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LERNEN MIT ZUKUNFT SEPTEMBER 2021

information &

information & entwicklung Welche Gehirnhälfte ist für was zuständig?: Dr. Jekyll und Mr. Hyde GIBT ES FÜR „UNBEDACHTE AUSSETZER“ IM HANDELN EINE EINFACHE ERKLÄRUNG? Thomas Kolbe Fachwissenschaftler für Versuchstierkunde, Ao. Prof. für die Service-Plattform Biomodels Austria Veterinärmedizinische Universität Wien INFO Michael S. Gazzaniga: Die Ich-Illusion Sally S. Springer und Georg Deutsch: Linkes – rechtes Gehirn. Funktionelle Asymmetrien. Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2012. Bei Umfragen bezeichnen sich 80% der AutofahrerInnen als überdurchschnittlich gute FahrerInnen. Es sollte einleuchten, dass 30% der Befragten sich irren müssen. Aber diese irrige Selbsteinschätzung, oder hier besser Selbstüberschätzung taucht auch in anderen Befragungen auf. Bei einer Gesellschaftsstudie zur Meinungsbildung im Auftrag der Heinz- Lohmann-Stiftung wollen AutofahrerInnen umweltfreundlich unterwegs sein, aber nicht auf PS verzichten. 50% der befragten Personen, die im Diskounter Billigfleisch kaufen, lehnen Massentierhaltung ab. Wie kommt das? Sagen die Leute bei der Befragung nicht die Wahrheit? Oder werden später doch wieder schwach? Die Erklärung liefert uns die Neurophysiologie mit dem Phänomen der „kognitiven Dissonanz“. Das menschliche Gehirn besteht überwiegend aus zwei Hälften, die durch einen dicken Strang von Nervenbahnen miteinander verbunden sind. Die rechte Gehirnhälfte kontrolliert die linke Körperseite und umgekehrt. Die beiden Gehirnhälften haben nun unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte: Die linke Hälfte ist wichtiger für das Sprechen und logisches Denken. Die rechte Hälfte kann räumliche Informationen besser verarbeiten. Normalerweise koordinieren sich beide Gehirnhälften bevor es zu einer Reaktion kommt. Aber eben nicht immer. Wichtige Erkenntnisse dazu wurden an Epilepsie-Patienten gewonnen, bei denen diese Verbindung der Gehirnhälften aus medizinischen Gründen unterbrochen wurde und an Kriegsopfern mit einem vergleichbaren Schaden. Für diese Forschung bekam Roger Wolcott Sperry 1981 den Medizin-Nobelpreis. Die linke Hälfte kontrolliert nicht nur das Sprechen, sondern interpretiert Erlebnisse auch, baut Erinnerungen ein und erfindet eine Geschichte, die zu den subjektiven Erinnerungen passen. Während die rechte Hälfte eher für die Koordination aktueller Handlungen zuständig ist. Daher beschließt z.B. die linke Gehirnhälfte, dass man mehr Sport treiben sollte, die rechte Gehirnhälfte platziert einen dann aber doch auf das Sofa vor den Fernseher. Oder die linke Gehirnhälfte überlegt noch, wie man sich bei dem neuen Chef beliebt machen könnte, damit es mit der Beförderung auch klappt und die rechte Gehirnhälfte übernimmt dann kurzfristig und lässt einen Kommentar über den komischen Modegeschmack des neuen Chefs heraus. Wir sollten uns gewahr sein, dass es kein einziges „Ich“ gibt, sondern mehrere Selbst: Ein erinnerndes Selbst, welches ein Wunschbild formt und Erinnerungen selektiv unterdrückt oder verstärkt. Und ein erlebendes Selbst, welches in aktuellen Situationen die Führung übernimmt. Das können wir selten kontrollieren, wenn wir sehr spontan handeln. Aber allein, dass uns diese Tatsache bewusst ist, führt vielleicht zu besser überlegten Handlungen bei Entscheidungen im Alltag. 10 | SEPTEMBER 2021

Fotos © Gerd Altmann | pixabay.com 11 | SEPTEMBER 2021