Der Gasenleiter
Die Geschichte eines Hauses in der Steiermark.
Die Geschichte eines Hauses in der Steiermark.
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Der Gasenleiter
Er, der alte Gasenleiter, war ein ganz besonderer Mensch. Ich war
öfter bei ihm, hatte mehrfach mit ihm gesprochen, gesehen, wie er
bedächtig die in seiner Generation üblichen Fußlappen (ein taschentuchgroßes
Stofftuch anstelle von Strümpfen, auf das der
Fuß diagonal gestellt und dann von den Seiten her über den Fußrücken
eingeschlagen wird), sorgsam anlegte, zugeschaut, wie er
Holz geschnitten und seinen Kartoffelacker bearbeitet hat, seinen
wenigen, wortkargen Erzählungen der Vorgeschichte seines Hauses
gelauscht und ihn schätzen und achten gelernt.
Geboren wurde er im Januar des Jahres 1908 in Graz in der
Paulustorgasse. Das war die Adresse des Ledigenheimes, denn seine
Mutter hatte dort entbunden und ihn auch gleich dort gelassen.
Nicht nur ihn, sondern auch schon vier weitere Kinder vor
ihm.
Der Vater war unbekannt, die Zeiten schwer. Sie, die Mutter
war alleinstehend und arbeitete als sogenannte »Besorgerin«, wie
eine Hausmagd damals genannt wurde, in einem Haushalt in der
Nähe von Graz. Zu dieser Zeit war für eine Heirat von Dienstboten
die Genehmigung der Gemeinde notwendig, die aber sehr
sparsam vergeben wurde und mit vielen Hindernissen und Schikanen
verbunden war. Er hat seine Mutter zwar gekannt, aber sein
Kontakt mit ihr beschränkte sich auf das Nötigste und kam irgendwann
ganz zum Erliegen. Gegen Ende ihres Lebens lebte sie
in Anger, wo sie schließlich 1958 im Armenhaus verstarb.
Man sagt, dass des Gasenleiters spätere Frau ihre Schwiegermut-
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ter nicht besonders mochte. Die älteste Tochter des Gasenleiters
jedoch, die Christl, erzählt von den Besuchen, die sie als Kind zu
Fuß (!) gelegentlich zu ihrer Oma gemacht hat. Von der Gasenleitn
den Bach entlang bis zur Feistritz, dann der Feistritz entlang
Richtung Anger bis zum Beginn des Grabens und dann hinter in
den Graben. Ein fast endloser Gewaltmarsch.
Mit seinen drei Brüdern (zwei davon waren vom selben Vater)
und der Schwester hatte er auch im späteren Leben Kontakt, wenn
auch unterschiedlicher Art.
Da war der Sepp, der Ältere, dann der Alwin, er war in Fresen
(bei Anger) bei einem Bauern im Dienst, ist im Krieg gefallen,
und Hans, der Jüngste. Und da war auch noch eine Schwester, die
spätere Maria Finster (Graz), sie war die älteste der Geschwister.
Und dann hatte es auch noch zwei weitere Brüder gegeben, die
aber kurz nach der Geburt verstorben waren.
Mit dem Sepp bestand keine gute Verbindung. Als bekannt
wurde, dass Alwin gefallen war, hätte dessen Erbe unter den verbliebenen
Geschwistern aufgeteilt werden sollen. Doch der Sepp
lieh sich kurzerhand Ross und Wagen, um das gesamte Erbe abzuholen
– ohne vorher mit den anderen Geschwistern gesprochen zu
haben. Vom Teilen war auch später keine Rede mehr. Das trübte
das Verhältnis zum Sepp nachhaltig und der Kontakt mit ihm war
nur noch spärlich und frostig.
Mit Hans dagegen bestand lebenslang guter Kontakt. Er ist
auch auf die Gasenleitn gekommen, hatte ein Motorrad, war
freundlich und großzügig und hat für die Kinder immer kleine
Geschenke mitgebracht.
Der Gasenleiter wurde auf den Namen Karl getauft und seine Jugend
mag wohl schwierig und traurig gewesen sein.
Vom Waisenhaus kam er als Kleinkind zu den Pflegeeltern Raas
Seppl, wo es ihm dem Vernehmen nach gut gegangen war. Die
Familie, mit Schreibnamen Trinkl, hatte eine Schwester, die im
Kloster war, und so kam wohl die Vermittlung des kleinen Karl
zustande. Noch als Kind kam er von dort zum Almer, einem kleinen
Hof in Höhenlage über Anger. Zur Schule durfte er nur zeitweise
gehen, weil seine kindliche Arbeitskraft am Hof wichtiger
erschien als die Schulbildung des Waisenknaben. Schlafen musste
er in einer Kammer auf dem Dachboden des Hauses. Im Winter
trieben Eiseskälte und Wind den Schnee auf seine Liegestatt.
Wenn die Kälte unerträglich wurde, nahm ihn die gutherzige alte
Kinderfrau zu sich ins Bett.
Vom Almer kam er zum Buchberger, einem noch höher und
ganz einsam gelegenen Hof, den er in nicht guter Erinnerung behielt.
Die unerfreulichen Randbedingungen mögen der Grund
dafür gewesen sein. So kam er schließlich wieder zurück zum Almer,
wo seine Arbeitskraft geschätzt wurde. Allerdings traf ihn
auch dort einmal ein Streich des Schicksals: Dem Bauer war ein
Geldbetrag abhandengekommen und aller Verdacht lag auf ihm.
Auch unter den Schlägen beteuerte er immer wieder seine Unschuld.
Man glaubte ihm zwar nicht, doch seine Arbeitskraft war
geschätzt und gebraucht, so wurde er weiterhin auf dem Hof geduldet.
Eines Tages aber kam die Wahrheit ans Tageslicht: Der andere
auf dem Hof arbeitende Knecht hatte das Geld gestohlen. Die
Bauersleute bereuten ihr ungerechtes Handeln und gaben ihm genau
diesen Betrag als Wiedergutmachung.
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Zur Schule durfte er nur zeitweise gehen und auch keinen Beruf
lernen, sondern wurde von Bauer zu Bauer als kindlicher Hilfsarbeiter
weitergereicht. So lernte er auch nur recht und schlecht,
in der damals gebräuchlichen deutschen Schrift zu schreiben, und
auch später, als die lateinische Schrift eingeführt wurde, ist das
Schreiben nie seine Stärke geworden.
Umso beachtenswerter war sein Leben. Er arbeitete sich nach
oben und schließlich – er war mittlerweile bekannt für sein Können
und seinen Fleiß – sollte er noch einmal den Arbeitsplatz
wechseln: Als junger Mann wurde er Großknecht auf dem Betrieb
des Hofers (vulgo Harl-Bertl) im Naintschgraben-Edelschachen.
Dort war es auch, wo er seine künftige Frau Juliane kennenlernte.
Sie war die Tochter des Harl-Bertl und lebte glücklich mit
ihren Eltern und Geschwistern auf dem elterlichen Hof. Das Attentat
von Sarajewo war geschehen, der Kaiser Franz-Josef hatte
den Serben den Krieg erklärt und die Welt hatte begonnen zu
brennen. Nie gekannte Not war im Land, zunächst langsam,
dann immer schneller. Ihr Vater, der Harl-Bertl, war im Krieg
gefallen und die Mutter hatte einen anderen Mann, den Derler
Peter, geheiratet und mit ihm einen Sohn. So bekamen die Kinder
einen Stiefvater, der Julia aber, Gott sei Dank, sehr wohlgesonnen
war. Offenbar hat er sie auch an Kindes statt angenommen,
denn im Schulentlassungszeugnis der Volksschule Anger
vom 8. Februar 1927 wird sie als Derler Juliane bezeichnet. Sie
scheint auch keine schlechte Schülerin gewesen zu sein, denn von
zwölf Fächern waren bei zehn die Noten »sehr gut« und bei zwei
»gut« eingetragen.
Und dann, eines Tages, passierte es: Ihrem Bruder löste sich
beim Gewehrputzen ein Schuss aus dem Flobert und traf die danebenstehende
Juliane direkt in den Kopf. In der Kirche von
Anger betete die gesamte Gemeinde beim Gottesdienst für ihr Leben
und ihre Gesundung. Ein erster Operationsversuch im Krankenhaus
musste aufgegeben werden, saß doch die Kugel zu tief an
einer nicht erreichbaren Stelle. Man setzte eine Platte in ihren
Schädel ein und wie durch ein Wunder überlebte sie. Sie behielt
die Kugel im Kopf und wurde wieder gesund. Alles, was man ihr
anmerkte, war die Narbe am Kopf und dass sie keinen Lärm vertragen
konnte, und auch viele Menschen um sich herum war nicht
das, was sie mochte. Manche meinten, sie wäre ein wenig sonderbar.
Aber vielleicht war sie auch nicht sonderbarer als manch anderer
ohne eine Kugel im Kopf.
Aus ihrer Bekanntschaft zu Karl, dem Großknecht auf dem elterlichen
Hof, wurde eine Beziehung und aus der Beziehung entstand
1934 ein erstes Kind, die Christl, welche die beiden zunächst
ledig hatten; erst vier Jahre später, am 30. Juli 1938,
konnten sie schließlich heiraten.
Er, der Karl, arbeitete wie schon vor der Hochzeit beim Gasthaus
Hutter in Birkfeld als Hausknecht und verrichtete in seiner
übrigen Zeit bei verschiedenen Bauern der Umgebung allerlei
Hilfsdienste.
Birkfeld, das war einer der wenigen größeren Orte des Jogllandes,
mit Bahnstation, Geschäften, Handwerk und vielen Landwirtschaften.
Darüber hinaus war Birkfeld das Zentrum des steirischen
Weberhandwerks und Sitz der steirischen Weberzunft.
Durch Zufall hatten die beiden erfahren, dass außerhalb von
Birkfeld ein kleines Haus mit einer noch kleineren Landwirtschaft,
tief im Wald versteckt und allein auf einem Hang gelegen,
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genannt »die obere Gasenleitn«, verkauft werden sollte. Der hilfreiche
Stiefvater von Juliane ermöglichte den beiden, dieses am
17. Juli 1938, genau zwei Wochen vor ihrer Hochzeit, zu erwerben,
und so wurde Karl der nächste Gasenleiter. Es war eine
schwere Zeit damals und der Kaufvertrag, den die Verkäufer mit
ihnen schlossen, war ziemlich hart.
Denn schon viele vor ihnen hatten die Gasenleitn in den früheren
Jahren gekauft, konnten sich aber alle dort nicht halten. Der
Kaufvertrag sah zwei Drittel des Kaufpreises als Anzahlung vor,
der Rest war noch innerhalb des gleichen Jahres zu zahlen. Konnte
der Käufer die Restzahlung nicht leisten, so lautete der Vertrag,
musste er wieder ausziehen, die bereits geleistete Anzahlung aber
war verfallen.
Das kleine, vollkommen alleinliegende Haus und auch der kleine
landwirtschaftliche Grund waren beide fürwahr keine
Schmuckstücke, sondern eine leibhaftige Herausforderung. Die
vielen Besitzer vor ihnen hatten hier ihr Glück versucht, waren
aber alle an den schwierigen Gegebenheiten gescheitert.
Das alte Haus mit Stall, in Winkelform gebaut, lag am oberen
Teil einer Waldlichtung, die steil zum Bach hinunter abfiel. Es
konnte nur zu Fuß oder mit einem Esel und Ziehkarren, »Goarn«
genannt, über den schmalen, vom Regen ausgewaschenen Hohlweg,
der durch den tiefen Grafenwald steil nach unten führte, erreicht
werden. Der nächste Nachbar, die »untere Gasenleitn«, lag
ganz unten am Bach und war nur über den jetzt noch steiler und
schmaler werdenden Fußpfad bergab zu erreichen.
Das Haus war ein altes, aus mit dem Breitbeil geradegehackten
Baumstämmen aufgezimmertes Gebäude mit nur zwei Räumen –
Stube und Küche – das viel Handwerks- und Reparaturarbeit verlangte.
Drei ausgetretene Stufen aus wuchtigen Feldsteinen führten
zu der niedrigen Haustüre. Gleich rechts hinter der Haustüre
war die schmale und steile Stiege hinauf in den Dachboden. Die
Rückseite, der Stall für die Kuh und die Hühner, war in den Hang
hineingebaut. Das Haus war herzurichten, angefangen bei den
Mauern, über den Kamin bis hin zum Dach. Dieses war auf der
südlichen Seite mit Stroh, auf der Nordseite mit Brettern gedeckt,
die an vielen Stellen dem Regen Einlass gewährten.
Im rechten Winkel an das Haus gebaut, stand das Quergebäude
mit dem Eingang zu Stall und Streuhütte. Die Wände des Quergebäudes
waren nicht gemauert, sondern aus aufeinandergelegten
und mit Erde zusammengefügten Feldsteinen.
Wiederum im rechten Winkel dazu, aber nach hinten zurückgesetzt
und in den Hang hineingebaut, schloss sich ein noch kleineres,
marodes Nebengebäude mit einem Erdkeller und einem
einzigen Zimmer und einer Kammer darüber an.
Wasser am Haus gab es keines. Die Quelle lag den halben Weg
die Leitn hinunter zum Bach. Das Wasser für die Kuh und die
Familie trug er, der Gasenleiter, von nun an täglich von der Quelle
den steilen Hang nach oben. Auf dem Rücken die schwere, hölzerne
Wasserbütte, an den Schuhen manchmal Steigeisen, um die
gnadenlose Steigung des Hanges jeden Tag von Neuem zu überwinden.
Der gesamte Hang, die Wiese und der kleine Acker waren
übersät mit großen und kleinen Steinen, die alle zur südlichen
oder nördlichen Waldgrenze getragen und dort vom Weg ganz
oben bis hinab zum Bach als Wall aufgeschüttet wurden. Der ganze
Grund war extrem steil und eingerahmt von den hohen Bäumen
des Waldes, welche Schatten warfen und damit den Aufwuchs
auf der Wiese behinderten.
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