Views
1 year ago

Centurion Germany Spring 2023

  • Text
  • Germany
  • Restaurants
  • Insel
  • Fotos
  • Welt
  • Vorteile
  • Stadt
  • Resorts
  • Centurion
  • Hotels
  • Hilton

|Places| Frische

|Places| Frische Kürbisse vom Bauernhof als Dekoration im Le Doyenné Beim Blick aus dem Fenster können die Gäste den Zutaten beim Wachsen zuschauen. Das ist Transparenz im wahrsten Sinne des Wortes. – James Henry Passage und dem beliebten, modern konzipierten Bistro Yard tätig), verspürten sie den Wunsch nach Veränderung und malten sich ein Restaurant aus, über das sie die volle Kontrolle haben würden und das einen Weg zu mehr Lebensqualität weisen könnte. Nicht im Traum hätten sie damit gerechnet, dass sie am Ende mehr als fünf Jahre mit dem Aufbau eines nach Prinzipien regenerativer Landwirtschaft betriebenen Hofs auf dem Gelände eines historischen Anwesens gut eine Stunde südlich von Paris zubringen würden – und da war noch kein Restaurant eröffnet. Aber wie das Leben eben manchmal so spielt: Wer aktiv auf positiven Wandel aus ist, wird ihn bewirken – auch wenn sich dieser oft komplizierter und herausfordernder gestaltet als gedacht. Während sie nach einer passenden Location für ihr Restaurant suchten, erzählt Kelly, meldete sich der Erbe des Château de Saint-Vrain. Das Anwesen aus dem 15. Jahrhundert in einem 41 Kilometer südlich von Paris gelegenen Dorf lag mindestens 60 Jahre im Dornröschenschlaf und bedurfte eines nachhaltigen Projekts, um wieder wachgeküsst zu werden – die Familie Mortemart, in deren Besitz sich das Schloss seit über 200 Jahren befindet, traute genau das den beiden Küchenchefs zu. „Von der ersten Begegnung an teilten wir fast übereinstimmend die gleiche Vision: den Gemüsegarten wiederherstellen, Schweine im Wald halten und ein nachhaltiges Konzept entwickeln“, so Kelly. „Doch wir lehnten erst ab, denn wir waren noch nie landwirtschaftlich tätig gewesen, zudem hielten wir das Gelände für zu groß und zu abgelegen.“ Doch man blieb im Gespräch, und schon bald gaben sich die beiden einen Ruck, gingen das Risiko ein und krempelten die Ärmel hoch. Das Wissen über regenerative Landwirtschaft eigneten sie sich in der Praxis an. Sie pflanzten Hunderte Obstbäume und Sträucher und überstanden die coronabedingten Einschränkungen mit dem Verkauf von Heirloom-Gemüse an befreundete Küchenchefs in Paris. Anstatt das Restaurant im Schloss einzurichten, wählten sie den Pferdestall als Räumlichkeit, den es dann mit Unterstützung des französischen Architektenkollektivs ciguë zu renovieren galt. Ein in mehrerer Hinsicht starkes Statement: Auch der Stallkomplex beeindruckt mit seinen Dimensionen, atmet aber noch den Geist der Schlichtheit seines landwirtschaftlich geprägten Ursprungs. Außerdem ist eine Gebäudeseite zum Hof hin ausgerichtet und die beiden möchten schließlich zeigen, wie ihre Mission durch Taten ins Werk gesetzt wird. Henry: „Beim Blick aus dem Fenster über die Felder können die Gäste den Zutaten beim Wachsen zuschauen. Das ist Transparenz im wahrsten Sinne des Wortes.“ Das Restaurant eröffnete dann im Juni letzten Jahres, kurz darauf folgte das Gästehaus in einem Gebäudeflügel mit zehn Zimmern. Wenn die Gäste heute den Eingang in der restaurierten Steinmauer passieren, liegt noch ein längerer Weg vor ihnen. Er führt sie vorbei an ein, zwei Dutzend FOTO MARINE BILLET 28 CENTURION-MAGAZINE.COM

FOTO MARINE BILLET gefleckten Marans und Le-Mans-Hühnern, einer Parklandschaft mit jahrhundertealten Bäumen, einem Teich mit Wildgänsen sowie dem dreigeschossigen, noch nicht zugänglichen Schloss, bevor sie schließlich die Stallungen erreichen. Eine Rezeption im klassischen Sinne gibt es nicht. Die Gäste erhalten ihre Schlüssel im neuen Hofladen, in dem neben Gemüse auch das in der hauseigenen Backstube von Lori Oyamada (die bereits in der Kultbäckerei Tartine von Chad Robertson in San Francisco gearbeitet hat) gebackene Brot angeboten wird. Die Zimmer mit ihrer handwerklich gefertigten Einrichtung (Leinentücher, Keramikvasen) und den von Blumensträußen gesetzten Farbtupfern sind von einer ähnlichen Philosophie getragen wie die Speisen. An Winterabenden sitzen die Gäste um den offenen Kamin und nippen an ihren Gläsern mit Naturwein (Kelly und Henry holten den Sommelier Thibault Chauvet vom 108 in Kopenhagen), bevor sie zu ihren Tischen begleitet werden. Serviert werden schnörkellose, aber anspruchsvolle Speisen aus Hoferzeugnissen: Wurstwaren von Schweinen aus eigener Haltung und dicke Scheiben von Oyamadas Sauerteigbrot, gefolgt von Gerichten wie geräuchertem Lauch und hausgemachtem Ricotta mit Grünkohlpesto und gerösteten Haselnüssen, Tintenfisch auf Pfifferlingen, gewürzt mit einer Brühe aus Tintenfischinnereien und passierten Tomaten. Für die Abrundung sorgen ebenso einfach wie hochklassig zubereitete Desserts wie das von rot-orange leuchtenden Granita-Flocken gekrönte, unfassbar cremige Vanille-Sorbet. Küchenchef Henry (Kelly leitet den Hof) strebte den Beruf des Kochs an, um die Welt zu bereisen und ihre köstliche Geschmacksvielfalt mit den Menschen zu teilen. Dieser Tage finden sich ambitionierte und leidenschaftliche Küchenchefs mit einem Gewissen und der Fähigkeit zum kritischen Denken unweigerlich, ob sie wollen oder nicht, in soziale und politische Diskussionen involviert. Seit Restaurantgäste die Frage „Wo kommt das her?“ stellen, um sich des Ursprungs der Speisen aus nachhaltigen und ethisch einwandfreien Quellen zu versichern, fällt Küchenchefs oft die Rolle eines Aktivisten, Wissenschaftlers oder gar inoffiziellen Bürgermeisters zu. Dass dies deren Position zu einer immer größeren Herausforderung werden lässt, zeigt auch die Ankündigung von René Redzepi, das Noma im kommenden Jahr für immer zu schließen. Das Abenteuer, sich in die landwirtschaftliche Arbeit zu stürzen, erwies sich für Kelly und Henry als Augenöffner. „Wir hatten kein echtes Hintergrundwissen, wenn wir bei unseren Produzenten in Paris bestellt haben. Die Kleinbauern hier auf dem Land, besonders jene, die alles richtig machen und nach Bio-Standards arbeiten möchten, kommen kaum über die Runden“, so Kelly. Henry greift den Faden auf: „Kaum jemand spricht darüber, wie hart diese Arbeit ist. Gleichwohl kann sie auch erfüllend sein. Verantwortungsvolle Landwirtschaft bringt unglaublich geschmacksintensive Zutaten mit beeindruckender Nährstoffdichte hervor. Doch das Richtige tun zu wollen, erfordert Opfer und man fragt sich zuweilen schon, warum man das eigentlich macht.“ Eine teilweise Antwort auf seine Frage gibt er kurz darauf selbst: „Schon allein durch unsere Ankunft hat sich auf dem Areal einiges verbessert. Wir haben einen Hof aufgebaut, wo keiner war, und arbeiten verantwortungsbewusst. 350 Menschen, die vorher nie hier waren, zieht es nun einmal wöchentlich in den Ort. Das ist der Lohn für unsere sich langsam mit Leben füllende Vision und Bestätigung dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“ Beide führen weitere ähnlich gelagerte Projekte wie The Farm im australischen Byron Bay oder La Ferme de la Ruchotte im Burgund an, die ihnen als Inspiration dienten und betonen, dass in vielen Küchen, auf vielen Höfen und im Rahmen vieler Projekte nach neuen Konzepten für ein nachhaltiges, gesundes und faires kulinarisches Ökosystem gesucht wird. Die amerikanische Bäckerin des Le Doyenné, Lori Oyamada: „Ich bin einfach neugierig, was wir alles erreichen können und welche Lektion als Nächstes auf uns wartet. Shaun und James haben hier eine Menge Spitzenkräfte unterschiedlichster Herkunft versammelt. Dabei kann nur etwas Großartiges herauskommen.“ ledoyennerestaurant.com Ein Blick in das Gewächshaus des Anwesens CENTURION-MAGAZINE.COM 29

CENTURION