Verzweiflung und Verantwortung
Gericht sieht Teilschuld bei sozialpsychiatrischem Verein.
Gericht sieht Teilschuld bei sozialpsychiatrischem Verein.
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#3<br />
1 #4<br />
REGION<br />
Im<br />
Blickpunkt<br />
Marina <strong>und</strong> Mohsen Rahmani haben nach dem Suizid ihrer Tochter Larissa in einer betreuten Wohngruppe den Anbieter verklagt. Das Urteil könnte Auswirkungen auf viele Einrichtungen haben.<br />
Foto: Christiana Kunz<br />
<strong>Verzweiflung</strong> <strong>und</strong> <strong>Verantwortung</strong><br />
SINSHEIM Nach Suizid einer 18-Jährigen: Gericht sieht Teilschuld bei sozialpsychiatrischem Verein – Das gab es so noch nie<br />
Von unserem Redakteur<br />
Alexander Hettich<br />
Hätten alle ihren Job richtig gemacht,<br />
würde unsere Tochter noch leben.“ Davon<br />
ist Mohsen Rahmani überzeugt.<br />
Das Oberlandesgericht Karlsruhe gibt dem<br />
Familienvater aus Sinsheim zumindest teilweise<br />
recht. Dem sozialpsychiatrischen Verein,<br />
in dessen Wohngruppe sich Rahmanis<br />
Tochter Larissa vor fünf Jahren das Leben<br />
nahm, weisen die Richter eine Mitschuld zu.<br />
Das Urteil könnte Signalwirkung haben.<br />
Schadensersatz Mohsen Rahmani sitzt im<br />
Wohnzimmer der Familie in einem Sinsheimer<br />
Teilort <strong>und</strong> wiegt die Blätter mit der Urteilsbegründung<br />
in der Hand. An der Wand<br />
hängt ein Foto von Larissa, ein hübsches junges<br />
Mädchen, das etwas schüchtern in die Kamera<br />
blickt. Larissa, die mit 18 so verzweifelt<br />
war, dass sie nicht mehr leben wollte. „Auch<br />
Millionen bringen uns unsere Tochter nicht<br />
zurück“, sagt der 60-jährige Vater. Laut dem<br />
Karlsruher Urteil bekommt die Familie im<br />
Wesentlichen 6048,18 Euro zuzüglich Zinsen.<br />
Der Ersatz der Bestattungskosten. Bezahlen<br />
muss der Sozialpsychiatrische Hilfsverein<br />
(SPHV) Rhein-Neckar. Er betreibt in der<br />
Nähe von Heidelberg ein betreutes Wohnprojekt<br />
für psychisch erkrankte Menschen. Larissa<br />
nahm sich dort am 28. August 2013 mit einer<br />
Überdosis Psychopharmaka das Leben.<br />
Der Sozialpsychiatrische Verein hat „in unverständlicher<br />
Weise seine Schutzpflichten aus<br />
dem Vertrag mit der Tochter der Kläger verletzt“,<br />
urteilt das Gericht, das eine erste Entscheidung<br />
aus Heidelberg korrigiert.<br />
Aus den Fugen Eigentlich macht die Familie<br />
alles richtig, als das Leben des Teenagers<br />
Ende 2012 aus den Fugen gerät. Sie suchen<br />
professionelle Unterstützung, nachdem sich<br />
Larissa immer mehr zurückzieht, andere<br />
Menschen meidet, jedes Selbstvertrauen verliert.<br />
Die 17-Jährige recherchiert selbst im In-<br />
Großpackungen Das gilt auch für die Frage,<br />
ob labile Patienten Großpackungen Psychopharmaka<br />
selbst verwalten dürfen. Warum es<br />
die riesigen Pillenpackungen überhaupt gibt,<br />
steht auf einem anderen Blatt. Mediziner wie<br />
der Würzburger Armin Schmidtke fordern<br />
seit Jahren deren Abschaffung, weil sie es Lebensmüden<br />
leicht machten, sich zu vergiften.<br />
Der Weinsberger Arzt Claas van Aaken erinternet<br />
nach Antworten, sagt zu ihren Eltern:<br />
„Ich glaube, ich brauche Hilfe.“ Ärzte diagnostizieren<br />
eine schwere depressive Episode.<br />
Larissa kommt in stationäre Behandlung. „In<br />
emotional stabilem Zustand“, wie es in der Urteilsbegründung<br />
des Gerichts heißt, wird sie<br />
im Sommer 2013 entlassen. Die mittlerweile<br />
18-Jährige zieht in die betreute Wohngruppe.<br />
Kosten: 2619 Euro im Monat. „Da haben sie<br />
die <strong>Verantwortung</strong>, sich um die Leute zu kümmern“,<br />
betont Mohsen Rahmani heute. Seiner<br />
Tochter aber geht es immer schlechter. Sie ist<br />
unglücklich verliebt, spricht gegenüber Mitarbeitern<br />
über Suizidgedanken. Eine Ärztin<br />
verschreibt Larissa zwei Großpackungen Psychopharmaka,<br />
jeweils 100 Tabletten, die sie<br />
selbst abholt <strong>und</strong> behält. Ein paar Tage später,<br />
am Abend jenes 28. August, nimmt sie alle 200<br />
Pillen auf einmal.<br />
Konsequenzen Hätten die Mitarbeiter der<br />
Einrichtung nachfragen müssen, ob die Suizidgedanken<br />
weiter bestehen? Das Karlsruher<br />
Gericht meint ja. Weil dies nicht geschah,<br />
habe die Einrichtung ihre Fürsorgepflicht<br />
verletzt – auch wenn das Gericht anerkennt,<br />
dass hier nicht dieselben Dokumentationspflichten<br />
vorliegen wie bei Ärzten. Aufgezeichnet<br />
wurden Larissas beunruhigende Äußerungen<br />
durchaus. Was die Tragödie für Juristen<br />
möglicherweise zum Präzedenzfall mit<br />
einschneidenden Folgen macht: Die Richter<br />
legten es dem sozialpsychiatrischen Verein<br />
auf, zu beweisen, dass die Katastrophe auch<br />
dann eingetreten wäre, hätten die Mitarbeiter<br />
nachgefragt. Normalerweise ist es umgekehrt.<br />
Der Kläger trägt die Beweislast für<br />
mutmaßliche Schäden. Ausnahmen kennt<br />
Rahmanis Mannheimer Anwalt Michael Pfeifer<br />
eigentlich nur in Fällen grober ärztlicher<br />
Behandlungsfehler.<br />
Auch der verurteilte Sozialpsychiatrische<br />
Hilfsverein sieht weitreichende Konsequenzen.<br />
Das Gericht messe „eine ambulante sozialpsychiatrische<br />
Betreuung an den Maßstäben<br />
einer ärztlichen Akutversorgung“, heißt<br />
es in einer Stellungnahme des SPHV-Anwalts<br />
– allerdings steht in der Urteilsbegründung<br />
ausdrücklich, dass an solche Einrichtungen<br />
nicht dieselben Anforderungen zu richten<br />
sind wie an Arztpraxen <strong>und</strong> Kliniken. Für den<br />
Hilfsverein <strong>und</strong> ihren juristischen Vertreter<br />
ist fraglich, wie solche Anbieter die Risiken<br />
noch tragen könnten. „Das hieße in letzter<br />
Konsequenz auch, Menschen mit einer depressiven<br />
Erkrankung von der Möglichkeit<br />
einer sozialen Rehabilitation auszuschließen.“<br />
Das Urteil betreffe alle vergleichbaren<br />
Wohngruppen in Baden-Württemberg.<br />
„Ich kann mir vorstellen, dass die Verunsicherung<br />
bei Trägern groß ist“, sagt Claas van<br />
Aaken. Er ist Chefarzt für Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />
am Weissenhof. Das Klinikum in<br />
Weinsberg unterhält selbst keine ambulanten<br />
„Auch Millionen bringen uns<br />
unsere Tochter nicht zurück.“<br />
Mohsen Rahmani<br />
Wohngruppen, fungiert aber als Kooperationspartner.<br />
Dass es abgestufte Behandlungskonzepte<br />
für die Patienten gibt, sei unausweichlich:<br />
„Es ist nicht angebracht, jeden Jugendlichen,<br />
der lebensmüde Gedanken äußert,<br />
unbedingt gleich längerfristig stationär<br />
zu behandeln“, betont van Aaken. Für Fachleute<br />
ist es eine Gratwanderung, wie viel<br />
Selbstständigkeit man Patienten zugesteht –<br />
insbesondere bei Volljährigen.<br />
nert daran, dass die Packungsgrößen etwa bei<br />
Paracetamol verkleinert wurden, gerade um<br />
Suizide zu verhindern – mit Erfolg, wie Studien<br />
zeigen. Das Schmerzmittel ist bei Überdosierung<br />
giftig.<br />
Unverständnis Doch wer kontrolliert eigentlich<br />
jene, die psychisch Erkrankten zurück ins<br />
Leben helfen sollen? Bei stationären Einrichtungen<br />
ist das die Heimaufsicht, die ist in der<br />
Regel bei den Landratsämtern angesiedelt.<br />
Bei Wohngruppen ist die Lage kompliziert.<br />
Hier richtet sich die Frage, ob es eine staatliche<br />
Aufsicht gibt, nach dem Grad der Selbstständigkeit<br />
der Bewohner. Die Gesetzeslage<br />
hat sich seit Larissa Rahmanis Tod geändert.<br />
Eine Einrichtung wie jene, in der die junge<br />
Frau starb, wäre aber vermutlich auch heute<br />
noch außerhalb des Radars staatlicher Kontrolle,<br />
schreibt das Stuttgarter Sozialministerium<br />
auf Nachfrage. Gr<strong>und</strong>sätzlich würden<br />
„ordnungsrechtliche Fragestellungen“ vom<br />
Rahmani-Urteil „nicht berührt“. Will heißen:<br />
Den Staat betrifft das alles nicht. Wohl aber<br />
die Anbieter <strong>und</strong> deren Mitarbeiter, heißt es<br />
seitens des Ministeriums. Diese müssten „die<br />
Möglichkeit einer Selbstgefährdung für den<br />
konkreten Einzelfall verantwortungsvoll erörtern“.<br />
Auch auf Kontrollen der Heimaufsicht,<br />
wo sie per Gesetz vorgeschrieben sind, habe<br />
das Urteil „keine Auswirkungen“.<br />
Mohsen Rahmani handelt mit Saitlingen,<br />
Naturdärmen für die Lebensmittelproduktion.<br />
„Wissen Sie, wie intensiv da die Kontrollen<br />
sind?“, fragt er bitter. Schmerzensgeld haben<br />
er <strong>und</strong> seine Frau nicht bekommen, es ging<br />
um 50 000 Euro. In anderen europäischen<br />
Ländern ist ein solcher Anspruch mitunter<br />
leichter durchzusetzen, merkt Rahmanis Anwalt<br />
an. Dass der Tod eines Angehörigen eine<br />
„Ges<strong>und</strong>heitsverletzung“ darstellt, ist nach<br />
deutschem Recht nicht so einfach zu belegen.<br />
Dazu sagen die Karlsruher Richter: Die Eltern<br />
„haben eine ges<strong>und</strong>heitliche Beeinträchtigung<br />
als Folge des Versterbens ihrer Tochter<br />
nicht dargelegt“.<br />
Aufmerksamkeit für psychische Leiden gestiegen<br />
Chefarzt am Klinikum Weissenhof sieht auch in sozialen Medien einen Risikofaktor für Depressionen bei jungen Menschen<br />
Von unserem Redakteur<br />
Alexander Hettich<br />
WEINSBERG Immer mehr Kinder <strong>und</strong> Jugendliche<br />
sind wegen psychischer Probleme in Behandlung.<br />
Das liege einerseits an einer höheren<br />
Aufmerksamkeit für solche Leiden, berichtet<br />
Dr. Claas van Aaken. Der Chefarzt der<br />
Klinik für Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie am<br />
Weinsberger Klinikum am Weissenhof beobachtet<br />
aber auch: „Die Anforderungen an Jugendliche<br />
sind gestiegen.“<br />
Aufmerksamer Werden immer mehr Jugendliche<br />
depressiv? So plakativ mag es der<br />
Facharzt nicht formulieren. Viele, die frühere<br />
Symptome psychischer Krankheiten zeigten,<br />
gingen einfach nicht zum Arzt. Jetzt, so van<br />
Aaken, sei die „Sensitivität“ höher. Lehrer, Eltern,<br />
das ganze Umfeld sei sensibilisierter, auf<br />
Warnzeichen zu achten. Die seien umso unspezifischer,<br />
je jünger der Betroffene ist. „Kinder<br />
sind vielleicht eher gereizt, haben Wutausbrüche.“<br />
Mit fortschreitendem Alter glichen<br />
die Symptome jenen einer Erwachsenendepression:<br />
Schlafstörungen, Trägheit, Zurückgezogenheit<br />
oder Selbstverletzungen.<br />
Bei dem Verdacht einer depressiven Erkrankung<br />
sei eine ärztliche Abklärung immer<br />
geboten. „Die Initiative zur Behandlung geht<br />
nicht unbedingt von den jungen Menschen<br />
selbst aus“, sagt der Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiater.<br />
In der Regel seien es die Eltern oder<br />
das schulische Umfeld, das den Schritt macht.<br />
Dr. Claas van Aaken ist Chefarzt für Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />
in Weinsberg.<br />
Foto: privat<br />
Die Risiken für depressive Erkrankungen seien<br />
nicht geringer geworden. „Durch die größere<br />
Komplexität, insbesondere die sozialen<br />
Medien, sind Jugendliche zum Teil überfordert.“<br />
Auch der Leistungsdruck in der Schule<br />
sei ein Faktor, schulischer Erfolg werde häufig<br />
zum „Wertmaßstab“ gemacht: „Manchmal<br />
entsteht der Eindruck, dass es kaum noch<br />
Schüler gibt, die keine Nachhilfe haben.“<br />
Wo gibt es Hilfe? Erste Anlaufstelle bei Depression<br />
<strong>und</strong> Suizidgefahr kann auch die Telefonseelsorge<br />
sein. Sie ist unter der b<strong>und</strong>esweiten<br />
Nummer 0800 1110111 erreichbar. In<br />
der Region gibt der Sozialpsychiatrische<br />
Dienst beim Weinsberger Hilfsverein Orientierung,<br />
Telefon 07131 1235230.