zkm-magazin-2022
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<strong>2022</strong> No. 1
Liebe ZKM-Besucher:innen, liebe Leser:innen,<br />
mit diesem neuen Magazin möchten wir Sie einladen, sich<br />
dem ZKM über Geschichten, Reportagen, Interviews sowie<br />
der Fotostrecke von Thomas Meyer (Ostkreuz) zu nähern.<br />
Wer, wenn nicht der Journalismus, vermag es am besten, dort<br />
Geschichten zu sehen und zu erzählen, wo Kunst, Wissenschaft<br />
und Forschung stattfinden? Unter dem Titel [ Innensicht ]<br />
bietet Ihnen diese Erstausgabe einen Einstieg in die Arbeit<br />
des ZKM. Wir haben punktuell Themen, Bereiche, Menschen<br />
und Aspekte herausgesucht, die einen Bogen spannen über<br />
allem, was das ZKM auszeichnet<br />
Entstanden ist das Magazin über den Herbst und Winter.<br />
Jetzt im April <strong>2022</strong> blicken wir alle mit Entsetzen auf einen<br />
brutalen Krieg inmitten Europas, der vieles verändern wird.<br />
Das ZKM hat über sein Residenzprogramm ukrainische<br />
Künstlerinnen aufgenommen und engagiert sich im Verbund<br />
mit anderen Museen für die Rettung ukrainischer Kunstwerke<br />
aus den Kriegsgebieten.<br />
Auch unterstützen wir weiterhin die Arbeit der internationalen<br />
Organisation Artists at Risk, mit der wir im Herbst 2021 ver -<br />
sucht haben, Künstler:innen aus Afghanistan nach Deutschland<br />
zu holen. Leider ist uns dies damals nicht gelungen,<br />
was angesichts der Entwicklungen auch in Afghanistan sehr<br />
beunruhigend ist.<br />
Wir leben in einer Zeit der großen Krisen und Umbrüche, in<br />
der auch Museen neue Verantwortungen übernehmen müssen.<br />
Unter dem Titel „Art Institutions in the Age of Existential Risks“<br />
war das ZKM ab Oktober 2021 Gastgeber für eine globale<br />
Debatte zu den neuen Herausforderungen. Ab S. 44 finden Sie<br />
einen Beitrag zur ersten Onlinedikussion, unter anderem<br />
mit Max Hollein, dem Direktor des Metropolitan Museum of Art.<br />
Für das Magazin geht ein großer Dank an die Fördergesellschaft<br />
ZKM / HfG e.V., deren Mitglieder uns großzügig<br />
unterstützt haben. Ebenso danke ich dem gesamten Team<br />
des ZKM für die Offenheit, sich auf ein neues Medium und<br />
die damit verbundene Arbeit eingelassen zu haben, sowie<br />
dem Büro 2xGoldstein für die Gestaltung.<br />
Nun gehört das <strong>zkm</strong>agazin Ihnen, den Leserinnen und Lesern.<br />
Schreiben Sie uns gerne, was Sie denken. Sie erreichen uns<br />
unter <strong>magazin</strong>@<strong>zkm</strong>.de.<br />
Helga Huskamp<br />
Geschäftsführende<br />
Vorständin
Inhalt<br />
Pionier über alle Sparten hinweg<br />
Peter Weibel ist ein unermüdlicher Streiter für<br />
Wandel und humanistischen Universalismus<br />
4<br />
Gestern war hier schon Zukunft<br />
Was es bedeutet, als Kurator:in am ZKM zu<br />
arbeiten, das gesellschaftlich rele vante Themen<br />
an der Schnitt stelle von (Medien)Kunst,<br />
Wissenschaft und Technologie verhandelt<br />
16<br />
Arbeiten am Sound der Gegenwart<br />
Der Giga-Hertz-Preis leistet seit 2007 elektronischer<br />
und elektroakustischer Musik Vorschub<br />
22<br />
Das ZKM und Indien – eine große Liebe<br />
Seit 25 Jahren kooperiert das ZKM erfolgreich<br />
mit Goethe-Instituten aus aller Welt. Ein Interview<br />
mit Amruta Nemivant<br />
28<br />
Moderne Arche Noah für Medienkunst<br />
Im Labor für antiquierte Videosysteme bewahrt<br />
Dorcas Müller Medienkunst und Abspielgeräte<br />
für die Nachwelt<br />
It’s not about Money<br />
32<br />
Was sind Non-Fungible Token (NFTs) – und wie<br />
kommen sie ins Museum? Über ein neues Medium<br />
am Beispiel der Sammlung des ZKM<br />
40
Art Institutions in the Age of <br />
Existential Risks.<br />
What to Do? – Die Kulturbranche in Zeiten globaler<br />
Herausforderungen<br />
44<br />
Er ist Materie, sie Information<br />
ZKM-Residency: Künstler:innen-Paar Katrin<br />
Hochschuh und Adam Donovan im Porträt<br />
50<br />
Das Museum von morgen<br />
In den Forschungsprojekten Beyond Matter<br />
und intelligent.museum lotet das ZKM die<br />
Chancen der Digitalisierung für die Zukunft aus<br />
80<br />
Nach den Sternen greifen<br />
Seit 1988 unterstützt die Fördergesellschaft<br />
das ZKM tatkräftig: Hartmut Graf und Leonie<br />
Kroll sind zwei der rund 450 Mitglieder<br />
86<br />
Zum Anfassen. Zum Mitmachen. Für alle.<br />
Die ZKM Museumskommunikation nutzt innovative<br />
Methoden und setzt Standards in Bildungs-<br />
und Vermittlungsarbeit<br />
KI im Hertzen<br />
58<br />
Alle reden von künstlicher Intelligenz – im<br />
Hertz-Labor wird sie als Werkzeug genutzt, um<br />
Kunstwerke zu schaffen<br />
62<br />
Was braucht man zum Aufbau<br />
einer Ausstellung im ZKM?<br />
Die Museumstechnik des ZKM<br />
Eine Liga für sich<br />
90<br />
Jens Lutz und Miriam Stürner verantworten<br />
die hauseigenen Publikationen des ZKM<br />
96<br />
Im Wettlauf gegen die Zeit<br />
Die Restaurierung von Medienkunst steht vor<br />
ganz besonderen Herausforderungen<br />
66<br />
Wer steckt dahinter?<br />
Die Autor:innen des <strong>zkm</strong>agazins<br />
102<br />
Interaktion vorprogrammiert<br />
Yasha Jain arbeitet seit 2020 als Programmiererin<br />
im Hertz-Labor an digitalen Kunst werken<br />
76<br />
Fotoessay<br />
Thomas Meyer, Ostkreuz
Pionier über alle Sparten hinweg<br />
Bevor er 2014 mit seiner Wiener Ausstellung<br />
ganz offiziell als Medienrebell präsentiert<br />
wurde, hatte sich Peter Weibel längst schon<br />
durch etliche spartenübergreifende Produktionen<br />
und entsprechende Auftritte einen<br />
Namen gemacht, auch durch unzählige kunsttheoretische<br />
und philosophische Schriften.<br />
Der 1944 in Odessa geborene, in Österreich<br />
aufgewachsene und einflussreiche Künstlerkurator<br />
und Medientheoretiker, der in den<br />
1980er- und 1990er-Jahren neben seinen drei<br />
zeitgleichen Professuren in New York, Kassel<br />
und Wien viermal den Österreichischen Pavillon<br />
auf der Kunstbiennale in Venedig von 1993<br />
bis 1999 kuratierte, konnte schließlich vor<br />
23 Jahren als künstlerisch-wissenschaftlicher<br />
Vorstand des ZKM seine perfekte Wirkungsstätte<br />
finden. Eine Wirkungsstätte, die er<br />
2023 verlassen wird, um sich – davon dürfen<br />
wir alle ausgehen – vielen weiteren Projekten<br />
zu widmen.<br />
4
Peter Weibel ist ein<br />
unermüdlicher<br />
Streiter für Wandel<br />
und humanistischen<br />
Universalismus<br />
Der Name Peter Weibel steht für schier überbordende Energie, für eine<br />
stets grenzüberschreitende Vielseitigkeit, nicht zuletzt für konsequent<br />
politisches Denken – stets gepaart mit einem guten Schuss Humor. Welcher<br />
Künstler hätte sich in den 1960er-Jahren auf allen Vieren an der<br />
Leine von einer Frau durch die Stadt führen lassen? Diese Aktion von<br />
1968 des damals 24-jährigen Künstlers mit seiner Partnerin Valie Export<br />
unter dem Titel Aus der Mappe der Hundigkeit aus Weibels radikalen<br />
Zeiten in der Wiener Avantgarde bleibt als feministisches Mahnmal unvergesslich.<br />
Konzeptkunst vom Feinsten, ebenso wie die Projekte zum<br />
„erweiterten Kino“, welche die filmischen Produktionsbedingungen dekonstruierten.<br />
Der Blick auf die Anfänge von Weibels Vita liest sich fast schon wie die<br />
eines humanistischen Universalisten, mit denen er sich auch in seinen<br />
philosophischen Schriften gerne befasst. Mit ihnen teilt er den schier<br />
unstillbaren Wissensdrang, vor allem die Abneigung gegenüber undemokratischen<br />
Dogmen sowie das Streben nach sozialer Gerechtigkeit<br />
und Harmonie mit der Natur. Nach dem Studium der Literatur in Paris<br />
sowie der Medizin, Mathematik und Logik in Wien widmet sich Weibel<br />
der Medienkunst, wird höchst produktiver Kurator und Autor von kunstgeschichtlichen,<br />
medientheoretischen sowie philosophischen Schriften.<br />
Sein künstlerisches Oeuvre deckt ein breites Spektrum ab: von experimenteller<br />
Literatur über Performance, Experimentalfilm, Video kunst, TV-<br />
Aktionen, Raum- und Objektkunst bis hin zu Musik. So gründete Peter<br />
Weibel 1978 zusammen mit Loys Egg die Punkband Hotel Morphila Orchester.<br />
Mitte der 1980er-Jahre erforscht er die computergestützte Bearbeitung<br />
von Video, eine Dekade danach realisiert er erste interaktive<br />
computerbasierte Installationen. Parallel dazu gründet er 1989 das Institut<br />
für neue Medien an der Frankfurter Städelschule, das er bis 1995 leitet,<br />
ebenso wird er künstlerischer Leiter der Ars Electronica in Linz von<br />
1986 bis 1995. Von 1992 bis 2011 war er Chefkurator der Neuen Galerie<br />
am Landesmuseum Joanneum in Graz.<br />
Angesprochen auf sein Multitasking verweist Peter Weibel auf ein ihm<br />
sehr bedeutendes Gespräch mit dem US-Künstler Donald Judd, der vor<br />
seiner Karriere als Künstler Kunstkritiken schrieb, diese aber zugunsten<br />
der Kunst aufgegeben hatte, weil man ihn sonst als Künstler nicht ernst<br />
genommen hätte. Judds Entscheidung verweist auf eine bis heute allein<br />
in der deutschen Kunstszene immer noch weit verbreitete Auffassung,<br />
dass Künstler:innen mit Nebentätigkeiten das Risiko des Imageverlustes<br />
eingehen. Weibel vergleicht sich in seiner Doppelfunktion als Künstler<br />
und Kurator gerne mit einem Dirigenten. Dessen Werk besteht darin, andere<br />
Werke zur Aufführung zu bringen, was aber ein Leben als Kompo-<br />
5
Pionier über alle Sparten hinweg<br />
nist nicht ausschließt, und nennt Beispiele von Pierre Boulez bis Peter<br />
Ruzicka. Künstler:innen sind für ihn zudem Gelehrte – ganz wie in der<br />
Renaissance. Mit dieser inter- und transdisziplinären Haltung war Weibel<br />
durchaus ein Pionier, seiner Zeit weit voraus.<br />
Der Zeit voraus und seit seinen Anfängen innovationsreich war auch das<br />
1989 gegründete und seit 1997 in einer ehemaligen Waffen- und Munitionsfabrik<br />
beheimatete ZKM – der Hafen, in dem Peter Weibel 1999 anlegte.<br />
Als Nachfolger des Kunsthistorikers Heinrich Klotz, der das ZKM<br />
als Institution erst einmal vorantrieb und es schon früh als „elektronisches<br />
Bauhaus“ bezeichnete, verwandelte Weibel es sodann in ein digitales<br />
Bauhaus, wobei aus seiner Sicht das ZKM nicht wie das Bauhaus<br />
der Weimarer Republik nur mit Gestaltung, sondern vielmehr mit Codierung<br />
beschäftigt ist.<br />
Da das ZKM sich als ein Ort für Experimente, Forschung und Produktion<br />
versteht und nicht als reines Museum, das heißt als Ort für Ausstellungen<br />
und Sammlung, traf Weibel in Karlsruhe auf ideale Bedingungen.<br />
1994 präsentierte dort etwa der australische Medienkünstler Jeffrey<br />
Shaw, der vorher Künstler an Weibels Institut in Frankfurt war, das Goldene<br />
Kalb (The Golden Calf), eine der ersten Augmented-Reality-Installationen,<br />
die ein virtuelles goldenes Kalb auf einem realen Podest zeigte,<br />
wenn man das Podest durch einen speziellen beweglichen Bildschirm<br />
betrachtete. Von Beginn an waren Weibels Ausstellungen innovativ bis<br />
prophetisch, einflussreich bis wegweisend. Seine erste Ausstellung net_<br />
condition (1999–2000) war die weltweit erste dieser Art in einem Museum,<br />
zu einer Zeit, in der die Kunstwelt noch nicht ahnte, wie sehr das<br />
Internet unsere Gesellschaft verändern würde und es daher ablehnte<br />
oder unwichtig fand. Hier bereits zeigt sich deutlich, was die Ära Weibel<br />
am ZKM ausmacht: In seiner Position als Künstler an der Front der<br />
Forschung war es ihm dank seiner universalistischen Bildung und technischer<br />
Kompetenz möglich, soziale und künstlerische Vorhersagen und<br />
Prophezeiungen zu treffen, die von manchen als Provokation empfunden<br />
wurden. Er wusste ein Laboratorium aus neuen Ideen und Kunstwerken<br />
mit großer Publikumsattraktivität zu verbinden.<br />
Spektakulär war beispielsweise 2001 die erste Präsentation eines künstlichen<br />
Wasserfalls und einer Eisfläche zum Schlittschuhlaufen des damals<br />
völlig unbekannten dänischen Künstlers Ólafur Elíasson am ZKM,<br />
in dessen erster musealer Einzelausstellung, bevor er 2003 durch seine<br />
Installation The Weather Project in der Tate Modern in London weltberühmt<br />
wurde. Auch die nicht nur das kunsttheoretische Vokabular bereichernde<br />
Ausstellung Iconoclash von 2002, gemeinsam kuratiert mit<br />
dem damals nur in Fachkreisen als Wissenschaftshistoriker bekannten<br />
Bruno Latour, der zwanzig Jahre später der meistzitierte lebende Philosoph<br />
Frankreichs wurde, war interdisziplinär und aufsehenerregend.<br />
Das Buch zur Ausstellung, ebenso wie der Katalog zu Ólafur Elíassons<br />
Ausstellung, war der Beginn einer erfolgreichen, immer wieder preisgekrönten<br />
Kooperation mit dem besten Wissenschaftsverlag der Welt, der<br />
MIT Press – übrigens als einziges europäisches Museum. Peter Weibel<br />
steht auch als einziger Museumsdirektor auf Platz 95 nach Hermann<br />
Parzinger, dem Vorstand der Preußischen Kulturstiftung (Platz 94), auf<br />
6
[ Nicht nur unser<br />
Wissen wird durch<br />
die Medientechnologie<br />
erweitert,<br />
sondern durch<br />
Medientechnik ist<br />
ein/e Künstler:in<br />
auch im Stande,<br />
Dinge herzustellen,<br />
die es zuvor auf der<br />
Erde nicht gab …<br />
PETER WEIBEL<br />
7
Pionier über alle Sparten hinweg<br />
der Liste der bedeutendsten deutschen öffentlichen Intellektuellen, die<br />
alle drei Jahre von dem Magazin Cicero erstellt wird. Bei MIT Press sind<br />
bis jetzt mehr als fünfzehn Bücher erschienen, deren globaler Vertrieb<br />
wesentlich zur internationalen Reputation des ZKM und seines Rankings<br />
als viertwichtigste Kunstinstitution der Welt nach der Biennale di Venezia,<br />
dem Museum of Modern Art in New York und dem Centre Pompidou<br />
in Paris von artfacts.net, der größten Kunstdatenbank der Welt, beitrug.<br />
Peter Weibel hat es sich zur Aufgabe gemacht, dass das ZKM stets die<br />
aktuellsten medientechnologischen Thesen und deren künstlerischen<br />
wie sozialen Folgen präsentiert. Die Ausstellung Die algorithmische Revolution<br />
(2004–2008) fand zu einer Zeit statt, in der dieses Wort von<br />
Journalist:innen kaum buchstabiert werden konnte, heute aber ein alltäglicher<br />
Begriff geworden ist. Ebenso hat er früh auf globale Überwachungs-<br />
und Kontrollmechanismen durch das Internet hingewiesen, wie<br />
etwa in der Ausstellung CTRL [Space] (2001–2002), die zwanzig Jahre<br />
später zu Themen von Bestsellern avancierten. Bereits seit 15 Jahren<br />
widmet das ZKM ein ganzes Geschoss wechselnden Ausstellungen zu<br />
Computerspielen und digital gaming. Zum Thema künstliche Intelligenz<br />
veranstaltete das ZKM zahlreiche Symposien, Hackathons und Ausstellungen<br />
wie Open Codes I und II (2017–2019) sowie das Forschungsprojekt<br />
intelligent.museum (2020–2024).<br />
Ein zweites wichtiges Ziel war es, in enzyklopädischer Ausstellungen<br />
die Kunstbewegungen des 20. und 21. Jahr hunderts vorzustellen, die<br />
sich von den vorangegangenen Jahrhunderten ästhetisch unterschieden<br />
und die andere Museen aus fehlenden technischen und theoretischen<br />
Kompetenzen nicht machen konnten, so Future Cinema (2002–<br />
2003), Lichtkunst aus Kunstlicht (2005–2006), Sound Art (2012) sowie<br />
unzähligen Ausstellungen zur Performance- und Aktionskunst, abstrakten<br />
Skulptur, zu Film, Videokunst, Computerkunst, feministischer Avantgarde,<br />
zur Infosphäre und Globalisierung. Von 2006 bis 2012 organisierte<br />
das ZKM gemeinsam mit dem bedeutenden Kunsthistoriker Hans Belting<br />
zahlreiche Symposien und Ausstellungen zum Thema Kunstwelt<br />
und Globalisierung (z. B. The Global Contemporary. Kunstwelten nach<br />
1989 im Jahr 2011–2012).<br />
Ein drittes Ziel war, verdrängte und vergessene Künstlerpersönlichkeiten<br />
und Kunstrichtungen ins öffentliche Bewusstsein zurückzubringen und<br />
damit die Kunstgeschichte umzuschreiben, vielmehr neuzuschreiben.<br />
Er hat viele Künstler:innen wiederentdeckt und ihnen zu „career changing<br />
exhibitions“, wie die New York Times seine Aussstellung zu Lynn<br />
Hershman (Lynn Hershman Leeson: Civic Radar, 2014–2015) beschrieb,<br />
verholfen. Unter dem Ausstellungstitel Thinking The Line wurden 2004<br />
die Werke der 1912 in Hamburg geborenen, in Stuttgart studierenden,<br />
deutsch-venezolanischen Bildhauerin Gertrud Louise Goldschmidt, die<br />
Deutschland wegen ihres jüdischen Glaubens 1939 verlassen musste,<br />
und international als Gego bekannt wurde, erstmals in einem Soloauftritt<br />
in Deutschland präsentiert. <strong>2022</strong> wird sie im Kunstmuseum Stuttgart mit<br />
einer Ausstellung und einem Symposium groß zelebriert.<br />
8
Ebenso war Peter Weibel viertens die Überwindung geopolitischer Grenzen<br />
durch die Kunst wichtig (Bit international. [Nove] tendencije. Computer<br />
und visuelle Forschung. Zagreb 1961–1973, 2008–2009), daher<br />
die Einbindung von Kunst aus Osteuropa und Russland, zahlreichen afrikanischen<br />
Ländern wie dem Senegal und Südafrika (Digital Imaginaries:<br />
Africas in Production, 2018–2019), dem Nahem Osten, Indien und<br />
vor allem China, Japan und Korea (Thermocline of Art. New Asian Waves,<br />
2007) in das Ausstellungs- und Diskursprogramm des ZKM. Darüber<br />
hinaus hatte er in zahlreichen hochkarätig besetzten Symposien<br />
und begleitenden kleineren Ausstellungen aktuelle und entscheidende<br />
Theorien aus Philosophie und Naturwissenschaft, die weit über den normalen<br />
Horizont eines Kunstmuseums hinausreichen, von Max Bense bis<br />
Michel Foucault, von Otto Rössler bis zu Benoît Mandelbrot vorgestellt.<br />
Die von ihm gestalteten Projekte haben den Bekanntheitsgrad des ZKM<br />
nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch in der internationalen<br />
Fachwelt gesteigert, sodass die ebenfalls im Hallenbau mit dem<br />
ZKM ansässige Hochschule für Gestaltung (HfG), die auch von Heinrich<br />
Klotz gegründet wurde, illustre Wissenschaftler:innen und Künstler:innen<br />
als Lehrkräfte gewinnen konnte.<br />
Fünftens war das ZKM erfolgreich und wegweisend bei der Erzeugung<br />
neuer Ausstellungsformate und -typen, wie z. B. der „Gedankenausstellung“,<br />
welche die Partizipation des Publikums in den Mittelpunkt stellten,<br />
also das performative Museum.<br />
Durch seine innovativen Projekte hat das ZKM im Zeitraum von 2014 bis<br />
2019 die meisten Kooperationsprojekte im deutschen Vergleich bewilligt<br />
bekommen laut Mitteilung der Nationalen Kontaktstelle für die Kulturförderung<br />
der Europäischen Union Creative Europe Desk KULTUR und<br />
ist auch einer der meist geförderten Institutionen der Kulturstiftung des<br />
… und dadurch<br />
neue Erfahrungen<br />
und Erkenntnisse<br />
zu ermöglichen. ]<br />
9
Pionier über alle Sparten hinweg<br />
[ Die Kunst hat immer<br />
wieder die<br />
Fähigkeit ge zeigt,<br />
ein seismo -<br />
gra fisches Alarmsystem<br />
zu sein. ]<br />
PETER WEIBEL<br />
Bundes. Während seiner Tätigkeit am ZKM kuratierte Weibel unter anderem<br />
die Biennalen in Sevilla (2008) und in Moskau (2011). Mit Letzterer<br />
verfolgte er seine lange schon reflektierte Idee der Welt als Umschreibeprogramm<br />
und betont in einem Gespräch, dass Krisen nichts<br />
anderes seien als missglückte Umschreibeprogramme. Zwischen 2017<br />
und 2019 realisierte Weibel das außergewöhnliche Ausstellungsprojekt<br />
und Bildungsexperiment Open Codes, ein Synergieprojekt, das Ausstellung,<br />
Wissensplattform, Lebensraum, Treff und Arbeitsstätte zugleich<br />
war, eine Mischung aus intelligentem Klassenzimmer und Club<br />
Méditerranée. Es gab freies WLAN, freien Eintritt, freie Getränke (Kaffee,<br />
Tee, Mineralwasser), freies Obst und komfortable Möbel von Vitra.<br />
Sein Programm für ein Museum der Zukunft lautet: Ein Museum ist nicht<br />
nur eine Sammlung von Objekten, sondern auch eine Versammlung<br />
von Subjekten und zwar von lokalen und nicht-lokalen Besucher:innen.<br />
Das Museum fungiert als Co-Working-Space. Deswegen waren und<br />
sind die Veranstaltungen und Ausstellungen des ZKM seit Jahren eine<br />
„mixed reality“, eine Mischung aus online und offline; real und virtuell.<br />
Diese teilweise Ersetzung von Kunstobjekten durch diskutierende Kollektive<br />
und Gruppen, sei es Künstler-, Wissenschaftler- oder Besuchergruppen,<br />
war eine Vision, die im Jahre <strong>2022</strong> sowohl von der documenta<br />
10
in Kassel wie auch der Biennale di Venezia weitergeführt wird, ebenso<br />
die Verwandlung von einem Ausstellungsgebäude in ein Fernsehstudio.<br />
Daher hat er systematisch und weitblickend das von ihm gegründete<br />
Videostudio im Laufe der Jahre zu einer Sendeanstalt ausgebaut. Als<br />
2020 die Corona-Krise ausbrach, war das ZKM als einziges Museum der<br />
Welt auf deren Effekte vorbereitet und konnte Online-Konferenzen und<br />
Live-Streaming mit eigenen Mitteln außerordentlich erfolgreich durchführen.<br />
Nach den großen kunsthistorischen enzyklopädischen Ausstellungen,<br />
nach den Themenausstellungen zur Wirkung der Medien, zur Digitalisierung<br />
und zur Globalisierung, hat Weibel in den letzten Jahren sich<br />
einem Programm der Biophilie, wie er es nennt, verschrieben, der Liebe<br />
zum Leben in Zeiten der Krise und des Krieges, der Klima- und der<br />
Umweltkrise, mit einem Wort: dem Anthropozän. Damit gibt er dem<br />
Mediendiskurs eine ganz neue Richtung, von der künstlerischen und<br />
sozialen Reflektion zur Biowissenschaft. Wieder mit Bruno Latour entwickelte<br />
er – nach den gemeinsamen Gedankenausstellungen, so der<br />
Name des neuen Ausstellungstypus, Iconoclash (2002), Making Things<br />
Public (2005) und Reset Modernity! (2016) – 2020 die Ausstellung Critical<br />
Zones zum kritischen geophysikalischen Zustand unserer Erde.<br />
Auch diese Ausstellung war trotz der Einschränkungen durch die Covid-<br />
19-Pandemie ein großer Erfolg. Darauf folgte seine Ausstellung BioMedien<br />
(2021–<strong>2022</strong>) und gemeinsam mit dem Naturkundemuseum Karlsruhe<br />
The Beauty of Early Life (<strong>2022</strong>).<br />
Der große in Besucherzahlen messbare Zuspruch und die große internationale<br />
mediale Präsenz der zahlreichen weltweit exportierten Ausstellungen<br />
des ZKM zeigen, das ZKM ist lokal verankert und global vernetzt.<br />
Neben all den Ausstellungen und Projekten erfreut sich das ZKM<br />
in den letzten Jahren einiger global aufsehenerregender Innovationen:<br />
2017 gehört das ZKM neben dem Museum für Angewandte Kunst in<br />
Wien und dem Francisco Carolinum in Linz zu den ersten Kunstinstitutionen<br />
weltweit, die ein NFT erwerben. 2021 war das ZKM auch die<br />
erste öffentliche Kunsteinrichtung weltweit, die NFTs ausstellte – unter<br />
dem Titel CryptoArt. It’s Not About Money. Das ZKM ist also ein Museum,<br />
das Kunstwerke sammelt und ausstellt, aber es ist mehr als ein<br />
Museum, weil es auch forscht, entwickelt und produziert. Deswegen<br />
nennt es sich Zentrum. Hunderte akustische und visuelle Installationen<br />
und Inventionen haben das ZKM in die weite Welt verlassen. Darunter<br />
zahlreiche Werke der VR (Virtual Reality) und AR (Augmented Reality),<br />
immersive interaktive Environments und Ideen für „virtuelle Museen“.<br />
<strong>2022</strong> bis 2023 wird die erste rein digitale Rekonstruktion von historisch<br />
bedeutenden Ausstellungen Les Immatériaux (1985) und Iconoclash<br />
(2002) gemeinsam mit dem Centre Pompidou in der Ausstellung Matter,<br />
Non-Matter, Anti-Matter. Vergangene Ausstellungen als digitale Erfahrungen<br />
im Internet gezeigt.<br />
Freigeistigkeit, Widerständigkeit sowie Furchtlosigkeit dürfte das Markenzeichen<br />
Peter Weibels sein. Sein Blick in die Zukunft ist daher, wie<br />
er sagt, „leicht optimistisch“. Uta M. Reindl<br />
11
Gestern war hier schon Zukunft<br />
[ Kunst kennt<br />
PETER WEIBEL<br />
kein Wochenende. ]<br />
Was es bedeutet,<br />
als Kurator:in am ZKM<br />
zu arbeiten, das<br />
gesellschaftlich rele -<br />
vante Themen an<br />
der Schnitt stelle von<br />
(Medien)Kunst,<br />
Wissenschaft und<br />
Technologie verhandelt<br />
Avantgarde, was sonst? Das ZKM ist mit<br />
vielen seiner Ausstellungen seiner Zeit<br />
voraus. Wie man als Pionier stets die Nase<br />
vorn hat und welche Art von kuratori -<br />
schem Arbeiten dies erfordert, zeigt ein<br />
Gespräch mit den Kurator:innen des ZKM.<br />
16
„Kunst kennt kein Wochenende.“ Dieser Ausspruch von Peter Weibel,<br />
dem langjährigen künstlerisch-wissenschaftlichen Vorstand des ZKM,<br />
verdeutlicht das Selbstverständnis der Mitarbeiter:innen am ZKM. Weibel,<br />
von Haus aus Medienkünstler und Medientheoretiker und seit 1999<br />
Leiter des ZKM, lebt es selbst vor: Mit dem Kopf steckt er in Büchern<br />
und Fachzeitschriften, sprudelt vor Ideen und Gedanken, saugt stets<br />
neue relevante Theorien und Studien auf, die es zu Kunst, Wissenschaft<br />
und Gesellschaft gibt. Peter Weibel bringt eine Neugierde und einen<br />
Wissensdrang mit, die weit über ein durchschnittliches menschliches<br />
Tagespensum hinausragen. Und wer am ZKM kuratorisch arbeitet, wird<br />
vom ersten Tag an als Universaldenker:in eingebunden. So auch Daria<br />
Mille, die seit 2011 am ZKM ist und mittlerweile viele große Themenausstellungen<br />
wie Critical Zones. Horizonte einer neuen Erdpolitik (2020–<br />
<strong>2022</strong>) und BioMedien. Das Zeitalter der Medien mit lebensähnlichem<br />
Verhalten (2021–<strong>2022</strong>) zusammen mit Peter Weibel ko-kuratiert hat.<br />
„Unsere Ausstellungen verschieben stets die Grenzen davon, was man<br />
aktuell als Kunst versteht, und ihre Themen sind oft der Zeit voraus. Das<br />
ist unser Anspruch aus der Tradition heraus. Man denke nur an die Ausstellungen<br />
net_condition 1999–2000, Iconoclash 2002, Making Things<br />
Public 2005, global aCtIVISm 2013–2014 oder Open Codes 2017“, erläutert<br />
Daria Mille den ZKM-Maßstab. Mit ihren eigenen Forschungsschwerpunkten<br />
an der Schnittstelle zwischen Kunst, Wissenschaft, Technologie<br />
und Gesellschaft passt sie perfekt zum Haus. „Die Digitalisierung<br />
war am ZKM längst Thema, bevor eine gesamtgesellschaftliche Diskussion<br />
dazu begonnen hat. Derzeit überspannt die Biophilie leitmotivisch<br />
unsere Themenausstellungen, die am ZKM immer auch aktuell gesellschaftlich<br />
relevant sind.“<br />
Digitalisierung, Globalisierung, <br />
Klimawandel: Im ZKM werden <br />
die relevanten gesellschaft lichen<br />
Fragen behandelt<br />
Neugierig erarbeiten sich kunstinteressierte Kurator:innen weitreichende<br />
Kenntnisse in Kunst und Wissenschaft, schulen sich in differenziertem<br />
Denken in großen Zusammenhängen und erlangen Kompetenz darin,<br />
Strömungen der Gegenwartskunst zu erkennen und sinnstiftende<br />
Querverbindungen zu ziehen. Die Faustregel: Je weiter der intellektuelle<br />
Horizont der Kurator:innen, desto besser für die Ausstellung. Heutzutage<br />
spielen aber nicht nur medientheoretische, künstlerische und<br />
philosophische Diskurse beim kuratorischen Arbeiten im ZKM eine Rolle.<br />
Die Kurator:innen müssen auch ihre eigene Praxis im Zusammenhang<br />
mit solchen gesamtgesellschaftlichen Themen wie Nachhaltigkeit oder<br />
Diversität stets hinterfragen.<br />
17
Gestern war hier schon Zukunft<br />
Am Anfang steht eine Idee<br />
„Aktuelle Metathemen werden oft von Künstler:innen aufgenommen.<br />
Und das ZKM ist spezialisiert darauf, diese Themen sehr früh zu identifizieren<br />
und gemeinsam mit Künstler:innen aus aller Welt in Ausstellungen<br />
zu thematisieren, um einen gesellschaftlichen Diskurs zu eröffnen“,<br />
so erklärt Philipp Ziegler, Leiter des kuratorischen Bereichs, wie<br />
es dazu kommt, dass das ZKM mit seinen großen Themenausstellung<br />
oft die Nase vorn hat und am Puls der Zeit agiert.<br />
Auf diese Weise ist auch die Themenschau Criticial Zones entstanden:<br />
Am Anfang stand eine Idee. Was wäre, wenn man die Erde nicht als<br />
Objekt aus der Ferne, von außen, sondern als ein Netz aus kritischen<br />
Zonen betrachten würde, das von verschiedensten Lebensformen im<br />
Laufe der Zeit erschaffen wurde? Aus diesem Gedanken heraus hat Peter<br />
Weibel gemeinsam mit dem französischen Soziologen Bruno Latour<br />
das umfassende Ausstellungsprojekt Criticial Zones entwickelt und Wissenschaftler:innen<br />
und Künstler:innen aus aller Welt zur Teilnahme online<br />
und vor Ort eingeladen. Beinahe organisch entwickelte sich daraus<br />
die nächste große Themenausstellung: BioMedien. Das Zeitalter der<br />
Medien mit lebensähnlichem Verhalten.<br />
„Häufig entwickeln Künstler:innen zusammen mit dem Hertz-Labor des<br />
ZKM auf der Basis unserer Ausstellungsthese neue künstlerische Arbeiten.<br />
An der Schnittstelle zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft ist<br />
das ZKM so eine Plattform, an der die relevanten Themen unserer Zeit<br />
behandelt werden“, erläutert Philipp Ziegler die ZKM-Methode.<br />
Für Ausstellungen dieser Art ist das kuratorische Team gefordert, weit<br />
über die Grenzen der klassischen Kunst hinaus zu arbeiten. Die internen<br />
PETER WEIBEL<br />
[ Die Aufgabe der<br />
Kunst besteht darin,<br />
Türen zu öffnen,<br />
wo sie keiner sieht. ]<br />
18
und zum Teil auch externen Kurator:innen realisieren Jahr für Jahr zahlreiche<br />
Ausstellungen in unterschiedlichen Größen. Sie stehen im Austausch<br />
mit lokalen, nationalen sowie internationalen Partner:innen, sind<br />
vernetzt mit Künstler:innen auf allen Kontinenten und sind in zahlreichen<br />
nationalen wie auch internationalen Kooperationen und Forschungsverbünden<br />
aktiv.<br />
Über das Hertz-Labor, die transdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsplattform<br />
am ZKM, werden jährlich mehrere Artists-in-Residence-<br />
Programme angeboten, an denen jeweils um die zwanzig Künstler:innen<br />
aus aller Welt die Möglichkeit erhalten, am Haus zu forschen und künstlerische<br />
Arbeiten zu entwickeln. Sie forschen am ZKM mit der Unterstützung<br />
von Softwareentwickler:innen an neuen Entwicklungen der digitalen<br />
Künste – unter anderem über künstliche Intelligenz, Virtual und<br />
Augmented Reality.<br />
Biophilie – die Liebe zum Leben –<br />
ist das Motto des Jahres <strong>2022</strong><br />
„Unser derzeitiges themen- und projektübergreifendes Motto Biophilie<br />
bildet diese Vielfalt sehr gut ab“, erklärt Kuratorin Sarah Donderer, die<br />
aktuell das transdisziplinäre Kooperationsprojekt Driving the Human betreut<br />
und zuletzt die Ausstellung BioMedien ko-kuratiert hat. „Wir zeigen<br />
in <strong>2022</strong> Arbeiten des Künstler:innen-Duos Christa Sommerer und<br />
Laurent Mignonneau in der Einzelausstellung The Artwork as a Living<br />
System, die sich an der Schnittstelle von Kunst, Naturwissenschaft und<br />
Technologie mit der Simulation von Leben auseinandersetzt.“<br />
Die Ausstellung The Beauty of Early Life entsteht in Zusammenarbeit<br />
mit dem Staatlichen Museum für Naturkunde Karlsruhe als Kooperationspartner<br />
und verbindet den wissenschaftlichen Ansatz der Naturkunde<br />
mit zeitgenössischen Positionen der Kunst. In BioMedien wird<br />
ein medientheoretischer Ansatz verfolgt, bei dem in Zusammenarbeit<br />
mit Wissenschaftler:innen und Künstler:innen neue Technologien und<br />
deren Auswirkungen auf das Leben an sich untersucht werden. „Unsere<br />
Präsentation von lebensähnlichem Verhalten durch technische Entitäten<br />
vermittelt eine neue Aussicht auf hybride Ökosysteme, Gesellschaft und<br />
die Zukunft des Lebens auf dem Planeten Erde – und diese muss keineswegs<br />
dystopisch sein. Wir zeigen einen positiven Weg des zukünftigen<br />
Zusammenlebens von künstlichen Intelligenzen, Menschen und Organismen“,<br />
fügt Sarah Donderer hinzu.<br />
Wann ist der Mensch ein Mensch?<br />
Damit sich die Inhalte der Ausstellungen trotz ihrer Komplexität und des<br />
hohen Abstraktionsgrads vermitteln lassen, werden bereits zu Beginn<br />
der Ausstellungskonzeption die Besucher:innen mitgedacht. Wie kann<br />
das vielschichtige, komplexe Thema möglichst nahbar vermittelt und<br />
19
Gestern war hier schon Zukunft<br />
[ Die Präsentation<br />
von lebensähnlichem<br />
Ver halten durch<br />
technische<br />
Entitäten vermittelt<br />
eine neue Aussicht<br />
auf Ökosysteme,<br />
Gesellschaft und<br />
Zukunft. ]<br />
SARAH DONDERER<br />
20
erfahrbar gemacht werden? Wie lässt sich über digitale<br />
und analoge Kanäle ein möglichst vielfältiges<br />
und diverses Publikum erreichen? Meistens gibt es<br />
hierzu nicht die eine Antwort, sondern eine abgestimmte<br />
Mischung aus Instrumenten, die aus einer<br />
Vielzahl an Arbeitstreffen und Ideenrunden mit den<br />
Kolleg:innen der Museumskommunikation, wie der<br />
Bereich der Vermittlung am ZKM heißt, hervorgehen.<br />
Partizipation – Teilhabe lautet hier das Stichwort der<br />
Stunde. Denn die Besucher:innen sollen sich einbringen<br />
können und in Interaktion treten mit der ausgestellten<br />
Kunst. Das kann die Gäste auch mal raus<br />
aus dem ZKM und hinaus auf eine Streuobstwiese<br />
zur Apfelernte führen – wie im Herbst 2021 im Rahmen<br />
der Ausstellung Critical Zones. Auch das ausstellungsübergreifende<br />
Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm<br />
mit dem Titel It’s about Life wird<br />
<strong>2022</strong> die biophilen Themen nicht nur in den Ausstellungen,<br />
sondern auch in Workshops, digitalen Lesezirkeln<br />
und in Filmscreenings auf dem Vorplatz des<br />
ZKM mit den Besucher:innen gemeinsam verhandeln.<br />
Umgekehrt gehen viele Ausstellungen nach ihrer<br />
Laufzeit am ZKM international auf Reisen. Immer stärker<br />
in den Fokus rückt auch das Kuratieren rein digitaler<br />
Ausstellungen. Und es geht auch noch auf die<br />
Metaebene: Mit Projekten wie Beyond Matter und<br />
intelligent.museum (siehe Seite 80–85) forscht das<br />
ZKM im Netzwerk mit anderen nationalen und internationalen<br />
Kunstinstitutionen unmittelbar zu Fragen<br />
über das Ausstellen digital generierter Kunst.<br />
Kunst, Medien, Kunst und Gesellschaft, Kunst und<br />
Umwelt, analog und digital, national und international:<br />
Mit derart vielen Parametern entstehen häufig<br />
großangelegte Forschungs- und Ausstellungsprojekte.<br />
Philipp Ziegler resümiert: „Bei uns am ZKM geraten<br />
enzyklopädische Themenausstellungen so groß<br />
und komplex wie anderswo Biennalen.“<br />
Patrick Krause & Tanja Binder<br />
Ikonische<br />
Sonderausstellungen<br />
1999–2000 net_condition<br />
2001–2002 CRTL [Space].<br />
Rhetorik der Überwachung<br />
2002 Iconoclash.<br />
Jenseits der Bilderkriege<br />
in Wissenschaft,<br />
Religion und Kunst<br />
2004 Die Algorithmische<br />
Revolution. Zur Geschichte<br />
der interaktiven Kunst<br />
2005 Making Things Public.<br />
Atmosphären der Demokratie<br />
2007–2009 YOU_ser. Das<br />
Jahrhundert des Kon sumenten<br />
2011–2012 The Global<br />
Contemporary:<br />
Kunstwelten nach 1989<br />
2013–2014 global aCtIVISm<br />
2015–2016 Globale:<br />
Infosphäre // Exo-Evolution<br />
// Reset Modernity!<br />
2017–2019 Open Codes<br />
2019 Negativer Raum.<br />
Skulptur und Installation<br />
im 20./21. Jahrhundert<br />
2020–<strong>2022</strong> Critical Zones.<br />
Horizonte einer neuen<br />
Erdpolitik<br />
2021–<strong>2022</strong> BioMedien. Das<br />
Zeitalter der Medien mit<br />
lebensähnlichem Verhalten<br />
2023 Renaissance 3.0 –<br />
Neue Allianzen von<br />
Kunst und Wissenschaft<br />
im 21. Jahrhundert<br />
21
Arbeiten am Sound der Gegenwart<br />
Elektronische und elektroakustische Musik,<br />
das war einst wie Musik aus der Zukunft.<br />
Diese Zukunft ist längst im Heute angekommen.<br />
<strong>2022</strong> steht die elektronische Musik<br />
zwischen Tradition und neuen Trends. Das<br />
spiegelt auch der Giga-Hertz-Preis wider,<br />
der jedes Jahr im November vom ZKM und<br />
dem SWR Experimentalstudio vergeben<br />
wird. Im Rahmen eines mehrtägigen Festivals<br />
stehen die vielseitigen experimentellen<br />
Formen elektronischer Musik im Mittelpunkt.<br />
Neben dem Hauptpreis, der an eine Person<br />
für ihr Lebenswerk vergeben wird, gehören<br />
zum Giga-Hertz-Preis auch Produktionspreise.<br />
Sie werden an Künstler:innen verliehen,<br />
die mit aktuellen technischen Mitteln<br />
am Sound der Gegenwart arbeiten – und<br />
dabei auch ein mögliches Morgen mitdenken<br />
und mithören.<br />
22
Der Giga-Hertz-Preis leistet<br />
seit 2007 elektronischer<br />
und elektroakustischer Musik<br />
Vorschub<br />
Den Giga-Hertz-Preis ins Leben zu rufen war eine Idee<br />
von Peter Weibel, um elektronische und elektroakustische<br />
Musik bekannter zu machen. Also ging der künstlerische<br />
Leiter des ZKM 2007 auf Armin Köhler, den damaligen<br />
Redaktionsleiter für Neue Musik beim SWR und<br />
künstlerischen Leiter der Donaueschinger Musiktage,<br />
zu und entwickelte mit ihm die Idee eines gemeinsam<br />
veranstalteten Festivals, dessen Höhepunkt die Preisverleihung<br />
sein sollte. Seit 2007 findet es seither jährlich<br />
am ZKM statt. „Der Preis möchte alle fördern, die<br />
Verdienste in der elektronischen Musik haben. Im Zentrum<br />
steht die Frage: Hat diese Person einen wichtigen<br />
Einfluss auf die elektronische Musik gehabt?“, erklärt<br />
Ludger Brümmer, Komponist am ZKM | Hertz-Labor.<br />
Dieser Einfluss muss nicht zwingend bedeuten, ein<br />
Genre erfunden zu haben, dem Unzählige gefolgt<br />
sind, wie etwa bei Brian Eno (Giga-Hertz-Preis 2014)<br />
und „seiner“ Ambient Music. Preisträger:innen wie<br />
Pauline Oliveros (2012), Éliane Radigue (2019) und<br />
Alvin Lucier (2020) haben höchst individuelle musikalische<br />
Stile, ja Philosophien entwickelt, die für viele<br />
andere Musiker:innen bis heute eine wichtige Inspiration<br />
sind.<br />
Andere Preisträger:innen haben technische Innovationen<br />
hervorgebracht, etwa John Chowning (2013), der<br />
mit der Erfindung der FM-Synthese den (Pop-)Sound<br />
der 1980er-Jahre entscheidend geprägt hat. Ebenso<br />
wie Jean-Claude Risset (2009) hat er es geschafft,<br />
Klangfarben aus der „realen“ Welt mit digitaler Synthese<br />
nachzuformen und zu manipulieren. Curtis Roads’<br />
(2016) größte Errungenschaft wiederum ist sein Buch<br />
The Computer Music Tutorial (MIT Press, 1996), das<br />
quasi zur Bibel der Computermusik geworden ist.<br />
Ich bin überrascht, wie sich die elektronische<br />
Musik weiterentwickelt und die<br />
Musiklandschaft verändert hat. Technologie<br />
und elektronische Musik sind so<br />
omnipräsent geworden, sie gehören zur<br />
alltäglichen Hörerfahrung.<br />
Mark Pilkington<br />
(Produktionspreis 2020)<br />
23
Arbeiten am Sound der Gegenwart<br />
Ludger Brümmer über <br />
Hauptpreisträger:innen <br />
des Giga-Hertz-Preises<br />
Trevor Wishart <br />
(2008)<br />
[ Trevor Wishart hat der elektronischen<br />
Musik das Elitäre genommen und sie breiter<br />
verfügbar gemacht. Er hat etwa Phase<br />
Vocoder-Programme für Atari-Computer<br />
umgeschrieben und sie so nutzbar für<br />
viele gemacht; er hat außerdem das Composers<br />
Desktop Project (CDP) initiiert,<br />
dessen Kompositionssoftware frei verfügbar<br />
ist. Das war revolutionär. ]<br />
<br />
Gottfried Michael Koenig<br />
(2010)<br />
[ Hat diese<br />
Person einen<br />
wichtigen<br />
Einfluss<br />
auf die<br />
elektronische<br />
Musik<br />
gehabt? ]<br />
LUDGER BRÜMMER<br />
[ Koenig fanden wir als Komponist stark<br />
unterbewertet. Wir wollten sein Werk und<br />
seine Leistungen mit dem Giga-Hertz<br />
Preis in die öffentliche Wahrnehmung rücken.<br />
Er steht für keine bestimmte musikalische<br />
Richtung, er hat aber einiges im Bereich der<br />
Noise-Musik oder der maschinenorientierten<br />
Komposition in Bewegung gebracht.<br />
Heute orientieren sich viele Studierende<br />
an Koenigs Aspekten von komplexem, analogem<br />
Noise. Er war außerdem ein Vorreiter<br />
auf dem Gebiet der künstlichen Kreativität. ]<br />
Pierre Boulez<br />
(2011)<br />
[ Pierre Boulez ist eher als Dirigent und als<br />
Komponist instrumentaler Musik bekannt.<br />
Wir haben ihm den Preis vor allem für seine<br />
politischen Bemühungen um die elektronische<br />
Musik verliehen. Boulez hat sich dafür<br />
24
eingesetzt, dass mit dem IRCAM (Institut<br />
de recherche et coordination acoustique/<br />
musique) in Paris das weltweit größte<br />
Zentrum für elektronische Musik gegründet<br />
werden konnte. Damit hat er einen gro <br />
ßen Anteil an der Entwicklung bestimmter<br />
musikalischer Richtungen, etwa der Live-<br />
Elektronik. ]<br />
Brian Eno<br />
(2014)<br />
[ Nie wurde eine Entscheidung nur wegen<br />
der Bekanntheit einer Person getroffen –<br />
auch bei Brian Eno nicht. Immer war<br />
ein klarer Aspekt bei der Entscheidungsfindung:<br />
Was hat die Person erreicht?<br />
Bei Brian Eno ist es natürlich das Konzept<br />
der Ambient Music. Er hat Ambient<br />
quasi erfunden, dabei sehr konzeptionell<br />
gedacht und mit Bandschleifen gear <br />
beitet, wie auch bereits Karlheinz Stockhausen.<br />
Eno hatte dabei nicht die Ab <br />
sicht, damit Geld zu verdienen, er wollte<br />
sich mit neuen Ideen künstlerisch durchsetzen.<br />
]<br />
Laurie Anderson<br />
(2017)<br />
The Hub<br />
(2018)<br />
[ Es gibt Künstler:innen, die ein breites<br />
Publikum erreicht haben, wie Pierre Boulez.<br />
Andere wurden eher von der Fachwelt<br />
wahrgenommen, haben aber dennoch<br />
wichtige Spuren hinterlassen. Die Musik des<br />
Com puter-Netzwerkmusik-Ensembles<br />
The Hub kennt kaum jemand. Auf das musikalische<br />
Denken von heute hatten sie<br />
aber enorme Auswirkungen. Live-Coding,<br />
Circuit-Bending, Netzwerkmusik – The<br />
Hub haben viele heute verbreitete Techniken<br />
schon verwendet, bevor es die Begriffe<br />
dafür überhaupt gab. ]<br />
Christina Kubisch<br />
(2021)<br />
[ Christina Kubisch hat die Artikulationsform<br />
der Klanginstallation entscheidend mitgeprägt.<br />
Als das ZKM 1997 in den Hallenbau<br />
zog, war die Installation noch ein<br />
visuelles Genre, kein klangliches. Mittlerweile<br />
sind Klanginstallationen autonome<br />
musikalische Werke. Daran hat Christina<br />
Kubisch großen Anteil. ]<br />
[ Laurie Anderson kommt ursprünglich aus<br />
der eher konzeptuellen Kunstszene um<br />
Installation und Performance. In die hat sie<br />
eigens gebaute Klangerzeuger eingebracht<br />
und damit eine konzertante Musiksprache<br />
entwickelt, in der Technologie eine<br />
wichtige Rolle spielt. ]<br />
25
Arbeiten am Sound der Gegenwart<br />
Produktionspreise:<br />
Inspiration<br />
und Experiment<br />
Neben dem Hauptpreis gehören zum Giga-Hertz-Preis<br />
auch die Produktionspreise, von denen derzeit zwei<br />
pro Jahr vergeben werden. Zweimal wurde außerdem<br />
ein Preis für Sound Art vergeben – 2012 für das audiovisuelle<br />
Künstlerduo Ryoji Ikeda und Carsten Nicolai<br />
und 2013 für Pierre Henry, den Pionier der Musique<br />
concrète. Anders als beim Hauptpreis, der von einer<br />
Jury vergeben wird, kann man sich auf den Produktionspreis<br />
bewerben. Damit verbunden ist ein Produktionsstipendium<br />
am ZKM oder im SWR Experimentalstudio<br />
in Freiburg. Hier finden die Künstler:innen nicht nur<br />
exzellente technische Bedingungen vor, sondern sie<br />
können sich auch miteinander austauschen.<br />
„Es kann sehr bereichernd sein, eine Institution wie<br />
das ZKM kennenzulernen und sich durch die Ausstellungen<br />
dort inspirieren zu lassen“, bekräftigt Ludger<br />
Brümmer. Manche schätzen die Ruhe und Konzentration<br />
bei der Arbeit als Gast im Studio, einige finden<br />
erst hier einen Raum mit guter Akustik, während sie<br />
zuhause nur mit Kopfhörern Musik machen können.<br />
Der Giga-Hertz-Preis kann Startschuss für eine Karriere<br />
oder für neue Experimente in der künstlerischen<br />
Arbeit sein. André Damiao, Produktionspreisträger<br />
von 2021, wird am ZKM ein Multimediastück<br />
entwickeln, das sich mit der gesellschaftlichen Situation<br />
seiner Heimat Brasilien auseinandersetzt. Dort<br />
sammelt er Interviews, Feldaufnahmen und entwickelt<br />
eine Software zur Analyse dieser Daten. Yvette<br />
Janine Jackson, ebenfalls Produktionspreisträgerin<br />
von 2021, arbeitet im SWR Experimentalstudio an<br />
einer interaktiven „Radiooper“ – einer Mischung aus<br />
elektroakustischer Musik, Soundeffekten, Dialog und<br />
Erzählung.<br />
Der Preis spornt mich wirklich an, in<br />
solch düsteren Zeiten wie den heutigen<br />
weiterzuarbeiten.<br />
André Damiao<br />
(Produktionspreis 2021)<br />
Elektronische Musik geht zurück auf Instrumente wie<br />
das Theremin oder die Ondes Martenot – beide bereits<br />
rund 100 Jahre alt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat<br />
die Entwicklung der elektronischen und elektroakustischen<br />
Musik an Fahrt aufgenommen und sich bis heute<br />
vom akademischen Spezialistentum zu einem Breitenphänomen<br />
entwickelt. Allein in den knapp 15 Jahren,<br />
die der Giga-Hertz-Preis existiert, ist viel geschehen.<br />
Zu klassischen Genres experimenteller elektronischer<br />
Musik wie akusmatischer Musik, Live-Elektronik oder<br />
Soundscape haben sich Strömungen wie Live-Coding,<br />
Künstliche Intelligenz, digitale Interfaces oder Musik<br />
mit Biomedien gesellt. Das spiegelt auch der Giga-<br />
Hertz-Preis wider. In seinen jährlichen Ausschreibungen<br />
setzt er thematische Schwerpunkte – 2021 waren<br />
es Biomedien – wobei nicht alle eingereichten und prämierten<br />
Werke sich auf diesen gesetzten Schwerpunkt<br />
beziehen müssen. Auch Künstler:innen mit popkulturellen<br />
Hintergründen bringen zunehmend neue Klangsprachen<br />
in die experimentelle Elektronik.<br />
Mit dem Begriff „Radiooper“ beschreibe<br />
ich meine elektroakustischen Kompo <br />
si tionen, in denen ich Musik, Dialog und<br />
Soundeffekte als Ausgangsmaterial<br />
für serielle Klang-Erzählungen verwende.<br />
Yvette Janine Jackson<br />
(Produktionspreis 2021)<br />
Internationalisierung<br />
und Globalität<br />
Ludger Brümmer verrät, dass die Einreichungen für den<br />
Giga-Hertz-Preis internationaler geworden sind. In den<br />
letzten Jahren sickern immer mehr ästhetische Einflüsse<br />
jenseits der etablierten Szenen Europas und Nordamerikas<br />
in unsere westliche Wahrnehmung von elektronischer<br />
Musik.<br />
„Die elektronische Musik nimmt alles so unheimlich offen<br />
auf“, sagt Brümmer. „Das geschieht ganz von alleine,<br />
selbst wenn wir es hier nicht mitbekommen. Für die<br />
Instrumentalmusik mit ihren vielen Nationalstilen ist das<br />
teils problematischer. Ich halte die elektronische Musik<br />
letztendlich für barrierefreier.“<br />
Zwar ist es in manchen Teilen der Welt nicht einfach, an<br />
ein elektronisches Musikinstrument oder einen Computer<br />
mit Internetanschluss zu kommen. Hat man diese<br />
Hürde aber überwunden, so öffnet sich laut Brümmer<br />
26
ein großer, zugangsfreier Raum. „Diese Ästhetik und<br />
diese Technologien sind sehr offen. Es ist an vielen Orten<br />
einfacher, an einen Computer zum Musik machen<br />
zu gelangen als ein Ensemble mit zehn Instrumentalist:innen<br />
zu gründen.“<br />
Vielfalt in jeglicher Hinsicht beschreibt den Status<br />
quo elektronischer Musik <strong>2022</strong>. Der Giga-Hertz-Preis<br />
wird weiter genau hinhorchen.<br />
Friedemann Dupelius<br />
[ Ich halte<br />
die elektronische<br />
Musik<br />
letztendlich<br />
für barrierefreier.<br />
]<br />
LUDGER BRÜMMER<br />
Kleines Begriffslexikon<br />
Akusmatische Musik: Elektronische<br />
Musik, bei deren<br />
Aufführung nur Lautsprecher<br />
zum Einsatz kommen und<br />
zu sehen sind.<br />
Biomedien: Verschiedene<br />
Bedeutungen möglich –<br />
beispielsweise lebensähnliche<br />
Technologien wie Algorithmen,<br />
die nach genetischen<br />
Prinzipien<br />
funktionieren, oder auch<br />
Technik, die mit organischen<br />
Materialien arbeitet<br />
(etwa Bakterien).<br />
Circuit-Bending: Kurzschließen<br />
von Instrumenten<br />
und Elektronikgeräten zur<br />
Gewinnung neuer Sounds.<br />
Live-Coding: Live-Erzeugung<br />
von elektronischer<br />
Musik in Echtzeit mit Programmcode.<br />
Live-Elektronik: Die Verbindung<br />
eines akustischen<br />
Instruments mit Elektronik,<br />
die auf die Instrumentalklänge<br />
reagiert oder<br />
sie erweitert und verändert.<br />
Netzwerkmusik: Gemeinsam<br />
Musikmachen – meist in improvisierter<br />
Form – über<br />
lokale Computernetzwerke<br />
oder das Internet.<br />
Soundscape: Begriff von<br />
R. Murray Schafer, der eine<br />
klingende Umgebung in<br />
ihrer Gesamtheit bezeichnet<br />
(etwa der Soundscape<br />
von Karlsruhe oder des<br />
Schwarzwalds).<br />
27
Das ZKM und Indien – eine große Liebe<br />
Seit 25 Jahren kooperiert das ZKM<br />
erfolgreich mit Goethe-Instituten in aller Welt.<br />
Ein Interview mit Amruta Nemivant<br />
Amruta Nemivant ist Programmmanagerin in<br />
der Kulturabteilung des Goethe-Instituts /<br />
Max Mueller Bhavans in Mumbai. In einem<br />
Online-Videogespräch erzählt sie uns, wie bekannt<br />
das ZKM in Indien ist, warum jede<br />
Ausstellung für Indien neu gedacht werden<br />
muss und wieso 100.000 Besucher:innen<br />
für die ZKM-Ausstellung Open Codes ein außergewöhnlicher<br />
Erfolg sind.<br />
28
Guten Tag Frau Nemivant. Das ZKM<br />
und das Goethe-Institut / Max<br />
Mueller Bhavan in Mumbai arbeiten<br />
seit Jahren erfolgreich zusammen.<br />
Kürzlich haben Sie die Ausstellung<br />
Open Codes gezeigt. Wie kam es zu<br />
dieser Kooperation?<br />
[ Ende 2017 gab es ein kulturelles Austauschprogramm<br />
zwischen Indien und Baden-<br />
Württemberg. Für uns lag eine Kooperation<br />
mit dem ZKM auf der Hand, denn das ZKM<br />
ist in Indien im Kultursektor sehr berühmt.<br />
Wir schätzen das ZKM für seine fantastischen<br />
Ausstellungen und waren sehr gespannt,<br />
was das ZKM für eine Zusammenarbeit<br />
mit uns vorschlagen würde. Es<br />
war dann wirklich ein Zufall, dass mein erstes<br />
gemeinsames Projekt die Ausstellung<br />
Open Codes gewesen ist. Ein Projekt, das<br />
sich unmittelbar auf Coding bezieht –<br />
entsprechend erfolgreich war die Ausstellung<br />
bei uns in Mumbai. Dabei war es<br />
für uns in Indien damals vollkommen neu,<br />
Kunst und Technologie so zu verbinden<br />
und die Besucher:innen aufzufordern, selbst<br />
zu interagieren. ]<br />
Indien gilt in Deutschland als das<br />
„Land der Programmierer“, viele<br />
haben für deutsche Unternehmen<br />
gearbeitet oder sind direkt hierhergekommen<br />
…<br />
[ Ja, man hat es hier als „deutsche Green<br />
Card“ vermarktet. ]<br />
Wie zeigt das Goethe-Institut in<br />
Mumbai eine Ausstellung wie Open<br />
Codes?<br />
[ Das Goethe-Institut hat in Indien eine<br />
große Bedeutung und somit viele Kontakte<br />
in die Kunst- und Kulturszene vor Ort.<br />
Hier in Mumbai haben wir sogar eigene<br />
Räume, in denen wir regelmäßig Ausstellungen<br />
zu zeitgenössischer Kunst aus<br />
Deutschland und Indien zeigen. Das Zusammenführen<br />
beider Kulturen bildet<br />
den Kern unserer Aufgabe. Wir übernehmen<br />
also keine Ausstellungen im Ganzen,<br />
sondern kuratieren sie nochmal eigens für<br />
uns. Natürlich hat das auch mit unseren<br />
finanziellen und logistischen Möglichkeiten<br />
zu tun.<br />
ZKM-Ausstellungen sind oftmals riesig und<br />
wir verfügen vor Ort dann doch nur über<br />
300 Quadratmeter. Das bedeutet, Ausstellungen<br />
auf Objekte einzugrenzen oder<br />
diese kleiner darstellen zu müssen. Dazu<br />
gehört Kreativität. In einem Fall haben wir<br />
eine Installation auf LED-Banner gezeigt,<br />
sonst hätte allein dieses Kunstwerk den<br />
gesamten Raum eingenommen. Auf diese<br />
Weise mussten viele Objekte rekonfiguriert<br />
werden, um in Mumbai zu funktionieren. ]<br />
Wie sieht es inhaltlich aus?<br />
Gibt es Kunstwerke, die<br />
zu sehr ein westliches kulturelles<br />
Verständnis bemühen?<br />
[ Natürlich berücksichtigen wir die unterschiedlichen<br />
kulturellen Kontexte. Wir<br />
können nicht jedes Werk einfach so zeigen<br />
und davon ausgehen, dass die Menschen<br />
hier in Indien den gleichen Zugang zu<br />
der künstlerischen Arbeiten haben wie<br />
deutsche Besucher:innen. Das ist nicht<br />
immer nur eine Frage der Übersetzung in<br />
die Hindi-Sprache. Umso enger arbeiten<br />
wir mit den Kurator:innen des ZKM<br />
zusammen, um für uns in Mumbai eine<br />
Ausstellung zu kuratieren, die auch hier zu<br />
vermitteln ist. ]<br />
Wie werden Ihre Ausstellungen<br />
beim Publikum angenommen?<br />
[ Die Reaktion auf Open Codes war fantastisch.<br />
Zu Beginn waren die Besucher:innen<br />
etwas schüchtern, besonders als sie<br />
29
Das ZKM und Indien – eine große Liebe<br />
[ Open Codes<br />
wurde zu einer<br />
der erfolgreichsten<br />
Ausstellungen<br />
der letzten Jahre<br />
in Mumbai. ]<br />
AMRUTA<br />
NEMIVANT<br />
merkten, dass man interagieren soll, ja<br />
muss, um etwas davon zu haben. Das<br />
Bewusstsein für Kunst ist in Indien anders<br />
gelagert, man hat hohen Respekt<br />
gegenüber den künstlerischen Werken.<br />
In Indien ist es üblich, im Museum nicht zu<br />
sprechen und nichts zu berühren. In<br />
Open Codes ging es ja aber gerade darum,<br />
das Smartphone zu nutzen und mitzumachen,<br />
sich auszutauschen. Das war für<br />
alle zunächst fremd, aber unsere Besucher:innen<br />
haben schnell gelernt und<br />
Open Codes wurde zu einer der erfolgreichsten<br />
Ausstellungen der letzten Jahre<br />
in Mumbai.<br />
Auch die Hackathons, die wir im Rahmen<br />
von Open Codes organisiert haben, waren<br />
extrem beliebt; viele Leute, die vorher nie<br />
mit Kunst in Berührung waren, besuchten<br />
die Veranstaltung. Student:innen und<br />
Kinder kamen und es war für die meisten<br />
eine neue Erfahrung.<br />
Open Codes hatte hier rund 100.000 Besucher.<br />
Zur Ausstellung kamen bis zu 5.000<br />
Menschen pro Tag; das ist nicht schlecht,<br />
aber angesichts einer 20-Millionen-<br />
Stadt in einem Land mit einer Milliarde<br />
Einwohner:innen noch ausbaufähig! ]<br />
Ist Ihr Publikum im Durchschnitt<br />
recht jung?<br />
[ Es ist unterschiedlich. Wir haben junge<br />
und ältere Besucher:innen. Aber natürlich<br />
kommen viele zu den ZKM-Ausstellungen,<br />
weil sie sich für elektronische Gadgets,<br />
Musik oder Gaming interessieren. Wir<br />
haben auch ein älteres Publikum, das sich<br />
zum Beispiel mit Ökologie beschäftigt. ]<br />
30
Das Goethe-Institut<br />
und<br />
das ZKM | Karlsruhe<br />
Die fruchtbare Zusammenarbeit<br />
des ZKM mit dem<br />
Goethe-Institut dauert bereits<br />
seit 1997 an und<br />
hat bisher 20 Ausstellungen,<br />
zehn Projekte, eine<br />
Oper und unzählige Veranstaltungen<br />
hervorgebracht.<br />
Einige der wichtigen<br />
Kooperationen<br />
waren:<br />
2001–2005<br />
Medien-Kunst-Netz,<br />
https://<strong>zkm</strong>.de/de/projekt/<br />
medien-kunst-netz<br />
2008–2010<br />
Amazonas. Musiktheater<br />
in drei Teilen,<br />
https://<strong>zkm</strong>.de/de/<br />
projekt/amazonas<br />
2017–2019<br />
Global Control and Censorhship,<br />
https://<br />
<strong>zkm</strong>.de/en/project/<br />
global-control-andcensorship<br />
2017–2020<br />
Games and Politics,<br />
https://<strong>zkm</strong>.de/de/projekt/<br />
games-and-politics<br />
2013–2017<br />
AppArtAward auf Reisen,<br />
die Stationen waren<br />
Peking/China, Montréal/<br />
Kanada, Seoul/Südkorea,<br />
Los Angeles/USA, Mexico<br />
City/Mexiko u. a., https://<br />
<strong>zkm</strong>.de/de/forschungproduktion/awards/<br />
appartaward/der-appartaward-auf-reisen<br />
Was ist Ihr nächstes ZKM-Projekt<br />
in Mumbai?<br />
[ Aktuell arbeiten wir gemeinsam mit dem<br />
kuratorischen Team des ZKM daran, die<br />
Ausstellung Critical Zones ab August <strong>2022</strong><br />
zunächst in Mumbai und anschließend<br />
noch an vier oder fünf weiteren Stationen<br />
in Indien und Sri Lanka zu zeigen. Es<br />
fügt sich mit dem ZKM sehr glücklich, dass<br />
wir oft kontextualisierte Kunst zeigen<br />
können, in der sich globale Themen mit<br />
Kunst verknüpfen. ]<br />
Wie wird Ihrer Meinung nach Critical<br />
Zones angenommen werden – eine<br />
Ausstellung, die weniger spielerisch<br />
ist und die Klimakrise thematisiert?<br />
[ Intellektuelle Debatten über Ökologie<br />
sind in der indischen Gesellschaft<br />
tief verankert. Es gibt bei uns viele Wissenschaftler:innen<br />
und Historiker:innen,<br />
die das Thema auf ein globales Level heben.<br />
Wir veranstalten viele Panels zum Thema<br />
Ökologie, insofern ist eine Kunstausstellung<br />
zu diesem Thema sehr willkommen.<br />
Natürlich gibt es in Indien andere Ansätze<br />
und Perspektiven zur Klimakrise. Aber<br />
das ist ja gerade der Sinn eines Austauschs,<br />
Impulse zu setzen und andere Perspektiven<br />
zu gewinnen! Wir sind sehr zuversichtlich,<br />
dass es da zu einem anregenden<br />
Dialog kommt. Das Interesse an Philosophie<br />
und Wissenschaft ist in Indien groß. Zu<br />
unseren Vorlesungen, die sich überwiegend<br />
der deutschen Philosophie von Kant<br />
bis Habermas widmen, kommen jeden<br />
Samstag rund 150 Studierende und Professor:innen<br />
ins Goethe-Institut. ]<br />
Liebe Frau Nemivant, ich bedanke<br />
mich ganz herzlich für das Gespräch!<br />
Interview: Patrick Krause<br />
31
Moderne Arche Noah für Medienkunst<br />
Im Labor<br />
für antiquierte<br />
Videosysteme<br />
bewahrt<br />
Dorcas Müller<br />
Medienkunst<br />
und Abspielgeräte<br />
für<br />
die Nachwelt<br />
Kulturgut sichern ist die Aufgabe von Dorcas<br />
Müller. Im Labor für antiquierte Video systeme<br />
sorgt sie dafür, dass Medienkunstwerke<br />
und historische Abspielgeräte für die Nachwelt<br />
erhalten werden. Denn die seit Mitte der<br />
1960er-Jahre erschaffenen Videokunstwerke<br />
auf magnetischen Trägermedien sind durch ihre<br />
materielle Alterung akut bedroht und werden<br />
in wenigen Jahren nicht mehr lesbar sein.<br />
32
„Das ist mein Arbeitsplatz“, sagt Dorcas Müller, Leiterin des Labors für<br />
antiquierte Videosysteme. „Antiquierte Videosysteme“, das klingt nach<br />
einer Sammlung musealer Technik. Der erste Blick in den Nebenraum<br />
des Labors fällt auf etwa 2.000 Videokassetten, die zuvor jahrelang unberührt<br />
in Ateliers oder Kellern von Künstler:innen lagerten. Dorcas Müllers<br />
Job besteht unter anderem darin, diese Videowerke zu digitalisieren.<br />
Ein lebensgroßes Foto eines nackten Mannes mit einer eckigen Schultertasche<br />
und einer Kamera hängt am Eingang des Labors. „Das ist Michael<br />
Shamberg mit einem Portapak, das erste tragbare Sony-Videogerät,<br />
das 1967 auf den Markt kam“, klärt Dorcas Müller auf. Shamberg<br />
war in den 1960er-Jahren als Videoaktivist Mitbegründer des berühmten<br />
New Yorker Videokollektivs Raindance Corporation, das Videokunst<br />
als neue Form gegen-kultureller Kommunikation propagierte. „Er wurde<br />
später übrigens Produzent in Hollywood, unter anderem von Tarantino-Filmen“,<br />
weiß Müller. Das Frühwerk der Raindance Corporation zu erhalten,<br />
ist eine der Aufgaben von Dorcas Müller im Labor für antiquierte<br />
Videosysteme. Das Gerät, um das historische Magnetband auslesen<br />
zu können, steht bereit.<br />
Die erste tragbare Videoausrüstung<br />
gibt 1967 den Startschuss<br />
Der Portapak, dieses erste tragbare Videogerät, stellt einen Meilenstein<br />
in der Geschichte der Videokunst dar, weil es die Produktion von Videos<br />
demokratisierte und breite Zugänge schaffte. Entsprechend begeistert<br />
reagierte die Kunstwelt 1967. Dass der Portapak damals den Gegenwert<br />
eines VW-Käfers kostete, hielt die Künstler:innen nicht vom Kauf ab. Sie<br />
schlossen sich kurzerhand zu Kollektiven zusammen und teilten sich<br />
das Equipment.<br />
Doch was faszinierte die Kunstwelt an der Videotechnik? Statt Stunden<br />
oder Tage darauf zu warten, dass der Film in einem Labor entwickelt<br />
wurde, konnten die Aufnahmen direkt betrachtet werden. Die Möglichkeit,<br />
Bänder immer wieder neu zu bespielen, anstatt teures Filmmaterial<br />
zu kaufen, ermutigte die Künstler:innen zu experimentieren.<br />
Mit Videokunst dem<br />
Massenmedium Fernsehen etwas<br />
entgegensetzen<br />
Darüber hinaus zeigten die Bilder, die über die heimischen Fernsehmonitore<br />
flimmerten, einen sehr beschränkten Ausschnitt der Welt. Mit<br />
der Videotechnik konnten die Künstler:innen selbst elektronische Bilder<br />
erzeugen und auch jene Menschen, Ereignisse und Lebensentwürfe<br />
sichtbar machen, die nicht den Normen der großen Fernsehsender<br />
entsprachen. So entstanden Tausende von Videokunstwerken.<br />
33
Moderne Arche Noah für Medienkunst<br />
Videokunst hat jedoch ein Verfallsdatum: Bänder zerfallen, historische<br />
Abspielgeräte werden nicht mehr hergestellt, Ersatzteile werden knapp.<br />
In 15 Jahren sind es rund 15.000 Bänder, die das Labor für antiquierte<br />
Videosysteme der Kunst und der Nachwelt erhalten hat. Das Gesamtvolumen<br />
der Digitalisate beläuft sich mittlerweile auf über ein Petabyte –<br />
das entspricht 1.000 Terrabyte. Die riesigen Datenmengen werden auf<br />
speziellen Magnetbändern gespeichert, die überraschenderweise noch<br />
immer als das sicherste, kostengünstigste und umweltfreundlichste Medium<br />
für die Langzeitarchivierung gelten.<br />
Was im Labor einheitlich wirkt, kam als große Unübersichtlichkeit: Wer<br />
erinnert sich noch an den „Formatkrieg“ zwischen Betamax, VHS und<br />
Video 2000, der Ende der 1970er-Jahre begann? Auch weit vorher gab<br />
es Video und zwar in Form von großen und kleinen Halbzollspulen –<br />
bis die Firmen Grundig und Philips im Jahr 1971 das erste erfolgreiche<br />
Heimvideo in Kassettenform, das VCR-System, vorstellten. Mehr als 100<br />
unterschiedliche Consumer-Formate kamen in den vergangenen 60 Jahren<br />
auf den Markt. Im Labor stehen Geräte bereit, um über 50 dieser<br />
Video formate aus aller Welt abzuspielen und zu digitalisieren.<br />
Wo „Beuys“ draufsteht,<br />
ist auch Beuys drin <br />
Der Bedarf an Restaurierung ist hoch. In der Mitte des Labors steht eine<br />
Kiste mit der schlichten Aufschrift „Beuys“: Videobänder von Performances,<br />
Dokumentationen von Ausstellungen, die aus Mangel an technischem<br />
Equipment seit Jahrzehnten nicht mehr abspielbar waren. Absender:<br />
das Pariser Centre Pompidou. „Eine der Institutionen, die viel<br />
Videokunst haben und nicht mehr über die Abspielgeräte verfügen“, erklärt<br />
Dorcas Müller. Unter ihrer Hand wird das Flimmern auf dem alten<br />
Bildschirm zur konturierten Dokumentation der Ausstellung Richtkräfte<br />
in Berlin 1977, die Joseph Beuys im Begriff ist aufzubauen – und wir sind<br />
die ersten Zuschauer:innen seit Jahrzehnten.<br />
Neben diesem Monitor erstreckt sich eine ganze Landschaft alter Videogeräte<br />
über den Raum: Es ist eben kein Museum, sondern ein Labor.<br />
Fast ständig rotiert einer der silbernen, gut gealterten Apparate, denn<br />
es herrscht ein hohes Arbeitstempo, um dem Verfall der Medien rechtzeitig<br />
begegnen zu können.<br />
Videokunstwerke für die Nachwelt<br />
erhalten <br />
Fast wöchentlich erreichen Lieferungen wie die Beuys-Videos aus Paris<br />
das ZKM-Labor. Absender sind nicht nur Institutionen, sondern auch<br />
Künstler:innen oder ihre Nachkommen, die Werke bewahren wollen.<br />
Nach dem Tod des legendären Krautrock-Musikers Holger Czukay (CAN)<br />
schickte seine Familie Kisten mit Aufzeichnungen seiner Konzertauftritte.<br />
Die übliche Vereinbarung, die mit den Künstler:innen getroffen wird,<br />
34
[ … und nicht<br />
mehr über<br />
die Abspielgeräte<br />
verfügen. ]<br />
DORCAS MÜLLER<br />
ist eine Mischkalkulation: Das Labor digitalisiert, eine<br />
Kopie geht ins eigene Recherchearchiv, um in einer<br />
ZKM-Ausstellung oder für wissenschaftliche Forschungsprojekte<br />
verwendet werden zu können, eine<br />
weitere zurück zu den Auftraggebern, die frei über<br />
sie verfügen können.<br />
Labor für antiquierte<br />
Videosysteme<br />
Das Labor für antiquierte<br />
Videosysteme (im Jahr 2004<br />
gegründet von Christoph<br />
Blase und Peter Weibel) unterhält<br />
eine Sammlung<br />
lauffähiger originaler<br />
Videogeräte<br />
der vergangenen Jahrzehnte:<br />
von den ersten Consumer-<br />
Videosystemen auf offener<br />
Spule bis hin zu heute<br />
noch aktuellen Kassettenformaten.<br />
Mit seinem Maschinenpark<br />
von mehr als 300 Geräten<br />
ist das Labor in der<br />
Lage, fast 50 historische<br />
Videoformate hochwertig<br />
zu digitalisieren und zu<br />
restaurieren.<br />
Aufgrund der großen Fragilität<br />
der im Labor entstehenden<br />
digitalen Daten<br />
gehört deren Spiegelung<br />
zu den zentralen Aufgaben:<br />
Daten werden kopiert und<br />
auf zeitüblichen Datenträgern<br />
an verschiedenen<br />
Orten aufbewahrt.<br />
Das Werk des amerikanisch-italienischen Künstlers<br />
Aldo Tambellini wurde dank der Arbeit des Labors in<br />
der Kunstwelt ebenso wiederentdeckt wie die wegweisenden<br />
Aktivitäten der New Yorker Raindance Corporation.<br />
Und wenn schon das Centre Pompidou oder<br />
das MIT (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge,<br />
MA) ihre wertvollen historischen Bänder ans<br />
ZKM schicken, so ist das geradezu eine Verneigung<br />
vor der Karlsruher Kompetenz. „Wieder Werte schaffen“,<br />
umschreibt Dorcas Müller ihre Aufgabe ganz<br />
ohne Pathos. Denn im Labor für antiquierte Videosysteme<br />
werden die Ärmel hochgekrempelt. Es gibt<br />
noch viel zu tun. Patrick Krause<br />
35
It’s not about Money Was sind Non-Fungible Tokens (NFTs) –<br />
und wie kommen sie ins Museum?<br />
Über ein neues Medium am Beispiel der<br />
Sammlung des ZKM<br />
Spätestens seitdem das Auktionshaus Christie’s<br />
im März 2021 das Non-Fungible Token<br />
(NFT) zu einer Digitalcollage des Künstlers<br />
Beeple für 69,35 Millionen US-Dollar versteigert<br />
hat, sind NFTs nicht mehr nur Tech-<br />
Nerds oder Krypto-Begeisterten ein<br />
Be griff, sondern auch im klassischen Kunstbetrieb<br />
in aller Munde – und darüber<br />
hinaus. Das ZKM sammelt seit 2017 als eine<br />
der ersten Kulturinstitutionen NFTs: Die<br />
Sammlung umfasst mittlerweile rund 70 dieser<br />
digitalen Kunstwerke.<br />
40
Was 2014 auf einer Insider-Veranstaltung im New Museum<br />
von New York begann, wo der Künstler Kevin<br />
McCoy das erste, damals noch nicht so genannte NFT<br />
zertifizierte, hat sich zu einem globalen Hype entwickelt.<br />
Das Geschäft mit den Tokens boomt, die Vielfalt<br />
ihrer Formen verwirrt, die künstlerische Nutzung<br />
der Blockchain-Technologie erregt Faszination und<br />
Unbehagen gleichermaßen. Nicht nur Auktionshäuser<br />
interessieren sich für NFTs, auch Galerien – hierzulande<br />
etwa Nagel Draxler und König – nehmen sie ins<br />
Programm. Die Biennale di Venezia wird <strong>2022</strong> erstmals<br />
mit einer NFT-Sektion aufwarten. Und im deutschsprachigen<br />
Raum haben neben dem ZKM in Karlsruhe auch<br />
das Museum für angewandte Kunst in Wien und das<br />
Francisco Carolinum in Linz NFTs in ihre Sammlungen<br />
aufgenommen.<br />
Dabei sind NFTs immer noch erklärungsbedürftig und<br />
die Diskussion darüber, was Token als Kunstwerke interessant<br />
macht, hat gerade erst begonnen. Nicht nur für<br />
Kreative, auch für Händler:innen, die Sammlergemeinde<br />
und Blockchain-Entrepreneure ist die NFT-Szene ein<br />
Experimentierfeld. Museen, die NFTs sammeln, betreten<br />
Neuland.<br />
Ist das ein neues<br />
Konzept von Besitz?<br />
Doch was ist überhaupt das Revolutionäre an NFTs?<br />
NFTs sind Unikate in der digitalen Sphäre, die bislang beherrscht<br />
wird von der unterschiedslosen Kopierbarkeit<br />
von Daten. Um NFTs zu generieren wird die Blockchain-<br />
Technologie genutzt, auf der auch so genannte Kryptowährungen<br />
gründen. Deren Währungseinheiten sind als<br />
austauschbare Tokens zwar nummeriert wie Geldscheine,<br />
doch einander immer gleich im Wert. Non-Fungible<br />
Tokens – nicht austauschbare Vermögenswerte – sind<br />
dagegen einmalig. Als auf einer Blockchain hinterlegte<br />
Eigentumszertifikate können sich NFTs auf virtuelle wie<br />
physische Güter beziehen. Selbst wenn das zugrundeliegende<br />
Werk reproduziert oder gefälscht werden sollte,<br />
bleibt das als NFT registrierte Objekt das einzige Original<br />
– wobei sich dieses Alleinstellungsmerkmal genau<br />
genommen nicht auf das Objekt, sondern das Zertifikat<br />
bezieht. Es vermerkt überdies, wann das NFT „geprägt“<br />
(minted) wurde, in wessen „digitaler Brieftasche“<br />
(wallet) es liegt und durch welche Hände es in seiner<br />
Verkaufsgeschichte gegangen ist. In mit den NFTs verbundenen<br />
„Smart Contracts“ können auch Tantiemen<br />
festgelegt werden: Wer immer das NFT ursprünglich geprägt<br />
hat, profitiert dann von jedem Weiterverkauf.<br />
Die Idee eines<br />
Kunstwerks zertifizieren<br />
Es geht also um ein neues Konzept von Besitz und virtueller<br />
Dinghaftigkeit, um neue Formen der Vermarktung<br />
ohne Intermediäre und eine Technologie, die als<br />
künstlerisches Medium gerade erst erprobt wird. Ein<br />
wiederkehrender Vergleich in diesem Kontext: 2019<br />
verkaufte Maurizio Cattelan auf der Kunstmesse Art Basel<br />
Miami Beach zwei von drei mit Panzerband an die<br />
Wand geklebte Bananen mit dem Werktitel Comedian<br />
für 120.000 respektive 150.000 US-Dollar. Die dritte<br />
verspeiste der Aktionskünstler David Datuna. Dabei<br />
kam es auf die Bananen gar nicht an. Käuflich zu erwerben<br />
war ein „Echtheitszertifikat“ für das Kunstwerk<br />
und das Recht, die Frucht auszutauschen: also eine<br />
zertifizierte Idee des Kunstwerks.<br />
Das kommt dem Konzept von NFT-Kunst ziemlich nahe.<br />
Diese hinterfragt außerdem die autonome Position von<br />
Künstler:innen: Das kryptografisch gesteuerte „Minting“<br />
von algorithmisch kreierten Kunstwerken etwa kann mit<br />
kollektiver Interaktion kurzgeschlossen werden, die<br />
idealerweise aus einer möglichst engagierten digitalen<br />
Fangemeinde kommt. Einige der erfolgreichsten und<br />
wirkmächtigsten Krypto-Kunstprojekte kann man als<br />
kollektiv gestaltete Gesamtkunstwerke interpretieren:<br />
etwa sogenannte „Collectables“.<br />
Zum perfekten Zeitpunkt, nämlich 2017, als sich die<br />
NFT-Welle gerade aufbaute, ließ das ZKM seinen Künstler<br />
und IT-Spezialisten Daniel Heiss für die Ausstellung<br />
Open Codes. Die Welt als Datenfeld ein „Krypto-Lab“<br />
mit Bitcoin-Miner aufbauen. Das Ziel war, dem Publikum<br />
die Blockchain-Technologie näherzubringen. Doch<br />
mit dem in diesem museumspädagogischen Projekt<br />
„geschürften“ Kryptogeld war auch das Kapital da, um<br />
die ersten NFTs für die Sammlung des ZKM zu kaufen.<br />
Ab Ende 2017 wurden CryptoKitties (Dapper Labs,<br />
seit 2017) und CryptoPunks (Larva Labs, 2017) in die<br />
Sammlung des ZKM integriert.<br />
Für immer dem<br />
Markt entzogen<br />
Die CryptoKitties, Schöpfungen von Guile Gaspar und<br />
Dapper Labs, sind Teil eines ungeheuer populär gewordenen<br />
Spiels auf der Blockchain Ethereum, bei dem<br />
in ihren Eigenschaften individuelle virtuelle Katzen<br />
41
It’s not about Money<br />
[ Es geht also um<br />
ein neues Konzept<br />
von Besitz<br />
und virtueller<br />
Dinghaftigkeit …]<br />
URSULA <br />
SCHEER<br />
gekauft, gesammelt, verkauft und „gepaart“ werden<br />
können, um neue zu erzeugen. Weltberühmt sind inzwischen<br />
auch die CryptoPunks der Softwareentwickler<br />
Matt Hall und John Watkinson. 10.000 verschiedene,<br />
von einem Algorithmus kreierte Portraits von Punks mit<br />
24 mal 24 Pixeln, die als NFTs auf Ethereum geprägt<br />
und kostenlos ausgegeben wurden. Inzwischen wird<br />
der günstigste CryptoPunk für derzeit rund 150.000<br />
US-Dollar gehandelt.<br />
Das ZKM konnte sich 2018 vier Exemplare für je um<br />
die 100 Dollar sichern. Der Spekulationswut sind sie<br />
inzwischen entzogen: Statt sie in ein Hardware-Wallet<br />
zu transferieren, hat Daniel Heiss sie versehentlich an<br />
die Smart-Contract-Adresse der Entwickler geschickt –<br />
einen Ort auf der Blockchain, zu dem niemand den<br />
Schlüssel kennt. Dort liegen die NFTs unerreichbar,<br />
was dem Motto der ersten Krypto-Kunstausstellung<br />
CryptoArt entspricht, die das ZKM 2021 mit NFT-Kunst<br />
aus der eigenen Sammlung und von Leihgeber:innen<br />
auf dem Screen des ZKM-Kubus ausrichtete: „It’s not<br />
about Money“.<br />
Ein Algorithmus schafft<br />
ein einmaliges<br />
Digitalkunstwerk<br />
Tatsächlich interessiert sich das ZKM, in dem Daniel<br />
Heiss und die Kuratorin Margit Rosen unter anderem für<br />
NFTs zuständig sind, nicht für den Marktwert, sondern<br />
für das künstlerische Potenzial und die medienhistorische<br />
Stellung der Tokens. In ihrem Fokus sind sogenannte<br />
On-Chain-NFTs – die kein außerhalb der Blockchain<br />
digital gespeichertes oder physisch vorliegendes<br />
Werk repräsentieren, sondern bei denen das Kunstwerk<br />
selbst sich auf der Blockchain befindet. Dort ist es auf<br />
den kleinen Speicherplatz verwiesen, der Tokens zur<br />
Verfügung steht. Besonders raffinierte, selbstreferenzielle<br />
Exemplare initiieren im Moment ihrer Prägung<br />
einen Prozess, bei dem ein Algorithmus ein einmaliges<br />
Digitalkunstwerk schafft. Welche Form genau es annimmt,<br />
ist der menschlichen Kontrolle entzogen. Auch<br />
42
die CryptoPunks gehören dieser Klasse generativer<br />
Krypto-Kunst an, waren als Grafiken aber ursprünglich<br />
jenseits der Blockchain gespeichert, was die Entwickler,<br />
die mit Autoglyphs 2019 das nächste generative<br />
NFT-Projekt vorlegten, inzwischen geändert haben.<br />
Von den CryptoPunks inspiriert ist auch Erick Calderon,<br />
der 2020 noch ein amerikanischer Fliesenhändler<br />
mit einem Faible für Coding war. 2021 gründete er Art<br />
Blocks, eine Onlineplattform für generative NFT-Kunst.<br />
Dort und auch in der Sammlung des ZKM zu finden<br />
sind Exemplare der in einer Serie von 1.000 Exemplaren<br />
geschaffenen Ringers (2021) von Dmitri Cherniak.<br />
Der junge New Yorker lässt seinen Algorithmus Liniengebilde<br />
um ein Raster aus Kreisen legen, mit Primärfarben<br />
sowie Schwarz oder Weiß die umgrenzten Flächen<br />
füllen oder Elemente eliminieren. Die Ergebnisse<br />
sind Beispiele unendlicher Variationsmöglichkeiten,<br />
die Assoziationen an die konstruktivistische russische<br />
Avantgarde wecken, sich konzeptionell aber auf<br />
Pionierleistungen generativer Computerkunst aus den<br />
1960er-Jahren beziehen, wie etwa auf Arbeiten von<br />
Georg Nees und Frieder Nake.<br />
Klimasensibilität vs.<br />
Energieverbrauch<br />
Ein weiterer, noch analog sozialisierter Konzeptkünstler,<br />
der die Blockchain für sich entdeckte, ist der Ire Kevin<br />
Abosch. Aus dem Jahr 2018 stammt sein Projekt I am<br />
a Coin: Auf 100 Papierbögen druckte Abosch mit eigenem<br />
Blut Smart-Contract-Adressen, die mit zehn Millionen<br />
Standard-Tokens auf Ethereum korrespondieren. Ist<br />
dies ein Teufelspakt mit der Technik, den der Künstler<br />
hier einging, oder die maximale Kontrolle über die Kapitalisierung<br />
seiner selbst? Beide Deutungen sind möglich.<br />
Das ZKM hat sich als Sammler an Aboschs NFT-<br />
Projekt 1111 von 2021 beteiligt. Die titelgebende Anzahl<br />
von Digitalkunstwerken aus Code in unterschiedlichen<br />
Kompositionen und Farben versteigerte er als NFT und<br />
bettete sie in eine Dezentrale Anonyme Organisation<br />
(DAO) auf der Blockchain ein. Durch Tweets an seine<br />
Sammlergemeinde hat Abosch immer wieder ihre Neugierde<br />
(und ihren Investitionswillen) angestachelt und<br />
versprochen, dass noch etwas Neues, Interaktives aus<br />
1111 folgen solle. Verkündet hat er schließlich, er wolle<br />
einen Satelliten starten, der Daten über den Klimawandel<br />
sammeln solle als Grundlage für neue Kunstwerke.<br />
Bisher ist aus dem Start von 1111 KOSMOS noch nichts<br />
geworden. Klimasensibilität ist allerdings ein Thema<br />
für die NFT-Gemeinde: Blockchains verbrauchen viel<br />
Energie, weshalb Ethereum seit langem den Umstieg<br />
auf ein stromsparendes Kodierungsverfahren („proof of<br />
stake“ statt „proof of work“) verspricht. Wo es ein NFT-<br />
Projekt erlaubt, präferiert das ZKM daher Arbeiten auf<br />
„grüneren“ Blockchains wie Tezos, wo es mit objkt.com<br />
oder versum.xyz einen wachsenden Marktplatz für NFT-<br />
Kunst gibt.<br />
So faszinierend das Feld ist, es stellt Museen vor viele<br />
neue Herausforderungen. Das fängt bei der Notwendigkeit<br />
einer Multi-Signature-Wallet an, welche zu höheren<br />
Transaktionsgebühren („GAS“) auf der Blockchain<br />
führt. Auch ist mit dem Erwerb eines NFTs grundsätzlich<br />
weder die Übertragung des Urheberrechts noch<br />
ein Nutzungsrecht im Sinne einer Präsentation des<br />
Werks in einer Ausstellung verbunden. Bevor Lizenzen<br />
und Smart Contracts auf die Bedürfnisse öffentlicher<br />
Einrichtungen zugeschnitten sind, müssen Lösungen<br />
zwischen ihnen und Künstler:innen oder Kollektiven<br />
individuell ausgehandelt werden, was geradezu rührend<br />
altmodisch anmutet in der von Pseudonymen, Dezentralisierung<br />
und autonomen Netzwerken geprägten<br />
Blockchain-Welt. Ursula Scheer<br />
[ NFTs sind Uni-<br />
URSULA SCHEER<br />
kate in der<br />
digitalen Sphäre,<br />
die bislang<br />
beherrscht wird<br />
von der unterschiedslosen<br />
Kopierbarkeit<br />
von Daten. ]<br />
43
Art Institutions in the Age of Existential Risks.<br />
Wir leben in kritischen Zeiten, die auch Kulturinstitutionen<br />
vor neue Herausforderungen<br />
stellen. Klimakrise, soziale Ungleichheiten<br />
sowie Konflikte und Katastrophen bergen<br />
existenzielle Risiken. Die Coronapandemie und<br />
aktuell der Krieg in der Ukraine führen uns<br />
dies unmittelbar vor Augen. Das ZKM, seit<br />
jeher eng mit Wissenschaftsbetrieb vernetzt<br />
und technologischen Entwicklungen zugewandt,<br />
thematisiert in seinen Ausstellungen<br />
und Events immer wieder gesell schaftliche<br />
Fragen und liefert so einen Beitrag zu aktuellen<br />
Diskursen. Bei einer zweitägigen Onlinekonferenz<br />
im Oktober 2021 diskutierten<br />
internationale Expert:innen aus Kunst, Gesellschaft<br />
und Wissenschaft darüber, ob Kunst<br />
und Kultur eine Schlüsselrolle bei der Lösung<br />
der globalen Krisen einnehmen können.<br />
44
What to Do? –<br />
Die Kulturbranche in<br />
Zeiten globaler<br />
Herausforderungen<br />
„Art Institutions in the Age of existential Risks. What to do? – Konferenz<br />
zur Zukunft der Museen“, kuratiert von Peter Weibel, beschäftigte sich<br />
mit der Frage, welche Rolle Kunst und Kultur bei der Diskussion und<br />
Bewältigung gesellschaftlicher Krisen spielen können. Wie können Museen<br />
und andere Kultureinrichtungen in diese Rolle hineinwachsen? Die<br />
Kunstszene ist selbst im Umbruch, als Spiegel sozialer Veränderungen<br />
wie der Aufarbeitung von Kolonialismus, Sexismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit,<br />
der Benachteiligung von Minderheiten und anderer gesellschaftsrelevanter<br />
Themen.<br />
Die versammelten Expert:innen wollten die Menge an Anforderungen<br />
und Perspektiven skizzieren, die sich aus den globalen Risiken für die<br />
Kulturinstitutionen ergeben. Wo genau stehen Kulturinstitutionen in Bezug<br />
auf diese neuen, globalen Herausforderungen? Braucht die Kultur<br />
eine Renaissance? Und was passiert umgekehrt, wenn derartige Krisen<br />
die Existenz von Kultureinrichtungen selbst bedrohen?<br />
Den Auftakt bildete ein Vortrag von Max Hollein, in dem der Direktor des<br />
Metropolitan Museum of Art (Met) in New York, des größten Kunstmuseums<br />
der westlichen Hemisphäre, eindringlich beschreibt, wie innerhalb<br />
der letzten zehn Jahre der öffentliche Druck auf das Met stetig gestiegen<br />
ist. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem Fragen wie Repräsentation,<br />
Geschlechtervielfalt und Diversität immer drängender würden,<br />
steht auch für das altehrwürdige Met viel auf dem Spiel, schließlich werden<br />
in den USA kulturelle Einrichtungen nicht staatlich bezuschusst,<br />
sondern ausschließlich durch ihre Besucher:innen und großzügige<br />
Mäzen:innen finanziert. Eine falsche Positionierung zu diesen neuen Fragen<br />
könnte existenzielle Folgen für eine Kultureinrichtung nach sich ziehen.<br />
Raus aus dem Elfenbeinturm<br />
Klar wird in Max Holleins Vortrag: Das Museum von morgen ist eine offene<br />
Diskursplattform, in der eine Vielfalt von Stimmen zusammenfinden<br />
kann – nicht zuletzt auch der künstlerische Aktivismus. Wirklich neutral<br />
könne eine Kultureinrichtung niemals sein. Selbst ein „Universalmuseum“<br />
wie das Met könne niemals dem Anspruch gerecht werden, alle<br />
Kulturen der Welt gleichberechtigt zu repräsentieren. Vielmehr gehe es<br />
darum, den Diskurs über kulturelle Repräsentation offen und transparent<br />
zu führen und dabei zu fragen: Wer trifft hier wirklich die Entscheidungen?<br />
Welche Stimmen bilden und prägen die Institution?<br />
45
Kultureinrichtungen müssen sich stärker öffnen<br />
Praktisch bedeute dies, internationale Vernetzung und Austausch auf<br />
Augenhöhe anzustreben. Ausstellungsräume könnten so gestaltet werden,<br />
dass nicht die Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen,<br />
sondern vielmehr übergreifende Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge<br />
herausgestellt würden. Althergebrachte kulturelle Narrative müssten<br />
überdacht und durch Alternativen ergänzt werden. Die Besiedelung<br />
Amerikas durch die Europäer etwa ist im Met keine Geschichte der noblen<br />
weißen Heilsbringer mehr.<br />
Als in New York ansässige Autorin und Kuratorin ist Laura Raicovich eine<br />
Expertin der US-amerikanischen Kulturszene. Und auch sie sieht für die<br />
Zukunft der Branche keinen einseitigen Informationsfluss von der Institution<br />
zu passiven Konsument:innen mehr. Kulturelle Bildungsangebote<br />
müssten vielmehr eine Einladung an unterschiedliche Personengruppen<br />
sein, ihr Wissen zur gegebenen Thematik zu teilen. Dabei komme<br />
es eben nicht auf unbedingte Neutralität an, sondern auf Ehrlichkeit und<br />
Transparenz. Es sei auch wichtig, Einrichtungen räumlich so zu gestalten,<br />
dass sie verschiedene Gruppen von Menschen willkommen heißen.<br />
Im Palais de Lomé in Togo macht Direktorin Sonia Lawson bereits vor,<br />
wie das Publikum einbezogen werden kann. Der ehemalige Kolonialpalast<br />
ist alles andere als ein Elfenbeinturm: Lawson und ihr Team warten<br />
nicht ab, dass die Menschen zum Museum kommen – sie bringen<br />
[ Langfristiges<br />
Überleben ist nur<br />
mithilfe eines<br />
loyalen Publikums<br />
möglich. ]<br />
ILLE GEBESHUBER<br />
46
[ Wirklich neutral<br />
kann eine<br />
Kultureinrichtung<br />
niemals sein. ]<br />
MAX HOLLEIN<br />
die Kunst zu den Menschen. Im umliegenden Stadtraum veranstalten<br />
sie Theaterstücke, Schnitzeljagden oder Umfragen, arbeiten dabei mit<br />
Schulklassen und lokalen Initiativen zusammen. Diese aktive Community-Arbeit<br />
bildet den Kern ihrer Philosophie. Über Togo hinaus setzt sie<br />
auf pan-afrikanische Kooperationen. Lawson ist überzeugt: „Manche<br />
Dinge müssen gefühlt und erlebt werden.“ Denn nur so könne man mittels<br />
Kunst und Kultur einen Umgang mit aktuellen lokalen Herausforderungen<br />
finden – etwa zu Themen wie Migration und Klimawandel. Der<br />
prächtige Garten des Palastes bietet indes die perfekte Grundlage für<br />
die Vermittlung von Biodiversität gerade an die jungen Besucher:innen.<br />
Teile des Gartens bleiben naturbelassen, um die verschiedenen Vegetationen<br />
Togos zu zeigen, während sich in den Innenräumen des Palastes<br />
Designobjekte finden, die von den Pflanzen draußen inspiriert sind.<br />
Dass Kultureinrichtungen sich um proaktive Vernetzung bemühen müssen,<br />
findet auch Irini Mirena Papadimitriou, Creative Director bei FutureEverything<br />
in London, einem Zentrum für Kunst, Kultur und Innovation.<br />
Auch im Vereinigten Königreich herrsche ein konstanter Druck auf Kultureinrichtungen<br />
– wie sie geführt werden, was sie thematisieren und<br />
wie kritisch sie dabei sind. Um dem zu begegnen, müssten die Einrichtungen<br />
sich öffnen und über Grenzen hinweg kooperieren. Neben dem<br />
physischen Stadtraum hat Papadimitriou dabei vor allem die digitalen<br />
Möglichkeiten im Blick, durch die Einrichtungen sich global verbünden<br />
und Herausforderungen gemeinsam angehen könnten. Ferner ist sie<br />
überzeugt: Kultureinrichtungen dürften keine allein auf Profit ausgerichteten<br />
„Moneymaking-Machines“ sein – diesem Druck gelte es standzuhalten.<br />
47
Kultureinrichtungen müssen sich stärker öffnen<br />
Digitalisierung als zweischneidiges<br />
Schwert<br />
Dass sich durch das Digitale weitreichende neue Spielräume der Interaktion<br />
sowohl mit anderen Institutionen wie auch mit dem Publikum eröffnen,<br />
dürfte spätestens seit der Pandemie klar sein. Digitalisierung als<br />
Heilsbringerin für die Kultur also? So einfach ist es dann doch nicht:<br />
Sie ist ein zweischneidiges Schwert, wie die Physikerin Ille Gebeshuber<br />
darlegt. Der digitale Raum eröffnet den Konsument:innen zwar eine viel<br />
größere Auswahl an kulturellen Angeboten aus der ganzen Welt. Aber<br />
wer geht noch in die kleine Galerie vor Ort, wenn so viele berühmte<br />
Kunstwerke und Weltklasse-Performances nur ein paar Klicks entfernt<br />
sind?<br />
Überhaupt digitales Programm anzubieten, könne also allenfalls der erste<br />
Schritt sein. Langfristiges Überleben sei nur mithilfe eines loyalen<br />
Publikums möglich. Besucher:innen müssten zu Freund:innen werden.<br />
Statt sich lediglich auf Steigerung der eigenen Bekanntheit zu konzentrieren,<br />
müssten Einrichtungen ihre potenziellen Besucher:innen ernst<br />
nehmen und sie dazu befähigen, genau das zu finden, wonach sie suchen,<br />
einschließlich weiterer ähnlicher Angebote.<br />
Im gemeinsamen Gespräch sind sich die Physikerin Gebeshuber und die<br />
Kreativdirektorin Papadimitriou jedoch sicher: Durch erfolgreichen Einsatz<br />
digitaler Tools könnten Kultureinrichtungen nicht nur ihre Relevanz<br />
aufrechterhalten, sondern zu Orten der breiteren gesellschaftlichen Diskussion<br />
werden, wo Bürger:innen das Gefühl haben, gehört zu werden.<br />
Kunst kann mehr<br />
Auf eindrucksvolle Weise zeigt der führende globale Strategieberater<br />
Parag Khanna wie kreative Designmethoden auf globale Fragestellungen<br />
angewandt werden können und wie innovative Daten-Landkarten<br />
neue Perspektiven auf Klimawandel, Migration und Globalisierung eröffnen.<br />
Er ist Mitbegründet von FutureMap, einem daten- und szenariobasierten<br />
Strategieberatungsunternehmen. Die Bereicherung empirischwissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse durch künstlerisch-kreative Methoden<br />
macht solch komplexe Themen sehr viel greifbarer und hilft damit nicht<br />
zuletzt bei der politischen Meinungsbildung.<br />
Passend dazu macht es der Medientheoretiker Siegfried Zielinski (Universität<br />
der Künste Berlin) zum Abschluss der Konferenz zu seinem Anliegen,<br />
für eine nicht bloß methodische oder institutionelle, sondern<br />
auch thematische Öffnung von Kultureinrichtungen zu werben. Neben<br />
den klassischen Aufgaben müsse ein zukunftsgerichtetes Kunstmuseum<br />
auch neue Medien, wissenschaftliches Denken und innovative<br />
Technologien in sein Konzept integrieren. Das Verständnis von Kunst<br />
müsse um neue Räume für Ideen, Diskurse und Aktivitäten erweitert<br />
werden. Kultureinrichtungen brauchten Mut, um Experimente und radikale<br />
Offenheit zu wagen – abseits reinen Effizienzdenkens.<br />
48
Wie geht es weiter – <br />
What to Do?<br />
Mut zur Offenheit und Transparenz, Vielfalt und Zusammenarbeit,<br />
Experimentierfreude: das sind die roten<br />
Linien entlang derer eine proaktive und lösungsorientierte<br />
Entwicklung der Kulturbranche verläuft.<br />
Statt im traditionellen Bild eines Museums zu verharren<br />
oder sich allein auf Wirtschaftlichkeit auszurichten,<br />
müssen Einrichtungen zu einem Raum für vielfältige<br />
Stimmen, für Teilhabe des Publikums, für transdisziplinäres<br />
Wissen und für globale Kooperationen<br />
werden. Digitale Tools bieten hier enormes Potenzial,<br />
sind aber kein Allheilmittel. Viel wichtiger sind<br />
ein aufrichtiger Umgang mit dem Publikum, Selbstreflexion,<br />
die Einladung zum offenen Diskurs sowie Engagement<br />
über die eigenen vier Wände hinaus. Kultureinrichtungen,<br />
die diese Prinzipien beherzigen,<br />
haben gute Chancen, Teil der Lösung globaler Herausforderungen<br />
zu sein. Lena Schneider<br />
Karlsruhe –<br />
Deutschland –<br />
die Welt:<br />
Im Programm des ZKM nehmen<br />
wir Perspektiven unterschiedlichster<br />
Größenordnung<br />
ein. Mit der dreiteiligen<br />
Veranstaltungsreihe<br />
Art Institutions<br />
in the Age of Existential<br />
Risks widmen wir uns<br />
globalen Diskursen zu den<br />
großen Themen unserer<br />
Zeit. Die Auftaktkonferenz<br />
mit der Leitfrage What<br />
to Do? (www.<strong>zkm</strong>.de/artexistential-risks)<br />
erhielt<br />
ihre Fortsetzung mit<br />
What Is the Impact of Activism?<br />
(www.<strong>zkm</strong>.de/art-andactivism)<br />
und schließlich<br />
Institutions and Resistance<br />
– Alliances for Art<br />
at Risk (www.<strong>zkm</strong>.de/art-at-risk).<br />
Die vollständige Konferenz ist<br />
zu sehen unter www.<strong>zkm</strong>.de/<br />
art-existential-risks oder auf dem<br />
YouTube-Kanal des ZKM:<br />
www.youtube.com/<strong>zkm</strong>karlsruhe.<br />
[ Besucher:innen<br />
ILLE GEBESHUBER<br />
müssen zu<br />
Freund:innen werden.]<br />
49
Er ist Materie, sie Information<br />
ZKM-Residency: Künstler:innen-Paar<br />
Katrin Hochschuh und Adam Donovan im Porträt<br />
Das Visual der aktuellen Ausstellung<br />
BioMedien. Das Zeitalter der Medien mit<br />
lebensähnlichem Verhalten zeigt einen<br />
Ausschnitt mit kleinen, leuchtenden<br />
Robotern, die sich auf dunklem Untergrund<br />
bewegen. Das ist der Empathy Swarm<br />
von Katrin Hochschuh und Adam Donovan,<br />
die sich in ihrer künstlerischen Arbeit<br />
besonders für die Mensch-Maschine-Interaktion<br />
interessieren. Im Vorfeld der Ausstellung<br />
waren sie für eine Residency am<br />
ZKM. Wie lernt die künstliche Intelligenz<br />
des Schwarms und welchen Einfluss haben<br />
die unterschiedlichen Interessen seiner<br />
menschlichen Mentoren?<br />
50
Eine Gruppe kleiner Roboter „umschwänzeln“ die Füße der Besucher:innen<br />
und blinken dabei mal lila, mal türkis auf. Wollen sie etwas mitteilen?<br />
Die autonom über den Fußboden fahrenden Roboter agieren als<br />
Schwarm. Die Anzahl variiert je nach Größe ihres Habitats. Sobald man<br />
seine Schuhe auszieht und eintritt, reagieren sie. Manche nähern sich<br />
interessiert, andere wahren eine gewisse Distanz. Als Besucher:in heißt<br />
es: innehalten, sich nicht zu schnell bewegen und abwarten, was passiert.<br />
Ein fast meditatives Erlebnis. Empathy Swarm heißt das Kunstwerk<br />
von Katrin Hochschuh und Adam Donovan, das in der Ausstellung Bio-<br />
Medien im ZKM zu erleben ist. Ist ein Roboter allein, leuchtet er bläulich,<br />
ist der Schwarm in der Gruppe unterwegs, wechselt er zu Orange.<br />
Je nach Gruppengröße changiert die Farbe und je schneller sie umhersausen,<br />
desto heller leuchten sie.<br />
Studiert hat Katrin Hochschuh ursprünglich Architektur. Doch während<br />
ihres Studiums in Wuppertal und Zürich reifte bereits das Interesse an<br />
der Robotik. „In der Arbeit als Architektin fühlte ich mich selbst wie eine<br />
Maschine“, sagt sie. Es war so weit weg von dem, was sie wirklich interessierte:<br />
Transformationen, die Möglichkeiten des Programmierens, des<br />
Digitalen. Ihre Forschungsarbeit näherte sich dem digitalen parametrischen<br />
Design, indem sie einen Schwarm von Baudrohnen entwickelte, die<br />
temporäre Pavillons errichten können. Wie bei den meisten Architekt:innen<br />
blieben ihre Ideen Entwürfe, die auf ihre Umsetzung warten. Als sie<br />
Adam Donovan begegnete, bündelten sie ihr Wissen und entwickelten<br />
die Idee, einen Schwarm künstlicher Wesen zum Leben zu erwecken.<br />
Katrin wurde die Programmiererin, Adam kümmerte sich um die Hardware.<br />
„Ich bin Materie“, sagt er. „Und ich bin Information“, ergänzt sie.<br />
Im Gleichklang der Gedanken<br />
und Gefühle<br />
Kennengelernt haben sich die beiden in der Schweiz, als Katrin am Museum<br />
für digitale Kunst Zürich an einer Ausstellung arbeitete, an der<br />
auch Adam beteiligt war. Er hatte sich bereits viele Jahre mit Klang und<br />
Robotik beschäftigt, fasziniert davon, wie Klang unsere Wahrnehmung<br />
beeinflusst. Der gebürtige Australier zeigte ihr seine Soundroboter, beeindruckende<br />
Arbeiten. „Nie zuvor hatte ich etwas wie diese gerichteten<br />
Schallwellen gehört“, sagt Katrin. Er wiederum war fasziniert von<br />
ihrer Arbeit für ein Musikvideo, einer Echtzeitsimulation von Magnetfeldlinien.<br />
Beim Versuch, ihre Projektionen mit seinen Soundrobotern zu verbinden,<br />
merkten beide, dass sie gleich ticken – und sie wurden auch privat<br />
ein Paar. Diesen Gleichklang aus gemeinsamen Ideen, ja, auch Empathie,<br />
gossen sie in ihre erste gemeinsame Arbeit Curious Tautophone (2017).<br />
Bereits für ihre Masterarbeit hatte Katrin sich mit Schwarmverhalten beschäftigt.<br />
Sie faszinierte, wie modifizierte Schwarmregeln unterschiedliches<br />
Verhalten erzeugten. So entstand die Idee für Empathy Swarm:<br />
„Zusammen können wir einen echten Roboterschwarm bauen.”<br />
51
Er ist Materie, sie Information<br />
Der Ursprung des Mitgefühls<br />
2017 entstand der erste Prototyp. Es folgten Jahre, in denen sich die<br />
beiden neues Wissen aneigneten – von der Frage, wie viele Datenpakete<br />
man per WiFi verschicken kann über Platinen-Ätzen und Aufschmelzlöten<br />
von SMD-Teilen mit einem selbstgebauten Reflow-Ofen. Adam<br />
entwickelte wesentlich komplexere Schaltkreise, verbesserte das Batteriemanagement<br />
und optimierte die Laufzeit der Roboter. Ihr Elektroniklabor,<br />
das sie während der Residency auch im ZKM einrichteten, ist<br />
beeindruckend. „Die Leute können sich meist nicht vorstellen, dass nur<br />
wir beiden hinter der Arbeit stehen und vermuten das Institut einer Universität<br />
im Hintergrund“, sagt Katrin.<br />
Aus der Faszination für Schwarmverhalten wurde ein Projekt, das sie<br />
ständig weiterentwickeln. Sie suchen „nach Beweisen dafür, dass wir<br />
als Menschen Mitgefühl mit unbelebten Gegenständen haben können“,<br />
so Adam. Ausgangspunkt für ihre Arbeit war ein einfacher Animationsfilm,<br />
mit dem Fritz Heider und Marianne Simmel bereits 1944 gezeigt<br />
hatten, wie leicht es dem menschlichen Gehirn fällt, eine emotionale<br />
Bindung zu einem unbelebten Gegenstand aufzubauen, und wie stark<br />
die Empathie im menschlichen Gehirn verankert ist. „Nachdem wir dieses<br />
Video gesehen hatten, waren wir sicher, dass unsere Idee funktionieren<br />
könnte“, sagt Adam. Den Beweis liefert schon der erste Testlauf<br />
mit ihrem ersten kleinen Schwarm von zehn Robotern: „Sobald sie sich<br />
zu bewegen anfingen, sah ich die Beziehungen zwischen den Robotern.“<br />
Schon in diesem Versuch war zu beobachteten, wie sich Gruppen<br />
bilden. Blieb nur einer außen vor, erledigte das Gehirn den Rest, erklärt<br />
Adam: „Man betrachtet diesen Roboter als Außenseiter.“<br />
Ein ganzes Dorf aus Robotern <br />
Mittlerweile ist der Schwarm auf 50 Roboter angewachsen. Man kann<br />
sich nun größere Gemeinschaften vorstellen wie ein kleines Dorf. Die<br />
Besucher:innen, die sich im ZKM in der Installation bewegen, spüren<br />
etwa, wenn die Roboter nicht genug Platz haben. Die Wirkung des empathischen<br />
Schwarms ist unmittelbarer, da man sich mit der KI einen<br />
Raum teilt. Ein Aspekt, der den Künstler:innen gefällt, er verleiht dieser<br />
neuen Form der KI eine andere Relevanz. In künstlerischen Arbeiten<br />
taucht KI oft nur auf einem Bildschirm auf und die meisten Menschen<br />
kennen Roboter nur aus der Science-Fiction oder der Autoindustrie.<br />
„Sie haben eine falsche Vorstellung davon, wie Roboter sind”, sagt<br />
Adam: „Sie sind nicht der Terminator. Ihnen geht einfach irgendwann der<br />
Saft aus …”<br />
Doch wie kann der Schwarm Gefühle vermitteln? In diesem Zusammenhang<br />
beschäftigen sich die Künstler:innen mit verschiedenen Theorien<br />
wie der Bewegungsanalyse von Rudolf Laban, der die Dynamik der Bewegung<br />
mit verschiedenen objektiven Begriffen beschreibt und es ermöglicht,<br />
Bewegungsdaten zu systematisieren – eine gute Voraussetzung<br />
für Katrins Programmierarbeit. Einer dieser Aspekte ist Geschwin-<br />
52
digkeit. Fährt ein Roboter direkt auf eine Person zu oder mäandert er,<br />
bewegt sich seitwärts? Diese Bewegungen können selbst beim Betrachten<br />
nicht anthropomorpher Roboter das Gefühl erzeugen, sie verfolgten<br />
eine Absicht.<br />
Deshalb ist es wichtig, was Katrin und Adam ihrer KI beibringen, ein System,<br />
das über die Zeit dazulernt. „Wir wollen natürlich nicht die bösen<br />
Wissenschaftler sein“, sagt Katrin. Wie gute Eltern achten sie sehr darauf,<br />
womit sie die KI füttern: „Wir arbeiten mit unserem eigenen Code,<br />
nutzen unsere eigenen Daten. Wir lehren die Roboter sozusagen von<br />
klein auf.“ Und trotzdem bleibt eine Lücke für den Zufall. Damit folgen<br />
die Künstler:innen den Überlegungen von Marie-Luise Angerer, die eindrücklich<br />
davor warnt, ein rigides KI-System zu kreieren. Die Programmierungen<br />
für den Schwarm basieren auf bisherigen Erfahrungen, wie<br />
sich Menschen verhalten.<br />
Von den Besucher:innen erhoffen sich die beiden, dass sie eintauchen,<br />
sich auf ein gemeinschaftliches Erlebnis mit einer anderen Lebensform<br />
einlassen können. Manchmal klappt das überraschend gut, sagt Adam<br />
und denkt dabei an eine ganz besondere Begegnung im Zuge vom<br />
Empathic Swarm: Ein etwa Achtjähriger kam mehrmals in die Ausstellung,<br />
um sicherzugehen, dass es den Robotern gutgeht. Er träumte sogar<br />
von ihnen. „Das fühlt sich wirklich gut an, wenn man sich überlegt,<br />
mit welcher Haltung zu anderen Lebensformen der Junge aufwächst.“<br />
Bis an die Grenzen des Habitats<br />
Interessant für die beiden sind die Assoziationen der Besucher:innen.<br />
Manche erinnern die Roboter an Hühner, andere an ihre Katze. Ihnen<br />
gehe es um einen respektvollen Umgang mit dem Schwarm, betont Katrin:<br />
„Sie sind in ihrem Habitat, das sie nicht verlassen können. Deshalb<br />
ist es wichtig, dass nicht zu viele Menschen gleichzeitig ihren Lebensraum<br />
betreten, denn sie haben nicht so viel Platz.“ Aus diesem „Platzproblem“<br />
lassen sich Fragen ableiten wie etwa: Wo dürfen sich Menschen<br />
aufhalten und wo nicht? Wo sind Grenzen? Für die Künstler:innen<br />
liegen damit auch Gedanken an Flucht nahe. Sie sind überzeugt,<br />
dass der Umgang der Besucher:innen mit den Robotern darauf schließen<br />
lässt, wie sie mit anderen Menschen, anderen Kreaturen umgehen.<br />
Der Schwarm ist ein demokratisches System, in welchem die Bedürfnisse<br />
aller gleichberechtigt ausgehandelt werden. Die Besucher:innen werden<br />
Teil dieses Systems. Wir können vom Schwarm lernen und er von<br />
uns, indem er drei einfachen Prinzipien folgt: Zusammenhalt, Trennung<br />
und Ausrichtung. Dadurch entsteht das, was Katrin und Adam „scheinbares<br />
Verhalten“ nennen. KI spielt in unserem Alltag zunehmend eine<br />
größere Rolle. Und so ist der eigentliche Kunstgriff des empathischen<br />
Schwarms nicht die Frage, ob es irgendwann möglich sein wird, Robotern<br />
beizubringen, echte emotionale Bindungen zu entwickeln. Die<br />
Arbeit gibt vielmehr Aufschluss darüber, wie wir uns gegenseitig mit<br />
mehr Empathie begegnen können. Kathrin Stärk<br />
53
Zum Anfassen.<br />
Zum Mitmachen.<br />
Für alle.<br />
Die ZKM Museumskommunikation<br />
nutzt innovative Methoden<br />
und setzt Standards in Bildungsund<br />
Vermittlungsarbeit<br />
Dialogisch, partizipativ und auf Augenhöhe:<br />
Die Medien- und Kunstvermittlung<br />
des ZKM gilt deutschlandweit als vorbildlich,<br />
wenn es um die interaktive Einbindung<br />
der Besucher:innen geht. Dem demokratischen<br />
Gründungsgedanken von Heinrich<br />
Klotz verpflichtet, bieten Janine Burger und<br />
ihr Team in der Museumskommunikation<br />
dem Publikum ein Programm, das mit seinen<br />
die eigene Kreativität und den gegenseiti -<br />
gen Austausch aktivierenden Methoden weit<br />
über die Vermittlungsarbeit traditioneller<br />
Museen und Kultureinrichtungen hinausgeht.<br />
58
„It’s about life.“ Es geht um das Leben. Nicht mehr und<br />
nicht weniger. An diesem Nachmittag in der Museumskommunikation<br />
ist es das Zentrum, um das sich eine<br />
„Mindcloud“ – eine Wolke aus Begriffen – auf orangenen,<br />
sonnengelben und türkisen Zetteln gruppiert. Um<br />
diesen Kern formiert sich alles. Kreativ-Workshops reihen<br />
sich neben interaktive Führungen, Vorträge stehen<br />
hinter Filmabenden, Aktionen im Kitchen Ferm Lab<br />
folgen auf den Arbeitseinsatz auf der Streuobstwiese.<br />
„Wie leben wir? So lautet eine ganz grundsätzliche Frage,<br />
die unserem Ansatz der Vermittlungsarbeit zugrunde<br />
liegt“, sagt Janine Burger. Als langjährige Leiterin<br />
der Museumskommunikation hat sie die Medien- und<br />
Kunstvermittlung am ZKM maßgeblich geprägt. „Wir<br />
arbeiten dialogisch und auf Augenhöhen mit unseren<br />
Besucher:innen. Kunst zu vermitteln ist aus unserer<br />
Sicht keine kommunikative Einbahnstraße. Stattdessen<br />
animieren wir unsere Besucher:innen auch kritische<br />
Fragen zu stellen.“<br />
Als Janine Burger vor rund 16 Jahren mit dieser Art der<br />
partizipativen Vermittlungsarbeit startete, war ihr Ansatz<br />
deutschlandweit noch einzigartig. Gegenwärtig<br />
entspricht er den Leitlinien für Bildungs- und Vermittlungsarbeit,<br />
wie sie beispielsweise 2020 vom deutschen<br />
Museumsbund veröffentlicht wurden. Es mutet<br />
auch heute noch außergewöhnlich an, dass die Vermittlung<br />
nicht, wie in vielen Museen üblich, fernab des<br />
Besucher:innentreibens in separaten Räumen und unter<br />
Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Nein, im ZKM<br />
bespielt die Muskom offene Flächen mitten in der jeweiligen<br />
Ausstellung – in BioMedien etwa erkennbar<br />
am grasgrünen Fußboden.<br />
„Das ZKM ist ohnehin kein White Cube, in dem man andächtig<br />
schweigend Kunst rezipiert. Hier ist es bunt<br />
und laut; es blinkt und piept“, erklärt Barbara Kiolbassa<br />
aus dem Vermittlungsteam.<br />
Damit die Interaktion mit den Besucher:innen gelingen<br />
kann, müssen die oft hochkomplexen und intellektuellen<br />
Themen, die in den Ausstellungen und Projekten<br />
des ZKM verhandelt werden, heruntergebrochen werden<br />
auf eine allgemeinverständliche Ebene. „Es ist<br />
wichtig, dass wir uns eine gewisse Unschuld bewahren<br />
und aus der Perspektive des Nicht-Wissenden nachfragen.<br />
Als Vermittler:in am ZKM geht es nicht darum,<br />
alles zu wissen, sondern zu lernen, wie man sich Themen<br />
erarbeitet“, erklärt Banu Beyer. Die Erziehungswissenschaftlerin<br />
arbeitet seit 25 Jahren als Vermittlerin<br />
mit dem Ziel, möglichst vielen gesellschaftlichen Teilgruppen<br />
– so genannten „Communities“ – Zugänge zu<br />
59
Zum Anfassen. Zum Mitmachen. Für alle.<br />
[ Wir bieten im<br />
JANINE BURGER<br />
wahrsten Sinne des<br />
Wortes Raum<br />
etwas zu machen.<br />
Und so manche/r<br />
Besucher:in<br />
hat hier bei uns<br />
das Löten gelernt. ]<br />
60
Kunst und Medien zu verschaffen. „Die Themen, die<br />
am ZKM verhandelt werden, sind für viele Menschen<br />
aus ganz unterschiedlichen Teilen unserer Gesellschaft<br />
relevant”, sagt Banu Beyer. Wie beispielsweise die Ausstellung<br />
Critical Zones, die von 2020 bis <strong>2022</strong> dazu einlud,<br />
sich mit der kritischen Lage der Erde auseinanderzusetzen<br />
und über neue Formen des Zusammenlebens<br />
aller Lebensformen nachzudenken.<br />
Der zunehmenden Diversität der Gesellschaft trägt das<br />
Team um Janine Burger Rechnung, indem es möglichst<br />
vielen unterschiedlichen Menschen Zugänge zu ermöglichen<br />
sucht. Deshalb regen die Vermittler:innen<br />
auch immer wieder Kooperationen innerhalb der Stadt<br />
an. Im Rahmen von Critical Zones ist in Zusammenarbeit<br />
mit dem Naturschutzzentrum Karlsruhe-Rappenwört<br />
zum Beispiel ein geführter Spaziergang entstanden,<br />
in dem der städtische Raum als kritische Zone<br />
betrachtet wurde. „Dort kamen Menschen miteinander<br />
ins Gespräch, die zuvor noch nie im ZKM waren, sich<br />
aber schon seit Jahren für den Schutz der Umwelt und<br />
nachhaltige Stadtentwicklung einsetzen“, sagt Burger.<br />
Die Kooperationen reichen von Initiativen wie dem<br />
OK Lab Karlsruhe oder Entropia e.V. (Chaos Computer<br />
Club) über kirchliche Organisationen bis zum Nachbarschaftsverein.<br />
Richtig Hand anlegen können Jung und Alt im BÄM.<br />
Seit 2015 öffnet sich dieser „Maker Space“ jeden Freitagnachmittag<br />
für alle Besucher:innen und lädt ein,<br />
kreativ zu werden. Stifte, Buntpapier, Säge, Lötkolben,<br />
Computer – Werkzeuge und Materialien sind vorhanden.<br />
Ein Team vor Ort geht auf das Publikum zu und<br />
macht Angebote, nimmt aber auch die Ideen und Impulse<br />
der Menschen auf, die dort vorbeikommen.<br />
„Wir bieten im wahrsten Sinne des Wortes Raum etwas<br />
zu machen. Und so manche/r Besucher:in hat hier bei<br />
uns das Löten gelernt“, erzählt Janine Burger begeistert.<br />
Die Frage nach den Wünschen und Bedürfnissen der<br />
Besucher:innen führte zum Ausstellungsprojekt Open<br />
Codes, das sich von 2017 bis 2019 mit dem Thema Codierung<br />
und der Welt als Datenfeld beschäftigte. Noch<br />
heute zaubert allein der Ausstellungstitel vielen Karlsruher<br />
Bürger:innen ein Lächeln auf die Lippen. Warum?<br />
Bei freiem Eintritt, WLAN, Trinkwasser und Obst<br />
konnte man die Ausstellung als Workingspace nutzen<br />
oder einfach als Treffpunkt. Start-up-Gründer:innen<br />
kamen zum Arbeiten vorbei, junge Eltern verbrachten<br />
den Tag mit Kleinkind im ZKM. Das Tinder-Date fand<br />
hier ebenso statt wie der ein oder andere Kreativtreff<br />
von Senior:innen. Die Initiativen konnten im ZKM ihren<br />
Projekten nachgehen und ihre Arbeitszeit oder Freizeit<br />
verbringen. „Damit ist es uns gelungen, das ZKM als<br />
sogenannten ‚Dritten Ort‘ in der Stadt zu etablieren“,<br />
fasst Janine Burger zusammen. Der Begriff beschreibt<br />
öffentliche Orte, die allen Bürger:innen frei zugänglich<br />
sind und neben der eigenen Wohnung und der Arbeitsstätte<br />
ein dritter Ort sind, in dem man sich in Gemeinschaft<br />
mit anderen frei bewegen kann – niedrigschwellig<br />
und ohne Konsumzwang.<br />
Immer wieder einen<br />
anderen Blickwinkel<br />
einnehmen<br />
Die Corona-Pandemie und das damit einhergehende<br />
Social Distancing stellten die Vermittlungsarbeit in den<br />
letzten Jahren vor neue Herausforderungen. Wie bricht<br />
man die übliche Internetnutzungsroutine der Menschen<br />
und gewinnt ihre Aufmerksamkeit? Wie schafft<br />
man eine digitale Atmosphäre, die auf allen Endgeräten<br />
funktioniert? Wie gelingt es, die sehr komplexen Inhalte<br />
der Kunstwerke mit kleinen Handlungsimpulsen zu<br />
ergänzen? Auf der Onlineplattform führen Handlungsanweisungen<br />
zu kurzen, positiven Irritationen: „Finde<br />
eine andere Position, setz dich anders hin,“ lautet eine<br />
Einladung. Dem ZKM ist es immer wieder gelungen, die<br />
Notwendigkeiten der Pandemie ins Positive zu wenden:<br />
30.000 Menschen aus aller Welt nahmen beispielsweise<br />
an dem dreitägigen Livestreaming-Festival zur Eröffnung<br />
der digitalen Plattform zur Ausstellung Critical Zones<br />
teil. Dabei entstanden Verbindungen zwischen dem<br />
Karlsruher Publikum und Menschen aus Korea, China,<br />
Brasilien und den USA.<br />
Den Blick öffnen, Zugänge schaffen und die eigene<br />
Lust und Neugier an der Kunst transportieren – das sind<br />
die Triebfedern für Janine Burger und ihre Kolleg:innen:<br />
„Wir wollen zeigen: Das ZKM ist relevant und macht<br />
Spaß. Diesen Funken der Begeisterung tragen alle in<br />
sich, die hier arbeiten. Und diesen Funken wollen wir<br />
überspringen lassen.“ Kathrin Stärk & Tanja Binder<br />
61
KI im Hertzen<br />
Alle reden von künstlicher Intelligenz –<br />
im Hertz-Labor wird sie als Werkzeug<br />
genutzt, um Kunstwerke zu schaffen<br />
TRUST<br />
AI, Empathy Swarm, Infinity – Vertrauen,<br />
Schwarm des Mitgefühls, Unendlichkeit –<br />
lauten die Titel von drei Kunstwerken, die<br />
derzeit im ZKM in der Ausstellung BioMedien<br />
präsentiert werden. Beim Schaffen dieser<br />
Werke kam künstliche Intelligenz zum Einsatz.<br />
Wie Künstler:innen heutzutage diese<br />
sogenannte KI zum Werkzeug ihres Kunstschaffens<br />
machen und dabei die Grenzen des<br />
Möglichen ausloten, erläutern Bernd<br />
Lintermann und Yannick Hofmann. Die beiden<br />
Medienkünstler arbeiten seit vielen Jahren<br />
am Hertz-Labor des ZKM.<br />
62
„Wie heißt Du?“, fragt die attraktive Frau lächelnd auf<br />
dem Bildschirm. „Du bist hübsch!“, behauptet sie –<br />
und verwickelt ihr Gegenüber nach und nach in ein Gespräch.<br />
Sie macht das geschickt. Das Überraschende<br />
daran: Diese Frau ist kein Mensch. Diese Frau ist ein<br />
Computerprogramm. Sie ist Hauptbestandteil des Werkes<br />
TRUST AI (2020), das im ZKM zu sehen und zu erfahren<br />
ist. Wer dem interaktiven Medienkunstwerk von<br />
Bernd Lintermann und Florian Hertweck in der Ausstellung<br />
begegnet, wird sofort in einen Dialog eingebunden.<br />
Die Installation durchleuchtet ihr Gegenüber in<br />
allen Details, saugt alle verfügbaren Daten ab, interpretiert<br />
Sprache, Mimik und Stimmung. TRUST AI wird gespenstisch<br />
übergriffig – bis zu dem Punkt, da es die<br />
Persönlichkeit des Gegenübers übernimmt.<br />
Bernd Lintermann forscht am ZKM als visueller Künstler,<br />
um mit digitalen Techniken eine neue Ästhetik zu generieren.<br />
Mit Xfrog (1996) entwickelte er beispielweise<br />
eine Animationssoftware, die in zahlreichen Hollywoodfilmen<br />
eingesetzt wurde und ihm sogar eine Oscar-Nominierung<br />
einbrachte.<br />
Für Lintermann stellt seine Arbeit TRUST AI – auf Deutsch<br />
„Vertrauen“ – ein künstlerisches Angebot für die Besucher:innen<br />
dar, um die digitalen Welten besser zu<br />
verstehen. Auslöser für die Arbeit waren sogenannte<br />
Deepfake-Videos. „Zu Beginn konnte man damit nur<br />
die Gesichter der Personen ersetzen, sodass man einer<br />
Person etwas in den Mund legen kann, was diese nie<br />
gesagt hat – für jeden mit kleiner technischer Expertise<br />
zuhause realisierbar. Mittlerweile kann man auch die Mimik<br />
etwa eines Politikers durch diejenige eines Schauspielers<br />
ersetzen und dessen Stimme imitieren“, erklärt<br />
Lintermann.<br />
In der großen Ausstellung BioMedien. Das Zeitalter<br />
der Medien mit lebensähnlichem Verhalten begegnet<br />
einem künstliche Intelligenz (KI) in vielen Kunstwerken.<br />
So zum Beispiel auch in Empathy Swarm des Künstlerduos<br />
Katrin Hochschuh und Adam Donovan: 50 Miniroboter<br />
wuseln auf dem Fußboden herum und die<br />
Besucher:innen sind aufgefordert, sich mitten hinein<br />
zu begeben in den Schwarm. Ob ein Lächeln oder ein<br />
gelangweilter Blick – die Roboter in der Ausstellung<br />
nehmen jede Reaktion wahr und entwickeln aus diesen<br />
Erfahrungen ein verändertes Benehmen. „Die Roboter<br />
werden im Laufe der Ausstellung immer smarter, weil<br />
sie immer mehr von Verhaltensweisen der Menschen<br />
lernen. Gleichzeitig wird aber auch ihr eigenes Verhaltensmuster<br />
durch die Reaktion der Menschen bestärkt<br />
oder abgestraft“, erzählt Yannick Hofmann, der<br />
[ Künstler<br />
betrachten<br />
KI wie<br />
ein Werkzeug<br />
–<br />
wie ein<br />
Maler<br />
seinen<br />
Pinsel. ]<br />
YANNICK HOFMANN<br />
63
KI im Hertzen<br />
Reporter:<br />
HAL, haben Sie jemals<br />
darunter gelitten, dass Sie<br />
trotz Ihrer enormen<br />
Intel ligenz von Menschen<br />
abhängig sind, um Ihre<br />
Aufgaben auszuführen?<br />
als Soundkünstler ans ZKM kam und hier die neuesten<br />
Technologien im Bereich von Live-Coding bis zur künstlichen<br />
Intelligenz aus der Perspektive des künstlerischen<br />
Arbeitens erforscht.<br />
„Es gibt nicht DIE eine künstliche Intelligenz, sondern<br />
viele Parameter, aus denen die neuronalen Netze lernen,<br />
was wir nicht mehr erfassen können. Künstler:innen<br />
betrachten KI wie ein Werkzeug – wie ein Maler<br />
seinen Pinsel. Und man würde ja auch nie sagen, dass<br />
Künstler:innen mit ihrem Pinsel in Konkurrenz treten<br />
würde“, betont Hofmann. „Das Tolle an Künstler:innen<br />
ist ja, dass sie nicht einer Technologie ein nettes Gesicht<br />
aufmalen, sondern sie auf eine ruchlose Art und<br />
Weise neue Konfigurationen schaffen.“ Als Beispiel<br />
nennt er den Videokünstler Nam June Paik, der in den<br />
1960er-Jahren in einer Ausstellung ein Mikrofon an<br />
einen Fernseher angeschlossen hat. „Die akustischen<br />
Signale erzeugten auf dem Monitor plötzlich wirre<br />
Grafiken. Vorher wusste niemand, dass das überhaupt<br />
möglich war!“, begeistert sich Hofmann.<br />
Grundvoraussetzung ist die künstlerische Freiheit.<br />
„Über den Künstler:innen hier am ZKM hängt kein Damoklesschwert,<br />
wie in Forschung oder Industrie, wo<br />
alles funktionieren, einem Sachzweck dienen oder<br />
eine Hypothese stützen muss. Die Realisierung digitaler<br />
Kunst ist ein ergebnisoffenes Experiment. Das<br />
bestimmt die Herangehensweise der Künstler:innen.<br />
Technologie wird nicht in blinder Technikgläubigkeit in<br />
die Kunstwerke eingebunden, sondern kritisch reflektiert“,<br />
sagt Yannick Hofmann.<br />
Der Auftrag, das Digitale in der Gesellschaft zu thematisieren,<br />
kam bereits Ende der 1980er-Jahre von den<br />
Gründern des ZKM aus der Stadt heraus. „Mit dem<br />
Gründungsdirektor Heinrich Klotz kam das Vehikel der<br />
Kunst hinzu“, ergänzt Bernd Lintermann.<br />
Seither ist das ZKM, gemeinsam mit seinen Künstler:innen<br />
und Forschenden einen weiten Weg gegangen,<br />
dessen Ende nicht in Sicht ist. Der umfassende Zugang<br />
manifestiert sich beispielsweise in dem Projekt intellligent.museum,<br />
das seit 2020 am ZKM läuft und sich wie<br />
ein Querschnitt durch alle Bereiche des Hauses zieht.<br />
„Es handelt sich um ein künstlerisch-kuratorisches Experimentierfeld<br />
für Deep Learning und Besucher:innenbeteiligung“,<br />
sagt Hofmann. Ziel des vierjährigen<br />
Projekts ist die Umsetzung eines KI-unterstützten Ausstellungskonzepts,<br />
das gemeinsam mit dem Deutschen<br />
Museum erarbeitet wird. Zum Beispiel ist hier eine KI-<br />
Software in Entwicklung, die die Besucher:innen auf-<br />
HAL:<br />
Nicht im Geringsten.<br />
Ich arbeite gerne<br />
mit Menschen.<br />
Dialog aus Stanley Kubricks<br />
2001: Odyssee im Weltraum, 1968<br />
64
fordert, in ihrer Heimatsprache zu sprechen, auf die in<br />
der Folge alle digitalen Wandtexte im Ausstellungsraum<br />
übersetzt werden können.“<br />
Durch das Zusammenwirken von Medien, Technik, Wissenschaft<br />
und Kunst entsteht ein weites Feld für KI-<br />
Kunstwerke. Ähnlich der Zielsetzung von TRUST AI spürt<br />
Gaëtan Robillards Installation Patterns of Heat (2021,<br />
fortlaufend) im Internet Fake News auf, die extrem<br />
polarisierende Falschaussagen treffen. Dafür erstellt<br />
die KI einen auf den wissenschaftlichen Konsens trainierten<br />
Korpus und lernt Wahrheit von Fake News zu<br />
unterscheiden. Deren Summe wird auf eine Hitzequelle<br />
übertragen: Je mehr Fake News, umso wärmer wird es<br />
im Ausstellungsraum. So werden Lügen im Kunstwerk<br />
physisch spürbar – eine Art Topfschlagen nach Wahrheit!<br />
Oder, wieder eher ein warnendes Beispiel: Alexander<br />
Schuberts Bot-Kollektiv Crawlers (2020/21), das<br />
sich als menschliche Entität getarnt mit Social-Media-<br />
Nutzer:innen verknüpft. Die KI schöpft deren Daten<br />
ab und analysiert die Postings, um ähnlich klingende<br />
Posts daraus zu generieren. Yannick Hofmann: „Die<br />
Reproduktion von existierenden Mustern, das kann KI<br />
mittlerweile sehr gut.“<br />
Von Deepfakes,<br />
Fake News<br />
und KI-generierten<br />
Katzen bildern<br />
Künstliche Intelligenz<br />
– was versteht<br />
man darunter?<br />
Als Teilgebiet der Informatik<br />
befasst sich die künstliche<br />
Intelligenz (KI) –<br />
im Englischen artificial<br />
intelligence (AI) genannt –<br />
mit der Automatisierung<br />
intelligenten Verhaltens<br />
und maschinellem Lernen.<br />
Der Begriff wurde 1956 von<br />
dem US-amerikanischen<br />
Informatiker John McCarthy<br />
geprägt und bezeichnet<br />
den Versuch, Entscheidungsstrukturen<br />
des Menschen<br />
nachzubilden, indem z.B. ein<br />
Computer so programmiert<br />
wird, dass er relativ<br />
eigenständig Probleme bearbeiten<br />
kann und menschenähnliche<br />
Verhaltensweisen<br />
zeigt. Je nach Einsatzgebiet<br />
und Perspektive<br />
variieren die Definitionen<br />
des Begriffs.<br />
Was herauskommt, wenn zwei künstliche Intelligenzen<br />
wechselseitig Worte und Bilder generieren, kann man<br />
in der Sammlung des ZKM beispielsweise am Werk<br />
Closed Loop (2017) von Jake Elwes beobachten: Die<br />
Text-KI interpretiert, was die Bild-KI auf ihre Vorgaben<br />
hin kreiert, die Bild-KI baut entsprechende Motive im<br />
Internet zusammen. Formuliert der Text beispielsweise<br />
„Katze auf einem Kissen“, sucht die Bild-KI alles ab, was<br />
danach aussieht, und schichtet aus tausenden von Bildern<br />
ihren Eindruck von einer Katze auf einem Kissen.<br />
Die Text-KI schaut sich das Resultat an und interpretiert<br />
es neu. Wenn man so will, eine Spielart dessen, was<br />
Kant als „das Erhabene“ formulierte: Man kann es in<br />
seinem ganzen Ausmaß dessen betrachten, was mit<br />
künstlicher Intelligenz möglich ist. Aber vor künstlicher<br />
Generierung auf Basis von Katzenbildern muss man<br />
nicht wirklich Angst haben. Patrick Krause<br />
65
Im Wettlauf gegen die Zeit<br />
Die Restaurierung von Medienkunst steht vor<br />
ganz besonderen Herausforderungen<br />
Die Älteren unter uns kennen ihn noch: den<br />
Fernseher mit der Bildröhre. Für Kinder heute<br />
ist er ein Objekt aus alten, vergangenen<br />
Zeiten. Die Mitarbeiter:innen des ZKM können<br />
das Jahr des Wechsels auf die LED-Flatscreens<br />
genau benennen: 2007. Seitdem wird<br />
es zunehmend schwieriger, Ersatzteile für<br />
den Erhalt der Medienkunst des 20. Jahrhunderts<br />
zu erhalten. Inzwischen wird die Bildröhre<br />
industriell nicht mehr gefertigt und das<br />
ZKM hat soeben in Kooperation mit Firma<br />
Colorvac ein Forschungsprojekt begonnen,<br />
bei dem es um die Entwicklung einer Verfahrenstechnik<br />
für die manuelle Herstellung<br />
von Bildröhren und Steuerungssystemen geht.<br />
Das aber ist nur eine Geschichte rund um<br />
den restauratorischen Erhalt der Medienkunst.<br />
66
Über Treppen geht es hinauf in den zweiten Stock. Inmitten der Ausstellungsflächen<br />
des Lichthofs 7+8 hat die Museumstechnik eine große<br />
Restaurierungswerkstatt aufgebaut. In vielen Museen ist es üblich<br />
geworden, die faszinierende Arbeit der Restaurator:innen öffentlich zu<br />
zeigen. Dem Team des ZKM geht es aber noch um mehr: Sie wollen der<br />
Öffentlichkeit vermitteln, dass der Erhalt der Medienkunst ein Wettlauf<br />
gegen die Zeit ist.<br />
Martin Mangold leitet am ZKM die Museumstechnik mit 23 Mitarbeiter:innen,<br />
von Elektriker:innen bis zu Programmierer:innen. Die „gläserne Restaurierungswerkstatt“<br />
ist ein Gemeinschaftsprojekt der Museumstechnik<br />
mit der Abteilung Wissen, in der die Sammlung unter der Leitung von<br />
Margit Rosen betreut wird. Mangold und Rosen schlängeln sich vorbei<br />
an Tischen voller Werkzeuge, elektronischer Geräte und Kunstwerke, die<br />
ihr Innenleben aus Kabeln und Kondensatoren offenbaren. Vieles muss<br />
noch weg- und umgeräumt werden, bevor die Besucher:innen kommen<br />
können. Rosen und Mangold geht es nur um die eine Sache: den Erhalt<br />
der Medienkunst, die längst zum Teil der internationalen Kunstgeschichte<br />
geworden ist. Sie sehen sich im Wettlauf mit der Zeit, wenn<br />
es darum geht, jedes Werk aus der Sammlung in die neueste Technik zu<br />
übersetzen, damit es auch für kommende Generationen erfahrbar bleibt.<br />
Datenträger vor dem Verfall zu retten, Computern aus den frühen<br />
1990er-Jahren neues Leben einzuhauchen oder historische Röhrenmonitore<br />
und Videorekorder aus den 1960er- und 1970er-Jahren funktionsfähig<br />
zu erhalten: Es wird leicht unterschätzt, welche Fläche eigentlich<br />
für die Restaurierung benötigt wird. Gerade bei großen Kunstwerken.<br />
„In den Kreisen der Restaurator:innen hört man immer wieder eine Formulierung:<br />
Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Medienkunstwerk zu<br />
retten“, sagt Margit Rosen. Denn das breite Spektrum der Medienkunst,<br />
das von kinetischen Objekten der Lichtkunst über Videobänder und<br />
Multimediainstallationen bis hin zu Computerkunst und aktueller CryptoArt<br />
reicht, erfordert ein ebenso breites Spektrum an Fähigkeiten und<br />
Wissen bei den Restaurator:innen. Martin Mangold weist aber noch auf<br />
ein nicht minder großes Problem hin – der Renteneintritt der Mitarbeiter:innen<br />
aus der Museumstechnik: „Das ZKM ist über 30 Jahre alt. Immer<br />
mehr Kolleg:innen verabschieden wir nun in den Ruhestand, womit<br />
uns unglaublich wertvolles Wissen verloren geht. Eigentlich dürften wir<br />
hier niemanden in die Rente entlassen“, so Mangold.<br />
Digital ist besser<br />
Unter den Mitarbeiter:innen der Abteilung gibt es einen hohen Grad an<br />
Spezialisierung. Ein Mann der ersten Stunde ist Martin Häberle, der die<br />
Abteilung Museumstechnik am ZKM mitbegründet hat. Offiziell längst in<br />
Rente arbeitet der 71-Jährige bis heute noch immer als freier Mitarbeiter<br />
am ZKM. Er ist einer von denen, die eigentlich unverzichtbar sind. Er<br />
war Elektroniker an der Universität Heidelberg und kam schon 1996 bei<br />
der Planung und Realisierung des damaligen Medienmuseums ans Haus.<br />
„Er kann fast alles retten“, sagt seine Kollegin Marlies Peller. Peller ist<br />
Restauratorin für zeitgenössische Kunst, spezialisierte sich schon während<br />
des Studiums in Wien auf Lichtkinetik der 1960er-Jahre. Seit dem<br />
67
Im Wettlauf gegen die Zeit<br />
Ende ihres Volontariats 2019 arbeitet sie als selbstständige Restauratorin<br />
und zusammen mit Häberle als freie Mitarbeiterin vorwiegend an<br />
elektronischen Werken ab den 1960er-Jahren.<br />
Unweit von Peller und Häberle stehen an einem langen Tisch mit historischen<br />
Computern und Bildschirmen Morgane Stricot und Matthieu Vlaminck.<br />
Stricot, die seit 2017 für die Restaurierung digitaler Kunstwerke<br />
verantwortlich ist, hatte sich bereits während ihres Studiums in Avignon<br />
auf dieses Medium spezialisiert. Vlaminck, der ebenfalls in Avignon Restaurierung<br />
studiert hat, aber darüber hinaus auch Informatik, bringt seit<br />
2017 seine Expertise vor allem bei der Programmierung und dem Umgang<br />
mit Computerhardware ein.<br />
Im Wettlauf mit der Zeit<br />
Stricot und Vlaminck sind gerade dabei, Paul Garrins Yuppie Ghetto<br />
with a Watchdog zu untersuchen, ein Werk, bei dem unter anderem Laserdiscs<br />
und ein Röhrenfernseher zum Einsatz kommen. In dieser frühen<br />
interaktiven Rauminstallation – 1990 von Garrin im Berliner Amerika-<br />
Haus eingerichtet – projiziert der Künstler die Szene einer Yuppie-Party<br />
aus seinem Video Free Society auf eine von Gittern und Stacheldraht<br />
gesicherte Wand – zwischen Bild und Gitter kläfft ein Wachhund auf<br />
einem Monitor. Je näher die Betrachter:innen dem Bildschirm kommen,<br />
desto aggressiver reagiert der Hund. Während sich die Besucher:innen<br />
fragen, wie die Installation funktioniert, stellen sich die Restaurator:innen<br />
die Frage, wie man dieses Setup – analoges Video, digitale Steuerung<br />
– gänzlich ins Digitale überführen kann.<br />
„Zunächst reparieren wir das Kunstwerk oder rekonstruieren es mit historischen<br />
Ersatzteilen und erhalten es auf diese Weise in seinem ursprünglichen<br />
technischen Zustand. Dabei lernen wir viel über die Methoden,<br />
mit denen Künstler:innen neue Technologien erprobt haben. Oft<br />
haben sie die Technologien auch weiterentwickelt! Dieses technische<br />
Wissen und tiefe Verständnis des Originals brauchen wir, wenn wir ein<br />
Werk in eine neue Technologie übertragen“, sagt Morgane Stricot.<br />
Der Zeitdruck, frühe computerbasierte Arbeiten zu erhalten, steigt. Landet<br />
ein Objekt aus dem Depot auf dem Tisch der Restaurator:innen, versuchen<br />
sie zuerst einmal, die Arbeit der Medien- und Computerkunstpioniere<br />
zu analysieren und zu sichern. Vlaminck zeigt die Software von<br />
Paul Garrin, die auf dem Originalcomputer, einem Macintosh Quadra 605<br />
läuft: „Ich habe das alte Betriebssystem auf neuen Festplatten installiert<br />
und den alten Computer überholt. Ich muss die ursprüngliche Materialität<br />
erleben, um zu verstehen, wie ich sie am besten auf modernen<br />
Systemen präsentieren kann.“<br />
Medienkünstler:innen sind<br />
keine Elektrotechniker<br />
„Viele Künstler:innen haben einen individuellen, ja oft autodidaktischen<br />
Zugang und arbeiten ganz anders als beispielsweise ein Elektrotechni-<br />
68
[ Wir leben immer<br />
noch in einer<br />
Wegwerfkultur, die<br />
darauf ausgelegt<br />
ist, dass Geräte<br />
rasch verschleißen<br />
oder langfristig<br />
nicht mehr mit<br />
anderen Systemen<br />
kompatibel sind. ]<br />
MARGIT ROSEN<br />
69
Im Wettlauf gegen die Zeit<br />
ker“, erläutert Peller und zeigt auf Gebetsmühle, eine Arbeit von Walter<br />
Giers, Pionier der elektronische Kunst. Rund fünfzig Arbeiten aus dem<br />
Nachlass des 2016 verstorbenen deutschen Medienkünstlers müssen<br />
bis zur Ausstellungseröffnung im Oktober <strong>2022</strong> restauriert werden. In<br />
der Vorbereitung befasst sich die Restauratorin zusammen mit Christian<br />
Nainggolan, einem der Elektrotechniker des ZKM, bereits seit eineinhalb<br />
Jahren intensiv mit Giers und seinem Oeuvre. Wie die abstrakten<br />
Mönchsgesänge des Werks Gebetsmühle einst geklungen haben, weiß<br />
sie nicht: Sie arbeitet anhand der Erinnerungen anderer daran.<br />
Einen Tisch weiter, geschützt von einem weißen Tuch, liegt ein rund<br />
zwei auf zwei Meter großes Objekt. In Lichtwölbung aus dem Jahr 1977<br />
hat Walter Giers 400 Lämpchen verbaut. In dem Werk verschmelzen<br />
Licht und Klang per analogem Zufallsgenerator zu einem meditativen<br />
Erlebnis. „Giers hat für seine Werke keine Schaltpläne erstellt. Das Wissen<br />
der Künstler:innen kann nur schwer rekonstruiert werden“, erklärt<br />
Martin Häberle. „Anders als bei der Gemälderestaurierung kann man bei<br />
Elektronik nicht einfach eine Infrarot- oder Röntgenbildaufnahme machen,<br />
um zum Beispiel eine Vorzeichnung sichtbar zu machen“, ergänzt<br />
Marlies Peller.<br />
Das Innerste ans Licht bringen<br />
Dass Bauteile von damals heute nicht mehr auf dem Markt verfügbar<br />
sind, stellt eine weitere große Herausforderung für die Restaurierung<br />
von Medienkunst dar. Es ist nicht nur ein Kampf gegen den Verfall, sondern<br />
auch gegen die Abhängigkeit von einem Wirtschaftssystem, das<br />
auf den Verschleiß von Ersatzteilen ausgerichtet ist. „Wir leben immer<br />
noch in einer Wegwerfkultur, die darauf ausgelegt ist, dass Geräte rasch<br />
verschleißen oder langfristig nicht mehr mit anderen Systemen kompatibel<br />
sind“, sagt Margit Rosen. Deshalb sammelt das ZKM alte Geräte und<br />
Ersatzteile, die hier in Regalen und Schränken lagern: Glühbirnen, Monitore,<br />
Rechner der ersten Generationen, Nadeldrucker. In unzähligen<br />
Schubladen und Kisten schlummern Ersatzteile, die beim Ausschlachten<br />
alter Geräte oder auf Ebay zusammengetragen wurden und auf ihren<br />
Einsatz warten. Computerchips, Dioden, LEDs, Kondensatoren. Der Zeitgeist<br />
spielt der Restaurierung in die Karten: „Die Nachhaltigkeitsbewegung<br />
kommt uns zugute.“<br />
Wissenstransfer durch alle Zeiten<br />
Während Gemälde im Depot gut erhalten werden, bietet ein lichtgeschützter<br />
Raum keine Garantie für den Erhalt von Medienkunst-Objekten.<br />
„Insofern kann einem Medienkunstwerk eigentlich nichts Besseres<br />
passieren, als ausgestellt zu werden“, betont Margit Rosen. „Das<br />
ist einfach eine Grundregel der Computerforensik: Wenn zwischen zwei<br />
Konservierungsmaßnahmen zu viel Zeit liegt, ist die technologische Lücke<br />
zu groß, um das Kunstwerk wieder funktionsfähig zu machen“, fügt<br />
Morgane Stricot hinzu. Etwa eineinhalb Jahre vor der Ausstellungseröffnung<br />
werden die Arbeiten aus dem Depot geholt und bekommen einen<br />
Check-up. Danach wird entschieden, welche auf dem Restaurierungs-<br />
70
Weltweit einzigartig:<br />
ZKM-Sammlung<br />
von Medienkunst<br />
Die Sammlung des ZKM besteht<br />
seit 1989 und umfasst<br />
insgesamt rund 10.000<br />
Werke des 20. und 21. Jahrhunderts.<br />
Sie enthält Werke<br />
aller Gattungen der<br />
bildenden Kunst – Malerei,<br />
Zeichnung, Druckgrafik,<br />
Skulptur, Fotografie, Film,<br />
Video und Installation.<br />
Der Bestand an computerbasierten<br />
Installationen,<br />
Klangkunst, Videobändern<br />
und Videoinstallationen<br />
ist weltweit einzigartig.<br />
Etwa 26.000 Video- und<br />
Audiobänder sind Teil der<br />
Forschungssammlung des<br />
ZKM, die sowohl Werke<br />
der Videokunst als auch<br />
Dokumentationen zu Künstler:innen,<br />
Kunstwerken,<br />
künstlerischen Veranstaltungen<br />
und Ausstellun -<br />
gen von den 1960er-Jahren<br />
bis heute enthält.<br />
Während man in den Anfängen<br />
noch glaubte, Medienkunst<br />
wäre für die Ewigkeit<br />
geschaffen, wurde nach und<br />
nach die Notwendigkeit<br />
der Restaurierung sichtbar.<br />
Seit 2002 gibt es einen<br />
festangestellten Restaurator<br />
am ZKM. Im Laufe der<br />
Zeit wurde die Abteilung<br />
weiter ausgebaut.<br />
tisch landen. Steht dieser in der gläsernen Werkstatt,<br />
können die Besucher:innen einen Blick in das Innere<br />
dieser Medienkunstwerke werfen.<br />
Damit das Wissen von einer Generation zur nächsten<br />
nicht verloren geht, arbeiten Martin Häberle und<br />
erfahrene Kolleg:innen gemeinsam mit den jüngeren<br />
Mitarbeiter:innen an den Objekten aus der Sammlung.<br />
Es gibt europaweit nur wenige Ausbildungsstätten,<br />
die eine Spezialisierung auf die Konservierung und<br />
Erhaltung von neuen Medien anbieten – wie etwa die<br />
Hochschule der Künste in Bern und die Akademie der<br />
Bildenden Künste in Stuttgart.<br />
Manchmal hilft nur <br />
Hacking <br />
Technische Veränderungen, wie beispielsweise die<br />
Umstellung von Fernsehmonitoren auf das 16:9-Format,<br />
bilden sich auch in der Kunst ab – Künstler:innen<br />
nutzen für ihre Arbeiten in der Regel die in ihrer<br />
Zeit verfügbare Technik. Neben der Hardware kann<br />
freilich auch die Software eine Hürde darstellen. Immer<br />
wieder steht das ZKM beispielsweise vor dem<br />
Problem, dass ein defekter Computer nicht durch<br />
einen neuen ersetzt werden kann, wenn etwa Künstler:innen<br />
eine Einzelplatz-Lizenz eines Programms<br />
nutzten statt Open-Source-Software. „Hacking stellt<br />
in einem solchen Fall häufig die einzige Möglichkeit<br />
dar, um ein Kunstwerk wieder zum Laufen zu bringen.<br />
Ein kleines Programm täuscht vor, der neue Rechner<br />
sei der originale Rechner“, erklärt Vlaminck. „Mein<br />
Appell an die Künstler:innen lautet daher: Nutzt Open<br />
Source, wenn ihr wollt, dass eure Kunst überlebt!“<br />
Die gute Nachricht: Nicht alle Arbeiten sind so<br />
schwer ins Heute zu überführen. Walter Giers zum<br />
Beispiel verwendete gerne Backofenlampen. Die sind<br />
zwar nicht schwer zu bekommen, werden jedoch<br />
wahnsinnig warm, was im Ausstellungsraum und für<br />
die Materialien des Kunstwerks gefährlich sein kann.<br />
Deshalb testen sie in der Restaurierungswerkstatt<br />
gerade LEDs, sagt Marlies Peller. Bisweilen ist das<br />
Problem also banal: „Manchmal ist es nur die Glühlampe.“<br />
Kathrin Stärk<br />
71
Interaktion vorprogrammiert<br />
In der großen Sonderausstellung<br />
BioMedien verzaubert das interaktive<br />
Kunstwerk Agents gleich zu Anfang<br />
des Rundgangs Besucher:innen<br />
jeden Alters und animiert zum Mitmachen.<br />
Programmiert wurde die<br />
Instal lation von Yasha Jain. Sie ist aus<br />
ihrem Heimatland Indien ans ZKM<br />
gekommen und arbeitet als eine von<br />
fünf IT-Programmierer:innen am ZKM.<br />
Yasha Jain<br />
arbeitet<br />
seit 2020<br />
als Programmiererin<br />
im Hertz-<br />
Labor an<br />
digitalen<br />
Kunst werken<br />
76
Yasha Jain, wie kommt eine<br />
Programmiererin aus Indien<br />
an das ZKM in Süddeutschland?<br />
[ Das war purer Zufall: Für die Ausstellung<br />
Open Codes 2019 in Mumbai kam ich<br />
mit Leuten vom ZKM ins Gespräch. Das ZKM-<br />
Team war auf der Suche nach jemandem<br />
mit meinen Fähigkeiten, ich bewarb mich online<br />
und Peter Weibel hat mich eingestellt.<br />
Davor habe ich als Game-Designerin in Indien<br />
gearbeitet. ]<br />
Was ist für Sie das Besondere<br />
am ZKM?<br />
[ Man hat hier eine große Freiheit, über<br />
Konzepte nachzudenken, neue Projekte zu<br />
entwerfen und auszuprobieren. Ich kann<br />
hier meine Ideen entfalten und mich mit<br />
Kolleg:innen darüber austauschen.<br />
Außerdem besteht die Freiheit, Projekte<br />
nicht nur gedanklich im Kopf zu entwickeln,<br />
sondern auch tatsächlich zu realisieren.<br />
Ich bin frei in der Herangehensweise –<br />
ob spielerisch oder konzeptionell, im ZKM<br />
werde ich dabei unterstützt. Darüber<br />
hinaus habe ich Zugang zu den neusten<br />
Technologien und Kontakt zu Experten, die<br />
diese beherrschen. ]<br />
Wie kamen Sie in Kontakt mit<br />
der Kunst?<br />
[ Ich habe während meines Masterstudiums<br />
in den USA Kurse in der Kunst abteilung<br />
der Carnegie Mellon University belegt. In der<br />
Spieldesign-Firma in Indien war ich fasziniert<br />
von der Entwicklung des Spieldesigns<br />
und der Interaktion der Benutzer:innen<br />
mit den Programmen. Auch in Indien haben<br />
wir immersive Kunstinstallationen geschaffen,<br />
wenn auch nicht in der gleichen Größenordnung<br />
wie am ZKM. ]<br />
[ Etwa sechs Monate. ]<br />
Für die Ausstellung Biomedien haben<br />
Sie zusammen mit Ludger<br />
Brümmer, Komponist und Projektleiter<br />
am Hertz-Labor, die Instal -<br />
lation Agents entwickelt. In einem<br />
Raum interagieren fantasievolle<br />
Licht kreise und Klänge mit den<br />
Besucher:innen. Wie lange haben<br />
Sie an der Programmierung<br />
für dieses Kunstwerk gearbeitet?<br />
Wie darf man sich diese<br />
Programmierarbeit vorstellen?<br />
[ Drei Programmierer:innen haben die Software<br />
für diese Installation entwickelt.<br />
Das Tracking wurde von Bernd Lintermann<br />
geschrieben. Die „Verräumlichung“ des<br />
Klangs wurde mit der speziellen Software<br />
Zirkonium MK3 umgesetzt – programmiert<br />
von Dan Wilcox. Ich habe die gesamte<br />
visuelle und interaktive Programmierung<br />
gemacht und mich gefragt, wie die Lichtmuster<br />
wahrgenommen werden und<br />
wie die Lichter auf die Besucher:innen und<br />
ihre Bewegungen reagieren . ]<br />
Verstehen Sie sich als Programmierkünstlerin<br />
oder als<br />
künstlerische Programmiererin?<br />
[ Ich verstehe mich als künstlerische<br />
Programmiererin, die mit anderen Künstler:innen<br />
zusammenarbeitet. ]<br />
Wie sieht diese Zusammenarbeit<br />
aus?<br />
[ Normalerweise bin ich die Programmiererin.<br />
Die Künstler:innen entwickeln in<br />
der Regel das Konzept und ich überlege,<br />
wie man es umsetzen kann. Dann fühle ich<br />
mich auch ein bisschen wie eine Künstle <br />
rin – weil ich mit dem Einsatz von Technik<br />
etwas Neues erschaffe. ]<br />
77
Interaktion vorprogrammiert<br />
Haben Sie ein Beispiel für<br />
eine Arbeit, die das Spektrum<br />
erweitert hat?<br />
[ Viele Künstler:innen wollen mit künst <br />
licher Intelligenz arbeiten, weil diese voller<br />
neuer Möglichkeiten steckt. ]<br />
Wie beurteilen Sie künstliche<br />
Intelligenz?<br />
[ Es gibt schöne, kreative Arbeiten. Ich persönlich<br />
sehe jedoch durchaus auch Gefahren<br />
– beispielsweise wenn eine KI in die<br />
falschen Hände gerät. Es ist ein wenig<br />
beängstigend, dass es keine angemessenen<br />
Standards für die öffentliche Nutzung<br />
von KIs gibt. ]<br />
Wie ist die öffentliche Meinung<br />
darüber in Indien?<br />
[ In Indien arbeiten sehr viele Menschen im<br />
IT-Sektor, aber im Verhältnis zur Zahl<br />
der Nutzer:innen sind die Diskussionen über<br />
Datenschutz und digitale Rechte ziemlich<br />
spärlich. Da der Schutz der Privatsphäre<br />
ein heißes Thema ist, ist es in den Köpfen<br />
der Menschen präsenter als die Ethik<br />
der KI, die immer noch mit einer eher blauäugigen<br />
Sichtweise betrachtet wird.<br />
Am ZKM habe ich auch an einer Installation<br />
über KI und Fake News gearbeitet.<br />
In Zusammenarbeit mit Yannick Hofmann<br />
haben wir Botcast entwickelt. Es han <br />
delt sich um eine Radiosendung, die mit<br />
[ Dan fühle ich<br />
mich auch<br />
ein bissche<br />
wie ei e<br />
Künstlerin, …]<br />
YASHA JAIN<br />
78
hilfe einer KI spekulative Nachrichten<br />
auf Grundlage realer, alltäglicher Nachrichtenthemen<br />
generiert. Ein künstlicher<br />
Klon unserer beiden Stimmen liest diese<br />
generierten Nachrichten vor. Die Sendung<br />
ist ein Kommentar zu Fake News und<br />
Bots im Internet, die die Grenzen zwischen<br />
echten und gefälschten Nachrichten<br />
fast ununterscheidbar verwischen. Mittlerweile<br />
werden mehr als 17.000 Botcasts im<br />
Jahr produziert. ]<br />
Wie sieht Ihr Job aus, jetzt<br />
wo Sie in Karlsruhe bleiben und<br />
leben wollen?<br />
[ Als Softwareentwicklerin im Hertz-Labor<br />
programmiere ich Kunstwerke. Ich habe das<br />
Gefühl, dass ich immer auf der Suche nach<br />
einem neuen Projekt und neuen Ideen bin. ]<br />
Sind in Ihrem Bereich viele<br />
Innovationen zu erwarten, die<br />
das Spektrum der digitalen<br />
Kunst in Zukunft erweitern werden?<br />
[ Oh ja! Wenn man die aktuellen Studien liest,<br />
kommt fast jeden Tag etwas Neues hinzu.<br />
Ich muss aufpassen, dass ich auf dem<br />
Laufenden bleibe. Es gehört schließlich zu<br />
meinem Job, den Anschluss an das<br />
technische Know-how nicht zu verlieren. ]<br />
Wird es weitere charmante<br />
Kunstwerke wie Agents geben?<br />
[ Ja, auf jeden Fall. Schon allein deshalb,<br />
weil die Menschen gerne und oft mit digitaler<br />
Kunst interagieren und sie nutzen. Und<br />
die Technik kann immer wieder erstaunliche<br />
neue Effekte hervorbringen. Jedes<br />
digitale Kunstwerk ist eine Selbsterfahrung,<br />
aus der man etwas Neues mitnimmt. ]<br />
Interview: Patrick Krause<br />
Yasha Jain<br />
Aktuelle Arbeiten<br />
am ZKM<br />
Agents ZKM | Jan. 2021 — Dez. 2021<br />
Gemeinsam mit Ludger Brümmer<br />
hat Yasha Jain diese<br />
audiovisuelle Installation<br />
geschaffen, die das Verhalten<br />
von Lebewesen anhand<br />
von algorithmisch gesteuerten<br />
digitalen Kreaturen<br />
simuliert. Die Besucher:innen<br />
werden durch ein<br />
Kamerasystem geortet und<br />
können so mit den Medien<br />
interagieren. (https://<strong>zkm</strong>.<br />
de/de/ausstellung/2021/12/<br />
biomedien)<br />
Botcast ZKM | Jan. 2021 — Dez. 2021<br />
Zusammen mit Yannick Hofmann<br />
hat Yasha Jain diese<br />
KI-generierte Radiosendung<br />
kreiert, die Themen aus<br />
realen Nachrichtenquellen<br />
aufnimmt und sie in Form<br />
von KI-generierter spekulativer<br />
Fiktion fortsetzt<br />
und sie dann auf einer bestimmten<br />
Frequenz ausstrahlt.<br />
Moderiert werden<br />
die Botcasts von einem Computerprogramm,<br />
das die<br />
Stimmen der Künstler:innen<br />
nachahmt. Das Wort „Botcast“<br />
ist eine Kombination<br />
aus den Wörtern „Bot“ und<br />
„Podcast“. (https://<strong>zkm</strong>.<br />
de/de/ausstellung/2021/12/<br />
biomedien)<br />
ML-Toolkit ZKM | Jan. 2020 — Dez. 2020<br />
Im Rahmen des Fond Digital-<br />
Projekts intelligent.<br />
museum hat Yasha Jain eine<br />
Software für Künstler:innen<br />
entwickelt, um maschinelle<br />
Lernalgorithmen zu<br />
nutzen und damit experimentieren<br />
zu können.<br />
79
Das Museum von morgen<br />
In den Forschungsprojekten<br />
Beyond Matter und intelligent.museum<br />
lotet das ZKM die Chancen der<br />
Digitalisierung für die Zukunft aus<br />
Demografischer Wandel, Klimakrise und Digitalisierung<br />
stellen Museen vor neue Herausforderungen.<br />
Die Gesellschaft verändert sich<br />
und entsprechend die Anforderungen der<br />
Besucher:innen. Diesen zu begegnen und<br />
Zugänge zu schaffen sind Aufgaben, bei<br />
denen die Digitalisierung eine doppelte Rolle<br />
einnimmt: einerseits Treiberin im Paradigmenwechsel,<br />
der die gesamte Kommunikation<br />
erfasst hat, andererseits Tor zu neuen We -<br />
gen. Welche Möglichkeiten sich Ausstellungsmacher:innen<br />
und Kunstvermittler:innen<br />
bieten, erforscht das ZKM in den Projekten<br />
Beyond Matter und intelligent.museum.<br />
80
Wie wird das Museum der Zukunft aussehen? Wo findet es statt? Und<br />
wer wird dorthin kommen? Das sind Fragen, die seit geraumer Zeit von<br />
den Museumsmacher:innen diskutiert werden. Auch das ZKM – ein Museum<br />
plus, wenn man so will – nimmt sich dieser Fragen in den Forschungsprojekten<br />
Beyond Matter und intellligent.museum an, um in<br />
einem nationalen und internationalen Netzwerk mit anderen Häusern,<br />
wie dem Deutschen Museum Nürnberg und dem Centre Pompidou Paris,<br />
Lösungen zu finden.<br />
1989 gegründet als „elektronisches Bauhaus“, aktuell ein „digitales Bauhaus“,<br />
in der Nachfolge des von Walter Gropius 1919 in Weimar gegründeten<br />
Bauhauses, stellt sich das ZKM immer wieder die Frage: Wie leben<br />
wir morgen? Dabei werden die technologischen Entwicklungen an<br />
der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technologie stets neu in<br />
den Blick genommen.<br />
Auf der Suche nach Antworten initiierte Lívia Nolasco-Rózsás 2019 am<br />
ZKM das EU-Projekt Beyond Matter. Cultural Heritage on the Verge of<br />
Virtual Reality mit fünf weiteren europäischen Institutionen. Im Rahmen<br />
dieses Projekts werden vergangene Ausstellungen im digitalen Raum<br />
inszeniert und so virtuell wieder erlebbar gemacht. Außerdem werden<br />
digitale Kunst- und Archivausstellungen, Konferenzen, Residency-<br />
Programme für Kunstschaffende und eine Online-Plattform umgesetzt.<br />
„Eines der Ziele des Projekts ist es, kulturelles Erbe digital aufzuarbeiten,<br />
beispielsweise durch 3D-Modelling. Digitale Ausstellungsmodelle dienen<br />
der Vermittlung und der wissenschaftlichen Ausarbeitung von vergangenen<br />
Ausstellungen. Die erarbeiteten Methoden der Virtualisierung<br />
und Software dafür stellen wir dann auch anderen Museen und Galerien<br />
zur Verfügung“, sagt die Projektleiterin Lívia Nolasco-Rózsás.<br />
Ausgangspunkt des Projekts sind die zwei ikonischen Ausstellungen<br />
Les Immatériaux 1985 im Pariser Centre Pompidou und Iconoclash von<br />
2002 im ZKM. Zu ihrer Zeit waren sie Gedankenexperimente, die in Form<br />
von Ausstellungen räumlich umgesetzt wurden und die sich mit wissenschaftlichen,<br />
technologischen sowie künstlerischen Praktiken auseinandersetzten.<br />
An ihnen führt das Projektteam exemplarisch die virtuelle<br />
Wiederbelebung vergangener Ausstellungsprojekte durch.<br />
Eintauchen in virtuelle Welten<br />
Um den Betrachter:innen das Erleben so attraktiv und interessant wie<br />
möglich zu gestalten, hat das Projektteam ein elektronisches Display<br />
angefertigt, das aus einem riesigen, gebogenen Monitor und einem<br />
Stuhl besteht, der die Bewegungen der Betrachter:innen aufnimmt und<br />
übermittelt. Auf diese Weise soll die „Immersion“ erleichtert werden,<br />
nach der seit jeher in digitalen Settings gesucht wird: Gemeint ist das<br />
Eintauchen in eine virtuelle Realität bis zu jenem Grad, da diese als real<br />
empfunden wird.<br />
Die entwickelte Hardware heißt Immaterial Display und ist Teil der Wanderausstellung<br />
Matter, Non-Matter, Anti-Matter. Vergangene Ausstellungen<br />
als digitale Erfahrungen, die von Dezember <strong>2022</strong> bis April 2023 vor<br />
Ort im ZKM gastieren wird. So kann eine Museumserfahrung ein ver-<br />
81
Das Museum von morgen<br />
knüpftes Erlebnis werden, das analog beginnt und im Digitalen weitergeführt<br />
wird – oder anders herum.<br />
Künstliche Intelligenz im Museum<br />
Die Möglichkeiten, die sich durch die technologischen Entwicklungen<br />
der künstlichen Intelligenz (KI) eröffnen, untersucht das Netzwerk-Projekt<br />
intelligent.museum (2020–2024), das, von Peter Weibel initiiert, in<br />
Kooperation mit dem Deutschen Museum umgesetzt wird und durch die<br />
Kulturstiftung des Bundes gefördert wird. In Zusammenarbeit mit internationalen<br />
Künstler:innen entstehen funktionale KI-gestützte Anwendungen<br />
und künstlerische Werke, von denen ein Teil bis August <strong>2022</strong> in<br />
der Ausstellung BioMedien im ZKM zu sehen ist.<br />
Welche Sprache die Besucher:innen im Ausstellungsraum sprechen,<br />
kann beispielsweise Spoken Language Identification: An AI-assisted<br />
Museum Label (2020–2021) mit dem Einsatz einer künstlichen Intelligenz<br />
und Sensoren erkennen und daraufhin seine eigene Werkbeschreibung<br />
auf dem elektronischen Display in der jeweiligen Sprache anzeigen.<br />
Entwickelt wurde die Arbeit vom Projektteam intelligent.museum<br />
und findet hier im ZKM ihren ersten Einsatz. „Obwohl im Alltag KI immer<br />
häufiger eingesetzt wird, bleibt den meisten Menschen die zugrundeliegende<br />
Technologie verborgen. Dieser Umstand erschwert die gesellschaftliche<br />
Auseinandersetzung und fördert die Mystifizierung. Deshalb<br />
machen wir KI-Technologie für Künstler:innen und eine interessierte Öffentlichkeit<br />
zugänglich“, erläutert der künstlerische Leiter und Entwickler<br />
des Projekts Yannick Hofmann den Ansatz.<br />
Eine Comicfigur erklärt die Welt<br />
der Datensätze<br />
Auf der Suche nach neuen Wegen musealer Kommunikation und Vermittlung<br />
werden am ZKM die passenden digitalen Werkzeuge entwickelt<br />
und die Programmcodes veröffentlicht. Ganz spielerisch können sich<br />
Besucher:innen an der Station von Eggcelsior an der Entwicklung eines<br />
internationalen Sprachdatensets beteiligen. Die namensgebende, eierförmige<br />
Comicfigur lässt die Interessierten in ihrer Muttersprache Text<br />
einsprechen und führt praktisch vor, wie ein Datensatz zum Training<br />
einer KI aufgebaut wird. Dieser ist die nötige Grundlage, damit unterschiedliche<br />
Sprachen richtig zugeordnet werden können. „Tatsächlich<br />
ist so eine KI recht dumm: Eine KI wird vorab zwar mit vielen Texten gefüttert<br />
und damit trainiert, doch sie kann Sprache nicht im wirklichen<br />
Sinne verstehen“, erklärt Dr. Ralf Eger vom intelligent.museum.<br />
Hör mal, wer da spricht<br />
Eine kritische Betrachtung der künstlichen Intelligenz und ihrer Einsatzgebiete<br />
ist das Ziel, das Yannick Hofmann auch mit der Arbeit Botcast<br />
82
[ Digitale Ausstel-<br />
LÍVIA NOLASCO-RÓZSÁS<br />
lungsmodelle<br />
dienen der<br />
Vermittlung und<br />
der wissen -<br />
schaftlichen Ausarbeitung<br />
von<br />
vergangenen<br />
Ausstellungen. ]<br />
83
Das Museum von morgen<br />
(2021) verfolgt, das er zusammen mit der ZKM-Programmiererin<br />
Yasha Jain erschaffen hat. Hier nutzt<br />
eine KI die Stimmen der beiden Künstler:innen sowie<br />
aktuelle Radiobeiträge, um daraus neue Sendungen<br />
zusammenzusetzen, die von realen „Broadcasts“<br />
nicht zu unterscheiden sind – so genannte Deep<br />
Fakes. Der Krieg in der Ukraine findet sich in den<br />
künstlich erzeugten Programmen mit wenigen Stunden<br />
Verzögerung wieder. Indem das Vorgehen vorgeführt<br />
wird, schärft man das Bewusstsein des Publikums,<br />
wachsam zu bleiben gegenüber solchen durch<br />
Medien vermittelten „Wahrheiten“.<br />
Auf dem Dashboard intelligent.museum werden alle<br />
Daten sichtbar gemacht, die im ZKM personenunabhängig<br />
erhoben werden: Temperaturen, Feuchtigkeitswerte,<br />
Anzahl der Menschen in der Ausstellung.<br />
„Wir wollen alle Daten, die wir zur Verfügung haben,<br />
sichtbar machen. Dabei verzichten wir absichtlich<br />
auf alle personenbezogenen Daten“, so Eger. „Das<br />
ist ein erster Schritt – ein künstlerisches Experiment,<br />
das mich neugierig macht was daraus entstehen<br />
kann.“ Die gesammelten Daten werden beispielsweise<br />
dem Hackathon Coding Da Vinci zur Verfügung<br />
gestellt, der im Mai <strong>2022</strong> im ZKM ausgetragen wird.<br />
„Wir verfolgen einen Ansatz zu KI, der den Menschen<br />
in den Mittelpunkt stellt und nicht allein auf technische<br />
Faktoren abzielt, und orientieren uns an humanistischen<br />
Werten wie der Ethik. Risiken wie beispielsweise<br />
KI-generierte Fake News oder Diskriminierung<br />
beim Einsatz von KI werden beleuchtet“,<br />
betont Yannick Hofmann.<br />
Menschen, denen<br />
diese Ausstellung gefiel,<br />
mochten auch …<br />
Dass man also nach einem Besuch des ZKM eine<br />
Empfehlung via Tripadvisor erhält mit Ausstellungen,<br />
die einem auch gefallen könnten, wird daher ganz<br />
bewusst nicht umgesetzt. Personenbezogene Daten<br />
werden nicht erhoben und genutzt. Dem ZKM ist<br />
eine gesellschaftskritische Haltung seit jeher eigen<br />
und quasi mit dem Gründungsmythos durch Heinrich<br />
Klotz in seine DNA eingeschrieben. Dass man<br />
jedoch personenunabhängige Daten sinnvoll einsetzen<br />
kann, wurde auch in der Pandemie deutlich – um<br />
zum Beispiel alle Besucher:innen durch datenbasierte<br />
Leitsysteme großflächig über alle Ausstellungsräu-<br />
Beyond Matter<br />
Das europäische Forschungsprojekt<br />
Beyond Matter<br />
(2019–2023) hat das Ziel,<br />
das kulturelle Erbe durch<br />
Digitalisierung der<br />
Nachwelt zu erhalten – mit<br />
besonderem Augenmerk<br />
auf räumliche Bezüge, das<br />
Kuratieren und die Kunstvermittlung<br />
bei Ausstellungsprojekten.<br />
Das<br />
Projekt wird von der<br />
Europäischen Union kofinanziert,<br />
die Software- und<br />
Hardwareentwicklung für<br />
die Museen der Zukunft wird<br />
im Rahmen des Projekts<br />
von der Beauftragten der<br />
Bundesregierung für Kultur<br />
und Medien gefördert.<br />
Projektpartner sind:<br />
Centre national d’art et de<br />
culture Georges Pompidou<br />
in Paris/Frankreich,<br />
Tallinn Art Hall/Litauen,<br />
Tirana Art Lab/Albanien,<br />
Ludwig Museum – Museum of<br />
Contemporary Art in<br />
Budapest/Ungarn und Aalto<br />
University, Espoo/Finnland.<br />
www.beyondmatter.eu<br />
84
me zu verteilen, damit diese auf Abstand zu einander<br />
bleiben können.<br />
Wo findet das Museum <br />
in Zukunft statt? <br />
Will man die Zugänge öffnen und neue Communities<br />
ansprechen, muss man als Museum dorthin gehen,<br />
wo sich Besucher:innen und Nicht-Besucher:innen<br />
aufhalten – und das ist in steigendem Maße im Digitalen.<br />
Laut einer Onlinestudie des ARD und ZDF nutzten<br />
in Deutschland 2021 fast 67 Millionen Menschen<br />
das Internet – 100 Prozent der unter 50-Jährigen, 95<br />
Prozent der Gruppe zwischen 50 und 69 Jahren und<br />
77 Prozent der ab 70-Jährigen.<br />
Gerade bei Kindern und Jugendlichen kann man beobachten,<br />
wie sich ihr soziales Leben zu weiten Teilen<br />
in den digitalen Raum verlagert hat – zum Chatten<br />
und Zeitvertreib auf TikTok, Instagram und Messenger-Diensten<br />
wie WhatsApp und Co., verbunden<br />
über WLAN mit anderen Welten von Minecraft, Fortnight<br />
und GT, auf Discord zum Quatschen während<br />
des Spiels – aber eben auch, um ein Referat für die<br />
Schule vorzubereiten. Wie unentbehrlich ein reales<br />
Zusammentreffen mit anderen Menschen ist, die soziale<br />
Interaktion und der Austausch, das wurde spätestens<br />
mit Corona und dem damit einhergehenden<br />
Social Distancing deutlich – und dass Face-to-Face-<br />
Kommunikation nicht ersetzt werden kann.<br />
intelligent.museum<br />
Durch das Programm Kultur<br />
Digital der Kulturstiftung<br />
des Bundes wird das von<br />
Peter Weibel initiierte<br />
Projekt intelligent.museum<br />
(2020–2024) in Kooperation<br />
mit dem Deutschen Museum<br />
Nürnberg und dem Fraunhofer<br />
Institut für Optronik,<br />
Systemtechnik und Bildauswertung<br />
(IOSB), Karlsruhe<br />
realisiert. Das Projekt<br />
will Museumsbesucher:innen<br />
zu einer kritischen Auseinandersetzung<br />
mit künstlicher<br />
Intelligenz anregen<br />
und befähigen. Ziel ist<br />
es, aktuelle Entwicklungen<br />
zu hinterfragen und die<br />
Potenziale des Einsatzes<br />
von KI im Museum zu erkunden.<br />
Inwieweit erlaubt<br />
uns KI die Barrieren im<br />
Ausstellungsraum abzubauen<br />
und das Museumserlebnis<br />
inklusiver zu gestalten?<br />
www.intelligent.museum<br />
Am ZKM stellen wir uns viele Fragen: Vielleicht sollten<br />
wir analog und digital nicht als Gegensatzpaar,<br />
sondern zusammen denken? Wie sieht das Museum<br />
der Zukunft aus? Was wird man dort erleben? Wie<br />
können wir ganz unterschiedliche Communities ansprechen<br />
und für Kunst begeistern? Die beiden Projekte<br />
Beyond Matter und intelligent.museum zeigen,<br />
welche Möglichkeiten sich ergeben, und eröffnen<br />
weitere Handlungsfelder.<br />
Die Antworten sind so vielfältig wie unsere Gesellschaft.<br />
Was bleibt, ist das Museum als Ort der Kommunikation<br />
und des Austauschs der Menschen.<br />
Tanja Binder<br />
85
Nach den Sternen greifen<br />
Seit 1988 unterstützt die Fördergesellschaft<br />
das ZKM tatkräftig: Hartmut Graf und<br />
Leonie Kroll sind zwei der rund 450 Mitglieder<br />
Noch vor dem ZKM selbst wurde in Karlsruhe<br />
im Jahre 1988 die Fördergesellschaft<br />
ZKM / HfG e.V. gegründet – von Bürger:innen<br />
sowie Persönlichkeiten des öffentlichen<br />
Lebens, die seither das Zentrum für Kunst und<br />
Medien und die Staatliche Hochschule für<br />
Gestaltung (HfG) sowohl ideell als auch materiell<br />
unterstützten. Zirka 450 Mitglieder<br />
zählt der Förderverein aktuell. Hartmut Graf ist<br />
seit den Anfängen dabei; jüngstes Mitglied<br />
ist Leonie Kroll.<br />
86
Fünf Milligramm Mond stehen auf seinem Schreibtisch.<br />
Hartmut Graf zählt zu den langjährigsten Mitgliedern in<br />
der Fördergesellschaft des ZKM: Am 22.02.1989 trat er<br />
dem Förderverein bei. Graf, der sich selbst als „pensionierten<br />
Kunst-Oberstudienrat“ definiert und identifiziert,<br />
studierte Kunst an der Staatlichen Akademie<br />
der Bildenden Künste Karlsruhe, wählte jedoch für sich<br />
den Weg des Kunstvermittlers. Vor dem Studium hatte<br />
er indes noch ein anderes Leben: Graf arbeitete als<br />
Chemisch-technischer Assistent am Heidelberger Max-<br />
Planck-Institut für Kernphysik.<br />
Spuren hinterlassen<br />
„Wenn man früh beitritt, kann das keine negativen Spuren<br />
hinterlassen“, dachte er sich, als er vor 33 Jahren<br />
Teil der Fördergesellschaft wurde. Er war bereits im<br />
Schuldienst und verbeamtet und wollte „in der Karlsruher<br />
Kultur wenigstens finanziell etwas hinterlassen“.<br />
In den späten 1980er-Jahren konnte man die Beitrittserklärung<br />
nicht einfach per Mausklick herunterladen,<br />
sondern musste seine Mitgliedschaft bei einer Rechtsanwaltskanzlei<br />
eintragen lassen. Ein Gang, den Graf bis<br />
heute nicht bereut, wie er humorvoll anmerkt: „Wie<br />
heißt es bei den Marx Brothers? ‚Ich möchte nicht Mitglied<br />
sein in einem Verein, der mich aufnimmt.‘ Das ist<br />
hier anders.“<br />
Graf versucht bei den Mitgliederversammlungen immer<br />
dabei zu sein, und meldet sich auch mal zu Wort, wenn<br />
es etwa um die Änderung des Förderverein-Logos geht.<br />
Er ist also kein stilles Mitglied im engeren Sinn. Zuletzt<br />
habe ihn und seine Frau die Führung durch die Ausstellung<br />
Critical Zones begeistert: „Die Kuratorinnen sind<br />
so fantastisch, das genießen wir sehr.“<br />
Eine schöne Bescherung<br />
Auf ihre erste Mitgliederversammlung wartet Leonie<br />
Kroll noch. Die 24-Jährige ist erst im April 2021 wegen<br />
ihres Masterstudiums Wissenschaft – Medien – Kommunikation<br />
nach Karlsruhe gezogen. „Das kann man<br />
hier am Karlsruher Institut für Technologie studieren.<br />
Aus beruflichem Interesse und weil ich generell sehr<br />
kunstinteressiert bin, stand das ZKM ganz oben auf<br />
meiner Liste“, sagt sie. Eine Leidenschaft, die sie mit<br />
ihrer Schwester teilt.<br />
Eine schöne Überraschung gab es am 24. Dezember:<br />
Die Mitgliedschaft im Förderverein war ein Weihnachts-<br />
87<br />
Talentschmiede<br />
der besonderen Art<br />
[MASTERCLASS] am ZKM<br />
Seit 2014 ermöglichen die<br />
Fördergesellschaft ZKM /<br />
HFG e.V. und die Schroff<br />
Stiftung die [MASTERCLASS]<br />
am ZKM. Das Stipendium<br />
ermöglicht bis zu sechs jungen<br />
Menschen, zwischen<br />
15 und 19 Jahren, aktuelle<br />
Kunstströmungen sowie<br />
das Programm des ZKM intensiv<br />
kennen zu lernen.<br />
Im Austausch mit Gleichgesinnten<br />
und professionellen<br />
Kunstschaffenden<br />
erlernen die Nachwuchstalente<br />
in mehrtägigen<br />
Künstler:innen-Workshops,<br />
den Umgang mit neuen<br />
Medien und erhalten eine<br />
umfassende Weiterbildung<br />
in den Bereichen<br />
Werkkonzeption, Videound<br />
Klangkunst sowie Fotografie,<br />
um ihre eigenen<br />
künstlerischen Ideen und<br />
Vorstellungen weiterentwickeln<br />
zu können.<br />
Ziel des Stipendiums ist<br />
die Gestaltung und<br />
Präsentation einer digitalen<br />
Ausstellung. Dabei<br />
stehen den Stipendiat:innen<br />
beratend Künstler:innen<br />
und Kurator:innen als Mentor:innen<br />
zur Seite.<br />
Geleitet wird das Projekt<br />
von Janine Burger und Alexandra<br />
Hermann. Abschluss<br />
und Höhepunkt der [MAS-<br />
TERCLASS] ist die Umsetzung<br />
einer digitalen Ausstellung.<br />
In diesem Jahr findet<br />
die Eröffnung am 29. Juli<br />
<strong>2022</strong> statt. Präsentiert<br />
werden digitale Werke von<br />
Hazel Althen, Mehdi Attar,<br />
Laura Sophia Karle, Jannis<br />
Prox, Jasmin Schaller<br />
und Celina Stieber.<br />
Siehe https://<strong>zkm</strong>.de/de/projekt/<br />
masterclass-am-<strong>zkm</strong>
Nach den Sternen greifen<br />
[ Ich interessiere<br />
LEONIE KROLL<br />
mich generell<br />
sehr für Medien,<br />
besonders wie hier<br />
am ZKM Kunst<br />
und Wissenschaft<br />
kombiniert<br />
wer den, finde ich<br />
faszinierend. ]<br />
88
geschenk. „Darüber habe ich mich sehr gefreut. Meine<br />
Schwester kennt mich einfach gut“, sagt Leonie Kroll,<br />
die sonst eher in klassische Kunstmuseen geht. Am<br />
ZKM fasziniert sie, wie vielfältig es ist. „Ich interessiere<br />
mich generell sehr für Medien, besonders wie hier am<br />
ZKM Kunst und Wissenschaft kombiniert werden, finde<br />
ich faszinierend.“<br />
Zwischen Kultur und<br />
Gesellschaft vermitteln<br />
Mit der Fördergesellschaft hatte sie bislang noch keine<br />
wirklichen Berührungspunkte und ist bereits gespannt,<br />
was auf sie zukommt. Gerade bei der Ausstellung Critical<br />
Zones habe sie gemerkt, dass einige Exponate<br />
mehr Hintergrundwissen erfordern, „deshalb freue<br />
ich mich besonders auf die Führungen“. Toll findet sie,<br />
dass man Gesellschaft, Kunst und Museum so verbinden<br />
kann und möchte sich auch gerne einbringen. „Der<br />
Austausch zwischen der Gesellschaft und Kulturinstitutionen<br />
wie dem ZKM ist super spannend und wichtig.“<br />
Wie sie da als Mitglied der Fördergesellschaft mitwirken<br />
kann, wird sich zeigen. Kroll ist jedenfalls sehr daran<br />
interessiert, mit anderen Mitgliedern zusammenzukommen.<br />
Nicht nur in einem Text. Kathrin Stärk<br />
Fördergesellschaft<br />
ZKM / HfG e.V.<br />
Dabei sein<br />
und mitmachen<br />
Die Fördergesellschaft<br />
unterstützt das ZKM<br />
und die HfG gleichermaßen<br />
und ist dabei sogar<br />
älter als beide Institutionen.<br />
Ihre Gründung<br />
geht zurück auf die Idee,<br />
in Karlsruhe einen Ort<br />
aufzubauen, an dem Kunst,<br />
Forschung und Lehre<br />
vernetzt stattfinden. Informieren<br />
Sie sich unter<br />
www.<strong>zkm</strong>.de über die<br />
Vorteile einer Mitgliedschaft.<br />
Fördergesellschaft ZKM / HfG e.V.<br />
T +49 (0) 721/8100-1260<br />
F +49 (0) 721/8100-1269<br />
foerdere@<strong>zkm</strong>.de<br />
89
Was braucht man zum Aufbau<br />
einer Ausstellung im ZKM?<br />
A Abdeckhauben<br />
Abdeckplane<br />
Absperrband<br />
Adapter<br />
Akkuschrauber<br />
Arbeitsschuhe<br />
Arbeitstisch<br />
Arthandler:in,<br />
Audioplayer<br />
Audiospezialist:in<br />
Aufbau -<br />
anleitung<br />
B Besen<br />
Bilderwagen<br />
Bodenbelag<br />
Bohrer<br />
Brille<br />
Bügelsäge<br />
C Computer<br />
Cutter<br />
D Datenbanken<br />
E Elektro fach kraft<br />
Elko<br />
Entfernungsmesser<br />
F<br />
Farbe<br />
Feile<br />
Fotoapparat<br />
G Gabelstapler<br />
Geduld<br />
Glashauben<br />
Glassauger<br />
Gurte<br />
H Hängewagen<br />
Haken<br />
Halterungen<br />
Hebebühne<br />
Hubwagen<br />
Interesse<br />
I<br />
J<br />
K<br />
L<br />
Japansäge<br />
Kabel<br />
Kabelbinder<br />
Kamera<br />
Kisten<br />
Konstruktionsholz<br />
Konverter<br />
Kunst<br />
Lasermess gerät<br />
Lautsprecher<br />
Leiter<br />
Leimbinder<br />
Leuchten<br />
Liftlux<br />
M Magnete<br />
Manuals<br />
Marker<br />
Möbelroller<br />
Messgeräte<br />
Molton<br />
Monitore<br />
N Netzwerk<br />
Nerven<br />
Netzwerkspezialist:in<br />
O Objektpfleger:in<br />
Organisationstalent<br />
P Packdecken<br />
Paletten<br />
Pausen<br />
Plan<br />
Plattenwagen<br />
Programmierer:in<br />
Prints<br />
Projektoren<br />
90
Projektionsfolie<br />
Prüfgerät<br />
Q Qualifizierte<br />
Arbeitskräfte<br />
R Rahmen<br />
Registrar:in<br />
Reinigungsmittel<br />
Restaurator:in<br />
Rohre<br />
S Schaumstoff<br />
Scheinwerfer<br />
Schere<br />
Schleifgerät<br />
Schrauben<br />
Schraubendreher<br />
Sockel<br />
Stahlseil<br />
Stativ<br />
Staubsauger<br />
Stift<br />
Switch<br />
T Tape<br />
Taschenlampe<br />
Telefon<br />
Teppichboden<br />
Tischlerplatten<br />
Traversen<br />
Tyvek ®<br />
U Umsicht<br />
Unterlagen<br />
V Verlängerungskabel<br />
Verstärker<br />
Videoplayer<br />
Videospezialist:in<br />
Vielfachsteckdosen<br />
Vitrinen<br />
Voltmeter<br />
W Wasserwaage<br />
Wlan<br />
Wolfsburger<br />
System<br />
X<br />
Y<br />
Z<br />
Zange<br />
Zeit<br />
Zurrgurt<br />
Zuspruch<br />
Museumstechnik<br />
Das ZKM<br />
als Ausstellungsbetrieb<br />
Informationstechnik, Restaurierung,<br />
Objektdokumentation,<br />
audio-visuelle<br />
Medientechnik, Arthandling,<br />
Elektrotechnik,<br />
Lichttechnik, Depotverwaltung,<br />
Transportlogistik,<br />
Leihverkehr und technische<br />
Projektleitung bei Ausstellungsproduktionen:<br />
Bei<br />
der Museumstechnik laufen<br />
die Fäden des eng getakteten<br />
Ausstellungsbetriebs<br />
des ZKM zusammen.<br />
Auf kurzem Wege werden<br />
Medienkunstwerke instandgesetzt,<br />
Bilder und Ob -<br />
jekte restauriert und Ausstellungen<br />
medial und<br />
räumlich geplant und umgesetzt.<br />
Installationen<br />
der Sammlung und im Haus<br />
produzierte mediale Kunstwerke<br />
werden in die Museen<br />
in aller Welt transportiert<br />
und dort von den Techniker:innen<br />
des ZKM aufgebaut.<br />
In enger Abstimmung und<br />
Zusammenarbeit mit<br />
Künstler:innen und Kurator:innen<br />
entstehen so pro<br />
Jahr ein Dutzend Ausstellungen,<br />
die das Team der<br />
Museums-und Ausstellungstechnik<br />
auf die Beine<br />
stellt. Mit Einfühlungsvermögen<br />
und professionellem<br />
Know-how wird eine<br />
Qualität erreicht, die den<br />
französischen Philosophen<br />
und Kurator Bruno Latour<br />
2016 zu der Aussage<br />
veranlasste, das Technikteam<br />
des ZKM sei das beste<br />
auf der ganzen Welt.<br />
91
Eine Liga für sich<br />
Die Publikationen des ZKM genießen weltweit<br />
ein ausgezeichnetes Renommee: Was<br />
die Veröffentlichungen so besonders macht,<br />
erläutern Jens Lutz und Miriam Stürner<br />
aus der Publikationsabteilung im Interview.<br />
Herr Lutz, Frau Stürner: Sie kamen<br />
als studentische Hilfskräfte ans<br />
ZKM um Ausstellungskataloge zu<br />
machen. Heute leiten Sie die<br />
Publikationsabteilung. Was macht<br />
Ihre Arbeit aus?<br />
[ Unsere Arbeit ist sehr vielfältig und vielschichtig.<br />
Wie in einem Verlag begleiten wir<br />
die Publikationen des ZKM von der<br />
Idee über die Konzeption bis zur Auslieferung<br />
weltweit. Und dazwischen in allen<br />
Arbeitsschritten auch. Planungsgespräche<br />
mit Herausgeber:innen oder Künstler:innen,<br />
Kontaktaufnahme zu Autor:innen, klären<br />
von Text- und Bildrechten, erarbeiten des<br />
Layouts mit den Grafiker:innen, das Lektorat<br />
und die Redaktionsarbeit. Wir kümmern<br />
uns auch um die Druckabnahme – die<br />
kann bei einem umfangreichen Buch auch<br />
schon einmal 72 Stunden in Anspruch<br />
nehmen – und sorgen dafür, dass die Bücher<br />
an die Verlage ausgeliefert werden. ]<br />
96
Das ZKM publiziert jährlich eine<br />
Reihe an sehr unterschiedlichen<br />
Titeln. Wie lässt sich das<br />
Buchprogramm charakterlich<br />
fassen und beschreiben?<br />
[ Die ZKM-Publikationen sind weltweit<br />
längst eine eigene Marke. Viele unsere Bücher<br />
sind Standardwerke im Umfeld von<br />
Kunst und Gesellschaft. Die Stärke unseres<br />
Programms liegt vor allem darin, dass wir<br />
vielfach über Themen und Künstler:innen<br />
publizieren, die marginalisiert sind.<br />
Trotzdem oder gerade deswegen sind die<br />
Bücher oft schnell ausverkauft und werden<br />
dann zu exorbitanten Preisen auf<br />
diversen Verkaufsplattformen angeboten.<br />
Die Programmplanung folgt der Gründungsmaxime<br />
des ZKM, ein Museum aller Gattungen<br />
und Medien zu sein. Daher umfasst<br />
unser Programm Bücher über Malerei,<br />
über Klangkunst, Film usw. Vor allem präsentieren<br />
wir den Leser:innen die<br />
wichtigsten Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts<br />
– von Aktionskunst bis Medienkunst,<br />
von Tanzkunst bis Sound Art<br />
auf wissenschaftliche und enzyklopädische<br />
Weise. ]<br />
Kataloge erscheinen zumeist<br />
weit nach der Ausstellung. Gibt es<br />
einen Grund?<br />
[ Ausstellungen sind am ZKM gewissermaßen<br />
Forschungsprojekte, die in ein Buch<br />
münden. Peter Weibel zitiert immer gerne<br />
Stéphane Mallarmé: „Tout, au monde,<br />
existe pour aboutir à un livre“ – Alles auf<br />
der Welt existiert, um in ein Buch einzugehen.<br />
Viele unserer Publikationen sind also<br />
wissenschaftlich gut recherchiert. Es sind<br />
oftmals Anthologien, in denen Themen<br />
umfangreich und aus mehreren Perspektiven<br />
betrachtet werden. Die Bücher sind<br />
deshalb aber meist auch dick und schwer<br />
und eignen sich nicht sonderlich gut als<br />
Bettlektüre – einschlafen kann man damit<br />
vielleicht schon, nur sollte man tunlichst<br />
das Buch dabei nicht auf den eigenen Kopf<br />
fallen lassen.<br />
Außerdem wird die typische Ausstellungspublikation<br />
mit ein oder zwei Texten<br />
und einem mehr oder weniger umfangreichen<br />
Bildteil, der die Werke der Ausstellung<br />
zeigt, im ZKM nur selten produziert. Uns<br />
ist es immer daran gelegen, Publikationen<br />
zu erstellen, in denen Themen umfangreich<br />
betrachtet und präsentiert werden. Es<br />
sollen auch Erkenntnisse, die während<br />
der Ausstellungsdauer – zum Beispiel in begleitenden<br />
Symposien – erlangt werden,<br />
Eingang in das Buch finden. Dieses Ziel und<br />
die Tatsache, dass für unsere Ausstellungen<br />
auch oft Werke entstehen, die es so vorher<br />
noch nicht gab, führt dazu, dass die Bücher<br />
zu unseren Ausstellungen oft erst<br />
nach Ausstellungsende erscheinen, sie aber<br />
aufgrund ihrer thematischen Relevanz<br />
und Ausführlichkeit viele Jahre lang verkauft<br />
werden. ]<br />
Sie sprachen davon, dass<br />
die ZKM-Publikationen<br />
weltweit sehr renommiert sind.<br />
Woher kommt das?<br />
[ In Europa ist das ZKM sicherlich das einzige<br />
Museum, dessen Kataloge regel mäßig<br />
bei internationalen Wissenschaftsverlagen<br />
erscheinen. Somit geht das weltweite<br />
Renommee des ZKM auch auf die verlegerische<br />
Tätigkeit zurück, denn durch<br />
unsere Verlage haben unsere englischsprachigen<br />
Bücher eine globale Distribution,<br />
sodass sie in Buchhandlungen von Bukarest<br />
bis Washington stehen. Im Grunde<br />
werden die Ausstellungen des ZKM durch<br />
unsere Kataloge weltweit sichtbar, weit<br />
über den Horizont des deutschen Feuilletons<br />
97
Eine Liga für sich<br />
hinaus. Dadurch bekommen wir Rezensionen<br />
und Auszeichnungen aus der<br />
ganzen Welt. Und durch unsere Kooperation<br />
mit englischsprachigen Wissenschafts<br />
verlagen werden wir auch im akademischen<br />
und universitären Bereich<br />
weltweit wahrgenommen. ]<br />
Gibt es Grundanforderungen,<br />
damit aus einer Idee ein Buch wird?<br />
Und wie entscheidet sich, in<br />
welchen Verlagen was erscheint?<br />
[ Grundsätzlich machen wir uns hier im<br />
ZKM natürlich vor Projektbeginn eingehend<br />
Gedanken über die jeweilige Publikation.<br />
Auch ob für das Thema die Buch-Form oder<br />
vielleicht eher eine DVD-, CD-, Video- und<br />
Filmedition oder rein digitale Publikationen<br />
sinnvoll wäre. Es gibt ganze Serien von<br />
multimedialen Editionen, die in Zusammenarbeit<br />
mit Verlagen wie Hatje Cantz entstanden<br />
sind.<br />
Wir sind natürlich stets darauf angewiesen,<br />
dass wir unsere Pläne auch finanzieren<br />
können; die Mittel, die uns zur Verfügung<br />
stehen, haben deshalb Einfluss auf die<br />
jeweilige Publikation. Glücklicherweise finden<br />
wir immer wieder externe finanzielle<br />
Unterstützung für unsere Projekte.<br />
Wir arbeiten aber mit einer ganzen Reihe von<br />
nationalen und internationalen Verlagen<br />
zusammen. Die großen wissenschaftlichen<br />
Publikationen zu unseren Themen- und<br />
Thesenausstellungen erscheinen deshalb<br />
häufig in englischer Sprache bei US-amerikanischen<br />
Wissenschaftsverlagen wie<br />
MIT Press oder der University of Minnesota<br />
Press. Nachdem klar ist, welchen Zuschnitt<br />
die jeweilige Publikation bekommen<br />
soll, fragen wir bei passenden Verlagshäusern<br />
an, ob sie Interesse am jeweiligen<br />
Buch haben. ]<br />
Wir haben Sie gebeten, für<br />
das <strong>zkm</strong>agazin die wichtigsten<br />
Publikationen der letzten zwei<br />
Jahre zusammenzustellen. Welche<br />
Titel gehören dazu und warum?<br />
[ Auf jeden Fall das große neue Standardwerk<br />
von Peter Weibel zur Skulptur des<br />
20. und 21. Jahrhunderts: Negative Space.<br />
Peter Weibel verfolgt in diesem Buch<br />
eine neue Theorie zur Skulptur, und auf über<br />
700 Seiten bietet das Buch zudem einen<br />
exzellenten Überblick über die Skulptur des<br />
20. und 21. Jahrhunderts. Nebenbei<br />
funktioniert es sogar als richtig schönes<br />
Coffee Table Book.<br />
Ebenso nachdrücklich empfehlen wir die<br />
Publikation Critical Zones. The Science<br />
and Politics of Landing on Earth,<br />
begleitend zur gleichnamigen Ausstellung<br />
bei MIT Press erschienen. Eine Ausstellung,<br />
kuratiert von Peter Weibel und<br />
Bruno Latour, die uns allen hier am<br />
ZKM sehr wichtig ist, weil es um die Zukunft<br />
unserer Erde geht. Das Buch wurde mit<br />
dem Prix Special der Jury des FILAF-Festivals<br />
(Perpignan, Frankreich) ausgezeichnet<br />
und von der New York Times als eines<br />
der wichtigsten Kunstbücher des Jahres<br />
gelistet. Eine gekürzte Fassung des<br />
englischen Buches ist auch auf Deutsch<br />
erschienen.<br />
Eine weitere Publikation, die uns wichtig ist,<br />
trägt den Titel Digital Imaginaries.<br />
Afrikanische Positionen jenseits des Binären.<br />
Das Ausstellungs- und Rechercheprojekt<br />
Digital Imaginaries brachte Kunstschaffende<br />
und Produzent:innen aus Kunst<br />
und Wissenschaft zusammen, um digitale<br />
Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent<br />
zu untersuchen. Das Buch präsentiert<br />
die überraschenden Ergebnisse dieses<br />
Austauschs und auch eine Vielzahl von<br />
98
künstlerischen Arbeiten. Vor dem Hintergrund<br />
der postkolonialistischen Debatten<br />
und dem immer wieder zu Recht kritisierten<br />
eurozentristischen Blick, den viele westliche<br />
Institutionen auf den Kontinent Afrika<br />
werfen, war diese Publikation eine große<br />
Herausforderungen, die wir Dank eines<br />
versierten Herausgeber:innenteams<br />
und vielen Texten von Künstler:innen und<br />
Wissenschaftler:innen, die auf dem<br />
afrikanischen Kontinent leben, hoffentlich<br />
gut gemeistert haben.<br />
Diese drei Titel sind nur eine winzig kleine<br />
Auswahl unseres Programmes. Gerne<br />
empfehlen wir einen Besuch im ZKM-Shop –<br />
ob online oder hier im ZKM selbst. ]<br />
Ganz herzlichen Dank Ihnen beiden<br />
für den Einblick in Ihre Arbeit<br />
Interview: Helga Huskamp<br />
ZKM-Publikationen<br />
2020–2021 (Auswahl)<br />
• Negative Space.<br />
Trajectories of Sculpture<br />
in the 20th and 21st<br />
Centuries, Englisch, 2021,<br />
Hg.: Peter Weibel, Anett<br />
Holzheid, VK: 60,00 €<br />
• Critical Zones.<br />
The Science and Politics<br />
of Landing on Earth,<br />
Englisch, 2020,<br />
Hg.: Bruno Latour, Peter<br />
Weibel, VK: 49,90 €<br />
• Critical Zones. Die<br />
Wissenschaft und Politik<br />
des Landens auf der Erde,<br />
2021, Hg.: Bruno Latour, Peter<br />
Weibel, VK: 19,90 €<br />
• Digital Imaginaries.<br />
Afrikanische Positionen<br />
jenseits des Binären /<br />
African Positions<br />
Beyond Binaries, Deutsch<br />
und Englisch, 2021,<br />
Hg.: Richard Rottenburg,<br />
Oulimata Gueye,<br />
Julien McHardy, Philipp<br />
Ziegler, VK: 35 €<br />
• Peter Weibel:<br />
Enzyklopädie der Medien,<br />
Band 4: Literatur<br />
und Medien, Deutsch, 2021,<br />
Autor: Peter Weibel,<br />
VK: 40 €<br />
• From Xenakis’s UPIC<br />
to Graphic Notation,<br />
Englisch, 2020, Hg.:<br />
Peter Weibel, Ludger Brümmer,<br />
Sharon Kanach, VK: 48 €<br />
Alle Publikationen finden Sie<br />
auch unter<br />
https://webshop.<strong>zkm</strong>.de/<br />
99
Wer steckt dahinter?<br />
Die Autor:innen<br />
des <strong>zkm</strong>agazins<br />
Tanja Binder leitet den Bereich Kommunikation und<br />
Marketing am ZKM. Als Journalistin hat sie für die Stuttgarter<br />
Zeitung, dpa, Süddeutsche Zeitung, Die Rheinpfalz,<br />
Allgemeine Zeitung Mainz geschrieben und an<br />
der Kunsthalle Mannheim war sie für die Presse- und<br />
Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich.<br />
Friedemann Dupelius untersucht die akustische Gegenwart.<br />
Als Journalist und Musiker ist er in verschiedenen<br />
Bereichen experimenteller und elektronischer Musik<br />
aktiv. Er schreibt Radiofeatures und Essays für u. a.<br />
WDR3, SWR2, BR Klassik, Deutschlandfunk, Neue Zeitschrift<br />
für Musik, Positionen und zweikommasieben.<br />
Helga Huskamp ist seit September 2021 am ZKM geschäftsführende<br />
Vorständin. Zuvor war sie an der Staats -<br />
galerie Stuttgart und an der Stiftung Bauhaus Dessau<br />
als Leiterin Kommunikation tätig sowie als stellvertretende<br />
Geschäftsführerin am Internationalen Dokumentarfilmfestival<br />
München.<br />
Patrick Krause, lebhaft in Köln, hat als promovierter<br />
Geisteswissenschaftler die journalistische Laufbahn<br />
eingeschlagen. Neben freien Beiträgen (u. a. Süddeutsche<br />
Zeitung) im Bereich Kultur und Stil ist sein<br />
Spezialgebiet die Entwicklung von Kunden<strong>magazin</strong>en.<br />
Seit 2015 ist er Chefredakteur des Reise<strong>magazin</strong>s QVEST.<br />
Ute M. Reindl ist Kunstkritikerin, Kuratorin und Übersetzerin.<br />
Sie schreibt unter anderem für den Berliner<br />
Tages spiegel, die Neue Zürcher Zeitung, das Kunstforum<br />
International, die Kunstzeitung, den ArtBlog Cologne,<br />
die Kölner StadtRevue, die TAZ und viele mehr. Sie<br />
ist zudem Vizepräsidentin des AICA Deutschland e.V.<br />
Ursula Scheer ist für das Ressort Kunstmarkt verantwortliche<br />
Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<br />
und schreibt immer wieder über Medienthemen und<br />
digitale Kunst. Für die Frankfurter Allgemeine Woche<br />
betreute sie zwei Jahre lang die Kultur- und Gesellschaftsseiten.<br />
Lena Schneider war Volontärin in der Abteilung Kommunikation<br />
und Marketing am ZKM.<br />
Kathrin Stärk ist freie Autorin, Texterin und Konzeptionerin.<br />
Beim Stuttgarter Stadt<strong>magazin</strong> LIFT war sie Chefredakteurin<br />
bevor sie im Jahr 2018 die Presse- und<br />
Öffentlichkeitsarbeit des Theater Rampe in Stuttgart<br />
übernahm.<br />
102
<strong>zkm</strong>agazin<br />
Nummer 1, <strong>2022</strong><br />
[ Innensicht ]<br />
Herausgegeben von<br />
ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe<br />
Helga Huskamp, geschäftsführende Vorständin<br />
Idee & Konzept Helga Huskamp<br />
Redaktion Tanja Binder<br />
Lektorat Jens Lutz, Miriam Stürner, Patrick Trappendreher<br />
Autor:innen Tanja Binder, Friedemann Dupelius,<br />
Patrick Krause, Helga Huskamp, Uta M. Reindl, Ursula<br />
Scheer, Lena Schneider, Kathrin Stärk<br />
Gestaltung 2xGoldstein (Andrew Goldstein,<br />
Jeffrey Goldstein, Erik Schöfer, Joshua Kaiss)<br />
Fotoessay Thomas Meyer, Ostkreuz<br />
Druck Stober Medien, Eggenstein<br />
Portraits Fotoessay: ZKM-Mitarbeiter:innen Dominik<br />
Kautz, Wolfgang Knapp, Bernd Lintermann, Christian<br />
Lölkes, Felix Mittelberger, Dorcas Müller, Cecilia Preiß,<br />
Jakob Schreiber, Patrick Trappendreher, Peter Weibel,<br />
Desiree Weiler, Beatrice Zaidenberg<br />
Unser Dank gilt der Fördergesellschaft ZKM / HfG e.V.,<br />
die das Magazin großzügig unterstützt hat.<br />
© <strong>2022</strong> ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe<br />
© Texte: die Autor:innen<br />
© Fotos: ZKM | Karlsruhe, Fotos: Thomas Meyer, Ostkreuz<br />
Hergestellt in Deutschland.<br />
103
ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe<br />
Lorenzstr. 19, 76135 Karlsruhe, T +49 (0)721/8100-1200<br />
info@<strong>zkm</strong>.de, www.<strong>zkm</strong>.de<br />
Künstlerisch-wissenschaftlicher Vorstand Peter Weibel<br />
Geschäftsführende Vorständin Helga Huskamp<br />
Verwaltungsleitung Boris Kirchner<br />
Stifter des ZKM<br />
Partner des ZKM