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Interview-Lorent-Saleh

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<strong>Interview</strong> - <strong>Lorent</strong> <strong>Saleh</strong><br />

Vier Jahre lang vom Chavismus gefangen und gefoltert: ,,Sie<br />

haben versucht, all meine Gefühle auszulöschen.”<br />

<strong>Interview</strong> vom 28. Okt. 2018 aus:<br />

https://www.elmundo.es/internacional/2018/10/28/5bd493da268e3eac7f8b45e2.html<br />

Übersetzung aus dem Spanischen: Victoria Neubert, 29.01.19<br />

<strong>Lorent</strong> <strong>Saleh</strong>, Einzelkind einer bescheiden lebenden und alleinstehenden<br />

Mutter mit pakistanischem Hintergrund, begann sich mit 20 Jahren als<br />

Aktivist für Menschenrechte in seinem Land, Venezuela, einzusetzen. Der<br />

Chavismo, die Ideologie des ehemaligen venezolanischen Präsidenten<br />

Hugo Chávez, hat ihn vier Jahre lang eingesperrt und gefoltert, bis er am<br />

12. Oktober 2018 freigelassen und nach Spanien gebracht wurde. 2017<br />

erhielt er vom Europäischen Parlament den Sacharow-Preis für geistige<br />

Freiheit. Dies ist sein erstes <strong>Interview</strong>, das er als wieder freier Mensch gibt.<br />

Der Venezolaner <strong>Lorent</strong> <strong>Saleh</strong>, während des <strong>Interview</strong>s in Madrid. ANTONIO HEREDIA<br />

Frage: Sie sind vier Jahre lang in Venezuela gefangen gewesen. Mehr<br />

als die Hälfte der Zeit verbrachten Sie an einem unheimlichen Ort,<br />

den man ,,La Tumba” - ,,Das Grab” nennt. Was ist ,,La Tumba”?<br />

Antwort.- ,,La Tumba” ist ein Ort der Folter. Es liegt fünf Ebenen unter<br />

der Erde, in einem Gebäude bei der Plaza Venezuela im Zentrum von


Caracas. Dort befindet sich der Hauptsitz des Bolivarianischen<br />

Geheimdienst, dem ,,Bolivarianischen Dienst der Nationalen Intelligenz”<br />

(SEBIN). Es ist ein Ort, der für einen sehr speziellen Einsatz der Folter<br />

geschaffen wurde. Ein hochentwickelter und moderner Ort.<br />

Frage.-<br />

Modern?<br />

Antwort.- Sehr modern. Die Menschen wissen davon nichts. Man kennt<br />

nur die Fotos des ,,El Helicoide” - ,,Der Helikopter”, das andere große<br />

Zentrum der Folter des chavistischen Regimes.<br />

Frage.-<br />

Ein hochentwickelter Ort.<br />

Antwort.- ,,El Helicoide” ist das Kreolische, der Knüppel, die gebrochene<br />

Rippe, der Baseballschläger. Es ist die Fortsetzung des Niedergangs von<br />

1<br />

dem, was einst die Vierte Republik Venezuelas war. Es stimmt, das<br />

Gebäude ist alt und sein Inneres ist schäbig. Die Institution ist die gleiche,<br />

doch die Ästhetik und Methoden sind andere. ,,La Tumba” steht für<br />

Technologie und die Folter funktioniert psychologisch. Alles glänzt. Alles ist<br />

sauber und weiß. Die Stille ist absolut; die Einsamkeit ist komplett. Es hat<br />

den Anschein einer Irrenanstalt aus der Zukunft. “El Helicoide” ist das<br />

Überfüllte, der üble Geruch, die Kakerlaken und Ratten. „La Tumba“ sind<br />

Spiegel, Kameras und weiße Wände. Aber man kann den Gestank des<br />

Fremden perfekt riechen.<br />

Frage.-<br />

Des kubanischen?<br />

Antwort.- Russisch-Kubanischen. Das ist nicht Venezuela. Der<br />

Venezolaner bricht Rippen. Aber er nimmt dir vor einem Verhör kein Blut<br />

ab, um dich zu schwächen. Er setzt dich nicht der kalten Folter aus.<br />

Frage.-<br />

Was ist die kalte Folter?<br />

<strong>Lorent</strong> <strong>Saleh</strong> macht eine lange Pause, während er einen Seitenblick auf seine<br />

Mutter wirft, die wenige Meter entfernt direkt neben dem Fenster sitzt. Er<br />

wartet, bis sie den Raum verlässt. Dann setzt er sich auf einen Stuhl, mit den<br />

Händen hinter dem Rücken verschränkt.<br />

1<br />

Chavez führte mit der ,,Bolivarischen Revolution” die sog. ,,Fünfte Bolivarianische Republik<br />

Venezuelas” ein


Antwort.-<br />

Würden Sie sagen, dass ich wie ein Gefolterter aussehe?<br />

Frage.-<br />

Nein…<br />

Antwort.- Man hat so von mir ein Foto gemacht. Jeder hätte gesagt: „Es<br />

sieht doch gar nicht so schlimm aus, <strong>Lorent</strong>“. Aber was geschieht nach 12<br />

Stunden in dieser Position, mit verbundenen Händen und einem grellen<br />

weißen Licht, das einem ins Gesicht blendet? Und nach 24 Stunden? Und<br />

nach einer Woche? Entkräftet. Zerstört. In seinen eigenen Ausscheidungen<br />

stehend. Die Mechanismen des Schutzes und die Garantien der<br />

Menschenrechte haben sich in den vergangenen 70 Jahren<br />

weiterentwickelt. Allerdings nicht so sehr, wie die Methoden der Folter.<br />

<strong>Lorent</strong> steht auf. Er hebt einen Arm auf Schulterhöhe und stützt sich auf ein<br />

Regal, als ob er daran gebunden wäre.<br />

Antwort.- So festgebunden zu sein. Jede Stunde Wassergüsse über den<br />

Körper aushalten zu müssen. Das weiße Licht, immer weiß… Danach die<br />

Stromschläge…. Die Hiebe. Sie umwickeln dir die Gelenke mit Klebeband -<br />

sie nutzen Zeitungspapier mit Packband - damit die Fesseln keine Spuren<br />

hinterlassen. Das gleiche am Kopf. So war es in meinem Fall. Sie haben<br />

sich sorgfältig darum bemüht, keine Spuren zu hinterlassen. Sie haben<br />

Alternativen zur Gewalt mit Schlagstöcken gesucht, denn das hätte ihnen<br />

nicht genützt. Anderen Gefangenen hingegen haben sie direkt die Rippen<br />

gebrochen und sie sterben lassen.<br />

Frage.- Man hat Sie aus Kolumbien in die ,,Tumba” geführt.<br />

Ex-Präsident Santos hat in einem <strong>Interview</strong> mit El Mundo bestätigt,<br />

dass es sich um eine legale Auslieferung gehandelt hat.<br />

Antwort.- Juan Manuel Santos, Friedensnobelpreisträger, hat mich nach<br />

einer Vereinbarung mit Maduro entführt und mich ausgehändigt.<br />

Frage.-<br />

Warum?<br />

Antwort.- Erstens, weil ich seine Komplizenschaft mit der Diktatur seit<br />

langem angeprangert hatte. Santos persönliches Projekt - die<br />

Vereinbarung mit der FARC und dem Nobelpreis - kollidierte mit der<br />

Demokratie in Venezuela. Santo war auf die Zufriedenstellung Maduros<br />

angewiesen, der ihn mittels der Guerilla erpresst hatte. Die FARC, die ELN


und die narco-terroristischen Gruppen, mit denen Santos eine<br />

Vereinbarung suchte, sind Teil des venezolanischen Regimes. Maduro<br />

hatte die Macht, den Friedensprozess zum Erliegen zu bringen. Zweitens<br />

hatte ich schon seit einiger Zeit an einer für Santos unbequemen<br />

Angelegenheit gearbeitet: Die Verschleierung von den Opfern der FARC.<br />

Während des Friedensprozesses sprach niemand über die Ermordeten,<br />

die Entführten, die Verschwundenen. Meine NGO allerdings schon. Diese<br />

beiden Tatsachen führten dazu, dass mich Santos an Venezuela übergab.<br />

Es war keine Auslieferung oder Deportation. Es gab nie einen Haftbefehl<br />

von Seiten des venezolanischen Gerichts oder eine Anfrage von Interpol.<br />

Nie wurde ich von einem kolumbianischen Gericht vorgeladen. Nie wurde<br />

ein Staatsanwalt eingeschalten. Ich durfte mich nicht verteidigen. Santos<br />

hat mich entführt, wissend, was mir bevorstehen würde.<br />

Frage.-<br />

Sie haben Sie in die ,,Tumba” gebracht.<br />

Antwort.- Als ich ankam, wurde ich entkleidet. Sie fotografierten mich.<br />

Sie haben mich rasiert. Sie haben mich in einen khaki-farbenen Anzug<br />

gesteckt. Dann gingen wir an Türen vorbei. Dicke Türen. Gepanzerte. Bis<br />

wir an einem mit Spiegel und Kamera bedeckten Raum ankamen. Alles<br />

war sauber, makellos. Ich habe die Macht gespürt. Absolut. Totalitär. Wir<br />

durchquerten zwei enge Gänge. Türen und noch mehr Türen. Plötzlich<br />

hörte ich Lärm, wie von einer Turbine. Dekompression. Und dann noch<br />

eine Tür. Sie öffneten sie. Und wir gingen hinein. Es sah aus wie der<br />

Kühlraum eines Schlachthauses. Es gab nur sieben Zellen. Alle waren leer.<br />

Sie steckten mich in eine davon und schlossen die Gittertür. Ich sah mich<br />

um. Die Zelle war klein, zwei mal drei Meter. An der Decke befand sich<br />

eine Kamera, die all meinen Bewegungen folgte. Eine Klingel. Eine<br />

Matratze auf einer Zementplatte. Und zwei Töpfe. Einer zum<br />

Wassertrinken und einer zum urinieren. Ich dachte: Ohhhhh…<br />

Frage.-<br />

Oh…<br />

Antwort.- Das Gefühl, vom Staat in seinem größten Ausdruck von<br />

Gewalt und Terror niedergedrückt worden zu sein. Wörtlich und bildlich.<br />

Ich hörte das Geräusch der Metro über mir. Ich dachte an all die Leute, an<br />

all die, mehr oder weniger, besorgt Reisenden. Ich sagte mir selber:<br />

,,Keiner von ihnen weiß, dass ich hier bin, unten, begraben in einem<br />

weißen Sarkophag”. Und auch: ,,Ich werde niemals lebend aus diesem<br />

Loch herauskommen.” An so einem Ort ist es nicht einmal mehr nötig,<br />

dich mit dem Finger anzurühren. Du wünscht dir, dass sie dich schlagen.


Frage.-<br />

Sie haben sich gewünscht, geschlagen zu werden?<br />

Antwort.- ​Einen Moment. Ich muss das noch zu Ende erklären. Die Kälte.<br />

Eisig​. ​Das wenden sie an, um dich klein zu machen. Damit du dich nicht<br />

bewegen kannst. Um dich auf ein Blatt Papier zu reduzieren. Um dich zu<br />

erniedrigen. Damit du weißt, dass das Individuum, also du, nichts wert ist.<br />

Damit du, egal wie sehr du dich darauf vorbereitet hast, und die<br />

venezolanischen Menschenrechtsaktivisten haben sich auf darauf<br />

vorbereitet, untergehst. Ich fing an zu weinen.<br />

Frage.- Wie überlebt ein Mensch zwei Jahre unter diesen<br />

Bedingungen?<br />

<strong>Lorent</strong> hebt ein Bein und stampft zwei, drei, viermal auf den Boden.<br />

Antwort.- Das ist, was sie tun: Sie treten dich und treten dich und treten<br />

dich. Aber sie töten dich nicht. Das ist das Schlimmste. Sie bringen dich<br />

nicht um. Sie lassen dich dort, um dir mit Tritten zu drohen, dich<br />

anzusehen und dich auszulachen. Verstehen Sie, was ich meine?<br />

/ ANTONIO HEREDIA<br />

Frage.- Ja, und darum Frage aus einem Grund mehr: Wie haben<br />

Sie überlebt?


Antwort.- Meine Mutter sagt, sie haben mir vier Jahre meines Lebens<br />

gestohlen. Ich glaube das nicht. Weder haben sie sie mir gestohlen, noch<br />

habe ich sie verloren. Die Zeit stand still. Ich kam mit 26 Jahren in das<br />

Gefängnis und mit 30 kam ich frei. Was ich gelernt habe, kann mir keiner<br />

mehr nehmen.<br />

Frage.-<br />

Was haben Sie gelernt?<br />

Antwort.- Die Macht der Kontemplation. Den Wert des Essentiellen, das<br />

unsichtbar scheint. Journalisten und Politiker hätten an dieser Stelle gerne,<br />

dass ich ihnen von anderen Dingen erzähle. Aber für mich ist dies das<br />

Fundamentale. Welchen Wert hat die Farbe grün? Und blau? Ich war in<br />

einem weißen Sarkophag gefangen, wie ein Blinder, Monat um Monat.<br />

Welchen Wert hat das Bewusstsein über die Zeit? Nicht, dass ich nicht<br />

wusste, ob es Tag oder Nacht war. Sondern dass ich nicht wusste, ob ich<br />

eine Stunde geschlafen habe oder zehn. Welchen Wert hat ein Spiegel?<br />

Wenn du dein Gesicht für lange Zeit nicht siehst, vergisst du, wie du<br />

aussiehst. Als ich mich das erste mal wieder in einem Spiegel sah, bekam<br />

ich einen Schock. Ich habe mich abgetastet und geflüstert… ,,Das bin ich”.<br />

Der Himmel ist nicht nur irgendeine Sache. Die Sonne, der Mond, der<br />

Regen, die Sterne… auch sie nicht. Schuhe. Ein Stuhl. Ich habe so darum<br />

gestritten, wie ein Verrückter, um Dinge zu finden, die anderen irrelevant<br />

scheinen. Ich habe einen 18-tägigen Hungerstreik gemacht, damit sie mir<br />

eine Uhr geben. Die Verteidigerin des Volkes (!) hat mir geantwortet: Wo<br />

steht geschrieben, dass eine Uhr ein Menschenrecht ist? Wo steht<br />

geschrieben, dass wir Ihnen einen Tisch geben sollen?<br />

Frage.-<br />

Manche Sachen haben Sie bekommen.<br />

Antwort.- Ja, obwohl sie mir später wieder weggenommen wurden. Ich<br />

mag es zu lesen und zu schreiben. Octavio Paz und Borges sind meine<br />

Lieblingsautoren. Ich erinnere mich an den Moment, als sie mir endlich<br />

einen Stift gegeben haben. Abgenutzt. Verranzt. Und ein Blatt. Ich habe<br />

mir gewünscht, dass es niemals voll wird! Ich schrieb in Kleinstschrift. Ich<br />

habe es umgedreht. Habe nach kleinsten weißen Stellen gesucht, um noch<br />

etwas schreiben zu können. Der Wert der Dinge… Ich wurde einer<br />

Zellisolationstechnik unterzogen. Ihr Ziel ist es, zu entwerten, eins nach<br />

dem anderen, alle Gefühle des Gefangenen, bis er nicht mehr weiss, ob er<br />

lebt oder tot ist. Und wissen Sie, was die einzige Form ist, um das<br />

herauszufinden? Der Schmerz. Darum willst du, dass sie dich schlagen.


Und darum beginnst du, dich selbst zu schlagen. Gegen den Boden. Gegen<br />

die Gitter. Wogegen auch immer. Du suchst nach Blut. Denn nur das Blut<br />

und der Schmerz bestätigen dir, dass du noch immer existierst.<br />

Frage.-<br />

Sie haben versucht, sich umzubringen.<br />

<strong>Lorent</strong> <strong>Saleh</strong> krempelt sein Hemd hoch und streckt den linken Arm aus. Zwei<br />

tiefe Narben kreuzen seine Venen.<br />

Antwort.- Ich habe es vier mal versucht. Aber damit begann ein neues<br />

Spiel. Ich war mehr als ein Jahr in ,,La Tumba”. Ich wusste, dass das<br />

Regimen mich nicht freilassen würde und dass ich nicht nachgeben werde.<br />

Also habe ich eine Entscheidung getroffen: Meine Gefängniswärter haben<br />

nicht mehr in Ruhe geschlafen; sie haben nicht mehr entspannt Fernsehen<br />

geschaut, während ich dort war. Also habe ich ihnen angekündigt: ,,Ich bin<br />

bereit, mich umzubringen. Und wenn ich mich umbringe, werden Sie<br />

gefangen genommen. Und Ihren Vorgesetzten wird das egal sein. Die<br />

opfern euch wie Insekten”. Es war kein ,,Oh, ah, ich will sterben!”. Im<br />

Gegenteil. Es war mein letztes Mittel. Wie ein Hungerstreik, nur stärker.<br />

Denn sie sollten wissen, dass ich es ernst meinte. Meine<br />

Selbstmordversuche waren eine Art Kampfansage an die Diktatur.<br />

Frage.-<br />

Antwort.-<br />

Sie haben sich die Venen aufgeschnitten.<br />

Das erste Mal habe ich versucht, mich zu erhängen.<br />

Frage.-<br />

Zu erhängen?<br />

Antwort.- Ja, mit einem Bettlaken. Aber sie haben mich durch die<br />

Kamera gesehen. Also musste ich mir eine neue Strategie ausdenken. Zum<br />

Bad sollte ich immer von einem Gefängniswärter begleitet werden. Als sie<br />

mir endlich erlaubten, mich zu rasieren, fing ich an, die größte<br />

Unterwerfung zu simulieren. Damit sie mir Vertrauen schenkten und ihre<br />

Wachsamkeit auf ein Minimum reduzierten. Und so habe ich es geschafft,<br />

eine Rasierklinge in meine Zelle zu schmuggeln. Bis eines Tages, in der<br />

Nacht… Seit diesem Zeitpunkt musste jede Nacht ein Wärter in meiner<br />

Zelle schlafen. Mit einem halben Auge offen, furchterregend. Eines Nachts<br />

versuchte ich mich an den Gitterstäben aufzuhängen. Mein<br />

Gefängniswärter erwachte und stürzte sich auf mich, um mich zu retten.<br />

Und um sich selbst zu retten! An einem anderen Tag, aus dem


Badezimmer wiederkehrend, schloss ich die Tür vor seinem Gesicht. Ich<br />

sagte: ,,Ich kann nicht mehr, es ist vorbei”. Und ich schnitt mich erneut.<br />

Man muss Diktatoren die Stirn bieten. Damit sie merken, dass sie keine<br />

Götter sind. Dass auch sie bluten und weinen und leiden können. Und<br />

dass ihre Missbräuche einen Preis haben, nicht nur für die anderen. Das<br />

ist die wahre Resistenz: Die Herausforderung.<br />

Frage.-<br />

In Ihrem Fall, was genau waren die Ziele dieser Folter?<br />

Antwort.- Dass ich Anklage gegen Antonio Ledezma, María Corina<br />

Machado, Leopoldo López oder Álvaro Uribe erhebe. Mit Uribe hatten sie<br />

eine Besessenheit. Und ich war das fehlende Teil in ihrem wahnsinnigen<br />

Narrativ: Kolumbien, die Paramilitärs, die Opposition Venezuelas, die<br />

Amerikaner. Etwas ähnliches ist Joshua Holt widerfahren, einem<br />

amerikanischen Mormon, mit dem ich im ,,El Helicoide” zusammentraf. Er<br />

wurde allein deshalb festgenommen, weil er ein Catire -hellhäutig und<br />

blond- mit blauen Augen ist. Der Feind Yankie… Damit unterstrichen sie<br />

ihre Geschichte.<br />

/ ANTONIO HEREDIA<br />

Frage.- Nach zweieinhalb Jahren in ,,La Tumba”, wurden Sie in<br />

den ,,Helicoide” überführt.<br />

Antwort.- Der Wechsel war nicht leicht. Ich war an Stille und Einsamkeit<br />

gewöhnt. Der Helicoide bedeutete Lärm, Schmutz, Überfüllung,


Verkommenheit. Politische Gefangene und Oppositionelle wurden mit<br />

korrupten Verhafteten und 200 gewöhnlich Gefangenen vermischt. Ich<br />

wurde krank.<br />

Frage.-<br />

Wie ist ,,El Helicoide”?<br />

Antwort.- ,,El Helicoide” ist der pure Ausdruck eines Mafiastaates. Dort<br />

regiert die Nötigung, vor allem die wirtschaftliche. Auf einem Niveau, das<br />

man sich nicht ausmalen kann. Es gibt Gefangene, die 200.000 Dollar als<br />

Gegenleistung für eine bessere Zelle gezahlt haben. Ihre Familien haben<br />

sich verschuldet, ihre Kinder und Enkel. Und dann gibt es dort die<br />

Korrupten, die echten und die mutmaßlichen. Der SEBIN (Geheimpolizei)<br />

weiss, dass Fulano Geld hat. Sie geben eine Akte auf, die eine strafbare<br />

Handlung simuliert, genau wie bei den politisch Gefangenen. Sie<br />

kidnappen ihn. Sie sperren ihn ein. Sie foltern ihn. Fulanos Familie kann<br />

nirgends eine Anzeige aufgeben. Natürlich nicht, es ist ja die selbe Polizei,<br />

die ihn gefangen hält. Und dann sagen sie zu ihm: ,,Komm schon, Fulano,<br />

zahl so und so viel.” Und Fulano zahlt.<br />

Frage.-<br />

Dabei nennen sie es den ,,Krieg gegen die Korruption”.<br />

Antwort.- Es ist die schlimmste Art von Korruption. Und sie ist<br />

endemisch. Für die Regierung hat dies zwei Vorteile. In einer vollkommen<br />

zerstörten Wirtschaft ermöglicht es ihr, seine richterlichen Funktionäre zu<br />

bezahlen. Gleichzeitig garantiert es, dass diese vehement treu bleiben.<br />

Sollte sich irgendeiner dieser Funktionäre dazu entscheiden, das Richtige<br />

zu tun, reicht es, sie an ihren Werdegang zu erinnern, damit sie in das<br />

Pferch der Kriminalität heimkehren. So funktioniert das Terrorsystem in<br />

Venezuela. Und deshalb konnte ich es mir nicht erlauben, auch nur die<br />

geringste Schwäche zu zeigen.<br />

Frage.-<br />

Haben andere dies getan?<br />

Antwort.- Ich habe Männer niederknien gesehen, damit sie sie schlagen.<br />

Und das Schlimmste -das Schrecklichste und Erschütterndste- ich habe<br />

Männer gesehen, die nichts gegen das Leiden der anderen getan haben.<br />

Ich habe Gefangene gesehen, die drei Tage an ein Gitter gebunden waren.<br />

Gekreuzigt. Und andere Gefangene, die an ihnen vorbeigingen, als wäre<br />

nichts. Ich habe Inhaftierte gesehen, die sich angeboten haben, um andere<br />

zu misshandeln, in dem Glauben, dass sie so selbst davon verschont


lieben. Natürlich war das nicht der Fall. Auch diese wurde geschädigt.<br />

Sogar noch schlimmer. Denn niemand, weder die Mitgefangenen noch<br />

seine Kameraden, vertraute ihm mehr. Es ist so krank, so tragisch: Das<br />

menschliche Wesen in seinem elementarsten und miserabelsten Zustand<br />

zu sehen. Wie der Jude, der den anderen Juden in die Gaskammer führt.<br />

Das hat der Chavismo erreicht. Die niederträchtigste Entmenschlichung.<br />

Frage.-<br />

Ich weiss nicht, was ich sagen soll.<br />

Antwort.- Dann lassen Sie mich es sagen. Man gewöhnt sich an die<br />

Schläge, die Unterwerfung, die Folter. Aber das Schlimmste ist, dass<br />

andere sich daran gewöhnen, geschlagen, unterworfen und gefoltert zu<br />

werden. Es ist wie bei einem Elefantenbaby, das mit einer Kette und einem<br />

Nagel am Boden festgehalten wird. Und der Elefant wächst und wird<br />

immens groß, doch er bleibt, wo er ist, angekettet. Er weiß nicht, dass er<br />

die Kraft hat, um die Kette mit einer einzigen Bewegung zu zerbrechen. So<br />

ist der Mensch. Er ist das beste Haustier. Im ,,Helicoide” behandeln sie<br />

Gefangene schlechter als Hunde und werden dabei von den meisten<br />

unterstützt.<br />

Frage.-<br />

Haben Sie sich je unterworfen?<br />

Antwort.- Ja. Ein mal habe ich geschwiegen. Und es war der schlimmste<br />

Tag meines Aufenthaltes im Gefängnis. Meines Lebens. Eines Morgens<br />

wachte ich auf und hörte den Schrei eines Mannes, der um Gnade flehte.<br />

Und dann einen stumpfen Schlag. Und noch einen. Und gleichzeitig das<br />

Grinsen des Folterers. Ich ging zu den Gittern meiner Zelle. Niemand sagte<br />

etwas. Ich habe mich geekelt. Ich rief den Wärter, zitternd vor Angst. Er<br />

kam. Mit einer absoluten Natürlichkeit. Er hatte Schweißperlen auf seiner<br />

Stirn. Er keuchte. Mit einem Lächeln im Gesicht. Er fragte mich freundlich:<br />

,,Wie geht es dir, <strong>Lorent</strong>? Was brauchst du?” Ich versank. Die<br />

Schweissperlen, sein aufgeregter Atem von so vielen Schlägen, und dieses<br />

Lächeln… Es war ein Funktionär, von dem ich nie geglaubt hätte, dass er zu<br />

so etwas fähig wäre. Anders als die Anderen. Wie konnte er zu einem so<br />

grausam und zu mir so freundlich sein? Wie soll man so etwas<br />

verarbeiten? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich ging tiefer in meine<br />

Zelle zurück und versank wie ein Hund am Boden. Diese Nacht mussten<br />

sie mich dopen. Ich habe die Zelle zerstört. Ich habe gegen die Wand<br />

geschlagen. Ich habe alles kaputt gemacht. Nie wieder blieb ich still. Aber<br />

ich vergebe mir nicht, an diesem Tag geschwiegen zu haben. Es war ein<br />

Verrat. Diesem Mann gegenüber. Mir selbst gegenüber. Wegen mir.


Frage.-<br />

Sie haben auch etwas etwas gelernt.<br />

Antwort.- Viele Male, um sich zu verteidigen, haben die Funktionäre<br />

gesagt: ,,Die, die wir geschlagen haben, sind gewöhnliche Gefangene,<br />

Verbrecher.” Und selbst wenn sie es wären, dann was? Als ob die Tatsache,<br />

dass eine Person ein Krimineller ist, dir das Recht gibt, unmenschlich zu<br />

handeln. Jedoch: Ist Foltern menschlich? Denken Sie nach… Ich dachte<br />

früher, es sei es nicht. Aber vielleicht habe ich mich geirrt. Der Mensch ist<br />

kein edler WIlder. Rousseau lag falsch. Der Sozialismus und der<br />

Kommunismus natürlich auch, klar. Übrigens, warum ist der<br />

Nationalsozialismus verboten, der Kommunismus aber nicht? Haben Sie<br />

jemals darüber nachgedacht?<br />

Frage.- Sehr oft… Sie spielten die Hauptrolle, als es im<br />

,,Helicoide” zum Aufstand kam.<br />

Antwort.- Ja, ich weiß, dass die Bilder um die Welt gingen. Der Aufstand<br />

war kommen zu sehen. Es war die Aneinanderreihung vieler Faktoren: Die<br />

Nötigungen, die Folterungen, die Entführung von Minderjährigen…. Jungs<br />

im Alter von 16 Jahren, in einer Zelle aufeinandergedrängt. Ich habe das<br />

nicht ausgehalten. Der ,,Helicoide” ist explodiert. Und es kam zu dem, was<br />

ich vor kurzem erwähnt habe: Die Metapher mit dem Elefantenbaby. Der<br />

Mensch hat eine unglaubliche Kraft, er weiß es nur nicht. Wir haben alle<br />

Gitter aus diesem verdammten Ort gerissen. Wir beschlagnahmten alle<br />

Sicherheitskameras. Ich habe die drei Vorhängeschlösser meiner Zelle mit<br />

meinen eigenen Händen durchbrochen. Die Funktionäre haben das<br />

gesehen und sind abgehauen. An diesem Tag haben sie zu spüren<br />

bekommen, dass auch sie bluten, selbst wenn sie nicht einen Kratzer<br />

abbekommen haben. An diesem Tag haben sie gemerkt, dass dort<br />

Menschen waren, keine Insekten. Das gleiche passiert mit der<br />

Gesellschaft.<br />

Frage.- Nach dem Aufstand wurden drei Mitglieder der Gruppe<br />

freigelassen. Sie nicht.<br />

Antwort.- Ich musste die ganze Bestrafung des Aufstandes auf mich<br />

nehmen und das war extrem schwer. Ich sah, wie all meine Kameraden<br />

freigelassen wurden, Aktivisten und politische Gefangene. Verabschieden<br />

sich zwei Menschen durch Gitterstäbe hindurch, teilt sich die menschliche


Wärme durch die Kälte des Stahls. Es ist nicht leicht, nein. Wenn du die<br />

Hand loslässt und alleine zurückbleibst… Du fasst dir an den Kopf, du<br />

wartest auf die Peitsche des Hurrikans und zugleich denkst du: Warum er<br />

und ich nicht, obwohl ich mehr Recht habe, obwohl ich länger hier bin?<br />

Und du fühlst dich miserabel, so zu denken. Und du kommst zu dem<br />

Schluss, dass Gott nicht existiert, oder das es ihm egal ist. Und du<br />

verstehst, dass es nur einen Ausweg gibt, um das Kommende auszuhalten:<br />

Jede Hoffnung, frei zu werden, zu töten.<br />

/ ANTONIO HEREDIA<br />

Frage.-<br />

Wie haben Sie das gemacht?<br />

Antwort.- Ich habe alles aufgegeben. Selbst das Wichtigste von allem,<br />

die Liebe zur Familie. Ich bin liberal, konservativ und katholisch. Doch in<br />

dieser Zeit gab es zwei Dinge, die mir besonders geholfen haben. Ich habe<br />

den Buddhismus als Form der Loslösung studiert. Ich begann, Diskurse<br />

von Pepe Mujica (Ex-Präsident von Uruguay) zu lesen. Mandela ist der<br />

Bezug zu jedem Gefangenen, doch seine Zeit und seine Umstände sind<br />

mir fremd. Mujica hingegen war 13 jahre lang eingesperrt in einem<br />

Gefängnis, dessen Name ausgerechnet ,,La Tumba” ist. Das Lesen seiner<br />

Texte war wie das Lesen meiner eigenen Gedanken. Insbesondere ein Satz<br />

von ihm, den ich zu meinem eigenen mache: ,,Ich habe entdeckt, wie laut<br />

die Ameise schreit.” Gemeint ist der Wert der Besinnung​. ​Das<br />

Wahrnehmen von kleinsten Details als Art des Überlebens.


Frage.- Sie wurden wenige Tage nach dem kuriosen Mord des<br />

Stadtrates Fernando Albán freigelassen, der aus dem zehnten Stock<br />

an der Plaza Venezuela fiel. Glauben Sie, er wurde ermordet?<br />

Antwort.- Ich vermute, dass er bereits tot aus dem Fenster geworfen<br />

wurde, auch wenn es auf das Gleiche hinauskommt, wenn er selbst<br />

gesprungen wäre. So oder so wäre er ein direktes Opfer der Diktatur. Ich<br />

war selbst in diesem 10. Stock, am selben Fenster. Ich kenne die<br />

Hoffnungslosigkeit, die einen zum Springen verleiten kann.<br />

Frage.-<br />

Warum wurden Sie freigelassen?<br />

Antwort.- Es wurde viel über die Motive spekuliert. Es wurde sogar<br />

gesagt, dass ich dank des spanischen Ex-Präsidenten Zapatero<br />

freigelassen wurde. Das stimmt nicht. Zapatero hatte nichts mit meiner<br />

Freilassung zu tun. Ich bin aufgrund einer Anreihung von Faktoren frei. An<br />

erster Stelle steht der Kampf meiner Mutter. Hinzu kommt der Druck der<br />

Medien, als nicht einmal die Politiker über meinen Fall reden wollten. Die<br />

Arbeit meiner Anwälte. Die Unterstützung des Europäischen Parlaments,<br />

das mir im vergangenen Jahr den Sacharow-Preis verliehen hat. Das<br />

Schwächeln des Regimen selbst. Und die Hilfe vieler Länder, darunter<br />

Spanien.<br />

Frage.-<br />

Sind sie nicht nachtragend?<br />

Antwort.- Nein. Rache ist nur eine andere Form der Dienerschaft.<br />

Außerdem steht meine Zelle nicht leer. In den Gefängnissen der Chavista<br />

werden noch immer viele unschuldige Personen festgehalten, für die wir<br />

kämpfen müssen. Und dann haben wir ein Land zu rekonstruieren.<br />

Frage.-<br />

Wie soll das gehen?<br />

Antwort.- Die Venezolaner fühlen sich zerschlagen. Ich werde ihnen<br />

nicht, wie es manche tun, sagen: ,,Wir haben es fast geschafft, es fehlt<br />

nicht mehr viel.”. Weder fehlt nicht mehr viel, noch wird es leicht werden.<br />

Es ist und wird schwer sein. Und: So muss es sein. Seit wir klein sind wird<br />

uns gelehrt, dass man Dinge, die etwas wert sind, nicht ohne Kraft und<br />

Mühe erhalten kann. Das, wofür wir kämpfen, ist es wert. Es ist sogar das<br />

Wertvollste, das wir haben. Es ist die Demokratie und die Freiheit.


Frage.-<br />

Was ist Venezuela heute?<br />

Antwort.- Es ist ein terroristischer Staat. Definitiv. Das Maduro-Regime<br />

hält sich durch Panik, durch Gewalt und Hunger. Hunger ist nicht bloß eine<br />

Konsequenz einer schlechten Regierung. Es ist eine der effektivsten<br />

Strategien: Die Strategie der Unterwerfung. Das Regime muss demnach<br />

das venezolanische Volk in seinen Bann ziehen, denn es ist nicht mehr<br />

fähig, es noch von sich zu überzeugen. Wie es das macht? Indem es sich<br />

die Noblesse und die tiefe Berufung der Demokratie zu Nutze macht. So<br />

habe ich es Präsident Sánchez erklärt.<br />

Frage.-<br />

Was war seine Antwort?<br />

Antwort.- Ich sagte zu ihm: ,,Sehen Sie, Herr Präsident: Ich komme aus<br />

der radikalsten Linie der Opposition und niemals wurde die Idee eines<br />

gewalttätigen Kampfes toleriert. Wenn dies je eine Erwägung gewesen<br />

wäre, würde die Hälfte der chavistischen Politiker bereits unter der Erde<br />

begraben liegen. Millionen von Venezolanern haben sogar das Exil<br />

bevorzugt, anstatt eine Konfrontation herbeizuführen. Das Volk ist<br />

friedsam. Wer wirklich Terrorist ist, ist die Regierung.<br />

Frage.-<br />

Und was hat er Ihnen geantwortet?<br />

Antwort.- Er meinte, dass er diese Auffassung teilt.<br />

Frage.-<br />

Um was konkret haben Sie ihn gebeten?<br />

Antwort.- Ich habe nachdrücklich auf der Dringlichkeit der Sanktionen<br />

beharrt. Es ist falsch, wie Zapatero gesagt hat, dass die Sanktionen dem<br />

Volk Schaden zufügen. Im Gegenteil. Das Volk wäre dankbar, wenn die<br />

Folterer eine Strafe erhalten. Aber wir müssen auch über die Dinge in<br />

Venezuela und deren Opfer hinausschauen. Wie kann es sein, dass wir<br />

Kriminelle aus diesem Kaliber nicht sanktionieren? Welche Nachricht<br />

vermitteln wir der Welt dadurch? Dass maximale Grausamkeit maximale<br />

Straffreiheit bedeutet. Ich habe Präsidenten Sánchez noch einen weiteren<br />

Denkanstoß gegeben: Es ist nicht die venezolanische Opposition, die die<br />

Kapitulation des Regimes fordern sollte. Das sollten Spanien und die


weiteren demokratischen Staaten der Welt übernehmen. Sie sind es, die<br />

sagen müssen: ,,Bis hier hin. Und nicht weiter. Basta”.

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