dialog-4-2015-dezember
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die welt<br />
Kinder auf der Flucht<br />
Foto: Paul Stajan<br />
das wort<br />
Kinderwünsche holen Sterne vom Himmel. Keine Realität bremst sie. Sie<br />
können sich noch vorstellen, dass alles ganz anders ist. Wir Erwachsenen<br />
schmunzeln – und beneiden sie.<br />
„Wenn du ein Kind siehst, hast du Gott auf frischer Tat ertappt“,<br />
meint Martin Luther.<br />
In der westlichen Welt bekommen immer weniger Kinder immer mehr<br />
Auf merksamkeit, mehr Spielzeug, Frühförderung, Entwicklung ihrer<br />
Begabungen angeboten. Und gleichzeitig beklagen wir, dass die Kindheit<br />
unserer Kinder immer früher zu Ende ist. Die Zeit, in der sie mit Puppen<br />
spielen können, Löcher in die Luft starren, Höhlen bauen, mit dem Skooter<br />
herumfahren, am Spielplatz toben dürfen. Ihre Fähigkeit, ganz im Hier und<br />
Jetzt zu leben, wird mit Blick auf die Zukunft, die sie uns sein sollen,<br />
beschnitten.<br />
Doch Kinder sind nicht unsere Zukunft, sondern unsere Gegenwart!<br />
„Wenn du ein Kind siehst, hast du Gott auf frischer Tat ertappt.“<br />
Gott ist Gegenwart, nicht irgendeine ferne Zukunft. Das feiern wir zu<br />
Weihnachten. Gott ist nicht ein Stern am Firmament, sondern ein Säugling<br />
in der Krippe. Ein Kind, mit der Fähigkeit zu lachen und zu weinen, sich<br />
große und kleine Dinge zu wünschen, mit den verunsichernden Fragen<br />
„aber warum?“<br />
Ja, warum habe ich das große Wünschen verlernt? Warum mich eingerichtet<br />
im kleinen Leben, wie es eben ist?<br />
Kinderwünsche holen Sterne vom Himmel. Ich beneide sie um diese Fähigkeit.<br />
Meine Wünsche sind klein geworden, handlich, gezähmt. Schade!<br />
Ich will die Sterne mit den kleinen und großen Wünschen der Kinder<br />
unseres Kindergartens am Kaiser Josef Platz bei mir aufhängen. Ich will<br />
mich von ihnen anstecken lassen und ganz unvernünftig meine kleinen<br />
und großen Wünsche dazu hängen. Mein Weihnachtsbaum soll ein<br />
Paradiesbaum werden, der die Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit<br />
erstrahlen lässt.<br />
•<br />
Pfarrerin Ulrike Frank-Schlamberger<br />
Gegen Ende des Sommers ging ein<br />
Foto um die Welt. Es zeigte einen<br />
zweijährigen Buben, auf dem Gesicht<br />
im Sand am Meeresufer liegend.<br />
Der Bub war tot; ertrunken<br />
auf der Flucht vor dem Krieg.<br />
Von den 60 Millionen Menschen,<br />
die weltweit auf der Flucht sind, ist<br />
fast die Hälfte jünger als 18 Jahre.<br />
Die Schicksale von Kindern zeigen<br />
die Brutalität und Tragik von Krieg<br />
und Flucht besonders eindringlich.<br />
Kinder werden von Bomben verletzt<br />
oder getötet, sie ertrinken auf der<br />
Flucht, leiden unter Alpträumen,<br />
trauern um Eltern und Geschwister.<br />
Manche von ihnen sind für ihr<br />
Leben traumatisiert.<br />
An den Kindern wird aber auch die<br />
positive Perspektive der Flucht deutlich:<br />
die Hoffnung auf ein neues,<br />
ein besseres Leben.<br />
Auch ein anderes Foto ging durch<br />
die Medien: ein syrisches Mädchen<br />
mit strahlenden Augen, das durch<br />
eine Wasserwand lief, mit der die<br />
Feuerwehr in einer Vorarlberger<br />
Gemeinde den Flüchtlingen die<br />
Hitze erträglicher gestaltete. Und da<br />
waren die Fotos von dem Baby, das<br />
auf einem ungarischen Bahnhof zur<br />
Welt kam, oder von zwei Buben, die<br />
voller Begeisterung und Staunen<br />
Seifenblasen machten inmitten des<br />
ganzen Chaos.<br />
Kinder haben die Gabe, den<br />
Augenblick zu genießen, trotz des<br />
Schreckens, dem sie gerade entkommen<br />
sind. Für sie ist es aber<br />
auch besonders wichtig, mit liebevoller<br />
Unterstützung in ihr neues<br />
Leben zu starten.<br />
•<br />
Tja, wenn du ein Kind siehst …<br />
Rückgängige Geburtenraten werden<br />
allenthalben beklagt. Aber wenn<br />
Kinder wirklich bemerkbar sind,<br />
hört sich der Spaß auf. Ein Hotel<br />
wirbt damit, garantiert kinder-frei<br />
zu sein – schließlich soll das Wellnesswochenende<br />
nicht durch Kinderlärm<br />
gestört werden. Klagen gegen<br />
die Errichtung eines Kin dergartens<br />
– die Nachbarschaft hat sich<br />
die fußnote<br />
von kurator<br />
heinz<br />
schubert<br />
Foto: Gentile<br />
einen ruhigen Lebensabend schließlich<br />
hart erarbeitet. Böse Blicke in<br />
der Tram, wenn Eltern mit dem<br />
Kinderwagen einsteigen – ist eh<br />
schon zu wenig Platz. Ja, vor ein<br />
paar Jahren sogar ein Schuss auf<br />
spielende Kinder in einer Wohnsiedlung<br />
...<br />
Alles Extrembeispiele, aber habe<br />
nicht auch ich schon weinende<br />
Babys und zappelnde Knirpse im<br />
Gottesdienst mit unwirschem Blick<br />
quittiert?<br />
Denken wir daran, wenn das nächste<br />
Mal eine Familie den Gottesdienst<br />
besucht:<br />
In einem unruhigen kleinen Menschen<br />
könnten wir ja wirklich Gott<br />
ertappen!<br />
•<br />
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<strong>dialog</strong> <strong>dezember</strong> <strong>2015</strong> - nr. 163 3