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Rotary Magazin 02/2023

THÈME DU MOIS –

THÈME DU MOIS – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – FÉVRIER 2023 26 Zuhause in Chicago aus verfolgte ich die Nachrichten über den Krieg aufmerksam. Bei meiner Arbeit für Rotary erhielt ich fast täglich Berichte über die Bemühungen der Mitglieder, den Ukrainern zu helfen, einschliesslich derer, die gezwungen waren, in die Nachbarländer zu fliehen. Beim Rotary-Magazin, dessen Chefredaktor ich bin, hielten wir schon früh wöchentliche Videokonferenzen mit ukrainischen Rotariern ab, und in den ersten drei Monaten nach der Invasion beobachteten wir, wie die Rotary Foundation 15 Millionen Dollar für Initiativen zur Unterstützung der vom Krieg betroffenen Menschen sammelte. All dies steigerte nur noch meinen Wunsch, aus erster Hand den Esprit de Corps der humanitären Armee zu erleben, die der Ukraine zu Hilfe eilte. Eine unerwartete Gelegenheit dazu bot sich mir im letzten Herbst, als ich in Berlin Urlaub machte. Mykola Stebljanko, der Herausgeber von «Rotariets», dem ro - tarischen Regionalmagazin in der Ukraine, lud mich ein, Lviv, die grösste Stadt im Westen der Ukraine, zu besuchen. Da Lviv in der Nähe der polnischen Grenze liegt, schlug er mir vor, mit ihm und anderen Rotariern an einem Seminar der Foundation teilzunehmen. Ich brauchte nur nach Warschau zu kommen, und von dort aus würde sich alles von selbst ergeben. So verweile ich an diesem Oktoberabend in der polnischen Hauptstadt unter dem Schild des «Hard Rock Café» und warte auf Paulina Konopka, die Gründungspräsidentin des Rotaract Clubs Warszawa City. Pola, wie die 30-jährige Rotaracterin gerne genannt wird, nimmt mich mit in ein nahe gelegenes Restaurant, wo sie mir bei einer Peperoni-Pizza erzählt, dass sie mit ihrer Familie im Flugzeug auf die Malediven sass, als der Krieg begann. Kurz nach der Landung kontaktierte sie ihre Rotaracter-Kollegen in Warschau, um zu überlegen, wie sie helfen könnten. «In diesem ersten Monat schien unser ganzes Land, von der Regierung bis zu den Unternehmen, innezuhalten, um den Flüchtlingen in Polen und den Menschen in der Ukraine zu helfen», sagt sie. «Als Mitglied von Rotary will man einfach instinktiv helfen.» Über die sozialen Medien riefen die Warschauer Rotaracter ihre Freunde in anderen Ländern zum Spenden auf. Gemeinsam mit dem Rotaract Club Wilanów International richtete Polas Club in einem Vorort ein langfristiges Heim für etwa 40 ukrainische Frauen und Kinder ein und organisierte soziale Veranstaltungen für die Flüchtlinge, vom Kochen bis hin zu Disco-Partys. Clubmitglieder besuchten sie samstags, brachten ihnen Geschenkgutscheine mit und fuhren sie zu Geschäften. «Wir treffen uns auch jede Woche, um den Flüchtlingen Polnisch und Englisch beizubringen und ihnen zu helfen, sich in ihrem neuen Land einzuleben», sagt Pola. Einen Monat nach Kriegsbeginn hatte Polen etwa zwei Millionen ukrainischer Flüchtlinge aufgenommen; etwa 300 000 davon lebten in Warschau, aber viele sind inzwischen in ihr Land zurückgekehrt, darunter etwa die Hälfte der 40 Personen, die in der Rotary-Unterkunft lebten. «Viele Menschen vermissten einfach ihre Heimat und ihre Ehemänner, Brüder und Grosseltern», erklärt Pola. Der Wegfall einiger von der polnischen Regierung gewährter Subventionen für Lebensmittel und Transportmittel sowie die hohen Energie- und Lebensmittelkosten als Folge des Krieges könnten ebenfalls dazu beigetragen haben. Pola sagt, dass sie und ihre Kollegen den Verbliebenen weiterhin helfen werden, Arbeit zu finden und Polnisch zu lernen. Da Russland seine Bombardierung ukrainischer Städte im Herbst intensiviert hat, könnten die Menschen gezwungen sein, erneut nach Polen zu fliehen, und die Warschauer Rotaracter werden sich da - rauf vorbereiten, sie aufzunehmen und ihnen zu helfen. Zurück an der Bar meines Hotels, treffe ich Ed Zirkle, einen Rotarier aus Ohio, der Fotograf und Dokumentarfilmer ist. «Als ich im Fernsehen die Ungerechtigkeiten in der Ukraine sah, wollte ich unbedingt vor Ort sein und sie dokumentieren», sagt er und nippt an seinem Wodka auf Eis. Als er erfuhr, dass der Rotary Club Lviv ein Foundation-Seminar veranstaltete, beschloss er, in die Ukraine zu reisen, in der Hoffnung, Rotarier zu treffen und von ihnen durch das Land geführt zu werden. Seine Anfrage wurde an Mykola Stebljanko weitergeleitet, der vorschlug, dass wir gemeinsam reisen sollten. Nun warten sowohl Ed als auch ich auf weitere Anweisungen. MITTWOCH,10.15 UHR, KONSTANCIN-JEZIORNA Am nächsten Morgen lädt uns Jacek Malesa, ehemaliger Präsident des Rotary Clubs Warszawa Fryderyk Chopin, ein, ein von Rotary Clubs eingerichtetes Flüchtlingszentrum in Konstancin-Jeziorna, einer historischen Stadt südlich von Warschau, zu besuchen. Malesa, 58 Jahre alt, hat sich als Wirtschaftsprüfer eines Medienunternehmens einen Tag frei genommen, um uns zu begleiten. Ehrenamtliche Arbeit für Rotary, sagt er, macht mehr Spass. Das Ukrainian Support and Education Center ist in einem dreistöckigen Betongebäude in einer ruhigen Strasse nahe dem Stadtzentrum untergebracht. Die Wände sind frisch mit blauen und gelben Papierschmetterlingen dekoriert, die von US-Studenten in New Hampshire für die Kinder in der Ukraine gebastelt wurden. Wir besuchen einen einfach eingerichteten Raum, in dem zwei Mädchen und vier Jungen um einen grossen Tisch sitzen und Augen und Nasen auf ein gelbes Papier malen, das in Form von Händen ausgeschnitten ist. Anfangs sind sie etwas schüchtern, doch bald werden sie warm mit uns und plaudern begeistert. Ich bekomme nur Bruchstücke von dem mit, was sie sagen, während die Übersetzer Mühe haben, mit dem Gespräch Schritt zu halten. Die Kinder stammen aus den ukrainischen Städten Kiew, Cherson und Charkiw. «Ihre Väter haben beim Militär gedient, und sie sind mit ihren Müttern und Geschwistern hierhergekommen», sagt Malesa. «Die Trennung von ihren Angehörigen ist schwer für sie. Sie hätten sie sehen sollen, als sie hier ankamen. Sie reagierten nicht auf die Pflege und waren nicht kommunikativ. Die Zuwendung, die wir ihnen bieten, hat ihren Zustand dramatisch verbessert.» Am Ende des Zeichenunterrichts gehen die Lehrer mit den Kindern nach draussen, um eine Pause einzulegen. Auf einem kleinen Tennisplatz in einem nahe gelegenen Park setzt sich ein Junge mit einer blauen Jacke und einer Mütze mit der Aufschrift «I love Dad» in eine Ecke und spielt mit einem Fussball. Seine Augen sind traurig. Eine Frau in einem roten Pullover geht zu dem Jungen hinüber und umarmt ihn herzlich. Die Frau, die 36-jährige Luliia Cherkasbyna, ist die Betreuerin des Jungen. Sie kommt aus Kiew und ist seit Beginn des Krieges in Warschau. In ihrer Heimat betreute sie autistische Teenager, die mit Sozialisationsproblemen zu kämpfen hatten. «Ich arbeite gerne im Rotary-Zentrum, weil ich

THÈME DU MOIS – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – FÉVRIER 2023 das Gefühl habe, etwas für die Zukunft meines Landes zu tun», sagt sie. Im Juni, vor der Eröffnung des Zentrums, luden die Rotarier hochkarätige Psychotherapeuten aus Israel ein, um ukrainische Psychologen in der Behandlung und Beratung von Kindern zu schulen. «Sehen Sie», sagt sie und gestikuliert in Richtung der Kinder, «sie lächeln. Es ist sehr befriedigend, zu sehen, was Rotary und andere gutherzige polnische Menschen bei diesen Kindern bewirkt haben.» MITTWOCH,15.30 UHR, WARSCHAU Malesa führt uns in ein traditionelles polnisches Restaurant in den Wäldern. Während wir unsere Schüsseln Borschtsch essen und auf unsere Bestellungen von Rindertartar, Pierogi und Pfannkuchen warten, reicht mir Malesa ein Mobiltelefon. Michał Skup, der Präsident des Rotary Clubs Warszawa Fryderyk Chopin, ist in der Leitung und informiert uns über unsere Reisepläne: Zirkle und ich sollen in die polnische Stadt Zamość fahren, wo uns ukrainische Rotarier treffen werden, um uns in ein paar Tagen über die Grenze nach Lviv zu begleiten. Da Skups Club nach meinem Lieblingskomponisten benannt ist, schlage ich vor, dass wir uns vor unserer Abreise nach Zamość im Łazienki-Park im Zentrum Warschaus treffen und ein Foto vor der Chopin-Statue machen. Der bebrillte Skup, Chefsyndikus der Warschauer Niederlassung eines internationalen Konzerns, trägt eine dunkelblaue Sportjacke über einem weissen Hemd und sieht topfit aus. Er hat vor Kurzem eine zehntägige Radtour von Warschau in die Toskana unternommen und dabei etwa 1000 Meilen zurückgelegt, um Geld für den Kauf eines Minivans für das Flüchtlingszentrum zu sammeln. Nachdem ich meinen Besuch im Zentrum geschildert habe, erzählt Skup, der den grössten Teil seiner Jugend in den Vereinigten Staaten verbracht hat, auf Englisch einige Geschichten über die Entstehung des Zentrums, die sich hinter den Kulissen abgespielt haben. Die Menschen in Polen standen unter Schock, als Russland in die Ukraine einmarschierte, und viele füllten ihre Gastanks auf, weil sie Angst hatten, sie könnten fliehen müssen, wenn Russland auch Polen angreifen würde, erinnert er sich. «Meine Frau packte unsere Sachen und war bereit, zu fliehen, falls die Russen Der Warschauer Platz für Kultur und Wissenschaft. Hier beginnt die eindrückliche Reise von Wen Huang 27

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