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LERNEN MIT ZUKUNFT März 2020

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information & integration Sprachförderung in einer Zuwanderungsgesellschaft: Eine Bestandsaufnahme IN DER SPRACHE SPIEGELT SICH DIE SEELE EINES VOLKES (Paul Schibler) Dr. in Karin Steiner zuständig für pädagogische Entwicklungen und Bildungskooperationen bei den Wiener Kinderfreunden Foto: Felix Zangerl Foto: © Clker-Free-pixabay.com 30 | MÄRZ 2020 Kinder bringen von Geburt an das Potenzial mit, sprechen zu lernen. Sie möchten kommunizieren mit Worten, Blicken und Berührungen. Und sie verlangen – unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft – nach sprachlicher Anregung. Obwohl alle Kinder diese angeborene Sprachfähigkeit mitbringen, stellt sich die Sprachentwicklung von mehrsprachigen Kindern als eine der größten Herausforderungen in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion heraus. Die Auswirkungen dieser österreichischen Sprachpolitik sind fatal: ohne vorhandene Erfahrungen aufzuarbeiten, ohne den Stand der Wissenschaften und der Sprachdidaktik abzufragen, werden Maßnahmen verordnet, von denen wir aus (sprach-)pädagogischer Perspektive eher nachteilige Auswirkungen (für einen Teil der Kinder) befürchten müssen. Dazu rechne ich die frühe punktuelle „Sprachtesterei“, die frühe Segregation und Schulreifefeststellung von Kindern anhand der Unterrichtssprache, welche fatale Auswirkungen auf Bildungsaspiration und die Entwicklung von Teilhabe und Zugehörigkeit von jungen Menschen haben. Mit diesen sprachpolitischen Vorgaben fühlen wir PädagogInnen uns zunehmend unwohl. Gleichzeitig steigt der Druck auf die Fachwelt, Kinder gut sprachlich zu begleiten. Nur die Antwort auf das „WIE“ bleibt offen. Denn was bzw. wer soll sich eigentlich entwickeln? • Die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern (einschließlich L1) ? • Die Kompetenzen der PädagogInnen im Bereich (gesamt)sprachlicher Bildung? • Die Bildungspolitik im Umgang mit Herausforderungen im Bereich der Sprache? • Unsere Wissensgesellschaft wegen erheblicher Wissenslücken und Berührungsängste mit sprachlicher Vielfalt? Und verstoßen wir mit diesem nationalsprachlichen Agieren letztendlich nicht sogar gegen die kulturellen Menschenrechte (Artikel 5), wenn wir mehrsprachige Kinder zwingen, einsprachig zu werden oder einsprachigen Kindern durch unseren monolingualen Habitus verwehren an der zunehmend mehrsprachigen, globalen Welt teilhaben zu können? Die Not einsprachiger PädagogInnen in mehrsprachigen Gruppen (sprachliches mismatch) besteht häufig darin, dass sie sich mit der Aufgabe überfordert sehen, Kindern die Bildungssprache Deutsch in einer spracherwerbstheoretisch nachweislich zu kurzen Zeitspanne vermitteln und sie altersgerecht sprachlich fördern zu müssen. Schlechte Rahmenbedingungen erschweren die sprachbildende Arbeit zusätzlich. Hinzu kommt, dass PädagogInnen von ihrer Ausbildung her (und hier gehöre es verankert) nur wenig darüber wissen, wie ein mehrsprachiges Kind sich sprachlich entwickelt. Dieses Unwissen zeigt sich auch darin, dass von »Sprach-

information & integration losigkeit«, »Halbsprachigkeit« und »Sprachproblemen« der Kinder die Rede ist, wenn mangelnde Deutschkenntnisse gemeint sind. Ein Kind kann geringe Deutschkenntnisse haben, ist aber deswegen nicht »sprachlos«, denn es kann sich in der Erstsprache altersgemäß verständigen und hat bis dato auch eine normale sprachliche Entwicklung vollzogen. Sprachenförderung sollte daher von den Potenzialen und der Sprachentwicklung der Kinder her gedacht und geplant werden. Das bedeutet, nicht nur auf die Zweitsprache Deutsch zu schauen, sondern den Reichtum kindlicher Spracherfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten in den Blick zu nehmen und mehrsprachige Kinder ihr gesamtes sprachliches Potential zum Lernen nutzen zu lassen. Der Gesamtsprachenansatz ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen (mehr-)sprachigen Bildungsbiographie von jungen Menschen und wird den Bildungsprinzipien einer Pädagogik des 21. Jahrhunderts gerecht. Die Wiener Kinderfreunde stellen sich mit der Pilotierung des neuen Mehrsprachigkeitsansatzes in ihren Piloteinrichtungen dieser Aufgabe. Wie dies gelingt, erfahren Sie in der nächsten Ausgabe. Diese Tatsache sollte beim Deutschlernen nicht nur Rechnung getragen, sondern auch genutzt werden. Denn das Aufgreifen der Erstsprache hat nicht nur positive Effekte beim Erlernen der neuen Sprachstruktur, sondern vielmehr noch eine „hochgradig angstmindernde Wirkung“ (Brizic, 2007, 69 ff.) auf Kinder beim Erwerb der neuen Sprache. Denn fühlen sich mehrsprachige Kinder vor Eintritt in die Bildungsinstitutionen noch kompetent in ihren Sprache(n), verlieren sie dieses sprachliche Selbstbewusstsein im Kindergarten und ganz besonders in der Schule dann oft. Dort erleben sie sich als „sprachschwache“ Kinder, die nicht »richtig« mit der PädagogIn und den anderen Kindern kommunizieren können. Über die Sprache erleben sie Situationen von Ausgrenzung und Diskriminierung. Solche Demütigungen tun weh und führen dazu, dass Kinder sich (zum Selbstschutz des permanenten Erlebens des Andersseins) körperlich wehren, die Lust am Lernen verlieren, resignieren oder sprachlich sogar verstummen. Sie können ihre vorhandenen sprachlichen Kompetenzen kaum zeigen und sich auch kognitiv nicht weiterentwickeln, wenn sie die Botschaft bekommen, dass ihre bisherig verwendete Sprache zum Lernen nicht mehr wichtig ist. Dies alles hat fatale Folgen nicht nur für die Gesamtentwicklung des einzelnen Kindes, sondern der Gesellschaft per se. Fotos:© Archiv Zeitgut Verlag und pixabay.com Fotos: © Archiv Wr. Kinderfreunde 31 | MÄRZ 2020