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Schrott 'n' Roll

Sonntagszeitung_29.5.2016

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68 Kultur 29. Mai 2016 | sonntagszeitung.ch<br />

<strong>Schrott</strong> ’n’ <strong>Roll</strong><br />

Der Engländer Neil Filby macht auch für die neue Show von Karl’s Kühner Gassenschau die Musik –<br />

auf Instrumenten aus Konservendosen und anderen Gebrauchtteilen<br />

Christian Hubschmid (Text)<br />

und Basil Stücheli (Foto)<br />

Neil Filbys Instrumente hängen<br />

an der Wäscheleine. Trocken sind<br />

sie zwar schon, der 52-jährige Engländer<br />

hat sie alle im letzten Winter<br />

zu Hause in England zusammengenietet<br />

und -geleimt. Jetzt<br />

warten sie nur noch auf ihren Einsatz<br />

in der neuen Show von Karl’s<br />

Kühner Gassenschau, «Sektor 1»,<br />

die am 16. Juni Premiere hat.<br />

Man fragt sich schon, ob aus<br />

diesen Blechhaufen wirklich Musik<br />

erklingen wird: Die Trompete<br />

aus Kupferrohren ist verbeult, das<br />

Horn hat einen Lampenschirm als<br />

Trichter, die Tuba – oder etwas<br />

Ähnliches – sieht aus, als wäre sie<br />

einmal ein Lüftungsrohr gewesen.<br />

«Das war sie auch», sagt Neil Filby.<br />

«Aber ich kann Sie beruhigen:<br />

Es klingt fantastisch. Und es ist<br />

ganz leicht, darauf zu spielen.»<br />

Neil Filby ist Komponist, Dirigent,<br />

Musiker und Instrumentenbauer<br />

von Karl’s kühner Gassenschau.<br />

Deshalb sieht sein Instrumentenpark<br />

auch aus wie ein Miniaturschrottplatz.<br />

Aber nur von<br />

weitem. Schaut man nämlich genauer<br />

hin, entpuppen sich die Gebilde<br />

aus Alteisen als ausgeklügelte,<br />

ausgefeilte und präzise zusammengebaute<br />

Kunstwerke. Genau<br />

wie die Shows der Schweizer<br />

Unterhaltungstruppe.<br />

Trommeln, die nicht nur<br />

dröhnen, sondern auch fahren<br />

«Normalerweise», sagt Filby,<br />

«wenn Musiker auf Abfallprodukten<br />

Musik machen – und die Idee<br />

ist ja nicht neu –, nehmen sie ein<br />

rostiges Benzinfass und trommeln<br />

darauf herum. Das ist aber nicht<br />

meine Auffassung von Recyclingmusik.»<br />

Filby hat ehrgeizigere<br />

Pläne. So benutzt er ausrangierte<br />

Schläuche von Baggerpneus und<br />

baut riesige Trommeln daraus, die<br />

nicht nur dröhnen, sondern auch<br />

fahren können. Das mammutartige<br />

Vehikel sieht aus, als wäre es bei<br />

der ersten Mondlandung dabei<br />

gewesen.<br />

Das passt auch zur Story: Sein<br />

Recycling-Konzept entnahm Neil<br />

Filby der Science-Fiction-Ambiance<br />

von «Sektor 1». Vierzig Jahre<br />

in der Zukunft leben die Menschen<br />

in einer Art dauerhaftem<br />

Freizeitpark. All ihre Probleme<br />

sind gelöst. Bis eines Tages Müll<br />

aus dem All auf die Erde fällt. «Ich<br />

versuchte, etwas Schönes aus Abfall<br />

zu machen», sagt Filby.<br />

Sklavisch an sein Konzept halten<br />

will er sich jedoch nicht. Das<br />

Neil Filby mit Stroh-Cello auf dem Gelände von Karl’s Kühner Gassenschau in Winterthur: «Klingt fantastisch»<br />

Nach «Fabrikk» (2011 – 2015) kommt jetzt «Sektor 1»<br />

Die neue Show von Karl’s Kühner Gassenschau ist schon aufgrund des Vorverkaufs<br />

ein Grosserfolg. Morgen wird die Artistentruppe eine Verlängerung<br />

von «Sektor 1» bis Oktober bekannt geben. Das letzte Stück, «Fabrikk», hatten<br />

600 000 Zuschauer gesehen. Was 1984 als kleines Strassenvariété entstand,<br />

ist zum Phänomen geworden. Die anarchische Mischung aus gigantischen<br />

Kulissen, halsbrecherischen Stunts und pyromanischer Ekstase bringt<br />

den typisch schweizerischen Tüftlergeist à la Tinguely in eine massentaugliche<br />

und spektakuläre Form. Die Freiluftstücke werden jeweils fünf Sommer<br />

lang gezeigt. «Sektor 1» hat am 16. Juni Premiere und wird den ganzen Sommer<br />

in Winterthur gezeigt, ab 9. Juni finden Previews statt. www.sektor1.ch<br />

wäre auch gar nicht möglich, denn<br />

sein grösster Wunsch klingt mehr<br />

nach Tonhalle als nach Gebrauchtteilemarkt:<br />

ein Streichtrio. So<br />

musste er für das Cello, das er<br />

schliesslich selber baute, dann<br />

doch noch im Baumarkt einige<br />

Neuteile kaufen, damit der Klang<br />

so herauskommt, wie er sich das<br />

vorstellt. Jetzt erinnert sein grösster<br />

Stolz an die Stosszähne eines<br />

Elefanten. Die Bauweise des<br />

Blech- und Aluminiumcellos ist<br />

von der sogenannten Stroh-Violine<br />

abgeleitet, einer Geige, die es<br />

wirklich gibt. Sie wurde um 1910<br />

erfunden, um in Tanzorchestern<br />

den lauten Blasinstrumenten Paroli<br />

zu bieten. Der Klangkörper<br />

besteht nicht aus Holz, sondern<br />

aus zwei grammofonartigen Trichtern.<br />

Und der Resonanzkörper von<br />

Filbys Stroh-Cello aus einer Konservendose.<br />

«Minced Beef & Onion» steht<br />

noch drauf. Neil Filby bedauert es<br />

sehr, dass er den leckeren Pie, der<br />

sich darin befand, nicht essen<br />

konnte. Er musste nämlich ein<br />

Loch bohren und das Fleisch mit<br />

dem Finger herausklauben, um die<br />

Büchse nicht zu beschädigen. «Wenigstens<br />

habe ich so nicht zugenommen»,<br />

sagt er.<br />

Eigentlich wollte Filby<br />

Rockstar werden<br />

Der gross gewachsene Mann mit<br />

dem herzhaften Lachen wollte<br />

eigentlich Rockstar werden. Nach<br />

seinem Studium von Theater und<br />

Kunstgeschichte wurde er jedoch<br />

Verkäufer von Kabel-TV-Abos.<br />

Daneben spielte er in mehreren erfolglosen<br />

Rockbands, rutschte<br />

gleichzeitig ins Film- und Werbebusiness.<br />

1994 engagierte ihn<br />

Karl’s kühne Gassenschau, die damals<br />

gerade ihre erste grössere<br />

Show plante. Seither ist Filby der<br />

musikalische Direktor der Truppe.<br />

Und genau so «crazy» wie die andern<br />

zeitweise über hundert Techniker,<br />

Bastler, Artisten und Stuntmen.<br />

«Man wird wirklich verrückt,<br />

wenn man hier arbeitet», sagt Filby.<br />

Deshalb zieht er sich im Winter<br />

jeweils nach England zurück.<br />

Im Sommer wohnt er wie viele andere<br />

«Gassenschauer» im Wohnwagen<br />

auf dem Gelände. Karl’s<br />

Kühne Gassenschau ist eine autarke<br />

Welt, mit Kinderbetreuung,<br />

eigener Lehrerin und allem Drum<br />

und Dran. Der Erfolg der nach dem<br />

Circus Knie grössten Schweizer<br />

Showtruppe ist ungebrochen,<br />

bringt aber auch Probleme mit sich.<br />

«Manchmal ist es unmöglich, alle<br />

Ideen dieser kreativen Leute unter<br />

einen Hut zu bringen», sagt Filby.<br />

Dann zieht er sich in seinen<br />

Wohnwagen zurück. Und weint<br />

ein bisschen.<br />

Aber nicht lange. Denn sein<br />

Stroh-Cello ist noch nicht ganz fertig.<br />

Ausserdem braucht er noch<br />

einen neuen Regenschirm. Die<br />

Sommer in der Schweiz sind ebenso<br />

nass wie diejenigen in England.<br />

Und viel länger: Karl’s Kühne Gassenschau<br />

spielt bis Mitte Oktober.<br />

Fortsetzung<br />

Commissario<br />

Brunetti<br />

Opernhaus La Fenice zum Krimi.<br />

«Ich könnte den Dirigenten umbringen»,<br />

soll eine Begleiterin in<br />

der Pause gesagt haben, «Ich machs<br />

für dich, aber in einem Roman»<br />

die Antwort gewesen sein. Das Ergebnis:<br />

«Venezianisches Finale»,<br />

der erste Brunetti-Krimi.<br />

P<br />

wie Paola: Brunettis Gattin. Ist<br />

ihm gesellschaftlich, intellektuell<br />

und emotional überlegen. Dozentin<br />

für englische Literatur, was<br />

Donna Leon auch war. Kocht überirdisch<br />

gut. Ist moralisch unanfechtbar.<br />

Im 8. Band wirft sie die Scheibe<br />

eines Reisebüros ein, um gegen<br />

den Sextourismus zu protestieren.<br />

Q<br />

wie Questura: Brunettis<br />

Arbeitsplatz. Hier herrscht<br />

Patta, der Vize-Questore, Inbegriff<br />

eines aufgeblasenen, unfähigen<br />

Chefs, der Ignoranz mit Präpotenz<br />

verbindet. Versucht immer wieder<br />

Ermittlungen zu verhindern, wenn<br />

sie seiner Karriere schaden. Brunetti<br />

und Elettra manövrieren ihn<br />

aber jedes Mal trickreich aus.<br />

R<br />

wie Rothemund, Sigi: seit Folge<br />

3 Regisseur der Brunetti-<br />

Verfilmungen im deutschen Fernsehen.<br />

Sie arbeiten ausnahmslos<br />

mit deutschen Schauspielern und<br />

schwelgen in opulenten Schwenks<br />

über Venedigs Schauseiten. Millionen<br />

TV-Zuschauer lassen sich<br />

von den Bildern (und André Rieus<br />

schmalziger Musik) verführen.<br />

S<br />

wie Sackgasse: gibt es viele in<br />

Venedig, noch mehr aber in<br />

Brunettis Ermittlungen. Zum<br />

Glück hilft ihm die Autorin immer<br />

heraus. Es taucht ein Zeuge auf,<br />

oder der Mörder macht einen Fehler.<br />

Oder Elettra hat einen Freund<br />

bei der Telefongesellschaft. Oder<br />

der Schwiegervater einen Tipp.<br />

T<br />

wie Tenente Scarpa: ein Frauenhasser<br />

in der Questura. Natürlich<br />

ein Sizilianer ... Brunetti ist<br />

bei allem untadeligen Gutmenschentum,<br />

das ihn sonst auszeichnet,<br />

nicht ganz frei von Vorurteilen<br />

gegenüber Landsleuten aus dem<br />

Süden. Scarpa klingt wie Scarpia,<br />

der Bösewicht aus «Tosca». In Elettra<br />

findet er aber seine Meisterin.<br />

U<br />

wie Umweltverschmutzung:<br />

ein wichtiges Thema für die<br />

ökologisch sensible Brunetti-Familie.<br />

Ein zorniges für Vater Brunetti:<br />

Die Fabrikschornsteine von<br />

Marghera, heisst es im aktuellen<br />

Band, haben nichts anderes im<br />

Sinn, als ihn und seine Familie zu<br />

vergiften.<br />

V<br />

wie Vianello: Der Sergente,<br />

seit einigen Romanen zum<br />

Ispettore befördert, ist Brunettis<br />

zuverlässiger Assistent. Manchmal<br />

auch der Mann fürs Grobe. Im neuen<br />

Fall vertreibt er einen aufdringlichen<br />

Afrikaner, der es gewagt hat,<br />

Chiara aufdringlich anzubetteln.<br />

Er darf sogar populistisch über Einwanderer<br />

schimpfen.<br />

W<br />

wie Walking Tours, veranstaltet<br />

von der Literaturwissenschaftlerin<br />

Toni Sepeda und autorisiert<br />

von der Autorin. Brunetti-Pilger<br />

können Wohn-, Arbeitsund<br />

Tatorte aufsuchen. Nur treffen<br />

können sie ihren Helden nicht:<br />

Der ist gerade auf Ermittlung.<br />

X<br />

wie Xenophon. Dessen «Anabasis»<br />

liest Brunetti zur Entspannung<br />

immer wieder neu.<br />

Schaffen es die Griechen aus dem<br />

persischen Hochland zurück in die<br />

Heimat? Im neuen Roman ist er<br />

allerdings auf die «Argonautica»<br />

des Apollonius von Rhodos umgestiegen.<br />

Spannender als mancher<br />

Krimi.<br />

Z<br />

wie Zorzi: Wo bleibt Elettra?,<br />

fragt der Fan der Sekretärin<br />

mit dem unergründlichen Blick.<br />

Hier kommt sie endlich, die gute<br />

Fee im Vorzimmer des Vize-Questore,<br />

deren technologische (und<br />

nicht ganz legale) Fähigkeiten Brunettis<br />

erstaunliche Ermittlungserfolge<br />

erst möglich machen. Zorzi<br />

ist ihr Nachname, und sie ist<br />

noch frei.

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