HSW - Das Hochschulwesen
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H o c h s c h u l e n t w i c k l u n g / -p o l i t i k<br />
Was ist der Bildungsauftrag der Schule?<br />
Welche Abgrenzungen gibt es zwischen Schule<br />
und Hochschule?<br />
Interview mit der Leiterin der Laborschule Bielefeld<br />
(Versuchsschule des Landes NRW), Prof. Dr. Susanne Thurn<br />
1. Traditionelle und moderne gesellschaftliche<br />
Auffassung von Schule<br />
<strong>HSW</strong>: Im Zusammenhang mit der Reform der Studiengänge<br />
nach dem Bologna-Modell stellen sich neue Fragen nach<br />
der Abgrenzung der Aufträge von Schule und Hochschule.<br />
Was ist der Bildungsauftrag der Schule? Was macht Schule<br />
zur Schule, etwa im Gegensatz zur Hochschule? Vielleicht<br />
kann ich einfach zwei Zitate nennen: Ullrich Herrmann<br />
sagt: „Schule hat die Aufgabe zu helfen, dass die jungen<br />
Leute Wege in die Berufsausbildung und in das selbst verantwortete<br />
Leben finden lernen.“<br />
Holm Tetens hat – stärker auf Bildung bezogen - gesagt.<br />
„Bildung ist die an Wissen gebundene Befähigung von<br />
Menschen, in hinreichendem Maße, gemäß ihren Begabungen<br />
an der menschlichen Kultur in all ihren verschiedenen<br />
Ausprägungen teilzunehmen, sie mit zu tragen und sie mit<br />
und weiter zu gestalten.“<br />
S.T.: <strong>Das</strong> erste Zitat gefällt mir noch ein bisschen besser. Mir<br />
wäre viel wichtiger zu sagen, Bildung ist eigentlich Selbstbildung,<br />
nicht etwas, was die Schule schafft. Schule schafft<br />
nicht die Bildung eines Menschen. Sondern die Schule muss<br />
die Möglichkeiten bereitstellen, damit es jungen Menschen<br />
gelingen kann, sich selber zu bilden. <strong>Das</strong> ist eine andere<br />
Hinsicht. Wie stark Bildung an Wissen gebunden ist, das<br />
gleich im ersten Satz zu nennen … würde mir nicht einfallen.<br />
Ich denke, das Wissen ist sozusagen der Bildung dienlich,<br />
Bildung entsteht, indem ich, selber herausfinde, wo<br />
das Wissen ist, das ich brauche, um mich selber zu bilden.<br />
Deswegen denke ich, Schule ist so, wie sie oft verstanden<br />
wird, ganz falsch verstanden: Schule schafft Wissen, bringt<br />
Wissen an die Kinder heran; eines Tages (also immer als<br />
Aufschub für eine Zukunft, die vielleicht nie kommt) ist das<br />
Wissen angehäuft, das dann in der Hochschule verarbeitet<br />
wird. So war die frühere Vorstellung: man kann erst Geschichte<br />
verstehen, wenn man sich ganz viele Wissensinhalte<br />
einverleibt hat. Danach kommt der Verstehensprozess.<br />
<strong>Das</strong> ist eine Vorstellung von Schule und Bildung, die<br />
ich ganz entschieden ablehne. Es muss genau umgekehrt<br />
sein. Die Schule hat den Auftrag, die Unmenge von Wissen,<br />
die es heute gibt (die in den Köpfen der Kinder längst vorhanden<br />
ist durch Fernsehen, durch ungefilterte mediale Zugänge)<br />
strukturieren und bewerten zu helfen. Sie hat den<br />
Auftrag, den Kindern Ordnungsmuster in die Hand zu<br />
geben bzw. mit ihnen zu erarbeiten, wie sie dieses Wissen<br />
filtern können, wie sie es ordnen können, wie sie herausfinden,<br />
was davon fiktional und was real ist. Und wie sie ler-<br />
<strong>HSW</strong><br />
Susanne Thurn<br />
The conversion to a two-tier degree structure in line<br />
with the Bologna Declaration is making some of the<br />
borders between school and higher education rather<br />
fuzzy. An Interview with Prof. Dr. Susanne Thurn, head<br />
of the experimental Laborschule in Bielefeld, brings<br />
things back into focus by Clarifying the Education Task<br />
of the School—Starting With Elementary School. This is<br />
far less far-fetched than it may first appear. It shows<br />
that a modern school, that is, one working at the forefront<br />
of educational and didactic knowledge, addresses<br />
demands and goals when teaching 5-year-olds that are<br />
not met in some Bachelor courses and are often even<br />
postponed to Master courses. The interview clarifies<br />
the following questions: What must schools actually<br />
achieve – and what is the task of higher education?<br />
nen, nach dem Ordnen zu Werten, sich selber ihr Wissen in<br />
neuen Sinnzusammenhängen nutzbar zu machen. <strong>Das</strong> ist<br />
ein völlig anderer Auftrag als zu sagen: Bevor du nicht einen<br />
Fundus an Wissen hast, darfst Du gar nicht ans Denken<br />
und Urteilen herangehen. <strong>Das</strong> bedeutet, dass man dies<br />
auch vom ersten Tag an initiieren muss. Bei uns beginnt es<br />
bei den Fünfjährigen, wo uns zunächst das Wichtigste ist,<br />
sie soweit zu bringen, dass sie sich selbständig Dinge erarbeiten<br />
lernen, vom allerersten Tag an. Und dafür brauchen<br />
sie ganz viel Hilfe und ganz viel Begleitung, aber auch eher<br />
im Sinne von jemandem, der ihre Selbstbildungsprozesse<br />
(um ruhig das große Wort zu benutzen) moderiert und nicht<br />
das Wissen in sie eintrichtert. <strong>Das</strong> ist auch noch mal der andere<br />
Blick von Schule. Auch erlebe ich überall, wenn ich an<br />
andere Schulen komme (und ich komme ja viel rum), dass in<br />
der Grundschule das häufig verstanden worden ist und in<br />
den Gymnasien wieder verloren geht. In den Gymnasien<br />
herrscht häufig leider doch noch das vorgenannte Bild vor,<br />
das sieht man auch in dem Unterrichtsstil, zwangsläufig<br />
hängt das natürlich eng zusammen. In dem Moment, wo<br />
ich in einen Klassenraum komme und solche Klassenräume<br />
dann in der ganzen Schule sehe, wo die Bänke oder Tische<br />
hintereinander ausgerichtet sind auf die Tafel und den Sprecher<br />
vorne, weiß ich, was für ein Unterricht dort vorherrscht<br />
und was für eine Bildungsvorstellung dahinter steht.<br />
<strong>HSW</strong>: Nürnberger Trichter …<br />
S.T.: … Nürnberger Trichter - nach wie vor. <strong>Das</strong> ist in<br />
Deutschland offenbar ganz anders als in anderen Ländern,<br />
betonfest und ganz schwer aufzubrechen, weil das ganze<br />
System so funktioniert. <strong>Das</strong> ist ein in sich geschlossenes lo-<br />
2 <strong>HSW</strong> 1/2007