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Als ich den Auftag übernahm, zu diesem Pilz-Symposium einen ...

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Mathias Greffrath – Montaigne, <strong>Pilz</strong>, Beckett 9/10<br />

torischen Spirale. Phasen der innere Leere, der bewegten Gle<strong>ich</strong>gültigkeit – <strong>Pilz</strong>ens<br />

Reise durch die Salons Deutschlands und Italiens, auf der er die Orte der Revolution<br />

von 1848 systematisch meidet – wer<strong>den</strong> punktiert durch solche, in <strong>den</strong>en er noch<br />

einmal die Kraft <strong>zu</strong>r Zerstörung findet: s<strong>einen</strong> negierende Energie r<strong>ich</strong>tet s<strong>ich</strong> nun<br />

auschließl<strong>ich</strong> auf romantische Komponisten, deren Schaffen s<strong>einen</strong> eingekapselten<br />

Schmerz am stärksten bedroht.<br />

Nach Schumanns Verstummen ist auch <strong>Pilz</strong> ausgebrannt, geht er <strong>zu</strong>rück nach Paris,<br />

wo die Kulturindustrie haussiert. Er maskiert s<strong>ich</strong> als Dandy, als Gle<strong>ich</strong>gültiger, legt<br />

lange Tangenten an die leeren Wirbel einer <strong>zu</strong>nehmend desillusionierten Gesellschaft.<br />

„Geh ruhig weiter, es ist doch egal, wo du d<strong>ich</strong> langweilst“ – mit <strong>diesem</strong> Satz<br />

(hatte er ihn Baudelaire gestohlen?) gab er, wo n<strong>ich</strong>t dem Second Empire, so doch<br />

einer Saison ihre Parole. Ein durchgere<strong>ich</strong>ter Charakter unter anderen, ein we<strong>ich</strong>es<br />

Ges<strong>ich</strong>t, mit hängen<strong>den</strong> Backen, <strong>zu</strong>sammengehalten vom Kummerbund, ein Rentier,<br />

dem der Genuss versagt war, ohne Begehren und <strong>zu</strong>nehmend ohne Lust auf auch<br />

nur die kleinste Zerstörung, ein Schnüffler an verwelkten Blumen, der nun am Ende<br />

der Meinung war, die Aleatorik der Marktmo<strong>den</strong> werde effektiver und dauerhafter<br />

wirken als die Arbeit an der Destruktion einzelnen Schaffens. Die beschleunigte industrielle<br />

Massenproduktion entauratisierter Derivate werde die quasi handwerkl<strong>ich</strong>e<br />

Entmutigung von Sinnproduktion obsolet wer<strong>den</strong> lassen. Und er, <strong>Pilz</strong>, so ein letztes<br />

Aufbäumen, wollte diesen Prozess noch einmal beschleunigen.<br />

Deshalb wohl, und weil das elterl<strong>ich</strong>e Erbe aufgebraucht war, trat er in die Dienste<br />

des Verlegers Duverger, der eine in hohen Auflagen gedruckte Sammlung von illustrierten<br />

und sentimental und dramatisch überhöhten Versionen der Klassiker vorbereitete.<br />

Es ist kein Vertrag auffindbar, aber die Abendgesellschaft, auf der <strong>Pilz</strong> seine gekürzte<br />

Phaedra-Bearbeitung vortrug, fand im Hause Durvergers statt – merkwürdig,<br />

dass das keinem der <strong>Pilz</strong>-Forscher aufgefallen ist. Und hier nun brach die frühe, verkrustete<br />

Wunde dramatisch auf. <strong>Pilz</strong>ens Stre<strong>ich</strong>ungen, vor allem aber seine Kon<strong>den</strong>sierung<br />

des Stoffes spr<strong>ich</strong>t eine deutl<strong>ich</strong>e Sprache: Hippolytes Geliebte taucht gar<br />

n<strong>ich</strong>t auf, die Szene, in der wir erfahren, dass es s<strong>ich</strong> bei Phaedra um die zweite Frau<br />

des Theseus handelt, ist gestr<strong>ich</strong>en, die Amme uind Aricia ebenso, und das „Stück“,<br />

falls man bei einem Einakter von neun Kleinoktavseiten noch von einem solchen re<strong>den</strong><br />

kann, endet in einer dramaturgisch unmotivierten Umarmung von Phaedra und<br />

Hippolyte, die von einem entgeistert durch die Tür treten<strong>den</strong> Theseus überrascht<br />

wer<strong>den</strong>, der s<strong>ich</strong>, kaum hat er die in missverstan<strong>den</strong>em Inzest s<strong>ich</strong> Lieben<strong>den</strong> erblickt,<br />

mit <strong>den</strong> Worten „Na dann, macht's gut, Kinder“ wieder geht. Eine gänzl<strong>ich</strong> ambivalenzfreie,<br />

insofern utopische Wunscherfüllung in einem Klartext, dessen symbolische<br />

Überformungen <strong>Pilz</strong> vier Jahrzehnte lang auch in s<strong>einen</strong> subtilsten Manifestationen in<br />

Kunstwerken aller Art aufspürte und <strong>zu</strong> vern<strong>ich</strong>ten suchte. Und nun die Wunscherfüllung<br />

in ihrer nackten Banalität, mögl<strong>ich</strong> gewor<strong>den</strong> n<strong>ich</strong>t durch Selbsterkundung oder<br />

Seinsvertiefung, durch die Umfangszwänge illustrierter Klassiker, die nur mehr begrenzten<br />

Raum für Graumasse lassen. Ist es – und mit dieser Spekulation will <strong>ich</strong> Sie<br />

entlassen – ist es vermessen, an<strong>zu</strong>nehmen, dass es die Massivität dieses nun <strong>zu</strong>gelassenen<br />

Verschmel<strong>zu</strong>ngswunsches war, die in <strong>Pilz</strong> die Urszene aufsteigen ließ und in<br />

Verbindung mit der unabweisbaren Erkenntnis seines verfehlten Lebenszwecks s<strong>einen</strong><br />

Zusammenbruch provozierte?<br />

Was also bleibt von <strong>Pilz</strong>, wenn allein die N<strong>ich</strong>tentdeckung der ödipalen Katastrophe<br />

in seiner Persönl<strong>ich</strong>keit der Grund für seine Stilisierung durch Kulturkritik und Komparatistik<br />

<strong>zu</strong>m ebenso kenntnisre<strong>ich</strong>en wie bakuninistischen Kunstbekämpfer erst mögl<strong>ich</strong><br />

Einstein Forum, <strong>Symposium</strong> »2006 – ein <strong>Pilz</strong>jahr« Potsdam, 17.11.2006

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