Ansteckendes Wesen
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140 A &W 2/09<br />
Pieke Bergmans schafft Objekte,<br />
die wirken, als seien sie von einem<br />
Virus befallen oder selbst eines.<br />
Die Vase braucht den Stuhl als Wirt,<br />
ein Stapel Schalen wird zur Vase.<br />
<strong>Ansteckendes</strong> <strong>Wesen</strong><br />
TEXT Jan van Rossem FOTOS Christian Grund<br />
Die Kreationen der jungen niederländischen Designerin Pieke Bergmans sind<br />
spontan, ungebändigt, einnehmend. Kaum möglich, von ihnen nicht infiziert zu werden.<br />
0/00 A &W 141
Alles ist infiziert: Der Lichtschein<br />
der Leuchte wurde materialisiert. Der<br />
Lichtkegel ist eine riesige Glühlampe.<br />
Der Spiegel, wie ein riesiges Bazillus,<br />
scheint wild zu wuchern.<br />
2/09 A &W 143
Manches ist, wie es scheint: Die<br />
blauen Regalelemente aus Kunststoff<br />
wurden an den Ecken gebogen und<br />
geschmolzen, um zu zeigen, dass sie<br />
tatsächlich gebacken wurden.<br />
Bergmans’ Sketchbook; eine Vase wird<br />
einem goldenen Designregal angepasst;<br />
vier Varianten der Leuchtenserie<br />
„Light Blub“ und ein erstes Modell für<br />
die „Reunion Vase“ aus Tassen.<br />
2/09 A &W 145
E<br />
in Virus geht um in Europa. Und<br />
es gibt kein Entrinnen. In Amsterdam<br />
wurde er entdeckt. Schnell<br />
breitete er sich aus, infizierte Mailand,<br />
London und jetzt auch Deutschland.<br />
Aber keine Angst: Die Viren erzeugen<br />
keine Krankheit und legen auch nicht<br />
den Computer lahm. Mit dem „Design<br />
Virus“ infiziert die 30-jährige Holländerin<br />
Pieke Bergmans allenfalls die Szene.<br />
Sie schafft erregende Objekte – aufsehenerregende.<br />
Zum Beispiel ihre Vasen<br />
aus der Serie „Crystal Virus“.<br />
Unruhig wie ein Tiger im Käfig läuft<br />
Pieke Bergmans in der Glasbläserei der<br />
Firma Royal Leerdam Crystal auf und ab.<br />
In der Ecke stehen zwei leere Pakete von<br />
der Designgalerie Dilmos in Mailand.<br />
Der Inhalt: ein goldfarbenes Regal in<br />
zwei Teilen. Beide stehen dicht an der<br />
Rampe, auf der vier Öfen um die Wette<br />
fauchen. In wenigen Minuten geht’s los.<br />
Der Auftrag: Schmelzende Glasvasen<br />
sollen von den Regalböden herunterfließen.<br />
Und im Fluss erstarren. Als<br />
wären sie von Salvador Dalí, dem<br />
großen Surrealisten. Das Problem:<br />
Pieke Bergmans hat für die Objekte nur<br />
jeweils einen Versuch, weil Regal und<br />
Glas wie Wirt und Parasit aufeinander<br />
reagieren. Genauer gesagt: Der Glasbläser<br />
und sein Gehilfe haben nur einen<br />
Versuch. Und es kann eine Menge schiefgehen.<br />
„Eigentlich alles“, sagt Pieke und<br />
lacht, um ihre Nervosität zu überspielen.<br />
„Das beschichtete Regal kann Feuer fangen,<br />
wenn das heiße Glas aufgesetzt wird.<br />
Das Glas kann sich anders als gewünscht<br />
verformen, und wenn man denkt, alles<br />
sei perfekt, im Kühlraum springen.“<br />
In der Halle dampft, zischt und brodelt<br />
es, Funken sprühen. Der glühende<br />
Klumpen Glas am Ende des eineinhalb<br />
Meter langen Blasrohrs sieht aus wie eine<br />
Mischung aus Zuckerwatte und kandierter<br />
Ananas. Er wird zu einer gewaltigen<br />
Blase aufgepustet und noch im zähflüssigen<br />
Zustand auf das Brett des goldenen<br />
Designregals gedrückt.<br />
Die heiße Masse brennt sich durch<br />
die Beschichtung ins Holz, läuft träge<br />
über den Rand des Brettes und erstarrt<br />
dann in einem unentschlossenen Zustand<br />
zwischen selbstbewusstem Auftritt<br />
und drohendem Absturz: Halb steht<br />
die Vase im Regal, halb gibt sie sich der<br />
Schwerkraft hin. Pieke applaudiert.<br />
Auf die Idee mit den fließenden Vasen<br />
ist sie gekommen, als sie den Glasbläsern<br />
das erste Mal bei ihrer Arbeit zugesehen<br />
146 A &W 2/09<br />
hat. „Das war aufregend, aber ich war<br />
sehr enttäuscht, als dieses lebendige fließende<br />
Glas in so eine langweilige Form<br />
gepresst wurde. Es wirkte wie tot.“ Pieke<br />
beschloss, ihm neues Leben einzuhauchen.<br />
Sie infizierte die Rohmasse mit<br />
Kreativität. Sie war der Virus.<br />
Pieke Bergmans streift ihr schulterlanges,<br />
kupferrot gefärbtes Haar aus<br />
dem Gesicht, in dem die zinnoberrot geschminkten<br />
Lippen die Aufmerksamkeit<br />
auf sich lenken. Mund und Frisur setzen<br />
sich deutlich vom Rest des Outfits ab: Zu<br />
grauen Stiefeln trägt sie ein mausgraues<br />
Kittelkleid. Unprätentiös, aber nicht unmodisch.<br />
Wie ein Virus sieht sie eigentlich<br />
nicht aus. Obwohl: In manchen<br />
Situationen scheint sie etwas Koboldhaftes<br />
in ihrem <strong>Wesen</strong> zu haben, und ihr<br />
roter Haarschopf forciert Assoziationen<br />
zu Phantasiefiguren wie Pumuckl und<br />
Karius, dem Kinderbuch-Quälgeist, der<br />
gemeinsam mit Baktus die Zähne seines<br />
Wirts bearbeitet und verändert.<br />
Das Titelblatt von Pieke Bergmans’<br />
Sketchbook, das sie schon in<br />
ihrer Studienzeit in London begonnen<br />
hat, mit einer Aufforderung an<br />
sich, immer fleißig zu sein. Ist sie.<br />
Bei Pieke Bergmans sieht das so aus:<br />
An einer alten, abgenutzten Tischplatte<br />
klemmt eine alte, abgenutzte Arbeitsleuchte.<br />
Ihr Lichtkegel fällt auf den Tisch,<br />
aber irgendetwas stimmt nicht. Zu klar<br />
sind seine Konturen, auf den zweiten<br />
Blick erinnert er auch eher an einen<br />
dicken behäbigen Tropfen, der aus dem<br />
Lampenschirm platscht und auf der<br />
Tischplatte zergeht. Das ist ein äußerst<br />
virtuoses Spiel mit eigentlich Unvereinbarem:<br />
Pieke Bergmans materialisiert<br />
das Immaterielle, den Lichtschein, sie<br />
gibt dem Unendlichen eine begrenzte<br />
Form. Mit ihrem Design dringt sie weit<br />
in den Bereich der Kunst vor. Mit ihren<br />
Preisen und Auflagen auch. Das hat<br />
seinen Grund: In dem Lichtkegel steckt<br />
innovative Technik von Osram. „LEDs,<br />
die warmes Licht erzeugen können“, verrät<br />
Pieke. „So neu, die sind noch gar<br />
nicht auf dem Markt.“ Aber nicht nur<br />
deshalb kosten Versionen der „Table<br />
Blub“ zwischen 7000 und 9000 Euro.<br />
Es gibt auch nur fünf Stück davon.<br />
Dass ihre Arbeiten unverdächtig sind,<br />
einfach nur kleine schnelle Gags zu sein,<br />
belegt die Ausbildung, die Bergmans genossen<br />
hat. Einem Grafikdesign-Studium<br />
an der Academy of Arts St. Joost in Breda<br />
folgte ein Studium an der HKA-Art<br />
School Arnhem (3-D-Design), dann schrieb<br />
sie sich beim Industriedesign-Studiengang<br />
an der Design Academy Eindhoven<br />
ein und rundete das Ganze ab mit einem<br />
Master-Studiengang Produktdesign am<br />
Royal College of Art, London. Als sie ein<br />
Motto für ihre Abschlussarbeit am RCA<br />
suchte, kam ihr die Idee mit dem „Design<br />
Virus“. Wie ein sich multiplizierender<br />
Erreger sollten ihre Objekte<br />
sein: organisch, manipulativ – und ein<br />
bisschen anarchisch. So wie ihre neuesten<br />
Ideen, an denen sie in ihrem kleinen<br />
Amsterdamer Studio mitten im berühmten<br />
Rotlichtviertel experimentiert.<br />
Da werden die klassischen, rot-weiß karierten<br />
Geschirrtücher infiziert. Sie haben<br />
eingewebte Fehler: Die kleinen Quadrate<br />
verschieben und verzerren sich,<br />
tanzen unmotiviert aus der Reihe. „Error“<br />
soll die Serie heißen.<br />
Pieke Bergmans genießt den Schabernack,<br />
den sie mit ihren hilflosen Objekten<br />
treibt. Aus welchem Material die<br />
sind, ist ihr dabei ziemlich egal. Hauptsache,<br />
sie lassen sich leicht verformen:<br />
Glas, Stoff, Porzellan, aber auch Kunststoffe<br />
treibt sie gern in die Welt der Irrationalität.<br />
Sicher kann man sich nie sein:<br />
Bei einem Projekt für Rosenthal stapelte<br />
sie Müslischalen, um diesen schiefen<br />
Turm als Form für die „Reunion Vase“<br />
zu nutzen. Die den Betrachter täuscht:<br />
Denn sie sieht immer noch aus wie lässig<br />
aufeinandergestapelte Schälchen.<br />
Ihre Objekte erheben nicht den Anspruch,<br />
im klassischen Sinne funktional<br />
zu sein, vor allem dürfen sie nicht zu<br />
perfekt sein – und niemals sind zwei<br />
identisch. „Es gibt ja auch nicht zwei<br />
gleiche Menschen.“<br />
Mehr im Register ab Seite 164