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LERNEN MIT ZUKUNFT JUNI 2021

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information & gesellschaft Zurück zu den Anfängen?! Warum das geschriebene Wort zählt BEOBACHTEN WIR GERADE EINE ENTWICKLUNG IN DIE GEGENRICHTUNG, ZURÜCK ZU DEN ANFÄNGEN IN FORM EINER BILDSYMBOLSPRACHE? Thomas Kolbe Fachwissenschaftler für Versuchstierkunde, Ao. Prof. für die Service-Plattform Biomodels Austria Veterinärmedizinische Universität Wien mehr infos https://de.wikipedia.org/wiki/ Diskos_von_Phaistos https://de.wikipedia.org/wiki/ Linearschrift_B https://www.dtv.de/_files_ media/title_pdf/leseprobe-13995.pdf Vor Jahrtausenden hat der Mensch begonnen Aufzeichnungen anzufertigen: Über Lagerbestände von Nahrungsmitteln, Tributzahlungen, Erntemengen, Tierbestände. Dazu wurde eine vereinfachte Abbildung des Objektes mit einer Zahl versehen und in Ton eingedrückt und getrocknet (Assyrien, Babylonien) oder auf Papyrus aufgemalt (Ägypten). Als die Städte größer und die Verwaltung aufwendiger wurde, sind aus den Symbolen Lautsilben geworden, die in neuer Reihenfolge auch andere Dinge ausdrücken konnten (Mykene). In China gibt es heute noch einen Vorläufer der Silbenschrift. Daher ist die Kenntnis von mehreren Tausend Schriftzeichen für flüssiges Lesen notwendig, wer komplexer schreiben will muss Zehntausende von Schriftzeichen kennen. In Europa gingen die Phönizier den ursprünglichen Weg weiter, zerlegten Wörter in Laute und ordneten diese Lautzeichen zu, den Buchstaben. Diesen 22 Buchstaben fügten die Griechen später noch die Vokale bei. Damit konnte man alles schriftlich festhalten, was man sagen konnte. Über die Jahrtausende wurden abstrakte Gedanken über den Sinn des Lebens, den Sitz der Seele, das Leben nach dem Tod und vieles andere mehr niedergeschrieben und für die Nachwelt festgehalten. Das niedergeschriebene Wort kann nicht nur Informationen an den Leser weitergeben, sondern auch Gefühle und Stimmungen vermitteln, ganze Szenerien, andere Zeiten und Welten im Kopf des Lesers entstehen lassen. Es regt Phantasie und Nachdenken an. Z.B. der allererste Satz in Tolstois großem Werk, Anna Karenina, brennt sich in der Erinnerung ein und regt zum Nachdenken und Grübeln an. Anspruchsvolle Bücher sind also nicht nur Material zum Ablesen, sondern eine Herausforderung für das Gehirn, die Intention des Schriftstellers zu erfassen. Was er mit der geschilderten Szene für das Gesamtwerk bezweckt, warum er es gerade so formuliert hat, ob es einen Sinn hinter dem Sinn gibt, ob die Szene auf heutige Verhältnisse übertragbar wäre, usw. Shakespeare hat mit seinem Hamlet nicht deshalb Erfolg, weil er über einen imaginären Prinzen von Dänemark Jahrhunderte vor unserer Zeit berichtet, sondern wegen der Gedanken hinter den Figuren und der Handlung. Seitdem Handys Internet-Zugang haben, aber nur eine kleine umständliche Tastatur zum Schreiben von Texten, versuchen die Nutzer so viele Abkürzungen (lol, GLG) wie möglich zu verwenden und kleine Bildsymbole zum Ausdrücken ihrer Gefühle einzufügen. Alleine schon die schnelle Antwort als email oder Tweet verhindern ein allzu sorgfältiges Nachden- 18 | JUNI 2021

ken über den geschriebenen Text (was manche dann schnell bereuen). Kunstvoll formulierte Sätze mit ausgefallenen Wörtern wird man da vergeblich suchen. Genauso wie Erklärungen für einen Smiley: Warum ist jemand jetzt glücklich? Oder warum freut er oder sie sich? Worüber denn eigentlich? Der ORF möchte Nachrichten in Zukunft nur noch in einfachen Worten veröffentlichen. Im Sinne der Inklusion gehandicapter Personen eine löbliche Initiative. Für alle anderen ein Niveauverlust, der dem Gehirn zuerst die Auseinandersetzung mit komplexeren Sätzen erspart, später dann unmöglich macht. Studierende in den Naturwissenschaften haben jetzt schon Probleme, grammatikalisch korrekte Sätze zu Papier zu bringen (was bei Multiple-Choice-Tests kein Problem darstellt). Sind Erwachsene bald nur noch in der Lage, Comics zu lesen? Das Gehirn ist in vielerlei Hinsicht wie ein Muskel: Um umfassend einsatzfähig zu sein, muss es trainiert werden. Auch mit anspruchsvollen Aufgaben. Versuchen wir also unseren Kindern auch schwierige Texte zuzumuten. Sie werden es später (hoffentlich) einmal zu schätzen wissen. Foto: © OpenClipart-Vectors | pixabay.com 19 | JUNI 2021