br />

Kulturstiftung des Bundes gefördert wird. In Zusammenarbeit mit internationalen<br />

Künstler:innen entstehen funktionale KI-gestützte Anwendungen<br />

und künstlerische Werke, von denen ein Teil bis August <strong>2022</strong> in<br />

der Ausstellung BioMedien im ZKM zu sehen ist.<br />

Welche Sprache die Besucher:innen im Ausstellungsraum sprechen,<br />

kann beispielsweise Spoken Language Identification: An AI-assisted<br />

Museum Label (2020–2021) mit dem Einsatz einer künstlichen Intelligenz<br />

und Sensoren erkennen und daraufhin seine eigene Werkbeschreibung<br />

auf dem elektronischen Display in der jeweiligen Sprache anzeigen.<br />

Entwickelt wurde die Arbeit vom Projektteam intelligent.museum<br />

und findet hier im ZKM ihren ersten Einsatz. „Obwohl im Alltag KI immer<br />

häufiger eingesetzt wird, bleibt den meisten Menschen die zugrundeliegende<br />

Technologie verborgen. Dieser Umstand erschwert die gesellschaftliche<br />

Auseinandersetzung und fördert die Mystifizierung. Deshalb<br />

machen wir KI-Technologie für Künstler:innen und eine interessierte Öffentlichkeit<br />

zugänglich“, erläutert der künstlerische Leiter und Entwickler<br />

des Projekts Yannick Hofmann den Ansatz.<br />

Eine Comicfigur erklärt die Welt<br />

der Datensätze<br />

Auf der Suche nach neuen Wegen musealer Kommunikation und Vermittlung<br />

werden am ZKM die passenden digitalen Werkzeuge entwickelt<br />

und die Programmcodes veröffentlicht. Ganz spielerisch können sich<br />

Besucher:innen an der Station von Eggcelsior an der Entwicklung eines<br />

internationalen Sprachdatensets beteiligen. Die namensgebende, eierförmige<br />

Comicfigur lässt die Interessierten in ihrer Muttersprache Text<br />

einsprechen und führt praktisch vor, wie ein Datensatz zum Training<br />

einer KI aufgebaut wird. Dieser ist die nötige Grundlage, damit unterschiedliche<br />

Sprachen richtig zugeordnet werden können. „Tatsächlich<br />

ist so eine KI recht dumm: Eine KI wird vorab zwar mit vielen Texten gefüttert<br />

und damit trainiert, doch sie kann Sprache nicht im wirklichen<br />

Sinne verstehen“, erklärt Dr. Ralf Eger vom intelligent.museum.<br />

Hör mal, wer da spricht<br />

Eine kritische Betrachtung der künstlichen Intelligenz und ihrer Einsatzgebiete<br />

ist das Ziel, das Yannick Hofmann auch mit der Arbeit Botcast<br />

82


[ Digitale Ausstel-<br />

LÍVIA NOLASCO-RÓZSÁS<br />

lungsmodelle<br />

dienen der<br />

Vermittlung und<br />

der wissen -<br />

schaftlichen Ausarbeitung<br />

von<br />

vergangenen<br />

Ausstellungen. ]<br />

83


Das Museum von morgen<br />

(2021) verfolgt, das er zusammen mit der ZKM-Programmiererin<br />

Yasha Jain erschaffen hat. Hier nutzt<br />

eine KI die Stimmen der beiden Künstler:innen sowie<br />

aktuelle Radiobeiträge, um daraus neue Sendungen<br />

zusammenzusetzen, die von realen „Broadcasts“<br />

nicht zu unterscheiden sind – so genannte Deep<br />

Fakes. Der Krieg in der Ukraine findet sich in den<br />

künstlich erzeugten Programmen mit wenigen Stunden<br />

Verzögerung wieder. Indem das Vorgehen vorgeführt<br />

wird, schärft man das Bewusstsein des Publikums,<br />

wachsam zu bleiben gegenüber solchen durch<br />

Medien vermittelten „Wahrheiten“.<br />

Auf dem Dashboard intelligent.museum werden alle<br />

Daten sichtbar gemacht, die im ZKM personenunabhängig<br />

erhoben werden: Temperaturen, Feuchtigkeitswerte,<br />

Anzahl der Menschen in der Ausstellung.<br />

„Wir wollen alle Daten, die wir zur Verfügung haben,<br />

sichtbar machen. Dabei verzichten wir absichtlich<br />

auf alle personenbezogenen Daten“, so Eger. „Das<br />

ist ein erster Schritt – ein künstlerisches Experiment,<br />

das mich neugierig macht was daraus entstehen<br />

kann.“ Die gesammelten Daten werden beispielsweise<br />

dem Hackathon Coding Da Vinci zur Verfügung<br />

gestellt, der im Mai <strong>2022</strong> im ZKM ausgetragen wird.<br />

„Wir verfolgen einen Ansatz zu KI, der den Menschen<br />

in den Mittelpunkt stellt und nicht allein auf technische<br />

Faktoren abzielt, und orientieren uns an humanistischen<br />

Werten wie der Ethik. Risiken wie beispielsweise<br />

KI-generierte Fake News oder Diskriminierung<br />

beim Einsatz von KI werden beleuchtet“,<br />

betont Yannick Hofmann.<br />

Menschen, denen<br />

diese Ausstellung gefiel,<br />

mochten auch …<br />

Dass man also nach einem Besuch des ZKM eine<br />

Empfehlung via Tripadvisor erhält mit Ausstellungen,<br />

die einem auch gefallen könnten, wird daher ganz<br />

bewusst nicht umgesetzt. Personenbezogene Daten<br />

werden nicht erhoben und genutzt. Dem ZKM ist<br />

eine gesellschaftskritische Haltung seit jeher eigen<br />

und quasi mit dem Gründungsmythos durch Heinrich<br />

Klotz in seine DNA eingeschrieben. Dass man<br />

jedoch personenunabhängige Daten sinnvoll einsetzen<br />

kann, wurde auch in der Pandemie deutlich – um<br />

zum Beispiel alle Besucher:innen durch datenbasierte<br />

Leitsysteme großflächig über alle Ausstellungsräu-<br />

Beyond Matter<br />

Das europäische Forschungsprojekt<br />

Beyond Matter<br />

(2019–2023) hat das Ziel,<br />

das kulturelle Erbe durch<br />

Digitalisierung der<br />

Nachwelt zu erhalten – mit<br />

besonderem Augenmerk<br />

auf räumliche Bezüge, das<br />

Kuratieren und die Kunstvermittlung<br />

bei Ausstellungsprojekten.<br />

Das<br />

Projekt wird von der<br />

Europäischen Union kofinanziert,<br />

die Software- und<br />

Hardwareentwicklung für<br />

die Museen der Zukunft wird<br />

im Rahmen des Projekts<br />

von der Beauftragten der<br />

Bundesregierung für Kultur<br />

und Medien gefördert.<br />

Projektpartner sind:<br />

Centre national d’art et de<br />

culture Georges Pompidou<br />

in Paris/Frankreich,<br />

Tallinn Art Hall/Litauen,<br />

Tirana Art Lab/Albanien,<br />

Ludwig Museum – Museum of<br />

Contemporary Art in<br />

Budapest/Ungarn und Aalto<br />

University, Espoo/Finnland.<br />

www.beyondmatter.eu<br />

84


me zu verteilen, damit diese auf Abstand zu einander<br />

bleiben können.<br />

Wo findet das Museum <br />

in Zukunft statt? <br />

Will man die Zugänge öffnen und neue Communities<br />

ansprechen, muss man als Museum dorthin gehen,<br />

wo sich Besucher:innen und Nicht-Besucher:innen<br />

aufhalten – und das ist in steigendem Maße im Digitalen.<br />

Laut einer Onlinestudie des ARD und ZDF nutzten<br />

in Deutschland 2021 fast 67 Millionen Menschen<br />

das Internet – 100 Prozent der unter 50-Jährigen, 95<br />

Prozent der Gruppe zwischen 50 und 69 Jahren und<br />

77 Prozent der ab 70-Jährigen.<br />

Gerade bei Kindern und Jugendlichen kann man beobachten,<br />

wie sich ihr soziales Leben zu weiten Teilen<br />

in den digitalen Raum verlagert hat – zum Chatten<br />

und Zeitvertreib auf TikTok, Instagram und Messenger-Diensten<br />

wie WhatsApp und Co., verbunden<br />

über WLAN mit anderen Welten von Minecraft, Fortnight<br />

und GT, auf Discord zum Quatschen während<br />

des Spiels – aber eben auch, um ein Referat für die<br />

Schule vorzubereiten. Wie unentbehrlich ein reales<br />

Zusammentreffen mit anderen Menschen ist, die soziale<br />

Interaktion und der Austausch, das wurde spätestens<br />

mit Corona und dem damit einhergehenden<br />

Social Distancing deutlich – und dass Face-to-Face-<br />

Kommunikation nicht ersetzt werden kann.<br />

intelligent.museum<br />

Durch das Programm Kultur<br />

Digital der Kulturstiftung<br />

des Bundes wird das von<br />

Peter Weibel initiierte<br />

Projekt intelligent.museum<br />

(2020–2024) in Kooperation<br />

mit dem Deutschen Museum<br />

Nürnberg und dem Fraunhofer<br />

Institut für Optronik,<br />

Systemtechnik und Bildauswertung<br />

(IOSB), Karlsruhe<br />

realisiert. Das Projekt<br />

will Museumsbesucher:innen<br />

zu einer kritischen Auseinandersetzung<br />

mit künstlicher<br />

Intelligenz anregen<br />

und befähigen. Ziel ist<br />

es, aktuelle Entwicklungen<br />

zu hinterfragen und die<br />

Potenziale des Einsatzes<br />

von KI im Museum zu erkunden.<br />

Inwieweit erlaubt<br />

uns KI die Barrieren im<br />

Ausstellungsraum abzubauen<br />

und das Museumserlebnis<br />

inklusiver zu gestalten?<br />

www.intelligent.museum<br />

Am ZKM stellen wir uns viele Fragen: Vielleicht sollten<br />

wir analog und digital nicht als Gegensatzpaar,<br />

sondern zusammen denken? Wie sieht das Museum<br />

der Zukunft aus? Was wird man dort erleben? Wie<br />

können wir ganz unterschiedliche Communities ansprechen<br />

und für Kunst begeistern? Die beiden Projekte<br />

Beyond Matter und intelligent.museum zeigen,<br />

welche Möglichkeiten sich ergeben, und eröffnen<br />

weitere Handlungsfelder.<br />

Die Antworten sind so vielfältig wie unsere Gesellschaft.<br />

Was bleibt, ist das Museum als Ort der Kommunikation<br />

und des Austauschs der Menschen.<br />

Tanja Binder<br />

85


Nach den Sternen greifen<br />

Seit 1988 unterstützt die Fördergesellschaft<br />

das ZKM tatkräftig: Hartmut Graf und<br />

Leonie Kroll sind zwei der rund 450 Mitglieder<br />

Noch vor dem ZKM selbst wurde in Karlsruhe<br />

im Jahre 1988 die Fördergesellschaft<br />

ZKM / HfG e.V. gegründet – von Bürger:innen<br />

sowie Persönlichkeiten des öffentlichen<br />

Lebens, die seither das Zentrum für Kunst und<br />

Medien und die Staatliche Hochschule für<br />

Gestaltung (HfG) sowohl ideell als auch materiell<br />

unterstützten. Zirka 450 Mitglieder<br />

zählt der Förderverein aktuell. Hartmut Graf ist<br />

seit den Anfängen dabei; jüngstes Mitglied<br />

ist Leonie Kroll.<br />

86


Fünf Milligramm Mond stehen auf seinem Schreibtisch.<br />

Hartmut Graf zählt zu den langjährigsten Mitgliedern in<br />

der Fördergesellschaft des ZKM: Am 22.02.1989 trat er<br />

dem Förderverein bei. Graf, der sich selbst als „pensionierten<br />

Kunst-Oberstudienrat“ definiert und identifiziert,<br />

studierte Kunst an der Staatlichen Akademie<br />

der Bildenden Künste Karlsruhe, wählte jedoch für sich<br />

den Weg des Kunstvermittlers. Vor dem Studium hatte<br />

er indes noch ein anderes Leben: Graf arbeitete als<br />

Chemisch-technischer Assistent am Heidelberger Max-<br />

Planck-Institut für Kernphysik.<br />

Spuren hinterlassen<br />

„Wenn man früh beitritt, kann das keine negativen Spuren<br />

hinterlassen“, dachte er sich, als er vor 33 Jahren<br />

Teil der Fördergesellschaft wurde. Er war bereits im<br />

Schuldienst und verbeamtet und wollte „in der Karlsruher<br />

Kultur wenigstens finanziell etwas hinterlassen“.<br />

In den späten 1980er-Jahren konnte man die Beitrittserklärung<br />

nicht einfach per Mausklick herunterladen,<br />

sondern musste seine Mitgliedschaft bei einer Rechtsanwaltskanzlei<br />

eintragen lassen. Ein Gang, den Graf bis<br />

heute nicht bereut, wie er humorvoll anmerkt: „Wie<br />

heißt es bei den Marx Brothers? ‚Ich möchte nicht Mitglied<br />

sein in einem Verein, der mich aufnimmt.‘ Das ist<br />

hier anders.“<br />

Graf versucht bei den Mitgliederversammlungen immer<br />

dabei zu sein, und meldet sich auch mal zu Wort, wenn<br />

es etwa um die Änderung des Förderverein-Logos geht.<br />

Er ist also kein stilles Mitglied im engeren Sinn. Zuletzt<br />

habe ihn und seine Frau die Führung durch die Ausstellung<br />

Critical Zones begeistert: „Die Kuratorinnen sind<br />

so fantastisch, das genießen wir sehr.“<br />

Eine schöne Bescherung<br />

Auf ihre erste Mitgliederversammlung wartet Leonie<br />

Kroll noch. Die 24-Jährige ist erst im April 2021 wegen<br />

ihres Masterstudiums Wissenschaft – Medien – Kommunikation<br />

nach Karlsruhe gezogen. „Das kann man<br />

hier am Karlsruher Institut für Technologie studieren.<br />

Aus beruflichem Interesse und weil ich generell sehr<br />

kunstinteressiert bin, stand das ZKM ganz oben auf<br />

meiner Liste“, sagt sie. Eine Leidenschaft, die sie mit<br />

ihrer Schwester teilt.<br />

Eine schöne Überraschung gab es am 24. Dezember:<br />

Die Mitgliedschaft im Förderverein war ein Weihnachts-<br />

87<br />

Talentschmiede<br />

der besonderen Art<br />

[MASTERCLASS] am ZKM<br />

Seit 2014 ermöglichen die<br />

Fördergesellschaft ZKM /<br />

HFG e.V. und die Schroff<br />

Stiftung die [MASTERCLASS]<br />

am ZKM. Das Stipendium<br />

ermöglicht bis zu sechs jungen<br />

Menschen, zwischen<br />

15 und 19 Jahren, aktuelle<br />

Kunstströmungen sowie<br />

das Programm des ZKM intensiv<br />

kennen zu lernen.<br />

Im Austausch mit Gleichgesinnten<br />

und professionellen<br />

Kunstschaffenden<br />

erlernen die Nachwuchstalente<br />

in mehrtägigen<br />

Künstler:innen-Workshops,<br />

den Umgang mit neuen<br />

Medien und erhalten eine<br />

umfassende Weiterbildung<br />

in den Bereichen<br />

Werkkonzeption, Videound<br />

Klangkunst sowie Fotografie,<br />

um ihre eigenen<br />

künstlerischen Ideen und<br />

Vorstellungen weiterentwickeln<br />

zu können.<br />

Ziel des Stipendiums ist<br />

die Gestaltung und<br />

Präsentation einer digitalen<br />

Ausstellung. Dabei<br />

stehen den Stipendiat:innen<br />

beratend Künstler:innen<br />

und Kurator:innen als Mentor:innen<br />

zur Seite.<br />

Geleitet wird das Projekt<br />

von Janine Burger und Alexandra<br />

Hermann. Abschluss<br />

und Höhepunkt der [MAS-<br />

TERCLASS] ist die Umsetzung<br />

einer digitalen Ausstellung.<br />

In diesem Jahr findet<br />

die Eröffnung am 29. Juli<br />

<strong>2022</strong> statt. Präsentiert<br />

werden digitale Werke von<br />

Hazel Althen, Mehdi Attar,<br />

Laura Sophia Karle, Jannis<br />

Prox, Jasmin Schaller<br />

und Celina Stieber.<br />

Siehe https://<strong>zkm</strong>.de/de/projekt/<br />

masterclass-am-<strong>zkm</strong>


Nach den Sternen greifen<br />

[ Ich interessiere<br />

LEONIE KROLL<br />

mich generell<br />

sehr für Medien,<br />

besonders wie hier<br />

am ZKM Kunst<br />

und Wissenschaft<br />

kombiniert<br />

wer den, finde ich<br />

faszinierend. ]<br />

88


geschenk. „Darüber habe ich mich sehr gefreut. Meine<br />

Schwester kennt mich einfach gut“, sagt Leonie Kroll,<br />

die sonst eher in klassische Kunstmuseen geht. Am<br />

ZKM fasziniert sie, wie vielfältig es ist. „Ich interessiere<br />

mich generell sehr für Medien, besonders wie hier am<br />

ZKM Kunst und Wissenschaft kombiniert werden, finde<br />

ich faszinierend.“<br />

Zwischen Kultur und<br />

Gesellschaft vermitteln<br />

Mit der Fördergesellschaft hatte sie bislang noch keine<br />

wirklichen Berührungspunkte und ist bereits gespannt,<br />

was auf sie zukommt. Gerade bei der Ausstellung Critical<br />

Zones habe sie gemerkt, dass einige Exponate<br />

mehr Hintergrundwissen erfordern, „deshalb freue<br />

ich mich besonders auf die Führungen“. Toll findet sie,<br />

dass man Gesellschaft, Kunst und Museum so verbinden<br />

kann und möchte sich auch gerne einbringen. „Der<br />

Austausch zwischen der Gesellschaft und Kulturinstitutionen<br />

wie dem ZKM ist super spannend und wichtig.“<br />

Wie sie da als Mitglied der Fördergesellschaft mitwirken<br />

kann, wird sich zeigen. Kroll ist jedenfalls sehr daran<br />

interessiert, mit anderen Mitgliedern zusammenzukommen.<br />

Nicht nur in einem Text. Kathrin Stärk<br />

Fördergesellschaft<br />

ZKM / HfG e.V.<br />

Dabei sein<br />

und mitmachen<br />

Die Fördergesellschaft<br />

unterstützt das ZKM<br />

und die HfG gleichermaßen<br />

und ist dabei sogar<br />

älter als beide Institutionen.<br />

Ihre Gründung<br />

geht zurück auf die Idee,<br />

in Karlsruhe einen Ort<br />

aufzubauen, an dem Kunst,<br />

Forschung und Lehre<br />

vernetzt stattfinden. Informieren<br />

Sie sich unter<br />

www.<strong>zkm</strong>.de über die<br />

Vorteile einer Mitgliedschaft.<br />

Fördergesellschaft ZKM / HfG e.V.<br />

T +49 (0) 721/8100-1260<br />

F +49 (0) 721/8100-1269<br />

foerdere@<strong>zkm</strong>.de<br />

89


Was braucht man zum Aufbau<br />

einer Ausstellung im ZKM?<br />

A Abdeckhauben<br />

Abdeckplane<br />

Absperrband<br />

Adapter<br />

Akkuschrauber<br />

Arbeitsschuhe<br />

Arbeitstisch<br />

Arthandler:in,<br />

Audioplayer<br />

Audiospezialist:in<br />

Aufbau -<br />

anleitung<br />

B Besen<br />

Bilderwagen<br />

Bodenbelag<br />

Bohrer<br />

Brille<br />

Bügelsäge<br />

C Computer<br />

Cutter<br />

D Datenbanken<br />

E Elektro fach kraft<br />

Elko<br />

Entfernungsmesser<br />

F<br />

Farbe<br />

Feile<br />

Fotoapparat<br />

G Gabelstapler<br />

Geduld<br />

Glashauben<br />

Glassauger<br />

Gurte<br />

H Hängewagen<br />

Haken<br />

Halterungen<br />

Hebebühne<br />

Hubwagen<br />

Interesse<br />

I<br />

J<br />

K<br />

L<br />

Japansäge<br />

Kabel<br />

Kabelbinder<br />

Kamera<br />

Kisten<br />

Konstruktionsholz<br />

Konverter<br />

Kunst<br />

Lasermess gerät<br />

Lautsprecher<br />

Leiter<br />

Leimbinder<br />

Leuchten<br />

Liftlux<br />

M Magnete<br />

Manuals<br />

Marker<br />

Möbelroller<br />

Messgeräte<br />

Molton<br />

Monitore<br />

N Netzwerk<br />

Nerven<br />

Netzwerkspezialist:in<br />

O Objektpfleger:in<br />

Organisationstalent<br />

P Packdecken<br />

Paletten<br />

Pausen<br />

Plan<br />

Plattenwagen<br />

Programmierer:in<br />

Prints<br />

Projektoren<br />

90


Projektionsfolie<br />

Prüfgerät<br />

Q Qualifizierte<br />

Arbeitskräfte<br />

R Rahmen<br />

Registrar:in<br />

Reinigungsmittel<br />

Restaurator:in<br />

Rohre<br />

S Schaumstoff<br />

Scheinwerfer<br />

Schere<br />

Schleifgerät<br />

Schrauben<br />

Schraubendreher<br />

Sockel<br />

Stahlseil<br />

Stativ<br />

Staubsauger<br />

Stift<br />

Switch<br />

T Tape<br />

Taschenlampe<br />

Telefon<br />

Teppichboden<br />

Tischlerplatten<br />

Traversen<br />

Tyvek ®<br />

U Umsicht<br />

Unterlagen<br />

V Verlängerungskabel<br />

Verstärker<br />

Videoplayer<br />

Videospezialist:in<br />

Vielfachsteckdosen<br />

Vitrinen<br />

Voltmeter<br />

W Wasserwaage<br />

Wlan<br />

Wolfsburger<br />

System<br />

X<br />

Y<br />

Z<br />

Zange<br />

Zeit<br />

Zurrgurt<br />

Zuspruch<br />

Museumstechnik<br />

Das ZKM<br />

als Ausstellungsbetrieb<br />

Informationstechnik, Restaurierung,<br />

Objektdokumentation,<br />

audio-visuelle<br />

Medientechnik, Arthandling,<br />

Elektrotechnik,<br />

Lichttechnik, Depotverwaltung,<br />

Transportlogistik,<br />

Leihverkehr und technische<br />

Projektleitung bei Ausstellungsproduktionen:<br />

Bei<br />

der Museumstechnik laufen<br />

die Fäden des eng getakteten<br />

Ausstellungsbetriebs<br />

des ZKM zusammen.<br />

Auf kurzem Wege werden<br />

Medienkunstwerke instandgesetzt,<br />

Bilder und Ob -<br />

jekte restauriert und Ausstellungen<br />

medial und<br />

räumlich geplant und umgesetzt.<br />

Installationen<br />

der Sammlung und im Haus<br />

produzierte mediale Kunstwerke<br />

werden in die Museen<br />

in aller Welt transportiert<br />

und dort von den Techniker:innen<br />

des ZKM aufgebaut.<br />

In enger Abstimmung und<br />

Zusammenarbeit mit<br />

Künstler:innen und Kurator:innen<br />

entstehen so pro<br />

Jahr ein Dutzend Ausstellungen,<br />

die das Team der<br />

Museums-und Ausstellungstechnik<br />

auf die Beine<br />

stellt. Mit Einfühlungsvermögen<br />

und professionellem<br />

Know-how wird eine<br />

Qualität erreicht, die den<br />

französischen Philosophen<br />

und Kurator Bruno Latour<br />

2016 zu der Aussage<br />

veranlasste, das Technikteam<br />

des ZKM sei das beste<br />

auf der ganzen Welt.<br />

91


Eine Liga für sich<br />

Die Publikationen des ZKM genießen weltweit<br />

ein ausgezeichnetes Renommee: Was<br />

die Veröffentlichungen so besonders macht,<br />

erläutern Jens Lutz und Miriam Stürner<br />

aus der Publikationsabteilung im Interview.<br />

Herr Lutz, Frau Stürner: Sie kamen<br />

als studentische Hilfskräfte ans<br />

ZKM um Ausstellungskataloge zu<br />

machen. Heute leiten Sie die<br />

Publikationsabteilung. Was macht<br />

Ihre Arbeit aus?<br />

[ Unsere Arbeit ist sehr vielfältig und vielschichtig.<br />

Wie in einem Verlag begleiten wir<br />

die Publikationen des ZKM von der<br />

Idee über die Konzeption bis zur Auslieferung<br />

weltweit. Und dazwischen in allen<br />

Arbeitsschritten auch. Planungsgespräche<br />

mit Herausgeber:innen oder Künstler:innen,<br />

Kontaktaufnahme zu Autor:innen, klären<br />

von Text- und Bildrechten, erarbeiten des<br />

Layouts mit den Grafiker:innen, das Lektorat<br />

und die Redaktionsarbeit. Wir kümmern<br />

uns auch um die Druckabnahme – die<br />

kann bei einem umfangreichen Buch auch<br />

schon einmal 72 Stunden in Anspruch<br />

nehmen – und sorgen dafür, dass die Bücher<br />

an die Verlage ausgeliefert werden. ]<br />

96


Das ZKM publiziert jährlich eine<br />

Reihe an sehr unterschiedlichen<br />

Titeln. Wie lässt sich das<br />

Buchprogramm charakterlich<br />

fassen und beschreiben?<br />

[ Die ZKM-Publikationen sind weltweit<br />

längst eine eigene Marke. Viele unsere Bücher<br />

sind Standardwerke im Umfeld von<br />

Kunst und Gesellschaft. Die Stärke unseres<br />

Programms liegt vor allem darin, dass wir<br />

vielfach über Themen und Künstler:innen<br />

publizieren, die marginalisiert sind.<br />

Trotzdem oder gerade deswegen sind die<br />

Bücher oft schnell ausverkauft und werden<br />

dann zu exorbitanten Preisen auf<br />

diversen Verkaufsplattformen angeboten.<br />

Die Programmplanung folgt der Gründungsmaxime<br />

des ZKM, ein Museum aller Gattungen<br />

und Medien zu sein. Daher umfasst<br />

unser Programm Bücher über Malerei,<br />

über Klangkunst, Film usw. Vor allem präsentieren<br />

wir den Leser:innen die<br />

wichtigsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts<br />

– von Aktionskunst bis Medienkunst,<br />

von Tanzkunst bis Sound Art<br />

auf wissenschaftliche und enzyklopädische<br />

Weise. ]<br />

Kataloge erscheinen zumeist<br />

weit nach der Ausstellung. Gibt es<br />

einen Grund?<br />

[ Ausstellungen sind am ZKM gewissermaßen<br />

Forschungsprojekte, die in ein Buch<br />

münden. Peter Weibel zitiert immer gerne<br />

Stéphane Mallarmé: „Tout, au monde,<br />

existe pour aboutir à un livre“ – Alles auf<br />

der Welt existiert, um in ein Buch einzugehen.<br />

Viele unserer Publikationen sind also<br />

wissenschaftlich gut recherchiert. Es sind<br />

oftmals Anthologien, in denen Themen<br />

umfangreich und aus mehreren Perspektiven<br />

betrachtet werden. Die Bücher sind<br />

deshalb aber meist auch dick und schwer<br />

und eignen sich nicht sonderlich gut als<br />

Bettlektüre – einschlafen kann man damit<br />

vielleicht schon, nur sollte man tunlichst<br />

das Buch dabei nicht auf den eigenen Kopf<br />

fallen lassen.<br />

Außerdem wird die typische Ausstellungspublikation<br />

mit ein oder zwei Texten<br />

und einem mehr oder weniger umfangreichen<br />

Bildteil, der die Werke der Ausstellung<br />

zeigt, im ZKM nur selten produziert. Uns<br />

ist es immer daran gelegen, Publikationen<br />

zu erstellen, in denen Themen umfangreich<br />

betrachtet und präsentiert werden. Es<br />

sollen auch Erkenntnisse, die während<br />

der Ausstellungsdauer – zum Beispiel in begleitenden<br />

Symposien – erlangt werden,<br />

Eingang in das Buch finden. Dieses Ziel und<br />

die Tatsache, dass für unsere Ausstellungen<br />

auch oft Werke entstehen, die es so vorher<br />

noch nicht gab, führt dazu, dass die Bücher<br />

zu unseren Ausstellungen oft erst<br />

nach Ausstellungsende erscheinen, sie aber<br />

aufgrund ihrer thematischen Relevanz<br />

und Ausführlichkeit viele Jahre lang verkauft<br />

werden. ]<br />

Sie sprachen davon, dass<br />

die ZKM-Publikationen<br />

weltweit sehr renommiert sind.<br />

Woher kommt das?<br />

[ In Europa ist das ZKM sicherlich das einzige<br />

Museum, dessen Kataloge regel mäßig<br />

bei internationalen Wissenschaftsverlagen<br />

erscheinen. Somit geht das weltweite<br />

Renommee des ZKM auch auf die verlegerische<br />

Tätigkeit zurück, denn durch<br />

unsere Verlage haben unsere englischsprachigen<br />

Bücher eine globale Distribution,<br />

sodass sie in Buchhandlungen von Bukarest<br />

bis Washington stehen. Im Grunde<br />

werden die Ausstellungen des ZKM durch<br />

unsere Kataloge weltweit sichtbar, weit<br />

über den Horizont des deutschen Feuilletons<br />

97


Eine Liga für sich<br />

hinaus. Dadurch bekommen wir Rezensionen<br />

und Auszeichnungen aus der<br />

ganzen Welt. Und durch unsere Kooperation<br />

mit englischsprachigen Wissenschafts<br />

verlagen werden wir auch im akademischen<br />

und universitären Bereich<br />

weltweit wahrgenommen. ]<br />

Gibt es Grundanforderungen,<br />

damit aus einer Idee ein Buch wird?<br />

Und wie entscheidet sich, in<br />

welchen Verlagen was erscheint?<br />

[ Grundsätzlich machen wir uns hier im<br />

ZKM natürlich vor Projektbeginn eingehend<br />

Gedanken über die jeweilige Publikation.<br />

Auch ob für das Thema die Buch-Form oder<br />

vielleicht eher eine DVD-, CD-, Video- und<br />

Filmedition oder rein digitale Publikationen<br />

sinnvoll wäre. Es gibt ganze Serien von<br />

multimedialen Editionen, die in Zusammenarbeit<br />

mit Verlagen wie Hatje Cantz entstanden<br />

sind.<br />

Wir sind natürlich stets darauf angewiesen,<br />

dass wir unsere Pläne auch finanzieren<br />

können; die Mittel, die uns zur Verfügung<br />

stehen, haben deshalb Einfluss auf die<br />

jeweilige Publikation. Glücklicherweise finden<br />

wir immer wieder externe finanzielle<br />

Unterstützung für unsere Projekte.<br />

Wir arbeiten aber mit einer ganzen Reihe von<br />

nationalen und internationalen Verlagen<br />

zusammen. Die großen wissenschaftlichen<br />

Publikationen zu unseren Themen- und<br />

Thesenausstellungen erscheinen deshalb<br />

häufig in englischer Sprache bei US-amerikanischen<br />

Wissenschaftsverlagen wie<br />

MIT Press oder der University of Minnesota<br />

Press. Nachdem klar ist, welchen Zuschnitt<br />

die jeweilige Publikation bekommen<br />

soll, fragen wir bei passenden Verlagshäusern<br />

an, ob sie Interesse am jeweiligen<br />

Buch haben. ]<br />

Wir haben Sie gebeten, für<br />

das <strong>zkm</strong>agazin die wichtigsten<br />

Publikationen der letzten zwei<br />

Jahre zusammenzustellen. Welche<br />

Titel gehören dazu und warum?<br />

[ Auf jeden Fall das große neue Standardwerk<br />

von Peter Weibel zur Skulptur des<br />

20. und 21. Jahrhunderts: Negative Space.<br />

Peter Weibel verfolgt in diesem Buch<br />

eine neue Theorie zur Skulptur, und auf über<br />

700 Seiten bietet das Buch zudem einen<br />

exzellenten Überblick über die Skulptur des<br />

20. und 21. Jahrhunderts. Nebenbei<br />

funktioniert es sogar als richtig schönes<br />

Coffee Table Book.<br />

Ebenso nachdrücklich empfehlen wir die<br />

Publikation Critical Zones. The Science<br />

and Politics of Landing on Earth,<br />

begleitend zur gleichnamigen Ausstellung<br />

bei MIT Press erschienen. Eine Ausstellung,<br />

kuratiert von Peter Weibel und<br />

Bruno Latour, die uns allen hier am<br />

ZKM sehr wichtig ist, weil es um die Zukunft<br />

unserer Erde geht. Das Buch wurde mit<br />

dem Prix Special der Jury des FILAF-Festivals<br />

(Perpignan, Frankreich) ausgezeichnet<br />

und von der New York Times als eines<br />

der wichtigsten Kunstbücher des Jahres<br />

gelistet. Eine gekürzte Fassung des<br />

englischen Buches ist auch auf Deutsch<br />

erschienen.<br />

Eine weitere Publikation, die uns wichtig ist,<br />

trägt den Titel Digital Imaginaries.<br />

Afrikanische Positionen jenseits des Binären.<br />

Das Ausstellungs- und Rechercheprojekt<br />

Digital Imaginaries brachte Kunstschaffende<br />

und Produzent:innen aus Kunst<br />

und Wissenschaft zusammen, um digitale<br />

Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent<br />

zu untersuchen. Das Buch präsentiert<br />

die überraschenden Ergebnisse dieses<br />

Austauschs und auch eine Vielzahl von<br />

98


künstlerischen Arbeiten. Vor dem Hintergrund<br />

der postkolonialistischen Debatten<br />

und dem immer wieder zu Recht kritisierten<br />

eurozentristischen Blick, den viele westliche<br />

Institutionen auf den Kontinent Afrika<br />

werfen, war diese Publikation eine große<br />

Herausforderungen, die wir Dank eines<br />

versierten Herausgeber:innenteams<br />

und vielen Texten von Künstler:innen und<br />

Wissenschaftler:innen, die auf dem<br />

afrikanischen Kontinent leben, hoffentlich<br />

gut gemeistert haben.<br />

Diese drei Titel sind nur eine winzig kleine<br />

Auswahl unseres Programmes. Gerne<br />

empfehlen wir einen Besuch im ZKM-Shop –<br />

ob online oder hier im ZKM selbst. ]<br />

Ganz herzlichen Dank Ihnen beiden<br />

für den Einblick in Ihre Arbeit<br />

Interview: Helga Huskamp<br />

ZKM-Publikationen<br />

2020–2021 (Auswahl)<br />

• Negative Space.<br />

Trajectories of Sculpture<br />

in the 20th and 21st<br />

Centuries, Englisch, 2021,<br />

Hg.: Peter Weibel, Anett<br />

Holzheid, VK: 60,00 €<br />

• Critical Zones.<br />

The Science and Politics<br />

of Landing on Earth,<br />

Englisch, 2020,<br />

Hg.: Bruno Latour, Peter<br />

Weibel, VK: 49,90 €<br />

• Critical Zones. Die<br />

Wissenschaft und Politik<br />

des Landens auf der Erde,<br />

2021, Hg.: Bruno Latour, Peter<br />

Weibel, VK: 19,90 €<br />

• Digital Imaginaries.<br />

Afrikanische Positionen<br />

jenseits des Binären /<br />

African Positions<br />

Beyond Binaries, Deutsch<br />

und Englisch, 2021,<br />

Hg.: Richard Rottenburg,<br />

Oulimata Gueye,<br />

Julien McHardy, Philipp<br />

Ziegler, VK: 35 €<br />

• Peter Weibel:<br />

Enzyklopädie der Medien,<br />

Band 4: Literatur<br />

und Medien, Deutsch, 2021,<br />

Autor: Peter Weibel,<br />

VK: 40 €<br />

• From Xenakis’s UPIC<br />

to Graphic Notation,<br />

Englisch, 2020, Hg.:<br />

Peter Weibel, Ludger Brümmer,<br />

Sharon Kanach, VK: 48 €<br />

Alle Publikationen finden Sie<br />

auch unter<br />

https://webshop.<strong>zkm</strong>.de/<br />

99


Wer steckt dahinter?<br />

Die Autor:innen<br />

des <strong>zkm</strong>agazins<br />

Tanja Binder leitet den Bereich Kommunikation und<br />

Marketing am ZKM. Als Journalistin hat sie für die Stuttgarter<br />

Zeitung, dpa, Süddeutsche Zeitung, Die Rheinpfalz,<br />

Allgemeine Zeitung Mainz geschrieben und an<br />

der Kunsthalle Mannheim war sie für die Presse- und<br />

Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich.<br />

Friedemann Dupelius untersucht die akustische Gegenwart.<br />

Als Journalist und Musiker ist er in verschiedenen<br />

Bereichen experimenteller und elektronischer Musik<br />

aktiv. Er schreibt Radiofeatures und Essays für u. a.<br />

WDR3, SWR2, BR Klassik, Deutschlandfunk, Neue Zeitschrift<br />

für Musik, Positionen und zweikommasieben.<br />

Helga Huskamp ist seit September 2021 am ZKM geschäftsführende<br />

Vorständin. Zuvor war sie an der Staats -<br />

galerie Stuttgart und an der Stiftung Bauhaus Dessau<br />

als Leiterin Kommunikation tätig sowie als stellvertretende<br />

Geschäftsführerin am Internationalen Dokumentarfilmfestival<br />

München.<br />

Patrick Krause, lebhaft in Köln, hat als promovierter<br />

Geisteswissenschaftler die journalistische Laufbahn<br />

eingeschlagen. Neben freien Beiträgen (u. a. Süddeutsche<br />

Zeitung) im Bereich Kultur und Stil ist sein<br />

Spezialgebiet die Entwicklung von Kunden<strong>magazin</strong>en.<br />

Seit 2015 ist er Chefredakteur des Reise<strong>magazin</strong>s QVEST.<br />

Ute M. Reindl ist Kunstkritikerin, Kuratorin und Übersetzerin.<br />

Sie schreibt unter anderem für den Berliner<br />

Tages spiegel, die Neue Zürcher Zeitung, das Kunstforum<br />

International, die Kunstzeitung, den ArtBlog Cologne,<br />

die Kölner StadtRevue, die TAZ und viele mehr. Sie<br />

ist zudem Vizepräsidentin des AICA Deutschland e.V.<br />

Ursula Scheer ist für das Ressort Kunstmarkt verantwortliche<br />

Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<br />

und schreibt immer wieder über Medienthemen und<br />

digitale Kunst. Für die Frankfurter Allgemeine Woche<br />

betreute sie zwei Jahre lang die Kultur- und Gesellschaftsseiten.<br />

Lena Schneider war Volontärin in der Abteilung Kommunikation<br />

und Marketing am ZKM.<br />

Kathrin Stärk ist freie Autorin, Texterin und Konzeptionerin.<br />

Beim Stuttgarter Stadt<strong>magazin</strong> LIFT war sie Chefredakteurin<br />

bevor sie im Jahr 2018 die Presse- und<br />

Öffentlichkeitsarbeit des Theater Rampe in Stuttgart<br />

übernahm.<br />

102


<strong>zkm</strong>agazin<br />

Nummer 1, <strong>2022</strong><br />

[ Innensicht ]<br />

Herausgegeben von<br />

ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe<br />

Helga Huskamp, geschäftsführende Vorständin<br />

Idee & Konzept Helga Huskamp<br />

Redaktion Tanja Binder<br />

Lektorat Jens Lutz, Miriam Stürner, Patrick Trappendreher<br />

Autor:innen Tanja Binder, Friedemann Dupelius,<br />

Patrick Krause, Helga Huskamp, Uta M. Reindl, Ursula<br />

Scheer, Lena Schneider, Kathrin Stärk<br />

Gestaltung 2xGoldstein (Andrew Goldstein,<br />

Jeffrey Goldstein, Erik Schöfer, Joshua Kaiss)<br />

Fotoessay Thomas Meyer, Ostkreuz<br />

Druck Stober Medien, Eggenstein<br />

Portraits Fotoessay: ZKM-Mitarbeiter:innen Dominik<br />

Kautz, Wolfgang Knapp, Bernd Lintermann, Christian<br />

Lölkes, Felix Mittelberger, Dorcas Müller, Cecilia Preiß,<br />

Jakob Schreiber, Patrick Trappendreher, Peter Weibel,<br />

Desiree Weiler, Beatrice Zaidenberg<br />

Unser Dank gilt der Fördergesellschaft ZKM / HfG e.V.,<br />

die das Magazin großzügig unterstützt hat.<br />

© <strong>2022</strong> ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe<br />

© Texte: die Autor:innen<br />

© Fotos: ZKM | Karlsruhe, Fotos: Thomas Meyer, Ostkreuz<br />

Hergestellt in Deutschland.<br />

103


ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe<br />

Lorenzstr. 19, 76135 Karlsruhe, T +49 (0)721/8100-1200<br />

info@<strong>zkm</strong>.de, www.<strong>zkm</strong>.de<br />

Künstlerisch-wissenschaftlicher Vorstand Peter Weibel<br />

Geschäftsführende Vorständin Helga Huskamp<br />

Verwaltungsleitung Boris Kirchner<br />

Stifter des ZKM<br />

Partner des ZKM

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