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1-2022 REISE und PREISE

ARMENIEN VON ELKE

ARMENIEN VON ELKE HOMBURG Frage an Radio Eriwan: Kann man mit einem russischen Auto auf russischen Straßen 120 km/h fahren? Antwort von Radio Eriwan: Im Prinzip ja. Aber nur einmal. Der Radio-Eriwan-Witz aus den Zeiten des Kalten Krieges fällt mir ein, während ich mit Supri in seinem 40 Jahre alten Lada über Armeniens Landstraßen brettere. Vermutlich mit 40 Stundenkilometern. Mein Chauffeur war Offizier der Armee und bessert seine karge Pension als Fahrer auf. Eine gemeinsame Sprache haben wir nicht – ich spreche kaum ein Wort Russisch und schon gar nicht Armenisch. Er spricht kein Englisch, und trotzdem verstehen wir uns wunderbar. Ein bisschen fühle ich mich wie in einem armenischen Roadmovie, zu dem der Soundtrack von Supris USB-Stick kommt – armenischer Hip-Hop und Mönchschoräle. Von der Hauptstadt Eriwan aus drehen wir eine Schleife durchs Bergland des Nordens. Wir holpern wie andere altersschwache Gefährte über staubige Schlaglochpisten durch eine steinige, archaische Landschaft, wo ein wirtschaftlicher Aufschwung nicht einmal zu erahnen ist. Steile Gebirgsflanken, tiefe Canyons und armselige Dörfer, in denen Plattenbauten von postsozialistischer Tristesse erzählen. Trostlose Fabrikruinen, die kein bisschen Lost-Place-Romantik verströmen, erinnern an die Ära der sowjetischen Schwerindustrie in der Region. Doch unvermittelt tauchen einsame Klöster auf, die am Berg kleben und mir den Atem verschlagen. Kloster Haghpat ist über 1.000 Jahre alt, ein UNESCO-Welterbe mit ehrwürdigen grauen Mauern. Eine Burg des Glaubens. Kerzen flacken im Innenraum der Kirche und beleuchten uralte Fresken. Eine Familie trägt ein Neugeborenes zur Taufe, der Priester murmelt den Segen. Ich fühle mich zurückgebeamt in eine mittelalterliche Welt. Mit Gänsehaut verlasse ich das Gotteshaus, vor dem alte Frauen aus dem Dorf Honig, Kirschen und Häkeltaschen anbieten. »Bari galust!«, rufen sie mir zu. Willkommen. Ich kaufe ein paar Handvoll Kirschen und ein Glas Honig und wir lachen und scherzen gemeinsam. Eine Gläubige entzündet im Inneren des Klosters Haghpat Kerzen Fotos: Cavan Images/ mauritius images, Chris terryn/ Alamy 32 REISE-PREISE.de 1-2022

STILLE PERLE IM KAUKASUS Ein Land voller Geschichte, wo die Wiege des Christentums stand. Mit archaischen Klöstern in dramatischen Landschaften, einem Sehnsuchtsberg und einer quicklebendigen Hauptstadt, wo die Jugend sich für die Zukunft rüstet. In die Bergwelt eingebettet ist das eindrucksvolle UNESCO- Welterbe Kloster Haghpat Viele solcher Klöster in Armeniens Bergwelt, erbaut an den schönsten Plätzen des Landes, zeugen von den Anfängen des Christentums. Als erstes Land der Welt erhob Armenien bereits im Jahr 301 die Lehre Christi zur Staatsreligion. Über Serpentinen in die armenische Schweiz Wir fahren an der geschlossenen Grenze zwischen Armenien und Aserbeidschan entlang. Zwei Nachbarn, die sich spinnefeind sind. Ein schrottreifer russischer Lkw schnauft über die Berge und zieht eine lange Staubfahne hinter sich her. Supri drückt aufs Gaspedal und überholt unter wildem Gestikulieren. Er deutet hierhin und dorthin, während er eine Zigarette mit rabenschwarzem Tabak nach der anderen raucht. Dann hält er plötzlich an und knackt für mich Walnüsse frisch vom Baum. Beim Mittagessen in Dilidschan spielen Walnüsse, die zu den Brotfrüchten der Armenier gehören, eine Hauptrolle. Als Füllung für die köstlichen Auberginenröllchen. Dazu gibt es im bildhübschen Gartenlokal Salate mit reichlich Koriander. Eine andere Welt. Dilidschan ist ein Kurort inmitten der armenischen Schweiz mit Künstlerflair und bestens renovierten historischen Häusern. Ringsum liegen Laubbaumwälder. Im September der Platz für den Indian Summer auf armenisch. Im Mittelalter entspannten hier schon armenische Könige, während der Sowjetzeit kamen die Parteibonzen und auch heute strömen wieder Urlauber. Ein wunderbarer Ort zum Ausruhen nach dem Parcours durch die Berge. Am nächsten Tag glitzert uns der Sevansee entgegen. Der fünftgrößte Bergsee der Welt – doppelt so groß wie der Bodensee – liegt, umringt von Gebirgen, stolze 1.900 Meter über dem Meeresspiegel. Hier liegen die beliebtesten Badestrände im Binnenland Armenien. Sanfte Wellen rollen an den kleinen Hotelstrand, ein Boot tuckert über den See, Möwen kreischen und die Septembersonne ist noch warm. Ich belasse es angesichts von Wassertemperaturen deutlich unter 20 °C dennoch beim Fußbad. Auf der Sevan-Halbinsel thront das Kloster Sevanavank. Zum ersten Mal treffe ich hier Touristengruppen. Ein Maler hat seine Staffelei oberhalb des Klosters aufgebaut und findet reichlich Kunden für seine Kunstwerke. Und natürlich wollen alle Besucher frische Seefische essen. Der Duft der Renken vom Grill ist auch tatsächlich unwiderstehlich. Gestärkt nehmen wir Kurs auf Eriwan, wo Supri die Heimreise in sein Dorf antritt. Viele Armenier haben es zu Weltruhm gebracht Eine Millionen Menschen, etwa ein Drittel der Einwohner Armeniens, leben in Eriwan. Eine Stadt mit vielen Gesichtern. Das alte orientalische Eriwan muss man suchen. Das Zentrum der Stadt prägte der eigenwillige Architekt Alexander Tamanyan in den 1-2022 REISE-PREISE.de 33

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