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Das Ledergeschäft in Schwabing

Erinnerungen an Alt München

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Das Ledergeschäft in Schwabing


In dankbarer Erinnerung meinem

Großvater Hermann Weil gewidmet

Das Ledergeschäft in Schwabing

Es war ein altes, stilvolles Ledergeschäft, das die besten

Ledersorten führte. Und es war direkt an der Münchner

Freiheit, der Platz, der damals noch Feilitzschplatz und noch

früher Danziger Freiheit hieß, wo die Pferdebahn in einer

großen Schleife um den Großen Wirt umdrehte und wieder

zurück in Richtung Siegestor fuhr.

In Eichenlohe gegerbte Leder, die Croupons, wie man die

wertvollsten Teile der Rinderhaut nennt, wurden hier verkauft.

Der angenehme Geruch von naturgegerbtem Leder umfing

einen sofort, wenn man den Laden betrat.

In diesem Laden stand er, der Lederer, wie er genannt wurde

und der mein Großvater war.

Das gekrümmte Ledermesser in der Rechten und mit kräftigem

linkem Arm das Leder haltend führte er einen exakten Schnitt

entlang der mit blauer Kreide vorgezeichneten Linie durch die

harte, zähe Lederhaut. Seine tiefliegenden Augen blitzten

vergnügt, wenn ein anderer erfolglos versuchte, das Leder zu

schneiden.

Er hatte das Geschäft gerade erst aufgemacht und er war sehr

stolz darauf. Zur Eröffnung hatte er von seinem Pflegevater

eine große, runde Uhr mit Holzrahmen und römischen Ziffern

geschenkt bekommen, die im Kontor, also im Büro an der

Wand hing.

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Dort im Kontor war seine Frau Emilie zugange und auch sein

kleiner Sohn, der so wie er Hermann hieß, durfte dort zuweilen

mit seiner Mutter, der Emilie sein. Sie halfen beim

Einsortieren von Schusternägeln, dem Einordnen von

verschiedenfarbigem Wachs für den Zwirn und hielten

Ordnung in den vielen Schubladen mit den gebogenen Nadeln

zum Nähen von Leder.

Seine Frau war die Tochter eines Reutlinger Gerbermeisters,

den das Schicksal und widrige Umstände nach Turin

verschlagen hatten. Als seine Töchter ins heiratsfähige Alter

kamen, beschloss er nach Deutschland zurückzukehren, damit

sie deutsche Männer fänden. Die Familie nahm Quartier in

Schwabing und so lernte eine der Töchter dann beim Bierholen

für ihren Vater in der Gassenschänke des Hartlwirts, den man

heute Drugstore nennt, meinen Großvater kennen. Heiratete

ihn und zog mit allen ihren Schwestern und den Eltern zu ihm,

dem Lederer, in sein neues Haus in der Feilitzschstrasse 1,

vorne am Platz.

Aber bis dies alles soweit war, hatte der Lederer einen weiten

und mühsamen Weg zurückgelegt.

Mein Großvater war das, was ich auch noch heute als einen

echten Deutschen bezeichnen würde. Er war immer erfüllt von

stolzer Vaterlandsliebe ohne jedoch auf andere

herabzuschauen, geprägt von Ehrgefühl, von Treue und

Ehrlichkeit, von Aufrichtigkeit und von Glauben an die Werte

und an die Beständigkeit eines einmal gegebenen Wortes.

Eigentlich war er aber gar kein richtiger, kein echter

Deutscher, denn er war aus ganz besonderen Gründen der

Schicklichkeit und der Reputation wegen in der

Schwarzspaniergasse in Wien im IX Bezirk als lediges Kind

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geboren worden. Zwar geboren von einer deutschen Mutter

und gezeugt von einem deutschen Vater. Aber immerhin in

Wien.

Gleich nach seiner Geburt kam er mit seiner Mutter wieder

zurück nach München und wuchs bei seinen geliebten

Pflegeeltern in der Au auf.

Der Pflegevater war Schuster und war mit seiner Frau

kinderlos geblieben und so nahmen sie ihn auf, als wäre es ihr

eigenes Kind. Sie hatten ein kleines Häuschen mit einem

Brunnen im Vorgarten, kurz vor dem Nockherberg und der

Bier-Wirtschaft Salvatorkeller.

Mein Großvater ging auch dort in der Au in die Schule und

hatte seine Firmung in der Kirche am Maria-Hilf-Platz.

Eigentlich wollte er ja Grafiker werden und begann auch

diesen Beruf zu erlernen. Irgendwann stellte sich jedoch ein

Sehfehler heraus und er musste in Ermangelung der passenden

optischen Sehhilfen den Berufswunsch wieder aufgeben.

Geblieben aus dieser Zeit war seine exakte Schrift, die sich wie

gestochen von seinen sauber geführten Papieren abhob. Die

Feststellung dass er nachtblind sei kam noch hinzu. Einige

Jahre später, bei seiner Musterung zum Wehrdienst, wurde

dem jedoch kein Glauben geschenkt, und man dachte eher an

einen, der sich vom Dienst für das Vaterland drücken und eine

ruhige Kugel schieben wolle. Erst als er in der Dunkelheit das

mit Haubitzen beladene Pferdegespann am Stachus in die

Schaufenster des damaligen Spielwaren-Schmitt lenkte,

versetzte man ihn in die Schreibstube und dort entwarf er, dem

Schicksal trotzend, wieder Plakate. Sein Prunkstück war das in

wunderschöner Jugendstilschrift geschaffene Schild für die

Entlausungsanstalt in den Vogesen. Und ab Einbruch der

Dunkelheit hatte er fortan dienstfrei.

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Schon in früher Jugend strebte er nach körperlicher Fitness wie

man heute sagen würde, trainierte seine Muskeln und erfreute

sich und andere an seinem kräftigen Händedruck, der

bleibenden Eindruck hinterließ.

Er trat begeistert dem Auer Stemmklub bei und verzeichnete

bald beachtliche Erfolge. Er betrieb das, was man damals als

Rasenkraftsport bezeichnete. Also das Hantieren mit

Gewichten, wie Gewichtheben in allen damals gängigen

Formen. Es war Reißen, Stoßen, Drücken, Heben; manches

davon in einarmiger und anderes wiederum in beidarmiger

Version.

Er, der also nicht Grafiker werden konnte, lernte dann den

Beruf des Lederhändlers in einem Geschäft in Schwabing.

Dieses war ein kleinerer aber guter Laden in der

Feilitzschstrasse an der Ecke zur Occamstrasse. Er lernte das

beste Leder zu erkennen, die besten Zuschnitte für das

Sohlenleder herauszusuchen, und ein attraktives Sortiment für

die Schuster zusammenzustellen. Bald hatte er auch mit der

Unsitte mancher Kunden aufgeräumt, bei seinem Chef

anschreiben zu lassen und dann erst eine Ewigkeit später zu

bezahlen. Sein Meister schickte ihn zu seinem Ärgernis und

Verdruss in seiner Mittagszeit zum Eintreiben und Kassieren

der ausständigen Gelder. Die Kraft seiner Unterarme konnte

manchen Schuster von der Zweckmäßigkeit der Begleichung

der angeschriebenen Schulden überzeugen. Er schien tüchtig

und von seinem neuen Beruf angetan gewesen zu sein, denn

später, als er ausgelernt hatte und als fleißiger Geselle seines

Meisters bekannt geworden war, schenkte ihm dieser das

Geschäft und verließ München. Er aber führte mit viel Fleiß

und Ehrgeiz das nunmehr eigene Ledergeschäft weiter. Man

schrieb das Jahr 1896.

Seine Kunden waren die Schuhmacher, die aus vielen Teilen

Münchens zu ihm fuhren, zu ihm, der für ausgezeichnetes

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Leder bekannt war. Und auch die Arbeiter, die in der

Maffei’schen Maschinenfabrik unten in der Hirschau

arbeiteten, gingen täglich an seinem Laden vorbei. Die meisten

von Ihnen waren sogenannte Selbstbesohler. Das hieß, sie

hatten zuhause ein eisernes Dreibein stehen und verstanden

sich darauf, die Sohlen ihrer Schuhe selbst zu reparieren.

Das dafür notwendige Leder, den Leim, die Absätze, die

Sauborsten, die Holzstifte, die handgeschmiedeten Nägel für

die Bergschuhe und die Tex; das alles konnten sie im Geschäft

des Lederers kaufen.

Als er dann unter Aufbietung seiner Ersparnisse und des

gesamten restlichen Familienkapitals das Haus Nr. 1 in der

Feilitzschstrasse, vorne an der Ecke zum Feilitzschplatz kaufen

konnte, zog er mit seinem Ledergeschäft dorthin um. Fortan

war der Lederer, wie man ihn überall nannte, mit seinem

Geschäft in diesem Haus zu finden.

Es war schöner und größer als das vorige, vor allem aber war

es das eigene. Im Trocken-Keller konnte ein eigenes

Lederlager mit einem großen Zuschneide -Tisch eingerichtet

werden. Und er, der Lederer war zu stolz, um die Lederhäute

vor dem Zusammenrollen zu befeuchten damit sie gefügiger

wurden. Alle wurden trocken mit der Hand gerollt, als

Training seiner ohnehin schon nicht schlecht entwickelten

Unterarme.

Außen an der Fassade des Hauses über dem Eingang hing das

Zunftzeichen der Lederer und Gerber. Eine Lederhaut aus

Eisen die sich sanft im Wind bewegte.

Neben der schmalen Eingangstüre befand sich das

Schaufenster, in dem allerlei Schusterwerkzeuge,

„Continental“ Gummi Absätze und Leder ausgestellt waren. In

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einer Ecke saß ein großer grüner Frosch aus Pappendeckel mit

der Aufschrift „Erdal“ und warb für die Schuhcreme, erhältlich

in den Farben schwarz und braun.

Wenn man den Laden betrat, war man umfangen vom Geruch

des Leders und von Regalen, Schränken mit vielen winzigen

Schubläden, mit Fächern, in denen die bereits vorgerichteten

Croupons nach Größen sortiert standen und der Ladenbudel,

hinter der er, der Lederer mit seinem schweren ledernen

Schurz stand.

An der Seite stand eine Kasse, aus Eichenholz gefertigt und

mit den Messingbuchstaben „Anker“ auf der Vorderseite.

Öffnete man die Kassa mit einer Drehung der seitlich

angebrachten Kurbel, so fuhr die Schublade mit den

verschiedenen Münzfächern aus ihrem Inneren und es ertönte

der helle Klang der Schelle, die oben auf der Kassa angebracht

war. Kling! Einemarkfünfundzwanzig, der gnädige Herr. Bin

so frei, und 25 Pfennig zurück der Herr, vielen Dank.

Automatisch kamen die Sprachformeln beim Kassieren über

die Lippen.

Auf jeder Kassa war damals über dem Schubladenfach eine

schmale Marmorplatte angebracht. Darauf ließ man die

größeren Münzen, also die Mark oder Fünfmarkstücke fallen.

Am Klang hörte man sofort, ob es richtige, gültige Münzen

oder gar Falschgeld war, das man gerade entgegennahm. Die

gekauften Croupons wurden in kräftiges, braunes Packpapier

eingewickelt, kleinere Einkäufe kamen in Stranitzen, dem

Kunden wurde die Tür geöffnet, einen schönen Tag gewünscht

und noch einmal für den Einkauf gedankt.

Natürlich war das Geschäft jeden Tag geöffnet; Samstag war

ein ganz normaler Arbeitstag und Sonntag war geöffnet in der

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Zeit, wenn die Kirche zu Ende war bis zur Mittagessenszeit,

also 12 Uhr.

Dann wurden, wie auch in der Nacht, die Rouleaus, die

gewellten Bleche vor den Schaufenstern heruntergezogen, die

den Laden vor Einbrechern und vermeintlichen Angriffen

schützen sollten.

Aber eigentlich war es gar kein richtiges Ledergeschäft. Es war

vielmehr ein Ledergeschäft mit angeschlossener Kraftsport-

Abteilung. Vorne der Ladenraum mit all den ledernen

Kostbarkeiten, nach hinten anschließend und über eine

Verbindungstüre zu erreichen, ein weiterer, ebensogroßer

Raum. Dieser Raum, voll mit Hanteln, schweren Gewichten,

eisernen Kugeln und weiteren Trainingsgeräten war ihm, dem

Lederer, ebenso wichtig wie der Laden. Hier konnten

zwischendurch immer schnell ein paar Gewichte gedrückt oder

die schwere Kugel mit der Armbeuge gehoben werden. Ein

befreundeter Besucher konnte eine Kraftprobe abgeben oder

den neuesten Griff der Ringer üben. Eine Glocke zeigte an,

wenn die Ladentüre geöffnet wurde, damit man vor lauter

Trainingseifer nicht überhörte, wenn ein Kunde das Geschäft

betrat.

Meinen Großvater umgab ein Freundeskreis, die ähnliche

Ideale hatten, die regelmäßig bei ihm im Laden vorbeikamen

und mit ihm zusammen trainierten: Die starken Männer.

Namen wie die des mehrfachen Weltmeisters und

Olympiasiegers Josef Straßberger, Cyril, Max Sick, Lindinger,

Selos, Sandow und viele andere mehr standen auf der Tafel im

Raum, ein jeder Name verbunden mit Zahlen. Die Zahlen

bedeuteten die letzten, in Kilo ausgedrückten Rekorde des

jeweiligen Namens in einer bestimmten Disziplin.

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Die starken Männer waren populär. Bilder von bemuskelten

Männern in der Zeitung, Auftritte im Zirkus, öffentliche

Kraftproben und Wettbewerbe allenthalben. Man hatte zu dem

öffentlichen Zur-Schau-stellen von körperlicher Kraft ein

vollkommen unbelastetes Verhältnis. Das „Ausräumen von

Wirtshäusern“, wenn Störenfriede an die frische Luft gesetzt

wurden, fand man häufig in den Münchner Neuesten

Nachrichten mehr oder weniger fröhlich kommentiert.

Bald war mein Großvater bekannt und übernahm in seinem

Auer Stemmklub eine führende Funktion.

Und bald betrieb er den Anschluss des Auer Stemmklubs mit

einem anderen aufstrebenden Münchner Sportverein, dem

„Turnverein München von 1860“. So vereinigten sich

schließlich die beiden Vereine und mein Großvater war damit

Gründungsmitglied des späteren TSV 1860 München. Von

Fußball war damals allerdings noch keine Rede; erst zur

Jahrhundertwende erweiterte sich der Verein und gründete eine

eigene Fußball Abteilung.

Auch eine Kraftsportabteilung wurde eingerichtet und die

Athleten, die darin organisiert waren, zeigten sich als überaus

erfolgreich. Die 1860er Kraftsportler stellten in vielen

Disziplinen die Deutschen Meister, manche auch Weltmeister

oder Olympiasieger.

Mein Großvater führte endlose Tabellen in seiner exakten, wie

gedruckt wirkenden Handschrift, in denen er von den

führenden Sportlern die Leistungsgewichte in den

verschiedenen Disziplinen bei allen Wettkämpfen des Jahres

festhielt. Alle Zeitungsberichte wurden, soweit sie Kraftsport

betrafen, ausgeschnitten und sorgfältig archiviert. Viele der

Kraftsportler wurden von ihm trainiert und betreut. Er erkannte

die schwächeren Muskelgruppen oder Fehler in der Technik

der einzelnen Athleten und stellte dafür spezielle

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Trainingspläne auf. Berühmt waren auch die von ihm

zusammen mit seiner Frau in einem irdenen Hafen

hergestellten Salben und Pasten, die sehr gerne von den

Sportlern bei Muskelzerrungen oder Verstauchungen der

Gelenke angewandt wurden.

Und er hatte die besondere Gabe, starke und schwache Tage

des jeweiligen Athleten aus dem Wettkampfkalender

vorherzusagen. Viele kamen zu ihm, um sich von ihm beraten

zu lassen. Und das Trainingslager im Geschäft des Lederers

war stadtbekannt.

Wochentags ging man nach der Arbeit zusammen in den

Verein zum Training, sonntags waren die Wettkämpfe. So war

das Leben ausgefüllt mit Arbeit und Sport.

Seine große Herausforderung aber kam im Jahre 1905 mit der

Geburt seines Sohnes, meines Vaters. Er hielt ihn frühzeitig zu

sportlicher Lebensweise an und trainierte auch ihn in allen

möglichen sportlichen Disziplinen. Der Trainingsraum im

Ledergeschäft war sein Kinderzimmer. Eine Zigarrenkiste

voller Medaillen und Gedenkmünzen ist davon geblieben. Und

dann, im Jahre 1931 erfüllte sich der Traum: Mein Vater

wurde Deutscher Meister im Hammerwerfen. Das harte

Training des Lederers hatte in der eigenen Familie Früchte

getragen. Im Triumphzug wurde er mit der Fahne der 1860er

in der offenen Limousine stehend durch die Stadt gefahren und

wurde Ehrenbürger von München. Eine weitere Urkunde

wurde gerahmt und zierte fortan den Trainingsraum unseres

Ledergeschäftes neben den vielen bräunlich verfärbten

Fotografien der Athleten. Da hingen sie alle, in ihren weißen

Turnhosen und den weißen Sporttricots, den schwarzen,

doppelt geschwänzten Löwen, das Vereinsabzeichen der

1860er auf der Brust.

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Die starken Männer feierten ihre Triumphe. Straßberger,

genannt der stärkste Mann der Welt, gewann bei den

olympischen Spielen in Amsterdam und in Los Angeles

Medaillen, Sick stand Modell für einen Fotoband, auf dem er

jeden einzelnen Muskel anspannte, Croton trat im Zirkus auf

und hinderte einen Elefanten am Riemen am Fortgehen. Und in

den Münchner Bierkellern versuchte sich die begeisterte

Bevölkerung am Stein des vor ein paar Jahren verstorbenen

Steyrer Hans, der als das Maß aller Dinge im Kraftsport galt.

Sie zählten zur gehobenen Gesellschaft mit denen man sich

gerne zeigte und zusammen fotografieren ließ, waren sportlich

und auch wirtschaftlich arriviert. Straßbergers Rennpferde

waren ebenso bekannt wie seine beiden Gaststätten und sein

Hotel.

Doch dann kam der Krieg, und etwas später die Not. Die

starken Männer versanken in der Bedeutungslosigkeit oder

wanderten aus. Niemand mehr interessierte sich mehr für sie

und den Kraftsport; andere Sorgen herrschten vor und ganz

andere Probleme galt es zu lösen.

Manche suchten ihr Glück in der neuen Welt, gewannen dort

Preise oder traten als Attraktion auf. Das Hinterzimmer des

Lederladens war verwaist.

Auch das einst stolze Haus in der Feilitzschstrasse mit der

wunderschönen Jugendstilfassade hatte unter den

Kriegseinwirkungen gelitten. Das Dach hatte die Royal

Airforce in der letzten großen Bombennacht abgedeckt, ein

spät, aber dennoch glücklich im Rahmen des Möglichen

gelöschtes Feuer den Dachstuhl zerstört und der Lederladen

samt dem Trainingsraum war mit Schutt und Trümmern

bedeckt.

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So hatten der Lederladen und die starken Männer ein Ende

gefunden.

Aber es gibt noch einen dünnen Faden, der ihre Nachkommen

verbindet, die Spuren nicht verwehen und ihre Namen nicht

vergessen lässt.

Es sind derer nicht mehr viele. Viele sind gestorben, viele

haben ihre damalige Welt verlassen und wurden durch das

Schicksal in alle Winde vertrieben.

Als einer der Letzten habe ich meine Erinnerungen

aufgeschrieben und versucht, was ich von meinem Großvater

weiß und von ihm gehört und gesehen habe wiederzugeben um

diesen Menschen und ihrer Zeit ein ehrendes Andenken zu

bewahren.

Sie mögen mir vergeben, wenn ich die in meiner Erinnerung

vergrabenen Dinge nicht richtig wiedergegeben oder gar

vergessen habe.

*******

Der Lederladen selbst ist wiedererstanden, mein Vater und

meine Mutter haben ihn wieder aufgebaut. Der ehemalige

Trainingsraum wurde zum Büro. Das Sortiment wurde

geändert. Niemand mehr wollte seine Schuhe selbst besohlen

und aus den Schustern wurde langsam ein aussterbender Beruf.

An Stelle von Croupons und Schusternägeln wurden elegante

Taschen und Koffer im Lederladen geführt.

Später, nach vielen Jahren hat meine Mutter das Ledergeschäft

nochmal grundlegend umgebaut und modernisiert. Große, bis

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zum Boden gehende Schaufenster und ein großzügiger,

durchgehender Verkaufsraum machten den Laden zu einem

der führenden Lederwarengeschäfte Münchens.

Geblieben waren der Geruch nach Leder und die vielen alten

Fotografien der starken Männer. Geblieben war der

Kaufmannsgeist meines Großvaters und geblieben war auch

ich. Ich wurde der neue Lederer.

Hermann Weil

April 2012

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