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Sozialisation - Fachsymposium-Empowerment

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Skriptum<br />

Sommersemester 2006<br />

Soziologie / <strong>Sozialisation</strong><br />

Literatur:<br />

H. P. Henecka (1985): Grundkurs Soziologie, Opladen<br />

M. Prisching (1995): Soziologie, Wien u.a.<br />

H. Gudjons (1999): Pädagogisches Grundwissen, Bad Heilbrunn<br />

Oerter / Montada (1995³): Entwicklungspsychologie, Weinheim<br />

A. Giddens (2001): Sociology, Oxford<br />

H. Joas (Hg) (2001): Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt / New York<br />

K. Feldmann (2001) Soziologie kompakt, Wiesbaden<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 1


<strong>Sozialisation</strong>:<br />

Übersicht:<br />

Zur Begriffsklärung<br />

• <strong>Sozialisation</strong> – Enkulturation – Personalisation<br />

• Mensch und Gesellschaft – Mitgliedschaft in der Gesellschaft<br />

• <strong>Sozialisation</strong> als soziale Interaktion<br />

• Lebensaltersphasen und <strong>Sozialisation</strong>sbedingungen<br />

• <strong>Sozialisation</strong>ssequenz<br />

• Rolle – Ich-Identität – Verfügbarkeit über soziale Rollen<br />

• Empathie – Rollendistanz – Ambiguitätstoleranz – Kommunikation<br />

• Phasen im <strong>Sozialisation</strong>sprozess<br />

Schichtspezifische <strong>Sozialisation</strong><br />

• Soziale Ungleichheit<br />

• Idealtypen<br />

• Schicht und Handlungskompetenz<br />

• Sozialmilieu – Mentalitätsfelder<br />

• Individualisierungsthesen<br />

<strong>Sozialisation</strong> und Gesundheit<br />

• Familie<br />

• Kinder<br />

• Jugendliche<br />

• Erwachsene – Arbeitslosigkeit<br />

• Jugend und Beruf – Berufswahl<br />

• Alte Menschen<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 2


SOZIALISATION<br />

Zur Begriffsklärung: Abgrenzung und Konkretisierung<br />

Der Begriff <strong>Sozialisation</strong> ist dem Bereich sozialer Prozess zuzuordnen.<br />

<strong>Sozialisation</strong> ist als Teilbereich sozialer Prozesse zu verstehen.<br />

Sozialer Prozesse: sozialer Wandel (Reformen, Revolutionen),<br />

sozialer Einfluss, Kommunikation, Erziehung<br />

Sozialer Einfluss: richtet sich auf einen eng umgrenzten Verhaltensbereich<br />

oder Einstellungsbereich; Zielsetzung ist klar umschrieben,<br />

gezielt gerichtet<br />

Erziehung: (vgl. Begriffsklärung: Skriptum Bildungssoziologie)<br />

Sie kann als Teilbereich der <strong>Sozialisation</strong> bezeichnet werden.<br />

Absichtsgeleitetes Handeln, intentional; Adressat bezogen; bewusst<br />

geplant; vom Erwachsenen zum Heranwachsenden (Lehrer -<br />

Schüler, Meister - Lehrling, Eltern - Kind)<br />

Kommunikation: Prozess der Informationsübertragung zwischen Menschen;<br />

Sender - Empfänger: befolgen sozial eingespielter Regeln;<br />

aber auch Beziehungsaspekt wichtig (Sinngehalt)<br />

Der Begriff: S o z i a 1 i s a t i o n wurde von E. Durkheim 1923 erstmals zur Kennzeichnung der<br />

Abhängigkeit der Erziehung von der Gesellschaft verwendet. Mensch als "tabula rasa" bei der<br />

Geburt gesehen. Die Gesellschaft bzw. verschiedene soziale Milieus (<strong>Sozialisation</strong>sdeterminanten)<br />

bestimmen nun, was aus dem Menschen werden soll (Idealvorstellungen).<br />

G. Wurzbacher:<br />

„<strong>Sozialisation</strong> ist die Eingliederung des Menschen in die soziale Gruppe.“<br />

In den folgenden Definitionen wird dieser sehr eng gefasste Begriff in vielfältiger Weise erweitert!<br />

Gerhard Wurzbacher selbst unterscheidet zwischen folgenden Prozessen:<br />

<strong>Sozialisation</strong>:<br />

ist der Vorgang der Führung, Betreuung und Prägung des Menschen<br />

durch die Verhaltenserwartungen und Verhaltensrollen seiner Beziehungspartner.<br />

Enkulturation:<br />

ist die Aneignung oder Verinnerlichung von Erfahrungen, Gütern,<br />

Maßstäben und Symbolen der Kultur zur Erhaltung, Entfaltung und<br />

Sinndeutung der eigenen Existenz wie der Gruppenexistenz.<br />

Personalisation:<br />

ist die Ausbildung und Anwendung der menschlichen Fähigkeit zur Integration des sozialen und<br />

kulturellen Pluralismus.<br />

Andere Autoren sehen den <strong>Sozialisation</strong>sprozess unter anderen Gesichtspunkten<br />

H. Fend:<br />

Sozialisierung ist ein Prozess, in dessen Verlauf Heranwachsende<br />

Norme- -und Werte, die sie durch Erwachsene kennen lernen, übernehmen.<br />

(Vgl. Fend, Sozialisierung und Erziehung, S 13, a.a.0.)<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 3


J. Wössner:<br />

<strong>Sozialisation</strong> umfasst Prozesse der Vermittlung gesellschaftlicher<br />

Handlungs-, Denk- und Einstellungsmuster auf die Person.<br />

Es handelt sich dabei um Aufbau, Verstärkung und Veränderung von<br />

Wissen, Werten und Fähigkeiten/Fertigkeiten.<br />

I.L. Child:<br />

Er weist darauf hin, dass durch <strong>Sozialisation</strong> Handlungsspielräume eingeschränkt werden; die Fülle<br />

der bei der Geburt gegebenen Handlungsspielräume / Handlungsmöglichkeiten wird auf einen viel<br />

engeren Bereich des tatsächlichen Verhaltens/Handelns begrenzt.<br />

J. A. Clausen:<br />

Eine schärfere Abgrenzung des Begriffes ist nur dann möglich, wenn auf Teilbereiche bezug<br />

genommen wird: politische <strong>Sozialisation</strong>, religiöse Soz., berufliche Soz., schulische Soz., u.a.<br />

T. Parsons:<br />

Er versteht damit die Einverleibung neuer Elemente von Handlungsorientierungen in das<br />

Handlungssystem individueller Handelnder.<br />

M. Mead:<br />

Sie meint, dass diese Veränderung von Handlungsorientierungen mit einer Vielfalt von Bedingungen<br />

und Forderungen, die von menschlichen Gesellschaften überhaupt den in ihnen lebenden und sich<br />

entwickelnden Individuen auferlegt werden, in Zusammenhang stehen.<br />

F. Elkin:(ähnlich anpassungstheoretisch wie M. Mead)<br />

<strong>Sozialisation</strong> ist ein Prozess, durch den die Lebensformen, die Verhaltensweisen einer bestimmten<br />

Gesellschaft oder sozialen Gruppe erlernt werden, damit das Funktionieren innerhalb dieser sozialen<br />

Einheit gewährleistet sei.<br />

L. Rosenmayr:<br />

<strong>Sozialisation</strong> sei als ein normativ orientierter sozialer Vermittlungsprozess definiert, der sich -unter<br />

sozialstrukturellen Rahmenbedingungen zwischen Sozialisatoren und Sozialisanden durch ineinander<br />

verschränkte Handlungsabläufe der Weitergabe und Rezeption vollzieht.<br />

<strong>Sozialisation</strong> erfolgt in und durch Institutionen, Organisationen, aber auch in weniger strukturierten<br />

Interaktionsfeldern; sie kann sowohl stabilisierende als auch innovatorische Ziele bzw.<br />

Auswirkungen haben.<br />

<strong>Sozialisation</strong> wird als ein Vorgang bestimmt, der das Sich- Aneignen- von gesellschaftlich erlaubten,<br />

gebilligten oder geforderten Verhaltensweisen durch Rezeption von Werten, Formen und Symbolen<br />

und deren Einübung, Anwendung und Internalisierung umfasst.<br />

Hilfen zur Begriffsklärung:<br />

Individuelle <strong>Sozialisation</strong> - Gruppensozialisation: <strong>Sozialisation</strong> ist nicht nur auf das Individuum<br />

bezogen, sondern auch auf Gruppen von Individuen (Organisationen, Institutionen (Gruppenleiter,<br />

Schulklasse, u.a.)<br />

Die Richtung der Prozesse verläuft von gesellschaftlichen Instanzen zum Individuum (Schule<br />

-Schüler). Es finden aber auch gegenläufige Prozesse statt. Es wird als zumeist nicht nur eine<br />

Person/Gruppe sozialisiert, sondern auch die <strong>Sozialisation</strong>sinstanzen mitsozialisert (z.B.: die Eltern<br />

im Interaktionsprozess mit den Kindern).<br />

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<strong>Sozialisation</strong> umfasst alle Einflüsse von außen,<br />

ob sie nun intentional sind oder zufällig.<br />

Sozialisator: der, von dem die Soz. ausgeht.<br />

Sozialisand: der, auf den die Soz. gerichtet ist.<br />

Im jeweiligen <strong>Sozialisation</strong>sprozess kontrolliert der Sozialisand auf dreierlei Weise den<br />

<strong>Sozialisation</strong>svorgang. Der Sozialisand ist keineswegs nur Objekt!<br />

• er verstärkt oder baut ab die Interaktion mit dem Sozialisator<br />

• er bestimmt die Verhaltenssequenz mit<br />

• die vorher gelernten und in die Situation/Interaktion eingebrachten Wertorientierungen,<br />

Normbindungen, Gefühle und Kenntnisse beeinflussen den Erfolg des Sozialisators.<br />

„Mensch" und „Gesellschaft"<br />

Die folgenden Darlegungen von H. P. Henecka sind der Versuch, den Bezug systematisch<br />

anzusprechen (H.P. Henecka; Grundkurs Soziologie, S 56 - 59)<br />

2.2 Das soziologische Menschenbild oder<br />

„man is not born human "<br />

Peter L. Berger (geb. 1929) verdeutlicht in seiner<br />

spannend geschriebenen „Einladung zur Soziologie"<br />

unsere „soziologische Perspektive" durch einen<br />

Vergleich von zwei für das Tier wie den Menschen<br />

charakteristischen Situationen.<br />

In der ersten Situation trifft eine hungrige Katze auf<br />

eine vorbeihuschende Maus. Da Katzen einen ererbten<br />

„Instinktapparat" haben, muss niemand der Katze erst<br />

beibringen, was zu tun ist, um eine Maus zu fangen.<br />

Vielmehr ist der durch diese Situation ausgelöste<br />

Verhaltensablauf bereits entsprechend<br />

vorprogrammiert. Das Auftauchen der Maus bedeutet<br />

für die Katze einen „Reiz", auf (teil sie eine fix (lull<br />

fertige "Reaktion" als Antwort parat hat.<br />

„Wahrscheinlich", vermutet Berger, „steckt etwas in<br />

der Katze, das, sobald sie eine Maus sieht,<br />

unüberhörbar verlangt: Friss, friss, friss. Die Katze fasst<br />

nicht etwa den Entschluss, auf ihre innere Stimme zu<br />

hören. Sie folgt einfach dem Gesetz ihrer angeborenen<br />

Natur und packt die unselige Maus, deren innere<br />

Stimme übrigens wahrscheinlich nicht minder<br />

unüberhörbar fordert: Lauf, lauf, lauf. Die Katze aber<br />

kann nicht anders." (Berger 1971: 100).<br />

In der zweiten Situation kreuzt ein Mädchen den Weg<br />

eines Jünglings und erweckt in ihm vielleicht zum<br />

ersten Male heftige und leidenschaftliche Gefühle der<br />

Zuwendung und Liebe. Zwar gibt es auch hier für den<br />

jungen Mann einen Imperativ, den er - wie Berger<br />

verschmitzt bemerkt - mit allen jungen Katern,<br />

Schimpansen oder Krokodilen gemeinsam hat. Doch<br />

für diesen hinreichend bekannten Imperativ<br />

interessieren wir uns hier nicht, da er den jungen Mann<br />

in aller Regel eben nicht erfolgssicher leitet, um seine<br />

Angebetete für immer zu besitzen. Im Gegenteil, ein<br />

allzu ungestümer und plumper Annäherungsversuch<br />

würde wohl auf heftige Widerstände stoßen und das<br />

erstrebte Ziel wahrscheinlich endgültig verfehlen<br />

lassen. Berger zeigt, wie an die Stelle eines ererbten<br />

„primitiven" Programms beim Tier in der<br />

Menschenwelt ein „komplexeres" Programm als<br />

Katalog gesellschaftlicher Spielregeln tritt, das im<br />

Sinne einer sozialen „Strategie" und „Taktik" einen<br />

verlässlichen Rahmen absteckt, wie man sich in solchen<br />

Fällen zu verhalten hat. Ein solcher „sozialer<br />

Imperativ" ist wiederum sehr stark kulturell abhängig<br />

und hat die unterschiedlichsten Ausprägungen, wenn<br />

wir etwa an die entsprechenden Gepflogenheiten in der<br />

Türkei, bei den Nuba in Afrika, den Eskimos auf<br />

Grönland oder irgendeiner anderen Kultur denken. Er<br />

formuliert auch die Regeln, die einzuhalten sind, wenn<br />

im Rahmen unserer Gesellschaft ein junger Mann die<br />

Verbindung zu einem Mädchen sucht, wie ein<br />

„anständiges" Mädchen darauf zu reagieren hat und wie<br />

schließlich eine zwischengeschlechtliche Verbindung in<br />

der Institution Ehe als rechtens und dauerhaft<br />

angesehen werden soll. Zugunsten der Regeln, die eine<br />

Gesellschaft vorschreibt, werden alle anderen<br />

denkbaren Optionsmöglichkeiten ausgeschlossen. Der<br />

soziale Imperativ präsentiert in unserer Kultur die<br />

Formel: „Begehren bedeutet lieben und heiraten. Alles,<br />

was unser Mann zu tun hat, ist, die im Programm<br />

vorgeschriebenen Schritte nachzuvollziehen. Nur ganz,<br />

ganz selten einmal werden wir in die Lage versetzt,<br />

neue Typen zu erfinden, uns selbst die Modelle für<br />

unser Verhalten zu schaffen." (Berger 1971: 101).<br />

Kaum eine Verhaltensweise, die der Mensch benötigt,<br />

um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, kaum<br />

eine „Strategie", auf Grund derer er seine Wünsche<br />

verwirklichen kann, werden dem Menschen etwa durch<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 5


ein erblich verankertes Steuerungsprogramm einfach in<br />

die Wiege gelegt. Vielmehr sind nahezu alle<br />

menschlichen Verhaltensweisen nach soziologischer<br />

Auffassung Ergebnisse von Erfahrungen und<br />

Lernprozessen, die das Individuum ,in einem<br />

komplizierten Wechselspiel mit seiner Umwelt<br />

erwerben muss, egal„ob es sich um die Art und Weise<br />

handelt, sich verständlich zu machen, einander Freude<br />

zu bereiten oder Leid zuzufügen oder, wie in Bergers<br />

Beispiel, Kontaktwünsche zu signalisieren.<br />

Um Missverständnisse bei der Erläuterung ihres<br />

Menschenbildes zu vermeiden, sprechen Soziologen<br />

daher heute lieber von der „sozialkulturellen<br />

Persönlichkeit", als dass sie den mit philosophischen<br />

Wertungen befrachteten Begriff der „Person"<br />

verwenden. In diesem Sinne wird der .Mensch<br />

paradoxerweise auch nicht als „Mensch". geboren,<br />

sondern erst dazu „gemacht" („man is not born<br />

human", Burgess & Locke 1945: 213). Zwar ist das<br />

Menschsein bei der Geburt als Anlage vorhanden, doch<br />

ohne humane Umgebung kann ein neugeborenes<br />

menschliches Leben nicht zu dem werden, was seiner<br />

Gattung entspricht. Der Mensch muss seine<br />

Lebensform,, die er in der Kultur der ihn umgebenden<br />

Gesellschaft vorfindet, erst in verwickelten und<br />

vielschichtigen Prozessen erlernen.<br />

Bei dieser nach der Geburt beginnenden Phase der<br />

„Menschwerdung" geht es nur bedingt um schlicht<br />

körperliche Vorgänge. Das Kind spürt zwar körperlich<br />

Hunger und Durst, Hitze und Kälte, Licht und<br />

Dunkelheit, Behagen und Unbehagen. Doch auch diese<br />

frühkindlichen Erfahrungen werden in der Regel von<br />

anderen -Menschen beeinflusst. Sie stillen<br />

beispielsweise Hunger öder Durst in einer ganz<br />

bestimmten Form und auf eine ganz bestimmte Weise<br />

mit kulturell typischen Nahrungsmitteln und nach<br />

kulturell für richtig gehaltenen Zeitplänen. „Auf diese<br />

simple Weise drückt die Gesellschaft dem kindlichen<br />

Verhalten ihren Stempel auf. Sie reicht bis in das Kind<br />

hinein, weil sie die Funktionen seines Magens<br />

organisiert hat. Dasselbe gilt natürlich auch für<br />

Ausscheidung, Schlaf und andere organische<br />

Vorgänge." (Berger & Berger 1974: 35).<br />

In anderen Worten: Ursprünglich „offene" und<br />

unangepasste Impulse, Affekte und Reaktionen des<br />

Menschen werden durch die Übernahme<br />

sozial-kultureller Elemente (wie Normen, Werte,<br />

Sprache, Symbole usw.) überformt. Dies geschieht<br />

durch eine starke und in diesem Ausmaß der<br />

menschlichen Gattung allein eigentümlichen<br />

Einbindung in ein Geflecht sozialer Beziehungen. Diese<br />

„Menschwerdung" wird deshalb nach<br />

übereinstimmender Meinung von<br />

Sozialwissenschaftlern als ein sozialer und kultureller<br />

Prozess verstanden, als eine zweite, die so genannte<br />

sozial-kulturelle Geburt (König 1955: 127). Erst im<br />

„sozialen Mutterschoss" der Familie werden in<br />

vielfältiger Weise und Ausprägung die<br />

Voraussetzungen für die Entwicklung grundlegender<br />

menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten<br />

geschaffen.<br />

Wie fundamental eine sozial-kulturelle Umgebung<br />

Voraussetzung für die Entwicklung des Menschen und<br />

für die menschliche Existenz ist, zeigt die Tatsache,<br />

dass bloße physische Aufzucht ohne jede<br />

gefühlsmäßige Zuwendung und Sprachvermittlung<br />

letztlich scheitert. Besonders eindrucksvoll wird dies<br />

durch jene Schilderungen von „wilden Kindern" belegt,<br />

die ohne Einfluss von Mitmenschen, sozialen<br />

Beziehungen, Sprache und kulturellen Einrichtungen<br />

aufwuchsen (vgl. Malson, Itard & Mannoni 1974). Am<br />

bekanntesten sind die Kinder Kamala und Amala, die<br />

man 1920 in Indien in der Gesellschaft von Wölfen<br />

aufgefunden hatte und die bei ihrer Entdeckung weder<br />

aufrecht gehen, sprechen oder sich sonst wie sinnhaft<br />

artikulieren konnten (vgl. Singh 1964). Da ihnen der<br />

soziale Mutterschoss fehlte, hatten sie typische<br />

menschliche Fähigkeiten nicht ausbilden können; aber<br />

auch typische Verhaltenssteuerungen instinktiver Art,<br />

wie sie immerhin noch bei isoliert aufgewachsenen<br />

Tieren anzutreffen sind, hatten diese „Wolfskinder"<br />

nicht entwickelt. Wie diese Fallstudien belegen auch<br />

die Beispiele so genannter „Kaspar- Hauser-<br />

Schicksale“, dass ohne zwischenmenschliche<br />

Beziehungen und Hilfen grundlegende soziale<br />

Fertigkeiten nicht erworben werden können.<br />

Vergleichbare Ergebnisse für die Wirkungen solcher<br />

„Deprivationen " von sozialen Interaktionen<br />

insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter<br />

erbrachten auch die Beobachtungen des in den USA<br />

lehrenden Psychoanalytikers René Spitz (vgl. Spitz<br />

1974) und seiner Schüler (insbesondere Goldfarb &<br />

Bowlby). Frühe Trennung von den Eltern,<br />

beispielsweise bei hospitalisierten, längere Zeit ohne<br />

feste Bezugspersonen in Krankenhäusern, Anstalten<br />

oder Heimen untergebrachten Kindern führt mit<br />

zunehmender Dauer zu tief greifenden psychischen und<br />

auch physischen Entwicklungsstörungen<br />

(Hospitalismus). Da - so die Deprivationsforscher -<br />

infolge der in klinischen und vielen sozial-<br />

pädagogischen Institutionen üblichen, geregelten<br />

Schichtarbeit diese Kinder bei ständig wechselndem<br />

Personal nur mangelhafte individuelle und emotionale<br />

Beziehungen zu festen Zuneigungspersonen aufnehmen<br />

können und als Folge der geringeren sozialen Kontakte<br />

auch nur verminderte entwicklungsfördernde taktile<br />

und visuelle Sinnesreize erfahren, erleiden sie in<br />

solchen Einrichtungen häufig irreversible Schädigungen<br />

.kognitiver und affektiver Art mit entsprechenden<br />

psycho-somatischen Effekten, die ab einem gewissen<br />

Zeitpunkt nicht mehr ausgeglichen oder allenfalls nur<br />

mit großen Schwierigkeiten wieder (z.B.<br />

psychotherapeutisch) „repariert" werden können (vgl.<br />

hierzu Casler 1968, Hassenstein 1975, Lehr 1975,<br />

Schmalohr 1975).<br />

Halten wir jedoch abschließend fest, dass der Begriff<br />

der sozio- kulturellen Persönlichkeit nicht den<br />

Menschen in seiner Gesamtheit umschreibt, sondern<br />

eben nur die Summe von relativ stabilen Motiv-, Denk-,<br />

Gefühls- und Verhaltensstrukturen, die er haben bzw.<br />

lernen muss, um die Erwartungen seiner sozialen und<br />

kulturellen Umwelt zu erfüllen und an deren<br />

produktiven Fortführung mitwirken zu können. Bis zu<br />

einem gewissen Grade stellt die sozial-kulturelle<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 6


Persönlichkeit ein Spiegelbild der sozial-kulturellen<br />

Verhältnisse dar, die sie geprägt haben. Später wird<br />

allerdings noch zu zeigen sein, dass die sozialkulturelle<br />

Persönlichkeit nicht einfach als ein Ergebnis der<br />

passiven Anpassung des Individuums an die<br />

Gesellschaft zu verstehen ist.<br />

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre<br />

Hans Paul Bahrdt, Zur Frage des Menschenbildes in<br />

der Soziologie. In: Europäisches Archiv für Soziologie,<br />

1, 1961.<br />

Alfred Bellebaum, Soziologische Grundbegriffe. Eine<br />

Einführung für Soziale Berufe. (Darin Kapitel 3:<br />

„Instinktverhalten und soziales Handeln", S. 22 29).<br />

Kohlhammer: Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1972.<br />

Es sind jedoch gerade diese Lernvorgänge, die den<br />

Soziologen besonders interessieren. Denn dass der<br />

Mensch durch seine Umwelt geformt werden kann, ist<br />

zunächst keine exklusive Erkenntnis der<br />

Sozialwissenschaft: alle Erziehung fußt auf dieser<br />

Voraussetzung. Unser Alltagswissen verbucht erst dann<br />

durch die soziologische Perspektive einen Zugewinn an<br />

„Weltverständnis", wenn prägende Einflüsse dort<br />

entdeckt werden, wo man zunächst keine vermutet,<br />

oder wenn wir als Soziologen zeigen können, dass die<br />

intendierte Erziehung oder die geplante Ausbildung<br />

noch andere als die beabsichtigten Effekte hat: eben die<br />

Vermittlung jener sozialen Regeln und Gepflogenheiten<br />

menschlichen Zusammenlebens und konkreter<br />

Lebenswirklichkeit, die kein Erziehungsprogramm und<br />

kein Curriculum thematisieren.<br />

2.4 <strong>Sozialisation</strong> und soziale Rolle: <strong>Sozialisation</strong> begegnet uns damit als ein relativ weit<br />

Wir alle spielen Theater<br />

(ebendort, S 66 – 75)<br />

2.4.1 Die Mitgliedschaft in der<br />

Gesellschaft: <strong>Sozialisation</strong><br />

Die Vermittlung sozialer Normen und<br />

Wertvorstellungen erfolgt in einem Prozess, den die<br />

Soziologie als <strong>Sozialisation</strong> bezeichnet. Der Begriff<br />

<strong>Sozialisation</strong> (engl.: socialisation) stammt aus den<br />

angelsächsischen Sozialwissenschaften. Gelegentlich<br />

wird er auch mit „Sozialisierung" (z.B. Seger 1970,<br />

Fend 1972) übersetzt, was jedoch leicht zu<br />

Missverständnissen führt, da dieses. Wort durch seine<br />

wirtschaftspolitische Bedeutung (= Verstaatlichung der<br />

Privatwirtschaft) bereits belegt" ist.<br />

<strong>Sozialisation</strong> meint mehr als der klassische<br />

pädagogische Begriff der „Erziehung", der sich ja vor<br />

allem auf jene in der Regel absichtsvollen und bewusst<br />

geplanten Bemühungen und Handlungsschritte von<br />

Eltern oder Lehrern bezieht, die zum Ziel haben, die<br />

Persönlichkeitsentwicklung des Kindes pädagogisch<br />

positiv zu beeinflussen, d.h. bestimmte<br />

Verhaltensdispositionen zu entwickeln oder vorhandene<br />

zu verändern (vgl. hierzu Kob 1976: 9, Hurrelmann<br />

1976: 19 f.).<br />

Vielmehr schließt <strong>Sozialisation</strong> den Vorgang der<br />

Erziehung mit ein und umfasst darüber hinaus auch jene<br />

ungeplanten, aber persönlichkeitsprägenden<br />

Lernvorgänge, die sowohl das Kleinkind wie auch<br />

später noch der Erwachsene durch eigene Erfahrungen<br />

machen kann. Hierzu zählen jene unspezifischen<br />

Lernvorgänge, für die auch in Gesellschaften mit breit<br />

entwickeltem Erziehungswesen keine erziehende<br />

Instanz und keine erzieherischen Maßnahmen als<br />

explizite Einwirkungen auszumachen sind. Überhaupt<br />

lassen sich solche Einflüsse - denkt man beispielsweise<br />

an die prägenden Wirkungen von jugendlichen<br />

Freundschaftsgruppen, Fan-Clubs, Reklame,<br />

Massenmedien, Interessenorganisationen, politische<br />

Öffentlichkeit usw. - nach pädagogischem<br />

Selbstverständnis schwerlich alle sinnvoll als Erziehung<br />

oder Ausbildung charakterisieren, während sie faktisch<br />

indessen zweifellos sozialisierende Prozesse darstellen.<br />

gefasster Begriff, der alle sozialen Geschehensverläufe<br />

abbildet, durch die das Individuum, das mit<br />

rudimentären Instinkten, aber mit dispositionell großer<br />

Plastizität und Lernfähigkeit, also „mit einer enormen<br />

Variationsbreite von Verhaltensmöglichkeiten geboren<br />

wird, zur Ausbildung seines faktischen, weit enger<br />

begrenzten Verhaltens geführt wird wobei die Grenzen<br />

(Im Üblichen und akzeptablen Verhaltens durch die<br />

Normen der Gruppe, der es angehört; bestimmt<br />

werden" (Child 1959: 665). In anderen Worten: der<br />

Begriff <strong>Sozialisation</strong> bezeichnet einen Vorgang, der aus<br />

unendlich vielen Einzelereignissen zusammengesetzt<br />

ist, die sich unmöglich nur einem einzigen, z.B. dem<br />

„pädagogischen" Handlungssystem und -Feld zuordnen<br />

lassen. <strong>Sozialisation</strong> ist vielmehr allgegenwärtig und<br />

beinhaltet alle prozessualen Zusammenhänge, durch die<br />

der zunächst nur „biologisch" geborene Mensch<br />

allmählich zu einem Mitglied seiner ihn umgebenden<br />

Gruppe und Gesellschaft wird, eben zur<br />

sozial-kulturellen Person. Von daher lässt sich<br />

<strong>Sozialisation</strong> auch mit „Vergesellschaftung der<br />

menschlichen Natur" (Hurrelmann 1976: 15)<br />

umschreiben.<br />

Die - biologisch gesehen - „defizitäre" Ausstattung des<br />

„Mängelwesens" Mensch (Gehlen 1961 ) erweist sich<br />

damit gerade aufgrund ihres „Nicht- festgelegt- Seins"<br />

als eine positive, den Menschen auszeichnende<br />

Voraussetzung zu einer fast unendlichen Lernfähigkeit<br />

und sozial-kulturellen Variabilität. So ist der Mensch<br />

,,Nesthocker" und „Nestflüchter" zugleich, -ein<br />

„hilfloser Nestflüchter" (Portmann 1969)', der zunächst<br />

auf intensive Pflege und ständige Zuwendung durch<br />

seine soziale Umwelt angewiesen .ist, aber andererseits<br />

infolge seiner entwickelten Sinnesorgane und der damit<br />

korrespondierenden Weltoffenheit und<br />

Entscheidungsfreiheit sich verschiedenen kulturellen<br />

Umgebungen und gesellschaftlichen Alternativen<br />

anpassen kann bzw. dieselben auch nach seinen<br />

Wünschen und Bedürfnissen umzugestalten in der Lage<br />

ist, um in ihnen leben zu können. In diesem Sinne kann<br />

der Mensch als zugleich Schöpfer und Geschöpf der<br />

Kultur bezeichnet werden (Landmann 1961, Mühlmann<br />

1962).<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 7


Im Gegensatz zur rein biologischen Geburt stellt die<br />

<strong>Sozialisation</strong> keine „biomechanische", unabänderliche<br />

und situationsunabhängige Größe dar. Das zu sehen ist<br />

wichtig, da die Kultur und Gesellschaft, in der wir<br />

leben und der wir angehören, nur eine von vielen<br />

möglichen Arten der Konkretisierung menschlicher<br />

Lebensformen ist, innerhalb derer Neugeborene auf<br />

eine nach Ort und Zeit bemerkenswert unterschiedliche<br />

Art und Weise „Menschen werden". Welche Vielfalt<br />

gesellschaftlicher und kultureller Organisationsformen,<br />

den einzelnen prägenden Sitten und Bräuche es<br />

wirklich gibt, haben uns vor allem die Berichte der<br />

modernen Völkerkunde (Ethnologie) gezeigt. Dass das,<br />

was man - auch in der Wissenschaft - lange für<br />

„natürlich" gehalten hat, im ,wesentlichen kulturell<br />

bedingt ist und durch <strong>Sozialisation</strong> vermittelt und<br />

gelernt erscheint, hat beispielsweise die amerikanische<br />

Ethnologin Margaret Mead sehr anschaulich in den<br />

Berichten über ihre Forschungsreisen zu Naturvölkern<br />

der Südsee illustriert. Bei einem Vergleich dreier nahe<br />

beieinander lebender „primitiver" Gesellschaften auf<br />

Neuguinea, die sie in den Jahren 1925 -1933 besuchte,<br />

zeigte sich, dass nicht nur soziale Gewohnheiten,<br />

Bräuche und Sitten, sondern auch das Temperament<br />

und das geschlechtsspezifische Verhalten jedes<br />

einzelnen Menschen zutiefst von seiner Kultur geprägt<br />

sind. Selbst Eigenschaften wie „Männlichkeit" und<br />

„Weiblichkeit", die ja nach landläufiger Meinung<br />

unmittelbar aus der biologischen Mitgift erklärt werden,<br />

sind in hohem Masse sozialer Natur, d.h. Ergebnis der<br />

Auffassungen vom Mann und von der Frau, die in der<br />

jeweiligen Gesellschaft dominieren.<br />

Gemessen an unserer eigenen Kultur waren bei einem<br />

der von Margaret Mead untersuchten Stämme, den<br />

Tchambuli, die Rollen von Mann und Frau geradezu<br />

vertauscht. Die Frauen besaßen dort aktive,<br />

sachorientierte, planende und „herrische"<br />

Eigenschaften, zogen zum Fischen aus und ernährten<br />

dir Familie. Die "typisch fraulichen" Interessen gingen<br />

Ihnen völlig ab. Ihre Männer dagegen blieben Im Dorf<br />

und widmeten sich der Herstellung von Kostümen und<br />

Masken, der Malerei, dem Tanz und der Gestaltung von<br />

Festlichkeiten. Bei den benachbarten Arapesh und<br />

Mundugumor fand die Ethnologin eine völlig andere<br />

Form der Rollenverteilung und nur sehr geringe<br />

Temperamentunterschiede zwischen Mann und Frau.<br />

Bei den Arapesh zeigten Männer und Frauen eine<br />

gleichermaßen sanfte und eher ängstliche<br />

Persönlichkeitsstruktur und einen ausgesprochen<br />

altruistischen Sozialcharakter, gutmütig, freundlich und<br />

verständnisvoll gegenüber den Wünschen und<br />

Bedürfnissen anderer Menschen; bei den<br />

kannibalistischen Mundugumor erschienen beide<br />

Geschlechter in ihrem Charakter dagegen rücksichtslos<br />

und egoistisch, misstrauisch und ehrgeizig, gewalttätig<br />

und aggressiv gegenüber ihrer Umwelt.<br />

Aus den Beobachtungen geht hervor, dass diese großen<br />

Unterschiede nicht auf eine allgemeine Natur des<br />

Menschen zurückzuführen sind, sondern auf die<br />

<strong>Sozialisation</strong>, und diese wieder auf die kulturbedingten<br />

Normen, Werte und Institutionen, die sich in ihr<br />

ausdrücken. So werden die Kinder der Arapesh<br />

liebevoll umsorgt, erhalten jede Zuwendung und<br />

werden von allen Kümmernissen ferngehalten. Die<br />

Mutter ist dauernd bei ihnen; sie stillt sie sehr lange, sie<br />

ist sehr zärtlich. Das Arapesh- Kind erfährt so eine<br />

freundliche, bejahende Umgebung, in der nach<br />

Möglichkeit es nie abgewiesen und verletzt wird.<br />

Dagegen gelten Kinder bei den Mundugumor als<br />

Ärgernis und Quelle ehelicher Spannungen und<br />

Konflikte. Sie werden oft unmittelbar nach der Geburt<br />

getötet oder - sofern sie am Leben blieben mit betonter<br />

Gefühlskälte, Härte und Gleichgültigkeit behandelt. Die<br />

Mundugumor- Kinder erfahren ihre Umwelt als einen<br />

permanenten Kampfplatz, auf dem es nur um das<br />

Überleben geht. Jede „Weichheit" ist Ausdruck von<br />

Schwäche, keinem Menschen kann man vertrauen, alles<br />

muss man gewaltsam' erringen und gegen Feinde<br />

behaupten.<br />

Margaret Mead folgert aus diesen sehr<br />

unterschiedlichen <strong>Sozialisation</strong>seffekten bei Stämmen,<br />

die gar nicht so weit voneinander entfernt leben, „dass<br />

die menschliche Natur außerordentlich formbar ist und<br />

auf verschiedene Kulturbedingungen entsprechend<br />

reagiert. Individuelle Unterschiede zwischen Menschen<br />

verschiedener Kulturmilieus beruhen fast ausschließlich<br />

auf verschiedenen Umweltbedingungen, vor allem auch<br />

der frühesten Kindheit, und die Beschaffenheit dieser<br />

Umwelt wird durch die Kultur bestimmt" (Mead 1970:<br />

250).<br />

Wenn auch die Beobachtungsweisen von Margaret<br />

Mead aus heutiger methodologischer Sicht stark<br />

problematisiert und kritisiert werden können -was ja<br />

unlängst in populären und wissenschaftlichen<br />

Publikationen besonders massiv und teilweise auch<br />

polemisch geschah -, so werden doch die aus ihren<br />

Beobachtungen gezogenen allgemeinen<br />

Schlussfolgerungen in der modernen<br />

Kulturanthropologie und Ethnologie überhaupt nicht in<br />

Frage gestellt. Wir können somit festhalten, dass selbst<br />

biologische Vorgaben wie das Geschlecht oder<br />

physische Merkmale wie Körperstärke, Haarfarbe,<br />

Stellung der Nase oder des Kinns, Körpergröße u.ä., die<br />

zweifellos durch genetische Programme bestimmt sind,<br />

durch die im <strong>Sozialisation</strong>sprozess vermittelte<br />

gesellschaftliche Sinngebung erst diese oder jene<br />

soziale Bedeutung erhalten. D.h., welche tatsächliche<br />

Bedeutung das Geschlecht, der Besitz physischer Kräfte<br />

usw. hat, wird erst durch die damit verbundenen<br />

Definitionen und Zuschreibungen im jeweiligen<br />

Sozialsystem erhellt.<br />

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre<br />

Peter L. Berger & Thomas Luckmann, Die<br />

gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine<br />

Theorie der Wissenssoziologie. (Darin Kapitel II:<br />

„Gesellschaft als objektive Wirklichkeit", S. 49 - 138).<br />

Fischer: Frankfurt/Main<br />

1974.<br />

Claude Levi-Strauss, Natur und Kultur. In: Wilhelm<br />

Emil Mühlmann & Ernst W. Müller (Hrsg.),<br />

Kulturanthropologie, S. 80 - 107. Kiepenheuer &<br />

Witsch: Köln, Berlin 1966.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 8


2.4.2 Aspekte und Dimensionen der<br />

<strong>Sozialisation</strong>: <strong>Sozialisation</strong> als<br />

soziale Interaktion<br />

Aus unseren bisherigen Darlegungen wurde schon<br />

deutlich, dass sich <strong>Sozialisation</strong>svorgänge nicht auf die<br />

Kindheit beschränken, sondern als relativ allgemeiner<br />

Bestandteil des menschlichen Lebenszyklus zu<br />

verstehen sind.<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozesse lassen sich zunächst danach<br />

unterscheiden, ob es darum geht, die grundlegende<br />

Mitgliedschaft in der Gesellschaft und damit die<br />

Fähigkeit zur Teilnahme am sozialen Geschehens<br />

überhaupt erst zu erwerben, oder darum, neue<br />

Möglichkeiten der Verwirklichung dieser Beteiligung<br />

zu lernen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass<br />

nicht nur die <strong>Sozialisation</strong> als ein dynamischer Prozess,<br />

sondern auch der Begriff der Person dynamisch zu<br />

verstehen ist. Leben bedeutet eine komplexe Abfolge<br />

von Prozessen des Lernens, Verlernens und neuen<br />

Lernens.<br />

„So erfährt ein Kleinkind, dass die Umwelt auf sein<br />

Schreien in ganz bestimmter Weise reagiert. Wenn das<br />

Kind dann später eine elementare Sprache gelernt hat,<br />

wird erwartet, dass sich von da ab das Kind der Sprache<br />

bedient, statt undifferenziert zu schreien: Schreien als<br />

Form der Kommunikation ist zu verlernen, Sprechen<br />

selbst bei sehr dringlichen Bedürfnissen zu erlernen.<br />

Weinen als Form der Mitteilung des Kindes, nun<br />

wünsche es Trost und zumindest Aufmerksamkeit, wird<br />

in unserem Kulturkreis über viele Lebensjahre hinweg<br />

akzeptiert, wird dann aber mit dem Beginn des<br />

Schulalters immer weniger legitim. Zunächst soll das<br />

Kind sich vertrauensvoll an alle Erwachsenen wenden.<br />

In dem Masse, wie der Kreis der Erwachsenen, denen<br />

das Kind begegnet, differenzierter wird, soll das Kind<br />

lernen, sich differenziert zu verhalten und unbekannten<br />

Erwachsenen gegenüber misstrauisch zu sein."<br />

(Scheuch & Kutsch 1972: 103 f.). Mit anderen Worten:<br />

Die Erwartungen, die mit der Teilnahme am<br />

gesellschaftlichen Leben verknüpft sind, ändern sich<br />

mit zunehmendem Alter und mit der Erweiterung der<br />

Lebenskreise. Veränderte Situationen und Umgebungen<br />

stellen an das Individuum neue Probleme der sozialen<br />

Beteiligung und Beanspruchung. Manches muss<br />

korrigiert, manches neu erworben werden.<br />

Man bezeichnet die erste und elementare <strong>Sozialisation</strong><br />

in der frühen Kindheit als primäre <strong>Sozialisation</strong>. Sie<br />

erfolgt in der Regel in der Familie und vermittelt<br />

inhaltlich und formal die Grunderfahrungen des<br />

sozialen. Lebens in einer kleinen und vertrauten<br />

Gruppe: Das Kind lernt, welche Bedeutungen die<br />

Menschen seiner unmittelbaren Umgebung mit ihren<br />

Worten, Gesten, Mienen und mit ihrem Tun und Lassen<br />

verbinden; es lernt, sich selbst, bestimmte<br />

Verhaltensweisen bzw. vorsprachliche und dann auch<br />

sprachliche Ausdrucksformen anzueignen die die<br />

anderen verstehen und gelten lassen; und schließlich<br />

muss das Kind lernen, seine Bedürfnisse mit den<br />

Erwartungen seiner Umwelt in Einklang zu bringen.<br />

Fachlich gesprochen werden damit kognitive,<br />

sprachliche, motivationale und affektiv-emotionale<br />

Persönlichkeitsmerkmale in der primären <strong>Sozialisation</strong><br />

zunächst elementar ausgeformt.<br />

Die hierbei vermittelten gesellschaftlichen<br />

Verhaltensmuster und Erfahrungen legen zwar ein<br />

relativ solides Fundament, das im Verlauf späterer<br />

Lebensphasen jedoch nach zahlreichen Richtungen hin<br />

weiter ausgebaut und ergänzt, aber auch differenziert<br />

und modifiziert werden muss. Dies geschieht in der so<br />

genannten sekundären <strong>Sozialisation</strong>, die auf der Basis<br />

primärer Sozialisiertheit aufbaut, hingegen im<br />

wesentlichen im außerfamiliären Raum verläuft, wie<br />

z.B. im Kindergarten, in der Schule und in<br />

Freundschaftsgruppen, im Beruf, in der Freizeit, in<br />

Vereinen, in religiösen Gruppen, aber auch in<br />

„anonymen" Feldern der Konsumindustrie, der<br />

Massenmedien usw.<br />

<strong>Sozialisation</strong> müssen wir darum auch als einen<br />

kumulativen, aktuell sich vollziehenden lebenslangen<br />

Prozess verstehen, der nicht - wie manche Autoren<br />

(z.B. Schelsky 1963: 84 ff.) noch annahmen – mit dem<br />

Ende der Jugendphase als abgeschlossen gelten kann. In<br />

jeder neuen Lebensphase ergeben sich insbesondere<br />

auch unter veränderten materiellen Bedingungen und<br />

durch den Wechsel von sozialen Beziehungen (z.B. bei<br />

Eheschließung, Berufswechsel, Arbeitslosigkeit, Wahl<br />

in einen Vereinsvorstand, Pensionierung, Umzug in ein<br />

Altersheim) immer wieder neue<br />

<strong>Sozialisation</strong>skonstellationen, die beim Individuum<br />

Veränderungen von bestehenden bzw. die Übernahme<br />

neuer Handlungsfähigkeiten erforderlich machen. So<br />

lässt sich unter soziologischer Perspektive für unsere<br />

Kultur und Gesellschaft als eine mögliche<br />

Strukturgliederung im Lebenslauf beispielsweise<br />

folgende Phaseneinteilung der sozialen Bedingungen<br />

und Folgen des lebenslangen <strong>Sozialisation</strong>sprozesses<br />

vornehmen.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 9


Tab. l:<br />

Kulturspezifische Lebensalterphasen und <strong>Sozialisation</strong>sbedingungen eines lebenslangen<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozesses in der industriellen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland<br />

(Österreich)<br />

Soziologische Soziales Feld, sozialisationsdominante Orientierungen und<br />

Lebensaltersphasen<br />

1) Kleinstkind<br />

(bis 2 Jahre)<br />

2) Familienkind (ca. 2. - 4.<br />

Lebensjahr)<br />

3) Nachbarschaftliches<br />

Spielkind (ca.4. - 6.<br />

Lebensjahr)<br />

4) Schulkind (ca. 6. - 15.<br />

oder 16. Lebensjahr)<br />

5) Lehrling, Berufs-, Fach-<br />

oder Hochschüler<br />

(ca. 15. - 18. Lebensjahr<br />

und vielfach darüber<br />

hinaus)<br />

6) Lediger, junger<br />

Erwachsener (ca. 18.<br />

Lebensjahr -Heirat,<br />

durchschnittliches<br />

weibliches Heiratsalter<br />

22,9 männliches 25,6 /<br />

auf ca. 29 Lj. gestiegen)<br />

7) Phase des mittleren<br />

Erwachsenendaseins<br />

(etwa von der<br />

Heirat bis zum<br />

Ausscheiden<br />

der Kinder aus dem<br />

elterlichen Haushalt, ca.<br />

v. 24. bis zum 45./ S O.<br />

Lebensjahr)<br />

8) Phase des älteren<br />

Erwachsenen (etwa vom<br />

45./50. bis zum 60./65.<br />

Lebensjahr; u, zur<br />

beruflichen<br />

Pensionierung)<br />

9a) Die Phase des<br />

rüstigen alten<br />

Menschen im<br />

Pensionsalter<br />

(ab 60./65. Lebensjahr)<br />

9b) Die Phase des<br />

pflegebedürftigen alten<br />

Menschen<br />

Rollenpartner<br />

Mutter (und zusätzliche andere Mitglieder der Kleinfamilie). .<br />

Kleinfamilie und ihr Verkehrskreis (Verwandte, Nachbarn, Freunde, Handwerker,<br />

Postbote, Arzt, Kaufleute u.a.m.).<br />

Neben Feld 1 und 2 werden nachbarschaftliche Spielgruppe und Kindergarten- bzw.<br />

Vorschulgruppe einflussreich.<br />

Neben den Feldern 1 - 3 erhält die staatlich bestimmte Organisationsstruktur der Schule<br />

mit den Lehrern als Autoritätspersonen in Schulorganisation, !.ehre und Prüfung große<br />

Bedeutung; Motivierung und Disziplinierung tätig zu systematischem schulischen Leinen,<br />

individuelle Leistungskonkurrenz.<br />

Zu den <strong>Sozialisation</strong>sinstanzen aus den Feldern 1 - 4 kommen der Betrieb, die<br />

Berufsschule, die Verkehrsgruppe der Gleichaltrigen in einer stark jugendspezifischen<br />

Freizeitsubkultur; Probleme der Berufswahl, der Ausbildungsplatzsuche und der<br />

Geschlechtspartnerbeziehung werden dominant.<br />

Der öffentliche Raum mit Wahlpflicht und mit der militärischen oder der<br />

Ersatzdienstorganisation kommen zu den Feldern 1 - 5; mit Ende der Lehrzeit ergibt sich<br />

eine stärker selbst bestimmte berufliche Mobilität. Fragen der Ehepartnersuche und<br />

Orientierung auf eine familiale und berufliche Lebensperspektive treten in den<br />

Vordergrund.<br />

Soziale Strukturen aus den Feldern 1 - 6 wirken selektiv nach. Neue<br />

<strong>Sozialisation</strong>sanforderungen ergeben sich aus eigenem Haushalt, Gattenrolle, Elternrolle;<br />

aus der Erfahrung der Abhängigkeit des eigenen und des familialen Status von beruflicher<br />

Ausbildung, Fortbildung und Initiative. Dazu treten evtl. zusätzliche<br />

<strong>Sozialisation</strong>swirkungen durch Mitgliedschaften bei Verbänden, Elternbeiräten,<br />

Freizeitvereinigungen.<br />

Schwiegerkinder und schwiegerelterliche Rollenprobleme.<br />

Nachlassen beruflicher Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit, Konfrontation mit<br />

konkurrierendem jüngerem beruflichen Nachwuchs; Altersabstieg der eigenen Eltern in<br />

die statusmindernde Pensionierung, .die Verwitwung und evtl. in die Pflegebedürftigkeit.<br />

1) Konfrontation mit dem Problem der stetigen Altersfreizeit und des<br />

Ausgeschiedenseins aus Berufstätigkeit und Berufseinfluss;<br />

2) mit Fragen und Möglichkeiten früherer oder Entwicklung neuer Hobbies, der<br />

hobbyartigen Weiterführung früherer Berufsinteressen und Berufsbeziehungen;<br />

3) Konfrontation mit einem schrumpfenden Haushalt, mit Pflegebedürftigkeit und<br />

Verlust des Ehepartners,<br />

4) mit dem Problem einer adäquaten und optimalen Distanz zu Haushalt, Ehe und<br />

Familie der Kinder;<br />

5) zunehmende Begegnung mit den Organisationsstrukturen des Gesundheitswesens<br />

und der Altersfürsorge und<br />

6) mit dem Problem des sich nähernden Lebensendes.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 10


Bei der Untersuchung einfacher, d.h. überschaubarer<br />

und relativ „stabiler", nicht-industrieller Gesellschaften<br />

der Vergangenheit wird dieser lebenslange<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozess möglicherweise weniger<br />

offenkundig als in den hoch differenzierten und<br />

dynamischen Industriegesellschaften der Gegenwart,<br />

deren ökonomische, politische, soziale und kulturelle<br />

Strukturen raschen Wandlungen und rapiden<br />

Umbrüchen unterworfen sind. Gerade in unserer<br />

Gegenwart gewinnt daher dieser Prozess - und damit<br />

verbunden die Notwendigkeit lebenslangen Lernens -<br />

sowohl individuell als auch sozial zunehmend an<br />

existentieller und funktionaler Bedeutung.<br />

Schließlich soll nochmals ausdrücklich auf dir<br />

Eigenaktivität des Individuums im<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozess verwiesen werden. Zwar Ist das<br />

zu sozialisierende Kind in seinen ersten Lebensjahren<br />

in seinem physischen Überleben völlig abhängig von<br />

seiner sozialen Umwelt, was es damit „bezahlt", dass es<br />

sich dieser Umwelt anpasst. Aber diese „Anpassung"<br />

erfolgt ja nicht so,, dass das Kind einfach alles<br />

aufnimmt, sondern es trifft schon unbewusst eine<br />

Auswahl .aus der angebotenen Fülle. Was ihm nicht<br />

passt, das sieht und hört es nicht; es lernt also durchaus<br />

nicht alles, und was es lernt, lernt es verschieden gut.<br />

So setzt sich also das Individuum - mit zunehmendem<br />

Alter immer deutlicher -auch bewusst und unbewusst<br />

mit seiner materiellen und gesellschaftlichen Umwelt<br />

auseinander, wirkt auf dieselbe zurück und macht sie<br />

sich auf seine eigene Art und Weise zu eigen.<br />

<strong>Sozialisation</strong>svorgänge sind deshalb keineswegs<br />

einseitig, sondern müssen notwendigerweise als soziale<br />

Interaktionsprozesse begriffen werden, - ein Aspekt,<br />

den beispielsweise Goslin (1969) betont, wenn er die<br />

<strong>Sozialisation</strong> als einen „two- way" - Prozess<br />

charakterisiert.<br />

In einem sozialen Interaktionssystem wie z.B. der<br />

Familie wird jedes Mitglied das Verhalten eines jeden<br />

anderen Familienmitglieds beeinflussen, regulieren und<br />

somit wechselseitig sozialisieren. Solche Effekte kann<br />

man ja immer wieder beobachten, wenn ein Ehepaar<br />

bei der alltäglichen physischen und psychischen<br />

Versorgung seines ersten Kindes allmählich jene<br />

Handlungsfähigkeiten lernt, die seine Elternrolle<br />

schließlich konstituieren, oder wenn der junge, eben<br />

von der Hochschule entlassene Lehrer erst „mit Hilfe"<br />

seiner Schüler in seine Lehrerrolle hineinwächst.<br />

Zwar könnte hierzu angemerkt werden, dass in dem<br />

angeführten Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung die<br />

Eltern ja ihren Säugling in seiner prägsamsten Zeit<br />

(primäre <strong>Sozialisation</strong>) beeinflussen, während<br />

umgekehrt die beispielsweise durch das Lächeln des<br />

Kindes hervorgerufenen <strong>Sozialisation</strong>seffekte die<br />

Eltern zu einem Zeitpunkt treffen, in dem ihre<br />

Persönlichkeitsentwicklung im allgemeinen bereits eine<br />

bestimmte Strukturierung, Ausprägung und Reife<br />

erreicht hat (sekundäre <strong>Sozialisation</strong>), also solche<br />

wechselseitigen <strong>Sozialisation</strong>sprozesse auf zwei<br />

verschiedenen qualitativen Ebenen ablaufen. Doch<br />

lassen sich solche gegenseitigen<br />

<strong>Sozialisation</strong>swirkungen natürlich auch in<br />

„horizontalen" Interaktionsbeziehungen altersgleicher<br />

Partner nachweisen, - etwa zwischen Geschwistern,<br />

den Spielgefährten in 'der Kindergartengruppe,<br />

zwischen den Schülern einer Klasse und<br />

selbstverständlich auch zwischen Erwachsenen.<br />

So lässt sich also sagen, dass im <strong>Sozialisation</strong>sprozess<br />

das Individuum psychisch und sozial zu einem<br />

potentiell handlungsfähigen menschlichen Subjekt<br />

wird, das nicht nur in der Lage ist, sich seiner<br />

gesellschaftlichen Umwelt anzupassen und sich ihren<br />

Erwartungen entsprechend zu verhalten, sondern das<br />

zugleich auch kommunikativ und interaktiv auf deren<br />

Gestaltung Einfluss zu nehmen vermag.<br />

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre<br />

Michael Argyle, Soziale Interaktion. (Darin<br />

insbesondere Kapitel 2: „Biologische und kulturelle<br />

Ursprünge der Interaktion", S. 26 - 89). Kiepenheuer<br />

&. Witsch: Köln 1969.<br />

George McCall & J.L. Simmons, Identität und<br />

Interaktion. Untersuchungen über<br />

zwischenmenschliche Beziehungen im Alltagsleben.<br />

(Darin Kapitel 8: „Der interaktive Werdegang des<br />

Individuums", S. 213 - 237). Schwann: Düsseldorf<br />

1974.<br />

Karl Reinhold Mühlbauer, <strong>Sozialisation</strong>. Eine<br />

Einführung in Theorien und Modelle. (Darin „Zum<br />

wissenschaftlichen Stand der<br />

<strong>Sozialisation</strong>sforschung", S. 13 - 26). Fink: München<br />

1980.<br />

Im Prinzip wird damit der <strong>Sozialisation</strong>svorgang nicht<br />

nur als Integrations-, sondern auch als Durchdringungs-<br />

(Interpenetrations-) Prozess von Kultur, Gesellschaft<br />

und Person gedeutet. <strong>Sozialisation</strong> selbst erscheint<br />

bereits inhaltlich mit den gegebenen<br />

allgemeingesellschaftlichen bzw.<br />

subkulturell-spezifischen Normen, Werten und<br />

sozial-strukturell verankerten Institutionalisierungen<br />

festgelegt. Der <strong>Sozialisation</strong>sprozess ist um so<br />

erfolgreicher, je mehr das Individuum seine Rolle auch<br />

„ist".<br />

Das dieser Denkfigur unterliegende „elementare<br />

Modell" einer <strong>Sozialisation</strong>ssequenz lässt sich graphisch<br />

wie folgt veranschaulichen:<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 11


Abbildung 5:<br />

Struktur einer elementaren <strong>Sozialisation</strong>ssequenz<br />

SAG<br />

<strong>Sozialisation</strong>sagent<br />

Rollenerwartung<br />

Bereich des sozialen Systems,<br />

in dem das Individuum mit der<br />

Rollenerwartung konfrontiert<br />

wird (Bezugsgröße)<br />

I II III<br />

RT<br />

Sozialisand<br />

Quelle: Frey 1914: 42, entnommen Henecka 1980:98<br />

Das Feld I bezeichnet gewissermaßen einen „Input" von<br />

Seiten des „<strong>Sozialisation</strong>sagenten" (z.B. Eltern, Lehrer<br />

u.ä.), mit dem der Sozialisand interagiert und<br />

kommuniziert. In der Konsequenz dieses Inputs wird in<br />

Feld Il auf der personalen Ebene des Sozialisanden und<br />

potentiellen Rollenträgers ein individual-<br />

psychologischer Umsetzungs- und Lernprozess in Gang<br />

gebracht, der die individuellen Bedürfnisse des<br />

Handelnden mit den Erwartungen seiner<br />

Interaktionspartner in Einklang bringt. Dies äußert sich<br />

dann in Feld III als „Output" in einem mehr oder<br />

weniger angepassten faktischen Verhalten des<br />

Rollenträgers. Allzu starke Abweichungen von der<br />

idealen Entsprechung der Rollenerwartung werden als<br />

„Pannen" oder „Defekte" im <strong>Sozialisation</strong>sprozess<br />

angesehen bzw. als individuelle „Kurzschlüsse" und<br />

„Fehlreaktionen" bedauert und je nach dem Grad der<br />

Abweichung entsprechend scharf negativ sanktioniert.<br />

Die strukturell-funktionale Handlungs- und<br />

<strong>Sozialisation</strong>stheorie geht also aus - insbesondere in der<br />

Version von Parsons - von der Frage nach den<br />

Bedingungen, unter denen soziale Systeme stabil und<br />

überlebensfähig sind. Eine relative Gleichförmigkeit des<br />

Verhaltens und Handelns verschiedener Individuen in<br />

gleichen sozialen Situationen wird hierfür als<br />

entscheidende Voraussetzung angenommen.<br />

Entsprechend wird der Vermittlungsprozess von<br />

Individuum und Gesellschaft einseitig oder zumindest<br />

primär von der gesellschaftlichen Ebene her betrachtet,<br />

wenn <strong>Sozialisation</strong> in anpassungsmechanistischer<br />

Tendenz als ein Vorgang begriffen wird, durch den ein<br />

Individuum von diversen <strong>Sozialisation</strong>sagenturen und<br />

-medien in bestehende soziale Rollen- und<br />

Faktoren<br />

der<br />

Persönlichkeitsstruktur<br />

„Dispositionen“<br />

Verarbeitung der Rollenerwartung<br />

durch das Individuum als<br />

Potentieller Rollenträger (RT)<br />

V RT<br />

Schwankungsbereich des<br />

tatsächlichen Rollenverhaltens V<br />

innerhalb des sozialen<br />

Systems (Messgröße)<br />

VEE<br />

ideale<br />

Ent-<br />

sprechung<br />

der<br />

Rollen-<br />

erwartung<br />

Interaktionssysteme integriert wird, in denen es die<br />

normativen Erwartungen seiner Kultur lernt,<br />

verinnerlicht und dann ihnen entsprechend handelt.<br />

Letztlich geht diese <strong>Sozialisation</strong>stheorie von einem<br />

voll sozialisierten Individuum aus, das selbst wieder<br />

vorwiegend als Element eines integrierten<br />

Sozialsystems verstanden und in dieser<br />

Betrachtungsweise vorrangig auf seine Funktionalität<br />

für dieses System untersucht wird. Unterstellt wird<br />

gleichzeitig, dass beim einzelnen Menschen jeglicher<br />

„Naturrest" in Form von Triebimpulsen und Affekten<br />

kulturell überformt bzw. von den gesellschaftlichen<br />

Wertvorstellungen und Institutionen absorbiert worden<br />

ist. Fraglos bleiben hierbei aber jene Dimensionen<br />

möglicher Freiheitsgrade des Handelns und Denkens<br />

weitgehend unberücksichtigt, "in denen das Verhältnis<br />

des handelnden Subjekts zu seinen Rollen gefasst<br />

werden kann" (Habermas 1968: 8).<br />

Mit anderen Worten: Die Anteile des .Individuums (das<br />

immer noch „mehr" ist als das Bündel der von ihm<br />

„getragenen" Rollen) am konkreten Rollenspiel,<br />

Probleme der autonomen Stellungnahme und der<br />

kritischen Auseinandersetzung des Individuums mit<br />

seinen Rollen werden von einer. rein rollentheoretisch<br />

arbeitenden, strukturell-funktional orientierten<br />

<strong>Sozialisation</strong>sforschung nicht erfasst, „es sei denn mit<br />

dem Hinweis auf das im Prinzip über den Mechanismus<br />

der Sanktionen erfolgende ,Einspielen` des Menschen<br />

auf seine Rolle, eine Grundannahme, die ein deutlich<br />

pessimistisches Bild vom Menschen verrät" (Hartfiel<br />

1973: 28).<br />

Empirisch ist unschwer nachweisbar, dass es sich bei<br />

den Annahmen des Parsonsschen <strong>Sozialisation</strong>s- und<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 12


Rollenmodells eher um idealtypische Annahmen<br />

handelt. Explizit deutlich wird das bei Dahrendorf, der<br />

ja seine Rollentheorie nicht auf wirkliche Menschen<br />

bezog, sondern eben auf die Konstruktion von „homo-<br />

sociologicus" (analog den wirtschafts- und<br />

politikwissenschaftlichen Konstrukten des „homo<br />

oeconomicus" und des „homo politicus"), - auf ein<br />

Modell vom „soziologischen Menschen" also, an dem<br />

man das „ideale" Rollenverhalten ableiten kann.<br />

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre<br />

Hans-Peter Frey, Theorie der <strong>Sozialisation</strong>. Integration<br />

von system- und rollentheoretischen Aussagen in<br />

einem mikrosoziologischen Ansatz. (Darin<br />

insbesondere Teil I/3: „Die Funktion von<br />

<strong>Sozialisation</strong>smechanismen Im gesell- Systemmodell<br />

vom Parsons", S. 4 - 18). Enke: Stuttgart 1914.<br />

Rainer Geissler, Die <strong>Sozialisation</strong>stheorie von Talcott<br />

Parsons. Anmerkungen zur Parsons-Rezeption in der<br />

deutschen Soziologie. In: Kölner Zeitschrift für<br />

Soziologie und Sozialpsychologie, 31. Jahrgang, H. 2,<br />

1979, S. 267 - 281.<br />

2.4.5 Sind wir wirklich alle Schauspieler? -<br />

Zur Kritik und Erweiterung des<br />

Rollenmodells<br />

Kritische Einwände gegen die analytische<br />

Fassungskraft und theoretische Reichweite des<br />

strukturell-funktionalen <strong>Sozialisation</strong>s- und<br />

Rollenkonzepts kamen vor allem von jenen, die weniger<br />

an einer (idealtypischen) Rekonstruktion sozialer<br />

Systeme als an Aussagen über das tatsächliche soziale<br />

Alltagshandeln interessiert waren. Bedenken gegen die<br />

übermäßige Betonung des gesellschaftlich Normativen<br />

und damit auch gegen die, die sozialisierende Seite des<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozesses akzentuierenden Rollentheorie<br />

(= sog. „normatives Paradigma") wurden insbesondere<br />

von jenen Soziologen und Sozialpsychologen<br />

formuliert, die sich eher der Schule des so genannten<br />

„Symbolischen Interaktionismus" verpflichtet fühlen<br />

(z.B. Gouldner 1960, Turner 1962, Goffmann 1973,<br />

Wilson 1973 u. a.).<br />

Dieser von George Herbert Mead (1862 - 1931)<br />

begründete - allerdings erst nach dessen Tod zur<br />

breiteren wissenschaftlichen Anerkennung und Geltung<br />

gelangende - soziologisch-sozialpsychologische<br />

Theorieansatz (vgl. Mead 1973, zuerst 1934 postum)<br />

berücksichtigt zur Erfassung des alltäglichen<br />

Normalfalles von sozialem Handeln nämlich stärker die<br />

individuierenden Aspekte des <strong>Sozialisation</strong>sgeschehens,<br />

indem es ihm. darauf ankommt, im Spannungsfeld<br />

zwischen den rollenmäßigen Begrenzungen und<br />

Zwängen der Gesellschaft und den primären<br />

Bedürfnissen und Voraussetzungen des Individuums<br />

jene individuellen Freiheitsräume sozialen Handelns<br />

auszumachen und jene menschlichen<br />

Grundqualifikationen zu erkennen, die eine relative<br />

Autonomie bzw. subjektive Interpretation des<br />

Individuums beim Rollenspiel ermöglichen (= sog.<br />

„interpretatives Paradigma").<br />

Der symbolische Interaktionismus deutet die<br />

Entwicklung des zwischenmenschlichen Handelns und<br />

Verhaltens nicht nach dem Lernmodell von „Reiz"<br />

(Stimulus) und „Reaktion" (Response), sondern betont<br />

nachhaltig die kommunikativen und symbolischen<br />

Aspekte vom <strong>Sozialisation</strong>. Menschliches Verhalten<br />

entsteht zwar aus der Teilnahme an sozialen Prozessen<br />

innerhalb sozialer Strukturen und Ordnungen, beruht<br />

jedoch grundlegend auf Interaktion und Kommunikation<br />

und bedient sich überwiegend symbolischer- Zeichen,<br />

insbesondere der Sprache. Durch gemeinsame<br />

Interpretationen erhalten alle Gegenstände, Strukturen,<br />

Personen und Verhaltensweisen der jeweiligen Kultur<br />

soziale Bedeutungen („meanings"), die es dem<br />

Individuum ermöglichen, soziales Handeln - wie<br />

beispielsweise Rollenhandeln - stets intentional, d.h. mit<br />

einem bestimmten Sinngehalt, zu verwirklichen (vgl.<br />

Krappmann 1975: 20 f., Lindesmith & Strauss 1974: 27<br />

ff.) D.h., die soziologische Grundfrage nach den<br />

Entwicklungsgesetzen menschlichen Zusammenlebens<br />

beantwortet der symbolische Interaktionismus mit dem.<br />

Prinzip einer einvernehmlichen Interpretation über<br />

Gegenstandsbedeutungen im Rahmen sozialer<br />

Beziehungen, in die sich die Persönlichkeitsentwicklung<br />

als Zusammenhang von „Interaktion" und „Selbst"-<br />

Entwicklung eingliedern lässt („Modell einer<br />

vereinbarten Ordnung", Strauss 1969: 19J.<br />

Diese nicht ganz einfachen Ableitungen versucht Mead<br />

im amerikanischen Original seiner Schriften mit den<br />

Termini ,J" und "me" zu erhellen. Beide Begriffe wären<br />

im Deutschen mit „ich" wiederzugeben, was jedoch die<br />

von Mead beabsichtigte Differenzierung verwischen<br />

würde. Mit der grammatikalischen Unterscheidung von<br />

„1" als Subjektfall und "me" als Objektfall der ersten<br />

Person Singular möchte Mead vielmehr bewusst auf<br />

zwei verschiedene Seiten des sozialen Handelns<br />

aufmerksam machen. Auf die uns bereits geläufige<br />

Theatermetapher bezogen, stellt das "me" die objektive<br />

Seite des Rollenspiels dar, das von anderen auf die<br />

Aufführungsrichtigkeit und „Werktreue" des „sozialen<br />

Textes" hin beobachtet und kontrolliert wird, während<br />

das „I" den subjektiven Aspekt, nämlich den<br />

Schauspieler in seiner persönlichen Originalität und<br />

individuellen Unverwechselbarkeit sowie der<br />

schöpferischen Interpretation seiner Rolle zum<br />

Ausdruck bringt. Oder allgemeiner formuliert: Das<br />

"me" besteht aus einer Reihe von gesellschaftlich<br />

vorbestimmten und normierten Rollen (z.B. Lehrer oder<br />

Schüler, Sohn oder Tochter, Katholik oder Protestant)<br />

und stellt meine soziale Identität dar, während das nach<br />

Verwirklichung meiner genuin eigenen Bedürfnisse<br />

drängende „1" das Freiheitspotential meines „Selbst",<br />

d.h. meine personale Identität bezeichnet. Das „I" denkt<br />

über die zugemuteten oder vorgeschriebenen Rollen<br />

nach, sucht sie individuell zu gestalten oder kennt auch<br />

Wege, sich unter bestimmten Voraussetzungen dem<br />

Zwang tradierter Kulturmuster zu entziehen.<br />

Aus dieser Konstruktion von „I" und "Me" ergibt sich<br />

für die Binnenstruktur des Selbst ein labiles<br />

Gleichgewicht. Begreift man bildhaft die analytische<br />

Trennung zwischen „I" und "me" gewissermaßen als<br />

eine flexible Membrane, so lassen sich die<br />

Austauschprozesse zwischen „I" und "me" etwa<br />

folgendermaßen erläutern:<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 13


Abbildung 6:<br />

Das labile Gleichgewicht der Ich-Identität<br />

Tendenzen der<br />

Individuation<br />

und<br />

Personalisation<br />

H. P. Henecka 1980: 122<br />

„Selbst“<br />

Je stärker die Umwelt seitens ihrer<br />

<strong>Sozialisation</strong>sagenturen bestimmte Erziehungsziele<br />

verfolgt und z.B. den Wert der sozialen Anpassung und<br />

Gleichförmigkeit über den der individuellen Originalität<br />

und Kreativität stellt (und derartige Ziele über damit<br />

korrespondierende Erziehungspraktiken und<br />

<strong>Sozialisation</strong>skontrollen absichert), um so mehr wird<br />

das Individuum gesellschaftlichem Druck ausgesetzt<br />

werden und seine (tendenziell gleichfalls<br />

expandierenden) Selbstverwirklichungstendenzen<br />

einschränken müssen. Das heißt, der individuelle<br />

Gestaltungs- und Einflussbereich des Individuums wird<br />

entsprechend beschnitten. Im äußersten Fall kann dies<br />

zu pathologischen Grenzfällen zwischenmenschlicher<br />

Beziehungen verkümmern, wie dies in extremen<br />

lnteraktionssystemen wie Kasernen, Gefängnissen oder<br />

(psychiatrischen) Kliniken – so genannten „totalen<br />

Institutionen" (Goffman 1973 a) - vorkommen -mag,<br />

wenn die Insassen auf nur eine einzige und überdies<br />

noch sehr rigide definierte Rolle fixiert werden. Einen<br />

umgekehrten Fall stellt gewissermaßen die ausufernde<br />

Tendenz zur Ignorierung gesellschaftlicher Ansprüche<br />

und Notwendigkeiten dar, wie sie beispielsweise in<br />

extremer Form als soziale Extravaganz, übersteigerter<br />

Egozentrismus oder in gesellschaftsfeindlichen,<br />

„asozialen" Attitüden in Erscheinung treten kann. Von<br />

daher wird es verständlich, dass sich das pädagogische<br />

Problem der Vermittlung und Gewinnung von<br />

Ich-Identität mit zunehmender Modernität und<br />

wachsender Komplexität einer Gesellschaft verschärft.<br />

Infolge des Pluralismus von Werten und daraus<br />

resultierenden partiellen oder grundsätzlichen<br />

Widersprüchen in Bezug auf Ziele der Erziehung oder<br />

„I“ „me“ Tendenzen<br />

der<br />

Vergesellschaftung<br />

Personale Identität Soziale Identität<br />

Ich - Identität<br />

Inhalte der <strong>Sozialisation</strong> werden pädagogische<br />

Probleme in dem Ausmaße schwieriger, „wie die Zahl<br />

der Gruppen, in denen der einzelne lebt, größer und ihre<br />

Heterogenität intensiver wird" (Braun & Hahn 1973: 11<br />

1).<br />

Die im Anschluss an die Überlegungen von Mead<br />

vorgenommene Kritik und Erweiterung der<br />

herkömmlichen Rollentheorie geht über die begriffliche<br />

Darstellung der An- und Einpassungsprozesse des<br />

Menschen an und in ein soziales System vorgegebener<br />

Rollenstrukturen und -funktionen hinaus, indem auch<br />

die Prozesse menschlicher Individuation und<br />

Personalisation thematisiert werden. Gleichzeitig wird<br />

der Versuch unternommen, die sozialstrukturellen<br />

Bedingungen. aufzudecken und auszuleuchten, die einer<br />

sozial wirksamen Individualität bzw. Autonomie dm<br />

Person eher förderlich oder eher hinderlich sind.<br />

Illustrieren lässt sich dieses analytische Vorgehen an<br />

einem Versuch Hans Peter Dreitzels, soziale Rollen<br />

entsprechend zu klassifizieren. Auch Dreitzel geht<br />

hierbei zunächst von zwei Grenzfällen des sozialen<br />

Handelns aus: zum einen von rigide festgelegten Rollen,<br />

zum anderen vom Rollen mit einem relativ hohen<br />

Toleranz- und Gestaltungsspielraum. Im ersten Fall<br />

wird der Rollenträger dazu gezwungen, sich mit seiner<br />

Rolle zu identifizieren, im zweiten Fall wird es ihm<br />

aufgrund der verhältnismäßig vagen und „offenen"<br />

Rollenerwartungen ermöglicht, aktive Ich-Leistungen<br />

einzubringen und die Rolle individuell und schöpferisch<br />

zu gestalten. Die zunehmende Verfügbarkeit des<br />

Individuums über seine sozialen Rollen ergibt sich dann<br />

aus den beiden Koordinaten „abnehmende<br />

Identifikation" und „zunehmende Ich-Leistungen":<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 14


Abbildung 7:<br />

Determinanten der Verfügbarkeit über soziale Rollen<br />

Abnehmende<br />

Identifikation<br />

Quelle: Dreitzel 1972: 138<br />

„Die Verfügbarkeit der sozialen Rollen wächst mit dem<br />

Abstand vom Nullpunkt beider Koordinaten: je größer<br />

die geforderten Ich-Leistungen und je geringer die<br />

erforderliche Identifikation bei einer sozialen Rolle ist,<br />

desto leichter kann der Rollenspieler über seine Rolle<br />

verfügen, sich von ihr lösen oder auch sie abwandeln<br />

und ausgestalten" (Dreitzel 1972: 138).<br />

Dreitzel begründet dieses Modell mit dem Hinweis<br />

darauf, dass die Dimension „abnehmende<br />

Identifikation" eng mit der gesellschaftlichen Herkunft<br />

der Rollennormen zusammenhängt, während die<br />

Dimension „zunehmende Ich-Leistungen" in hohem<br />

Maße von der Art der sich mit einer Rolle verbindenden<br />

Verhaltenserwartungen abhängig ist. Das folgende<br />

Klassifikationsschema zeigt denn auch, wie sich der<br />

Wachsende Verfügbarkeit<br />

Zunehmende Ich-Leistungen<br />

Zwang des Rollenspielers zur Identifikation mit seiner<br />

Rolle graduell verändert. Während die weitgehend<br />

verinnerlichten „personenbezogenen" Rollen noch einen<br />

sehr hohen Identifikationsgrad voraussetzen, nimmt<br />

über die „organisationsbezogenen" bis hin zu den<br />

„situationsbezogenen" Rollen der Identifikationsdruck<br />

sukzessiv ab. Entsprechend wachsen die Möglichkeiten<br />

des Individuums zu interpretierenden Ich-Leistungen<br />

mit dem graduell abnehmenden Zwangscharakter der<br />

sozialen Normen. Die individuelle Verfügbarkeit über<br />

soziale Rollen und damit die subjektive<br />

Interpretationschance ist bei den <strong>Sozialisation</strong>srollen<br />

(Kind, Patient) am geringsten, bei den situativ<br />

gestaltbaren Kontaktrollen (Nachbar, Gastgeber) am<br />

umfassendsten.<br />

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Abbildung 8:<br />

Klassifikationsschema für soziale Rollen (nach Dreitzel 1972: 140).<br />

Abnehmende Identifikation<br />

Interaktions-<br />

normen<br />

situations-<br />

bezogen<br />

Herrschafts-<br />

normen<br />

organisations-<br />

bezogen<br />

Kulturelle<br />

Normen<br />

personen-<br />

bezogen<br />

Herkunft<br />

der<br />

Normen<br />

Art<br />

der<br />

Normen<br />

Spiel- Rollen<br />

Verkehrs-<br />

Teilnehmer<br />

Fußball-<br />

Spieler<br />

Ausführungsrollen<br />

Soldat<br />

Strafgefangener<br />

Sozialisierungs-<br />

Rollen<br />

Kind<br />

Patient<br />

Vollzugsnormen<br />

Gehorsam<br />

gegenüber<br />

Regeln<br />

In ähnlicher Weise unterscheidet auch Habermas in<br />

seinen „Thesen zur Theorie der <strong>Sozialisation</strong>" soziale<br />

Rollen „nach dem Grad ihrer Repressivität, dem Grad<br />

ihrer Rigidität und der Art der von ihnen auferlegten<br />

Verhaltenskontrollen" (Habermas 1968: 10). Dadurch<br />

lassen sich unterschiedliche faktische oder potentielle<br />

Interpretationsmargen ausmachen, die das Gleichnis<br />

vom Menschen als Schauspieler und die<br />

Veranschaulichung des sozialen Handelns durch das<br />

Szenario des Theaters in entscheidenden Punkten<br />

ergänzen. Ist der Auftritt des Akteurs auf der<br />

Theaterbühne durch seinen Rollentext und die<br />

Regieanweisung weitgehend festgelegt und sind auch<br />

die Mitspieler entsprechend auf bestimmte Stichwörter<br />

fixiert und auf bestimmte, ihren Part auslösende<br />

Handlungen angewiesen, so erweist sich doch im<br />

sozialen Alltag der Rahmen der vorgegebenen Aktions-<br />

und Reaktionsweisen bei den meisten Rollen offen für<br />

mehrere Handlungsalternativen. Mit anderen Worten:<br />

Trotz aller Präskriptionen von Normen, trotz<br />

institutioneller Verfestigungen und trotz vielfältiger<br />

sozialer Kontrollen ist in den meisten Fällen die<br />

Bewältigungsrollen<br />

Prüfling<br />

Diskussions-<br />

Leiter<br />

Arbeitsrollen<br />

Postbeamter<br />

Arbeiter<br />

Vereins-<br />

vorsitzender<br />

Helfer – Rollen<br />

Eltern<br />

Doktorvater<br />

Seelsorger<br />

Qualitätsnormen<br />

Bewältigung<br />

von<br />

Aufgaben<br />

Kontaktrollen<br />

Nachbar<br />

Gastgeber<br />

Leistungsrollen<br />

Politiker<br />

Schauspieler<br />

Wissenschafter<br />

Beziehungsrollen<br />

Ehemann<br />

Liebhaber<br />

Charismatischer<br />

Führer<br />

Gestaltungsnormen<br />

Stil<br />

der<br />

Wertrealisierung<br />

Zunehmende Ich- Leistungen<br />

Darstellung der jeweiligen Rolle für den Rollenträger<br />

durchaus ein schöpferischer Akt, fordert. ihn in der<br />

konkreten Situation zur Konstruktion seines Verhaltens<br />

auf und zwingt ihn auch zur gelegentlichen<br />

Improvisation. Wie das Individuum hierbei die Rolle<br />

entwirft und den gegebenen bzw. wahrgenommenen<br />

Spielraum ausfüllt, hängt sehr stark davon ab, wie es<br />

das sich entfaltende Verhalten seiner Interaktionspartner<br />

berücksichtigt, abschätzt und „versteht", wie die am<br />

Rollenspiel Beteiligten ihre Situation erkennen und<br />

definieren und ihre wechselseitigen Erwartungen<br />

aufeinander abstimmen.<br />

Bezugspunkte der Situationsdefinition sind neben den<br />

subjektiv wahrgenommenen „äußeren" Bedingungen<br />

der Situation das Konzept des Selbst in der jeweiligen<br />

Situation und die (oft sehr unterschiedlichen)<br />

Vorstellungen, die die Handelnden mit der Rolle ihres<br />

Gegenübers verbinden (vgl. Mead 1973). Über ein in<br />

der Regel von außen nicht wahrnehmbares und<br />

beobachtbares und auch nur teilweise den Handelnden<br />

selbst immer ganz bewusstes wechselseitiges Sich-<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 16


Abtasten, Sich- Vergleichen, Sich- Ausprobieren<br />

vollzieht sich zwischen den Interaktionspartnern ständig<br />

ein „Handel um Identität" (McCall & Simmons 1974).<br />

Ziel und Zweck ist es, dabei herauszufinden, wie der<br />

andere mich wohl in meiner Rolle haben möchte, bzw.<br />

den anderen deutlich zu machen, wie ich meine Rolle in<br />

dieser Situation auffasse. Die Rollenpartner<br />

kommunizieren bei diesem permanenten Prozess des<br />

Aushandelns über Zeichensysteme und Symbole, deren<br />

Bedeutung sie gemeinsam haben, wobei das Verhalten<br />

eines jeden teilweise eine Reaktion auf das Verhalten<br />

des anderen ist. Je nach den Interaktionspartnern kann<br />

deshalb ein und die selbe Rolle im Alltag durchaus<br />

variieren und je nachdem mit mehr oder weniger stark<br />

abweichenden Handlungsfolgen verbunden wer-. den.<br />

(Vgl. hierzu beispielsweise die Anwendung der<br />

„pragmatischen Axiome" menschlicher Kommunikation<br />

von Watzlawick et al. 1974 auf die<br />

Lehrer-Schüler-Beziehung in Henecka 1978: 104 ff.).<br />

Die Rollenspieler bringen also in ihr soziales Handeln<br />

über ihre sinnhafte Deutung der Situation auch ihre<br />

persönlichen Gefühle und Bedürfnisse, ihre<br />

individuellen Erwartungen und Fähigkeiten, ihre eigene<br />

Lebensgeschichte und Lebenserfahrungen, ihre<br />

gegenwärtige soziale und materielle Lage usw. ein,<br />

-insgesamt alles Bedingungen, die sich wiederum<br />

gegenseitig beeinflussen. Damit wird anerkannt, dass<br />

die Prozesse der individuellen Rollenprägung auch von<br />

Naturmomenten mitbestimmt sind, die sich einer<br />

einseitigen soziologischen Reduzierung auf<br />

gesellschaftliche Normenmuster entziehen. Das, was in<br />

interaktionellen Prozessen geschieht, ist also niemals<br />

völlig und ausschließlich von sozialstrukturellen oder<br />

sozialkulturellen Kräften determiniert, wenn wir auch<br />

davon ausgehen können, dass derartige Wirkkräfte u. U.<br />

erheblich die Möglichkeiten von Denken und Handeln<br />

des Individuums einzuengen in der Lage sind.<br />

Andererseits haben aber sozial Handelnde immer auch<br />

„gewisse" Freiheitsspielräume, und zwar insoweit sie<br />

selbst ihre Lebenswelt sehen und interpretieren als auch<br />

innerhalb von Handlungsalternativen, die in bestimmten<br />

Situationen ergriffen werden können. Da zudem einem<br />

objektiv beobachtbaren Handeln sehr unterschiedliche<br />

subjektive Motive zugrunde liegen können, wird<br />

deutlich, dass ein Unterschied besteht zwischen der<br />

herkömmlichen Rekonstruktion des sozialen Handelns<br />

als Zusammenspiel von Rollenerwartung und<br />

Rollenentsprechung und den alltäglich erfahrbaren<br />

Handlungsabläufen.<br />

Es ist das Verdienst der erweiterten interaktionistischen<br />

Rollenperspektive, dass sie über die<br />

sozialpsychologische Analyse der differenzierten und<br />

zum Teil sehr subtilen sozialen Interaktions- und<br />

Kommunikationsvorgänge im Rahmen des sozialen<br />

Handelns die subjektiven Interpretationen der je<br />

institutionellen Bedingungen und Strukturen in den<br />

Vordergrund rückt. Alle sozialen Beziehungen und<br />

Systeme, in denen wir zusammen leben und arbeiten,<br />

Erziehungs- und Bildungsinstitutionen wie Familie und<br />

Schule, Arbeitsorganisationen wie Betriebe und<br />

Verwaltungen, politische Parteien, Verbände, Kirchen<br />

und Freizeitgruppen, ja selbst das Militär (vgl. hierzu<br />

das Konzept der „Inneren Führung" bei der<br />

Bundeswehr) lassen sich deshalb daraufhin überprüfen,<br />

inwiefern sie ihren Mitgliedern dazu verhelfen bzw. sie<br />

daran hindern, das Dilemma zwischen der sozialen<br />

Identität (= Normen, denen das Individuum im<br />

Interaktionsprozess gegenübersteht) und der personalen<br />

Identität (= die dem Individuum zugeschriebene<br />

Einzigartigkeit) zu bewältigen.<br />

Um den Menschen in Gesellschaften, die sich als<br />

offene, freiheitliche und demokratische politische<br />

Ordnungssysteme verstehen, ein optimales Maß an<br />

individueller Verfügbarkeit über ihre sozialen Rollen zu<br />

gewährleisten, sind indessen nicht nur strukturelle und<br />

normative Voraussetzungen zu überprüfen, sondern<br />

auch von seiten der handelnden Individuen selbst sind<br />

bestimmte soziale Kompetenzen nachzuweisen. In<br />

diesem Zusammenhang postuliert Lothar Krappmann<br />

(1975) einige Grundqualifikationen, die dem<br />

handelnden Subjekt im Erziehungs- und<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozess zu vermitteln sind und mittels<br />

derer es fähig werden soll, das labile Gleichgewicht der<br />

Ich- Identität auszubalancieren und die notwendige<br />

individuelle Präsentation des Selbst im Rollenhandeln<br />

des Alltags zu sichern. Diese sozialen Lernziele sind:<br />

o Rollendistanz<br />

Das Individuum kann sich über die Anforderungen<br />

seiner Rolle erheben, um bestimmte Erwartungen<br />

auswählen, negieren, modifizieren und interpretieren zu<br />

können.<br />

o Empathie<br />

Das Individuum besitzt kognitive und affektive<br />

Fähigkeiten zur Antizipation und Übernahme der<br />

Erwartungen des Interaktionspartners.<br />

o Ambiguitätstoleranz<br />

Das Individuum toleriert die Ambivalenzen von Rollen<br />

(Ambiguität = Doppeldeutigkeit, Widersprüchlichkeit)<br />

und findet sich mit deren Divergenzen,<br />

Inkompatibilitäten und unvollständiger<br />

Bedürfnisbefriedigung ab.<br />

o Identitätsdarstellung<br />

Das Individuum kann eigene Erwartungen und<br />

Bedürfnisse darstellen und damit sein Selbst<br />

artikulieren.<br />

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre<br />

Peter L. Berger & Thomas Luckmann, Die<br />

gesellschaftliche Konstruktion der<br />

Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie.<br />

(Darin Kapitel III: „Gesellschaft als subjektive<br />

Wirklichkeit", S. 139 - 198). Fischer: Frankfurt/Main<br />

1974.<br />

Erving Goffmann, Interaktion: Spaß am Spiel -<br />

Rollendistanz, S. 93 - 130. Piper: München 1973.<br />

Lothar Krappmann, Soziologische Dimensionen der<br />

Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme<br />

an lnteraktionsprozessen. 4. Aufl. (Darin insbesondere<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 17


das Kapitel „Identität und Rolle", S. 97 - 131 ). Klett:<br />

Stuttgart 1975.<br />

Alfred R. Lindesmith & Anselm L. Strauss, Symbolische<br />

Bedingungen der <strong>Sozialisation</strong>. Teil 1. (Darin<br />

insbesondere das Kapitel „Der symbolische<br />

Interaktionismus", S. 27 - 41 ). Schwann: Düsseldorf<br />

1974.<br />

George McCall & J.L. Simmons, Identität und<br />

Interaktion. Untersuchungen über zwischenmenschliche<br />

Beziehungen im Alltagsleben. (Darin Kapitel 9:<br />

„Logistik der Identität", S. 238 - 263 ). Schwann:<br />

Düsseldorf 1974.<br />

(Der oben vorgenommene Exkurs ist dem Buch von<br />

H.P. Henecka: (1985):.Grundkurs, Soziologie, UTB,<br />

Opladen, S 55 ff. entnommen.)<br />

Besonders die ersten Phasen im lebenslangen <strong>Sozialisation</strong>sprozess stehen im Mittelpunkt des<br />

Interesses.<br />

In besonderer Weise soll auf den frühkindlichen <strong>Sozialisation</strong>sprozess in der Familie bzw. in den<br />

ersten Lebensjahren des Kindes hingewiesen werden. Dabei ist T. Parsons Darstellung von fünf<br />

Phasen aufschlussreich (in L. Helbig: Politik, <strong>Sozialisation</strong>, Frankfurt/M., 1979, S. 42f ):<br />

3.4. Der <strong>Sozialisation</strong>sprozess – Phasen nach T. Parsons<br />

<strong>Sozialisation</strong> ist also nach Parsons Rollenlernen. Rollen werden (lern Individuum von anderen<br />

zugeschrieben und aufgrund subtiler Sanktionen während des <strong>Sozialisation</strong>sprozesses gelernt. Das<br />

heißt: <strong>Sozialisation</strong> ist an Interaktionen gebunden. Die Mutter agiert in einer bestimmten Weise<br />

gegenüber dem Kind. Dieses ihr Agieren ist gegenüber einem männlichen Kind anders als gegenüber<br />

einem weiblichen Kind. Die Mutter erwartet auf ihr Agieren hin bestimmte Reaktionen (z. B.<br />

"männliche" vom Knaben, „weibliche" vom Mädchen). Kommen die falschen Reaktionen, so werden<br />

diese bestraft, kämmen die richtigen, so werden sie belohnt. Eines Tages hat das Kind die<br />

„richtigen", d.h. die von der Mutter erwarteten Reaktionen, „gelernt" und kann sie autonom<br />

einsetzen, d.h., nunmehr seinerseits von dieser Rolle aus agieren und damit in anderen die<br />

entsprechenden Reaktionen auslösen. Das Rollen-Ich (Rollenselbst) ist dann zugleich Reaktion auf<br />

die Aktion des Rollenpartners als auch Aktion, indem es immer wieder die gleichen Reaktionen auch<br />

des anderen gegenüber (lein Rollenselbst auslöst.<br />

Im Rahmen der allgemeinen Handlungstheorie voll Parsons Ist <strong>Sozialisation</strong> jener Lernprozess, der<br />

der „Übernahme der notwendigen Orientierungen zum befriedigenden Handeln in einer Rolle" dient<br />

(Parsons 1951, S.205). <strong>Sozialisation</strong> ist Rollenerwerb, ist Internalisierung der als Rollenerwartungen<br />

institutionalisierten Normen und Werte einer gegebenen Kultur. Durch <strong>Sozialisation</strong>sprozesse<br />

werden Individuen in das soziale System integriert, also in Rollensystemen handlungsfilzig aufgrund<br />

der Internalisierung der Wertorientierungen des kulturellen Systems.<br />

<strong>Sozialisation</strong>:<br />

Kulturelles System<br />

Werte / Normen<br />

<strong>Sozialisation</strong><br />

Individuum soziales System (Rollensystem)<br />

= Integration<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 18


Die menschliche Natur, fassbar in ihren Triebimpulsen, wird durch <strong>Sozialisation</strong>sprozesse so<br />

bearbeitet, dass die individuellen Bedürfnisdispositionen im optimalen Fall mit den<br />

gesellschaftlichen, in Rollennormen institutionalisierten Wertvorstellungen zur Deckung kommen.<br />

Dies erst macht zwischenmenschliches Handeln rational, d.h. kalkulierbar.<br />

In Anlehnung an Freud unterscheidet Parsons fünf Phasen der <strong>Sozialisation</strong>. In jeder Phase<br />

internalisiert das Individuum ein bestimmtes, immer komplexer werdendes Verhältnis zur Umwelt,<br />

oder es lernt in jeder Phase, sich in einer spezifischen, immer differenzierter werdenden Weise zur<br />

Umwelt zu verhalten. Voraussetzung für den erfolgreichen <strong>Sozialisation</strong>sprozess sind voll<br />

sozialisierte <strong>Sozialisation</strong>sagenten, zumindest für die ersten drei Phasen. Was das Individuum jeweils<br />

internalisiert, nennt Parsons Objektsysteme: Das Mutter-Kind-Objektsystem und das Vater-<br />

Mutter-Kind-Objektsystem sind dabei die grundlegenden Orientierungsmuster, auf denen die<br />

folgenden aufbauen. Der Internalisierungsprozess ist ebenfalls analog zu Freud zu sehen: Der<br />

<strong>Sozialisation</strong>sagent löst Lernprozesse aus. indem er erwünschtes Verhalten belohnt, bis eine gewisse<br />

Verhaltenssicherheit erreicht ist. Dann wird nicht mehr belohnt, und es setzt eine Phase der<br />

Frustration ein, die dazu führt, sich neuen Bindungen zuzuwenden. Anders ausgedrückt: Bestimmte<br />

Objektsysteme sind so Inge positiv besetzt, bis sie verinnerlicht sind. Dann erfolgt die Frustration.<br />

was zum Abzug der positiven Besetzungen führt, und es werden neue, komplexere Objektsysteme<br />

positiv besetzt. Dies soll an den fünf Phasen der <strong>Sozialisation</strong> nach Parsons verdeutlicht werden.<br />

Die erste Phase<br />

In den ersten Lebenstagen internalisiert das Kind die Mutter. Das Kind ist noch nicht in der Lage, die<br />

Quelle seiner Bedürfnisbefriedigung, die Mutter, als von sich geschieden zu betrachten. Daher nennt<br />

Parsons die erste Phase auch die der Mutter-Kind-Identität. Da es die Mutter von sich nicht<br />

differenzieren kann, ist es auch noch nicht fähig, eine Interaktionsbeziehung zu ihr aufzunehmen. Es<br />

ist in seiner Bedürfnisbefriedigung total von ihr abhängig. Es lernt in dieser Phase das Objektsystem<br />

Abhängigkeit.<br />

Die zweite Phase<br />

Allmählich lernt (las Kind. die verschiedenen Akte seiner Bedürfnisbefriedigung zu verallgemeinern<br />

und mit der Mutter als von ihm getrennten Objekt zu verbinden. Mit dieser Ausdifferenzierung der<br />

Mutter aus dem Selbst wird es zum Interaktionspartner. zum Rollenspieler: Es orientiert seine<br />

Erwartungen am Verhalten der Mutter, wie auch diese sich am Kind orientiert. In dieser Phase der<br />

Mutter- Kind - Dyade (Zweiheit) verstärkt sich einerseits das Objektsystem Abhängigkeit, zum<br />

anderen aber internalisiert das Kind das Objektsystem Autonomie. Es hat nunmehr zwei<br />

Objektsysteme verinnerlicht.<br />

Die dritte Phase<br />

Man könnte diese Phase auch als die Vater- Mutter- Kind- Triade bezeichnen. Es tritt also nunmehr<br />

die Familie als Struktur ins Bewusstsein des Kindes und lässt es die grundlegende Rollenverteilung<br />

in der Kernfamilie erkennen: Vater, Mutter, Sohn, Tochter. Dabei wird die Rolle des Vaters als die<br />

instrumentelle Rolle erkannt: Aufgrund seiner Rolle reguliert er das Verhältnis der Familie zur<br />

Umwelt (Berufsrolle, Lebenssicherung der Familie). Die Rolle der Mutter wird als expressive<br />

erkannt: Sie bewältigt die innerhalb des Familiensystems auftretenden Spannungen und hat eine die<br />

Familie integrierende Funktion. Durch Identifikation mit dem Vater findet der Sohn seine<br />

instrumentell geprägte Geschlechtsrolle und analog die Tochter ihre expressive Rolle durch<br />

Identifikation mit der Mutter. Am Ende der dritten Phase hat damit das Kind die beiden Basisrollen<br />

gelernt: die Generationsrolle, die auf den Objektsystemen Abhängigkeit (der Kinder) und Autonomie<br />

(der Eltern) beruht. sowie die Geschlechtsrolle, die beim Knaben auf dem Objektsystem<br />

Instrumentalität, beim Mädchen auf dem Objektsystem Expressivität beruht. Da auch der Knabe das<br />

Objektsystem Expressivität als das .,andere" lernt, d.h. sich in Aktion und Reaktion gegenüber<br />

Mutter oder Schwester auf dieses einzustellen hat, wie umgekehrt das Mädchen auf diese Weise<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 19


Instrumentalität lernt, haben die Kinder also am Ende dieser Phase vier Objektsysteme - Kategorien<br />

zum erfolgreichen Rollenhandeln -gelernt.<br />

Die vierte Phase<br />

In dieser Phase verstärkt das Kind seine Interaktionen mit Gleichaltrigen (peers). Diese Peer-group--<br />

Orientierung lässt das Kind über die eigene Familie hinausschauen. (Es erkennt, dass bestimmte<br />

Verhältnisse, die es in seiner Familie antrifft, überall gellen, also universell sind, andere nur in der<br />

eigenen Familie gelten. also partikular sind. Damit erwirbt es die Kategorien Universalität und<br />

Partikularität. was gleichbedeutend ist mit der Befähigung, in allgemeinen Kategorien zu denken. So<br />

wird ihm z.B. bewusst, dass der eigene Vater nicht der Vater schlechthin ist, sondern zu der<br />

allgemeinen Kategorie Vater gehört.<br />

Diese beiden neuen Objektsysteme treten nun nicht einfach zu den vier bereits gelernten hinzu,<br />

sondern sie ermöglichen es dem Kinde, die Objektsysteme Abhängigkeit, Autonomie,<br />

Instrumentalität und Expressivität daraufhin zu befragen. ob sie in einer bestimmten ihnen<br />

begegnenden Rolle oder Rollenausführung partikular oder universell sind. Die Kinder werden also z.<br />

B. erkennen, dass ihre eigene Generationsrolle in bestimmter Weise von Abhängigkeit universell<br />

geprägt ist, dass es aber bei verschiedenen Kindern verschiedene Grade der Abhängigkeit gibt usw.<br />

Die Objektsysteme Universalität und Partikularität differenzieren also die bisher gelernten<br />

Objektsysteme und damit die Fähigkeiten des Rollenhandelns.<br />

Die fünfte Phase<br />

Die letzte Phase der <strong>Sozialisation</strong> ist dann erreicht, wenn das Individuum in die Berufsausbildung<br />

oder in den Beruf eintritt. Es lernt jetzt zu differenzieren zwischen Rollen, die ihm zugeschrieben<br />

werden (z.B. Geschlechtsrolle, Geschlechtsrolle), und Rollen, die es erworben hat (wie z.B. die<br />

Berufsrolle). Parsons nennt die damit erworbenen Objektsysteme "quality" und "performance".<br />

Bisher hatte das Individuum mit der Generations- und der Geschlechtsrolle Rollen gelernt, die ihm<br />

zugeschrieben, gewissermaßen oktroyiert worden sind ("qualitiy"); mit dem Erwerb der Berufsrolle<br />

erkennt es, dass es auch Rollen gibt, für die man sich aktiv selbst entscheidet ("performance"), in der<br />

man dann allerdings, hat man sie einmal erworben, sich verhalten maß wie in den anderen, nämlich<br />

gemäß den Erwartungen.<br />

Damit ist ein weiteres Orientierungsmuster für das Rollenhandeln erworben: Alle bisherigen<br />

Orientierungsmuster (Objektsysteme) können nun darauf befragt werden. ob in ihnen "quality" oder<br />

"performance", Zugeschriebenes oder Erworbenes, dominiert. Damit hat das Individuum 16<br />

Objektsystem erworben, und Parsons geht davon aus, dass es damit alle jenen Orientierungsmuster<br />

übernommen hat, die zum Rollenhandeln in allen Situationen befähigen. Gleichzeitig sind damit die<br />

Wertvorstellungen des kulturellen Systems übernommen, also die als Erwartungen auftretenden<br />

Rollennormen voll internalisiert. Was das Individuum nunmehr ,.will", entspricht den Rollennormen:<br />

Seine Bedürfnisdispositionen entsprechen voll den normativen Erwartungen - Personalsystem und<br />

Sozialsystem greifen störungsfrei ineinander.<br />

T. Parsons: Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt a. M. 1968<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 20


Klassen und soziale Schichten in westlichen<br />

Industriegesellschaften – neue Entwicklungstendenzen<br />

(vgl. H. Strasser):<br />

H. Strasser kommt durch die- Analyse der letzten Jahrzehnte in den Industriegesellschaften zum<br />

Schluss, dass es eine Verhärtung der Klassenstruktur gibt. Die Ungleichheit wird rigider und<br />

deutlicher. Gegen die Individualisierungsthese von Beck führt er an: 4 Entwicklungstendenzen in<br />

westlichen Industriegesellschaften:<br />

1) Merkliche Einkommensverbesserung: durch Wirtschaftwachstum seit dem 2. Weltkrieg<br />

Tertiarisierung: Dienstleistungsgesellschaft<br />

Vermehrung der Bildungsmöglichkeiten öffentlicher und privater Sektor nehmen zu<br />

2) Bürokratisierung notwendige Vorraussetzung: komplexe Organisationen<br />

Delegationsprinzip: braucht Machtbefugnisse Qualifikationsprofil: Bildungshöhe<br />

3) Professionalisierung: „wir werden überall belehrt, bedient, beraten, betreut, ..."<br />

4) Größenwachstum der öffentlichen und privaten Betriebe<br />

Besitz, Macht, Organisationsstrukturen, Qualifikationsressourcen, etc. führen „zu einer Streckung<br />

der Ungleichheit und zu einer stärkeren sozialen Schließung".<br />

Soziale Mobilität herrscht innerhalb einer sozialen Klasse, aber nicht zwischen den Klassen.<br />

Bildung macht Klassenschranken deutlicher; es kommt zum Einsatz des ,.ökonomischen Kapitals"<br />

(vgl. Bordleu), daher zur Festigung der Klassenstruktur.<br />

Politische Konsequenzen: Einkommensverhältnisse<br />

relativer Reichtum<br />

Sockel` an ökonomischen und sozialen Absicherungen<br />

d.h.: die Industriegesellschaften sind reich genug, um sich soziale Ungleichheit - ja sogar noch mehr<br />

-leisten zu können.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 21


Schichtspezifische <strong>Sozialisation</strong> /<br />

milieuspezifische <strong>Sozialisation</strong><br />

Idealtypische Gegenüberstellung (Hartfiel /Holm: Erziehung in der modernen<br />

Industriegesellschaft)<br />

Grad der Dispositionsfreiheit<br />

Grad der Überwachung<br />

Kommunikationsstruktur<br />

Arbeiterfamilien Familien von<br />

Beamten/Angelten<br />

Arbeitsplatz / gesellschaftliche Arbeitsplatz / gesellschaftliche<br />

Stellung<br />

Stellung<br />

geringer Grad an<br />

Dispositionsfreiheit<br />

unteres Ende der betrieblichen<br />

Hierarchie<br />

eingeschränkt da für Arbeitsprozess<br />

nur minimal erforderlich<br />

Tätigkeitsmerkmale Umgang mit Sachen weitere<br />

Merkmale: hohe Unfallgefahr<br />

Untergebene, Vorgesetzte<br />

Möglichkeit der Delegation schafft<br />

Bewusstsein von<br />

Selbständigkeit/Verantwortung<br />

Kommunikation ist Teil der Arbeit,<br />

hauptsachlicher Umgang mit<br />

Symbolen und Menschen<br />

große berufliche Sicherheit<br />

ansteigendes Gehalt<br />

Pensionsanspruch<br />

Lärm., Schmutz, Akkord,<br />

Schichtarbeit<br />

Fließband, berufliche Unsicherheit<br />

Familiäre Lebensbedingungen Familiäre Lebensbedingungen<br />

Starke Rollentrennung<br />

In der Familie<br />

Kommunikation und<br />

Interaktion: Verwandt<br />

Schaft, Nachbarschaft<br />

Starke Trennung:<br />

Fremdgruppe / Eigengruppe<br />

Geschlechtertrennung<br />

(Kinderzahl / Wohnung)<br />

Bewusstseinsstruktur,<br />

Wertesystem, Erziehung<br />

Gesellschaftsbild dichotom (Machtmodell)<br />

Kollektivbewusstsein<br />

Allgem. Wertsystem eher fatalistisch Orientierung<br />

Stärkere Bedeutung der Gegenwart<br />

Politische Apathie<br />

Geschlechtsrollenstereotypes<br />

Wertsystem (Männlichkeit, Kraft,<br />

Dominanz) Autoritarismus<br />

Traditionalismus Stabilität und<br />

Sicherheit, Anti-Intellektualismus<br />

(Schema gekürzt)<br />

eher partnerschaftliches Verhältnis<br />

Feld von Freunden und Bekannten<br />

(meist Berufskollegen/innen)<br />

Einbezug mehrerer Positionen der<br />

Hierarchie<br />

Auflösung rigider Geschlechtsrollen<br />

- Definition<br />

Bewusstseinsstruktur,<br />

Wertesystem, Erziehung<br />

hierarchisches Modell<br />

(Prestige-Modell) Individuelles<br />

Leistungsbewusstsein aktivistisch<br />

-individualistische<br />

Wertorientierung<br />

karrierebewusstes, mobilitäts-<br />

orientiertes Wertsystem<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 22


Soziale Schicht<br />

Übliche Schichtkriterien<br />

Schichtunterschiede<br />

schaffen unter-<br />

schiedliche Umwelten<br />

und unterschiedliche<br />

<strong>Sozialisation</strong>sbe-<br />

dingungen<br />

Begriff:<br />

„Handlungskompetenz“<br />

Dieser Sachverhalt wird in der Soziologie unter dem Stichwort<br />

„schichtspezifische <strong>Sozialisation</strong>" untersucht und diskutiert.<br />

Der Begriff der sozialen Schicht ist in den Sozialwissenschaften zwar weit<br />

verbreitet, aber es gibt kein einheitliches Verständnis darüber, welche<br />

Merkmale Schiräten kennzeichnen und voneinander unterscheiden. Je nach<br />

dem Untersuchungsinteresse des Forschers kann er andere Kriterien<br />

verwenden für die Betrachtung von Unterschieden in der Gesellschaft. In<br />

jedem Fall wird mit der Konstruktion sozialer Schichten immer ein Maßstab<br />

gesucht für die Analyse und Bewertung sozialer Ungleichheiten in einer<br />

Gesellschaft.<br />

In den Forschungen zur schichtspezifischen <strong>Sozialisation</strong> hat man sich im<br />

wesentlichen auf die Unterscheidung von Unter- und Mittelschicht<br />

konzentriert und zur deskriptiven Kennzeichnung von Unterschieden<br />

Kombinationen aus sozialstatistischen (Einkommen, Ausbildung, Beruf etc.)<br />

und kulturellen (Werthaltungen, Lebensstil, Einstellungen usw.) Kriterien<br />

verwendet. In der Realität sind die Übergänge zwischen Unter- und<br />

Mittelschicht fließend, die „Grenzziehung" des Sozialwissenschaftlers ist<br />

insofern künstlich. Die Unterscheidung als solche ist dagegen empirisch sehr<br />

wohl brauchbar, weil immer wieder Beziehungen zwischen<br />

Schichtzugehörigkeit und konkretem Verhalten festgestellt wurden.<br />

Die materiellen und kulturellen Unterschiede zwischen Schichten schaffen<br />

nun im Grundsatz unterschiedlich strukturierte Umwelten. Das heißt, Kinder<br />

und Jugendliche, die in Unter- oder Mittelschicht aufwachsen, haben<br />

unterschiedliche Erfahrungsmöglichkeiten und werden unter jeweils anderen<br />

Bedingungen, "vergesellschaftetet".<br />

Die unterschiedlichen <strong>Sozialisation</strong>sbedingungen beeinflussen auch<br />

entscheidend die Chancen, aneignungsrelevantes ,Wissen" zu erwerben. Den<br />

Zusammenhängen zwischen Schicht und verschiedenen Aspekten des<br />

„Wissens" gehen wir im folgenden nach.<br />

10.2. Schicht und Handlungskompetenz<br />

Der Begriff der Handlungskompetenz wurde von Ralf Bohnsack entwickelt und<br />

meint die Fähigkeit, auf der Grundlage der Beherrschung der Basisregeln, d.h.<br />

der Grundstruktur von Interaktion (Rollenübernahme ist beispielsweise ein<br />

Element der Grundstruktur, s.o.) situative soziale Erfahrungen zu<br />

abstrahieren und zu generalisieren. Man könnte auch sagen, es geht um die<br />

Fähigkeit, strukturelle Ähnlichkeiten unterschiedlichster sozialer Situationen zu<br />

erkennen und aufgrund dieser Erkenntnis Definitionen und Verhaltensweisen in<br />

einer "angemessenen", „richtigen" Weise miteinander zu verknüpfen und<br />

gewissermaßen zu "transferieren".<br />

Wir sind dieser speziellen Fähigkeit, die mit dem Begriff der<br />

Handlungskompetenz ausgedrückt wird, in Ansätzen bei der Darstellung der<br />

Bedeutung des "generalisierten Anderen" im <strong>Sozialisation</strong>sprozess begegnet.<br />

Der generalisierte Andere ließe sich durchaus als sozialisatorische Instanz für<br />

die Entwicklung von Handlungskompetenz bezeichnen. Zur Verdeutlichung<br />

d B i h i l äh t d d li i t A d d<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 23


Beispiel<br />

„Sanktionsverhalten“<br />

Mangelnde<br />

Handlungskompetenz<br />

Illustration mangelnder<br />

Handlungskompetenz<br />

des Bezugs sei noch einmal erwähnt, dass der generalisierte: Andere das<br />

unmittelbare Produkt des <strong>Sozialisation</strong>sprozesses, gewissermaßen die<br />

„Sammelstelle der Vergesellschaftungserfahrungen" ist und zudem der „Ort",<br />

an dem diese Erfahrungen zugeordnet, abstrahiert und verknüpft werden. Der<br />

generalisierte Andere ist für das Individuum der „Partner" eines inneren<br />

„Dialogs", der als „Kenner der Gesellschaft" hilft, Situationen, Handlungen<br />

und Handlungspläne vom Standpunkt der Welt außerhalb des Ichs zu<br />

beurteilen und zu bewerten.<br />

Lassen Sie sich bitte durch der Gebrauch der Metaphern nicht täuschen: In<br />

,Wirklichkeit" ist der generalisier Andere natürlich nur die Bezeichnung für eine<br />

bestimmte Art von Denkprozessen.<br />

Theoretisch einleuchtend und empirisch nachweisbar ist nun, dass die<br />

Generalisierungsfähigkeit unter den Gesellschaftsmitgliedern sehr<br />

unterschiedlich ausgeprägt ist. Wie weit diese Fähigkeit entwickelt ist, hängt<br />

wesentlich ab von der Struktur der angesammelten sozialen Erfahrungen,<br />

kaum dagegen von deren Inhalt.<br />

Als Beispiel für den Unterschied von Struktur und Inhalt kann das Sanktionsverhalten der<br />

Eltern gegenüber Kindern genannt werden. Die Struktur der Sanktionserfahrung beträfe die<br />

Ar und Weise und die Konsequenz bzw. Dauerhaftigkeit der Sanktionen, der Inhalt wären<br />

beliebige Situationen des Alltagslebens, die in der Verhaltensstruktur der Eltern<br />

„sanktionsreif' sind. Es ist offen kundig, dass die Struktur der angesammelten sozialen<br />

Erfahrungen eines Kindes anders ist, wenn die Eltern z.B. nicht nur auf Fehlverhalten<br />

negativ, sondern auch auf „richtiges" Verhalten positiv reagieren. Das Kind verarbeitet die<br />

Reaktionen der Eltern anders, wenn Sanktionen begründet und einsehbar gemacht werden<br />

oder wenn das Sanktionsverhalten i= der Grundstruktur gleich bleibt und damit für das<br />

Kind , ,berechenbar" wird, als wenn es fast nur Strafen, aber kaum Belohnungen gibt und<br />

das Sanktionsverhalten starken Schwankungen unterliegt.<br />

Die unterschiedlich ausgeprägte Generalisierungsfähigkeit ist nicht nur von<br />

theoretischer Relevanz, sondern ha: Bedeutung für das konkrete Handeln<br />

von Individuen. Mangelnde Handlungskompetenz bezeichnet<br />

dementsprechend strukturelle Schwächen im Handlungspotential eines<br />

Individuums. Das bedeutet konkret, dass ein Individuum nur unzureichend in<br />

der Lage ist, Situationen anlassgemäß zu definieren, und als Folge davon<br />

häufig „falsche", „unvernünftige" Handlungsentscheidungen trifft<br />

Konsequenzen von Handlungen werden falsch eingeschätzt,<br />

Handlungsalternativen und strukturelle Ähnlichkeiten zu bereits früher<br />

erlebten Situationen werden nicht erkannt. Umgekehrt werden die<br />

Erfahrungen einer Situation zu schnell verallgemeinert oder Einzelmerkmale<br />

(Halo-Effekt) überbewertet.<br />

Auf der Ebene interpersonaler Interaktionen drückt sich mangelnde<br />

Handlungskompetenz in besonderen Schwierigkeiten der Rollenübernahme<br />

aus, d. h. Erwartungen und Absichten des Interaktionspartners werden nicht<br />

angemessen anerkannt und folglich auch nicht in das eigene Handeln<br />

einbezogen. Der Akteur mit mangelnder Handlungskompetenz „klebt"<br />

gewissermaßen an einer sozialen Situation, er „verliert" sich in ihr, weil er<br />

die Erscheinungen einer Situation für die einzige, die „ganze" Realität hält<br />

und die Bedingtheit durch andere, abstraktere Wirklichkeitsebenen nicht<br />

erkennt.<br />

Nehmen Sie als einfaches Beispiel. einen Jugendlichen, der die Freundlichkeit und<br />

Herzlichkeit eines Buchklubwerbers in der Fußgängerzone nicht als professionelle,<br />

zielorientierte Handlungsstrategien erkennt, die ihre Quellen außerhalb der konkreten<br />

Situation hat, Sonde - der in der Situation „aufgeht" und die Freundlichkeit des Werbers<br />

ganz situationsbezogenen als spontanes Interesse an seiner Person interpretiert und sich<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 24


Mangelnde<br />

Handlungskompetenz und<br />

Unterschicht<br />

dieser Interpretation entsprechend verhält (und z.B. einen Vertrag unterschreibt).<br />

Mangelnde Handlungskompetenz ist nun zum einen ein besonderes Problem<br />

der Lebensphasen ;,Kindheit"_ und „Jugend", zum anderen aber auch ein<br />

Problem der <strong>Sozialisation</strong>sbedingungen bzw. Erfahrungsmöglichkeiten.<br />

Dass Kinder und Jugendliche über mangelhafte Kompetenzen verfügen, ist<br />

nach den vorangegangenen Erläuterungen nicht weiter verwunderlich. Der<br />

Erwerb von Wissen und Kompetenzen mit dem Ziel der Aneignung von<br />

Umwelt und der Identitätsbildung (Ich-Identität) ist ja gerade Gegenstand<br />

des <strong>Sozialisation</strong>sprozesses. Aber Handlungskompetenz ist nur zum Teil<br />

eine quantitative Frage, d.h. eine Frage der Erfahrungsmenge, die mit<br />

zunehmendem Lebensalter gewissermaßen ,-natürlich" angesammelt wird<br />

und wächst. Zum anderen Teil ist Handlungskompetenz eben auch ein<br />

qualitatives Problem, d.h. davon abhängig, auf welche Weise soziale<br />

Erfahrungen erworben werden und wie diese Erfahrungen strukturiert sind.<br />

Insofern betreffen Kompetenzunterschiede nicht nur Kinder und<br />

Jugendliche, sondern auch Erwachsene.<br />

Bei Erwachsenen machen sich Kompetenzmängel allerdings in erster<br />

Linie nur bemerkbar in Situationen, die außerhalb der eingespielten und<br />

erarbeiteten Alltagsroutine lugen. Man könnte auch sagen: Je kleiner und<br />

geschlossener die Alltagswelt und je enger die Sinnhorizonte gesteckt sind,<br />

um so begrenzter ist auch die Handlungskompetenz.<br />

Kinder und Jugendliche, die aus Familien kommen, die aufgrund<br />

sozialstatistischer und kultureller Faktoren der Unterschicht zuzuordnen<br />

sind, haben nun besondere Schwierigkeiten in der Entwicklung von<br />

Handlungskompetenz (und damit in der Entwicklung von Fähigkeiten, die<br />

notwendig sind für die Aneignung von Umwelt). Zum einen sind sie wie<br />

alle Jugendlichen von der in der Gesellschaftsstruktur angelegten Tatsache<br />

betroffen, dass „Jugend" eine Übergangsphase mit besonderen<br />

sozialisatorischen Anforderungen ist. Die Entwicklung von<br />

Handlungskompetenz wird für sie jedoch dadurch weiter erschwert, dass<br />

wesentliche Teile der Handlungsmuster und -Strategien, die in der<br />

familialen <strong>Sozialisation</strong> gelernt und internalisiert werden, der Aneignung<br />

von Umwelt relativ enge Grenzen setzen.<br />

Wir werden uns mit den Erziehungsstilen und besonders mit den Sprachstilen in<br />

Unter- und Mittelschicht weiter unten noch näher befassen, wollen aber schon hier<br />

Bedingungen für eine geringere Entwicklung von Handlungskompetenz in der<br />

Unterschiss etwas konkreter andeuten. Ein wesentliches Element sind<br />

unterschiedliche Sprachstile in Unter- und Mittelschicht (die Unterschiede werden<br />

ebenfalls weiter unten noch erläutert). Unterschichtspezifische Sprachformen sind<br />

weniger komplex und differenziert. Wenn Sie sich an den oben ausführlich<br />

dargestellten Zusammenhang von Sprache, Denken, Ordnung von Erfahrung und<br />

Aneignung vor-- Umwelt erinnern, wird Ihnen klar, dass geringere Komplexität und<br />

Differenziertheit von Sprache über das Denken auch das Vermögen des Kindes<br />

begrenzen, „Welt" zu begreifen und Umwelt anzueignen.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 Das Kind wird sowohl durch Elemente der Sprachstruktur an eine jeweilige Situation<br />

gebunden, indem situationsübergreifende, allgemeinere Prinzipien der Geltung und<br />

Begründung von Regeln nicht mehr vermittelt werden, als auch durch besondere<br />

Inkonsistenz im Erziehungsverhalten der Eltern, die auf gleiche Handlungen des Kindes für<br />

dieses völlig uneinsichtig unterschiedlich reagieren -mal bestrafen, mal straflos zur Kenntnis<br />

nehmen, mal ignorieren. Die grundlegende Erfahr des Kindes im Rahmen derartiger<br />

<strong>Sozialisation</strong>sbedingungen ist die der "Auslieferung" an jeweils aktuelle soziale Situationen<br />

mit nur bedingter Vorhersehbarkeit der Erwartungen und Reaktionen des<br />

Interaktionspartners. Die Notwendigkeit zur Entwicklung eines situativen Opportunismus<br />

begrenzt die Autonomie des Kindes und das Maß, in dem es andere, abstraktere Ebenen<br />

sozialer (gesellschaftliche') Realität in sozialen Situationen zu erkennen und sich handelnd<br />

25


Mangelnde<br />

Handlungskompetenz und<br />

„kumulative<br />

Benachteiligung“<br />

Beispiele der<br />

Benachteiligung und<br />

Negativselektion<br />

an ihnen zu orientieren vermag. Ein Planungsverhalten, das auf längere Zeiträume zielt,<br />

kann nicht ausgebildet werden.<br />

Dass die Handlungskompetenz vieler Unterschichtjugendlicher besonders<br />

mangelhaft entwickelt ist, träg wesentlich dazu bei, dass sie durch<br />

gesellschaftliche Auswahl- und Zuweisungsprozesse (Selektion und<br />

Allokation) auf Positionen und in Rollen geraten, die nicht mit grundlegend<br />

anderen Erfahrungsmöglichkeiten verbunden sind. Es entsteht ein negativer<br />

Kreislauf, durch den individuelle Entwicklungsrückstände gesellschaftlich<br />

verstärkt und verfestigt werden. Da die Benachteiligung in einem Bereich<br />

(z.B. Familie) dazu führt, dass das Kind auch in anderen Bereichen (z.B.<br />

Schule) Benachteiligungen erfährt, die ihrerseits wieder zusätzliche<br />

Benachteiligungen verursachen (z.B. im Beschäftigungssystem), kann man<br />

hier auch von einem Prozess „kumulativer Benachteiligung" sprechen (vgl.<br />

Kloas/Stenger 1980).<br />

Sie können sich als Bespiel vielleicht vorstellen, dass Kinder mit derartigem Hintergrund<br />

aufgrund anfälligen (i.S.v. "unüblichen") Verhaltens in Grundschulklassen häufig zu<br />

,Störenfrieden" werden, die als pädagogisch „hoffnungslose Fälle" trotz "normaler"<br />

Intelligenz schneller als andere zur Sonderschule geschickt werden- Für den Lehrer<br />

verstärkt sich der Eindruck von „Hoffnungslosigkeit" nicht selten durch eine relative<br />

Gleichgültigkeit der Eltern gegenüber der Schulsituation des Kindes, so dass relativ bald<br />

auch in der Schule die Weichen für einen verminderten Erwerb sozialisationsnotwendigen<br />

Wissens in jeder Form gestellt sind. Damit ist auch bereits sehr früh der Zugang zu<br />

Positionen des Beschäftigungssystems versperrt, die durchschnittliche oder<br />

überdurchschnittliche schulische Qualifikation oder gar besondere kognitive und soziale<br />

Kompetenzen verlangen und dafür besondere Gratifikationen in Form von Entlohnung,<br />

Prestige und Entfaltungsmöglichkeiten bieten.<br />

Ein anderes Beispiel der Verknüpfung von mangelnder Handlungskompetenz und<br />

gesellschaftlicher Negativselektion findet sich im Bereich „Jugendkriminalität".<br />

Kriminologische Untersuchungen haben einerseits gezeigt, dass delinquentes, strafrechtlich<br />

relevantes Verhalten ein jugendtypisches Phänomen ist, das alle sozialen Schichten<br />

gleichermaßen betrifft. Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass die Jugendlichen. die in<br />

Jugendstrafvollzugsanstalten einsitzen, in ihrer großen Mehrheit der Unterschicht<br />

zuzurechnen sind.<br />

Wesentliche Gründe für die schichtspezifisch unterschiedliche Behandlung der<br />

Jugendlichen durch die Instanzen sozialer Kontrolle (Polizei, Jugendamt,<br />

Jugendgerichtshilfe, Jugendgericht) liegen in der etwas anderen Struktur der Delinquenz von<br />

Unterschichtjugendlichen (die ihrerseits wieder Produkt der <strong>Sozialisation</strong>sbedingungen und<br />

des daraus resultierenden Handlungspotentials ist), der fehlenden Unterstützung durch die<br />

Eltern (die z.B. bei Mittelschichtkindern versuchen, es gar nicht erst zu einem Verfahren<br />

kommen zu lassen bzw. sich bei einem Verfahren engagieren - etwa durch Einschaltung<br />

eines Rechtsanwaltes), und vor allem in der schispezifisch geringeren Handlungskompetenz<br />

der Unterschichtjugendlichen.<br />

Die geringe Handlungskompetenzen wirkt sich doppelt negativ aus: Zum einen tragen viele<br />

delinquente Handlungen den Charakter von „Dummheiten", die ohne Planung spontan in<br />

einer aktuellen Situation häufig schnelles „Erwischen" nach sich ziehen, zum anderen ist die<br />

Aufmerksamkeit der Kontrollinstanzen aufgrund entsprechender Erfahrungen auch gerade<br />

auf solche Jugendlichen „fixiert", die ihrem gesamten äußeren Habitus nach der Unterschicht<br />

zuzuordnen sind.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 26


Deutschland<br />

Raum deutscher Sozialmilieus<br />

% - Veränderungen<br />

Kulturelles<br />

Kapital +<br />

Selbstbestimmung<br />

+<br />

Hedonistisches M.<br />

10,4 – 13,0%<br />

Alternatives M. 4,0 –<br />

2,1%<br />

Kapitalvolumen +<br />

Distinktion +<br />

Satus: hoher Rang<br />

Aufstiegsorientiertes<br />

M.<br />

20,3 – 26,5%<br />

Traditionsloses<br />

Arbeitermilieu<br />

9,2 – 12,3%<br />

Konservatives gehobenes Milieu<br />

8,7 – 7,2%<br />

Traditionelles<br />

Arbeiterm.<br />

9,8 – 5,6%<br />

Kapitalvolumen –<br />

Distinktion –<br />

Status: niedriger Rang<br />

geringe Auszeichnung<br />

Technokratisches M.<br />

9,1 – 9,2%<br />

Kleinbürgerliches M.<br />

28,3 – 24,0%<br />

Ökonomisches<br />

Kapital +<br />

Konven-<br />

tionalismus<br />

+<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 27


Das Mentalitätsfeld der neuen sozialen Milieus<br />

eher<br />

elitär<br />

eher<br />

egalitär<br />

-<br />

eher alternativ<br />

unkonventionell eher alternativ<br />

-<br />

(1)<br />

HUA<br />

GAN<br />

(2)<br />

(4) NAT<br />

(3)<br />

EFO<br />

konventionell<br />

(5) NTLO<br />

Es handelt sich um fünf nach Habitusformen gut voneinander abgrenzbare, in sich aber durchaus „heterogene“<br />

Varianten neuer sozialer Milieus:<br />

(1) ein humanistisch aktives Milieu mit ausgeprägter beruflicher Ethik, Professionalität und<br />

Leistungsorientierung;<br />

(2) das sog. ganzheitliche Milieu, das einen Kompromiss sucht zwischen dem Aktivismus alternativer<br />

Lebensführung und dem realistischen Akzeptieren der eigenen Grenzen;<br />

(3) das sog. erfolgsorientierte Milieu, das die soziale Ungleichheit als unveränderliche Realität nimmt,<br />

aber kooperativer gestalten möchte; die Chancen des beruflichen Erfolgs und hedonistische<br />

Freizeit nutzt und im Strom symbolischer Progressivität schwimmt;<br />

(4) der sog. neue Arbeitertypus, dem vielseitige Selbstverwirklichung in Arbeit, Freizeit und<br />

Gesellung sowie egalitäre und solidarische Werte zu wichtig sind, als dass er darauf um eines<br />

permanenten sozialen Aufstiegs willen verzichten würde;<br />

(5) ein sog. neuer traditionsloser Arbeitertypus, der sich primär auf einen engen<br />

Vergemeinschaftungskreis und das Bemühen konzentriert, in Familie und Arbeit der ständigen<br />

Gefahr anomischer Destabilisierung entgegen zu arbeiten.<br />

Die Habitusdimension der „Distinktion“ (hier egalitär bis elitär) ist auf der vertikalen Achse, die<br />

Habitusdimension der „Individualisierung“ (hier konventionell bis alternativ) auf der horizontalen Achse<br />

abgetragen.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 28


Individualisierungsthese:<br />

(Vgl. U. Beck:)<br />

Im Gegensatz zu H. Strasser sieht U. Beck [(1982): Risikogesellschaft] durch die „Individualisierung“ von Lebenslagen<br />

einen Auflösungsprozess von sozialen Schichten und Klassen. Die belegt er:<br />

„Aber nicht nur durch einkommens- und bildungsbezogene Niveauverschiebungen können sich (bei konstanten<br />

Ungleichheitsrelationen) die Lebensbedingungen der Mensch drastisch - und zwar in Richtung auf eine<br />

„Individualisierung" von Lebenslagen und Lebenswegen - verändern. Dies ist auch dadurch möglich,<br />

• dass durch Mobilität (im Sinne von sozialer und geographischer Mobilität) die Lebenswege der Menschen aus<br />

dem Herkunftsmilieu herausgelöst, durcheinander gewirbelt und in diesem Sinne „individualisiert" werden,<br />

wodurch neue soziale Beziehungsmuster in Bekanntschaft und Nachbarschaft und neue Formen des<br />

Zusammenlebens -entstehen können;7)<br />

• dass durch die Schaffung sozialstaatlicher Sicherungs- und Steuerungssysteme grundlegende Risiken der<br />

Lohnarbeiterexistenz (und daraus entstehende Ansatzpunkte zur Ausbildung von „Klassensolidaritäten")<br />

reduziert oder sogar teilweise abgebaut werden (z. B. Arbeitslosenversicherung, Krankheitsschutz); 8)<br />

• dass „künstliche" Binnendifferenzierungen (z. B. in Gestalt von Bildungsabschlüssen und bei betrieblichen<br />

Statushierarchien) und damit die Möglichkeit für gruppeninterne Auf- und Abstiege geschaffen werden, die<br />

ihrerseits die Ausbildung entsprechender individueller Aufstiegsorientierungen selbst dort erzwingen, wo von<br />

"sozialem Aufstieg" im Sinne der Ungleichheitsforschung noch lange nicht die Rede sein 'sann; 9)<br />

• dass Konkurrenzbeziehungen (und die mit ihnen verbundenen Zwänge zur individuellen Abschottung und<br />

Vereinzelung) in zeitlicher und sozialer Hinsicht ausgeweitet, d. h_ lebenszeitlich früher und in mehr sozialen<br />

Beziehungen erfahren werden;10)<br />

• dass alte Wohngebiete durch neue urbane Großstadtsiedlungen mit ihren lockeren Bekanntschafts- und<br />

Nachbarschaftsverhältnissen ersetzt werden. 11)<br />

• dass die Arbeitsmarktdynamik immer weitere Bevölkerungskreise erfasst (die Gruppen der<br />

Nichtlohnabhängigen also immer kleiner und die Gruppe der Lohnabhängigen immer größer wird), damit bei<br />

allen Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten, insbesondere die Gemeinsamkeiten der Risiken<br />

(Arbeitslosigkeit, Dequalifizierung usw.) über unterschiedliche Einkommenshöhen, Bildungsabschlüsse hinweg<br />

wachsen 12)<br />

• dass die Erwerbsarbeitszeit kontinuierlich sinkt, wodurch sich (bei gleichzeitiger Verbesserung des<br />

Lebensstandards und Bildungsniveaus) gruppen- und generationsspezifisch unterschiedliche Entfaltungs- und<br />

Gestaltungschancen in der Privatsphäre ergeben 13)<br />

• dass durch alle diese Prozesse und Veränderungen traditionale, subkulturelle Differenzierung und<br />

„sozialmoralische Milieus" relativiert und ausgehöhlt werden und damit die vorgängige Einbindung der<br />

Menschen in alltags- und lebensweltlich identifizierbare Klassenstrukturen an sozialer Evidenz und Bedeutung<br />

verliert.14)<br />

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich in diesem Sinne - das ist die These - ein rapider Wandel in den<br />

materiellen und soziokulturellen Lebensbedingungen und -perspektiven der Menschen unterhalb der<br />

Aufmerksamkeitsschwelle der Ungleichheitsforschung ereignet, und dieser Wandel hält immer noch an. Darin<br />

liegt zunächst einmal ein gravierendes Problem dieser Forschungsrichtung, der ihr Gegenstand sozusagen. unter den<br />

„Begriffshänden" weg geflossen ist. Die Wirklichkeit hat sich von der in gesamtgesellschaftlichen<br />

Schichtungsmodellen denkenden Ungleichheitsforschung verabschiedet; sie ist ihr gleichsam davongelaufen, und<br />

hier dürfte auch ein entscheidender Grund dafür liegen, dass sich die soziologische Ungleichheitsforschung,<br />

(übrigens nicht nur sie) mehr und mehr in die Schmollecke der gesellschaftlicher Irrelevanz gedrängt sieht.15)<br />

Dieses Auseinander entwickeln von Forschung und Wirklichkeit ist allein äußerst interessant und<br />

erklärungsbedürftig. Doch diese mehr forschungssoziologischen und forschungstheoretische Fragen sind hier nicht<br />

Thema. In diesem Beitrag soll vielmehr die skizzierte Perspektive systematisch entwickelt werden, dass sich in den<br />

vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten in allen reichen westlichen Industrieländern und besonders deutlich in der<br />

Bundesrepublik Deutschland unter dem Deckmantel weitgehend konstanter Ungleichheitsrelationen ein<br />

gesellschaftlicher "Individualisierungsschub ereignet hat“.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 29


<strong>Sozialisation</strong> und Gesundheit<br />

(Vgl. Klaus Hurrelmann:)<br />

S 51ff.<br />

Für Hurrelmann stellt sich die Frage, wieweit soziale Bedingungen individuelle Gesundheit<br />

beeinflussen. Ausgehend vom familiären Bereich analysiert er Kindheit, Jugend und<br />

Erwachsensein.<br />

Belastungen im Kindesaster<br />

Lebensbereich Familie:<br />

Familien sind in allen Industriegesellschaften relativ kleine Systeme.<br />

Sie ist als Hauptbetreuungsorganisation von Kindern in Schwierigkeiten geraten;<br />

auf Unterstützung durch öffentliche Einrichtungen angewiesen.<br />

Ursache: in hohem Grad von Individualisierung von Lebensweisen.<br />

Erziehungsverantwortliche und verantwortlich für die Innenbeziehungen nur noch<br />

in wenigen Fällen die Frau.<br />

Gleichberechtigte außerhäusliche Berufstätigkeit:<br />

Gleichberechtigte Arbeitsteilung in Familie:<br />

Eigenständige Gestaltung von Sozialbeziehungen:<br />

In allen drei Bereiche Benachteiligung von Frauen.<br />

Belastungen:<br />

Trennung der Eltern:<br />

Durch Scheidung starke psychische und soziale Belastungen der Kinder.<br />

Beziehungsstörung schwer nachvollziehbar; Tragweite nicht abzuschätzen;<br />

für Kinder keine Verarbeitungsstrategien zugänglich.<br />

Durch Trennung wird Beziehungsasymmetrie verstärkt.<br />

Psychische und soziale Belastung des Alleinerziehers; finanzielle Erschwerungen;<br />

Mütter in höherem Maße nicht berufstätig - Trennung vom Kind - Bezugsperson.<br />

Wechsel von Wohn- und sozialer Umgebung.<br />

Scheidungswaisen:<br />

Stigmatisierungen - abweichendes Verhalten; emotionale Beziehungskonflikte -<br />

Stiefgeschwister u.ä.<br />

Materielle und immaterielle Deprivation:<br />

Materielle Bedingungen und kindliche Entwicklungsbedürfnisse: Armut im Wohlfahrtsstaat durch:<br />

• Arbeitslosigkeit<br />

• Straffälligkeit der Eltern<br />

• ...<br />

Folgen:<br />

gespannte, zerrüttete Beziehungen; aggressive, gewalttätige Auseinandersetzungen, unkontrollierte<br />

und unberechenbare Erziehungsstile; wenig pos. Voraussetzungen für soziale. psychische und<br />

körperliche Entwicklung.<br />

Kinder brauchen in den ersten Lebensjahren stabile, zuverlässige und berechenbare soziale<br />

Beziehungsstrukturen:<br />

+ Grad der Stimulation:<br />

+ Grad der Angemessenheit:<br />

+ Grad der Varietät:<br />

+ Grad der Annahmebereitschaft<br />

+ Grad der Responsivität Grad der Zuneigung:<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 30


"Um ein positives Selbstwertgefühl, um Selbstkontrolle, prosoziale Orientierungen, freundliches und<br />

kooperatives Verhalten im Umgang mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, Selbstverantwortlichkeit<br />

und Leistungsbereitschaft zu entwickeln, benötigt ein Kind kontinuierliche Unterstützung und<br />

Wärme, konsistente Kontrolle und Disziplinierung, einfühlend- erklärendes Erziehungsverhalten<br />

Erweiterung des Handlungsspielraumes.<br />

Interaktionsqualität der Familie:<br />

Bestimmte Beziehungsbedingungen - für gesunde Persönlichkeitsentwicklung.<br />

Unausgeglichene und spannungsvolle Beziehungen - starker Risikofaktor; ebenso<br />

finanzielle Schwierigkeiten, Arbeitsprobleme, Alkoholismus, Streit zwischen Eltern, ...<br />

beeinträchtigen den Aufbau von Verhaltenskompetenz. Geringere Sorge und Kinder;<br />

geringere emotionale Anteilnahme am Kind;<br />

Ungünstiger sozialer Status - stresshafte Konstellationen:<br />

Höhere Verletzlichkeit der Buben gegenüber Mädchen:<br />

Zu den spezifischen Risikofaktoren für soziale Abweichung (Delinquenz) und<br />

psychische Auffälligkeit (Dissozialität bzw. Aggressivität) gehören:<br />

• die dauerhafte Trennung von Mutter/Vater unter 5 Jahren<br />

• Alter der Mutter unter 18 Jahren bei Geburt wiederholte<br />

Krankenhausaufenthalte in den ersten zwei Lebensjahren<br />

• längere Trennung von der Mutter in den ersten Lebenswochen<br />

• häufiger Wechsel der Bezugspersonen innerhalb der Familie<br />

• häufiger Ortswechsel in den ersten Lebensjahren des Kindes<br />

• (daneben die bekannten Risikofaktoren bei und vor der Geburt).<br />

Außerfamiliärer Lebensbereich:<br />

Durch die gesamte physische und räumliche Umwelt sind Kinder stark auf Schulung optischer<br />

und akustischer Sinneseindrücke angewiesen (teilw. Überstimulierung). In motorischen und<br />

anderen Sinnesbereichen teilweise nicht ausreichend stimuliert.<br />

Verbaute Umwelt - künstliche Bau- und Ausstattungsmaterialien - Spielzeug - fehlende<br />

Körperkontakte mit emotionaler Zuwendung; starke Reglementierung.<br />

Erkennbare Schädigungen der körperlichen, sozialen und psychischen Entwicklung:<br />

Straßenverkehr:<br />

Umweltbelastung:<br />

Ernährung:<br />

Tagesrhythmus:<br />

Mangelnde Bewegungsmöglichkeiten:<br />

Wirkung dieser Risikofaktoren über Jahre latent; Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge daher<br />

schwer zu klären.<br />

Akut belastende Lebensereignisse. (für Kinder im Grundschulalter)<br />

Tod eines Elternteils<br />

Sitzen bleiben<br />

Handgreiflichkeiten zwischen Eltern<br />

bei Diebstahl ertappt werden<br />

als Lügner verdächtigt werden<br />

eine Klassenbucheintragung<br />

sich einer Operation unterziehen<br />

sich verlaufen<br />

von der Klasse ausgelacht werden<br />

in eine andere Schule überwechseln müssen<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 31


einen Albtraum<br />

nicht alle Hausaufgaben lösen können<br />

als Letzter in eine Mannschaft gewählt werden<br />

in einem Wettspiel verlieren<br />

Deutlicher Zusammenhang : Lebensbelastungen - psychisch und körperliche Beeinträchtigungen<br />

Zusammenhänge über Stressoren und Stresshormone.<br />

Zusammenhänge personaler und sozialer Belastungsfaktoren:<br />

Statt allein auf genetische oder Umweltfaktoren zu verweisen,<br />

wäre Konstrukt: Temperament / Habitus sinnvoll.<br />

Viele Untersuchungen: Buben sind stärker von Temperamentsvariablen abhängig als Mädchen;<br />

offenbar sind männliche Kleinkinder gegenüber prä- und postnatalen Störungen anfälliger; Buben<br />

wird höheres Maß an Aggressivität zugestanden, zugleich aber scheinen recht enge Vorstellungen<br />

von Normalität bei Buben gegeben zu sein; Fehlanpassungen an soziale Forderungen,<br />

Störung der Geschlechtsrollenidentität, Störungen im kognitiven und emotionalen Bereich<br />

sind bei Buben stärker ausgeprägt. Das gleiche gilt für Aggressivität und Hyperaktivität.<br />

Für gesunde Entwicklung von Kindern entscheidend:<br />

die soziale, ökologische und materielle Lebensbedingung;<br />

geordneter, berechenbarer sozialer Kontext;<br />

Krisen: plötzlicher, abrupter Bruch in den Erwartungen und der Erwartbarkeit von<br />

Verhalten für das Kind.<br />

K. Hurrelmann: <strong>Sozialisation</strong> und Gesundheit<br />

Jugendspezifische Risikofaktoren:<br />

1. Hoher Erwartungsdruck bei schwieriger schulischer Leistungssituation durch die Eltern<br />

2. Hohe Belastungen bei emotionalen Spannungen mit Eltern; Nichtübereinstimmung bei der<br />

längerfristigen Lebensplanung<br />

3. Gesundheitsbeeinträchtigung und Verhaltensauffälligkeiten bei schwieriger Integration in<br />

Gleichaltrigengruppe<br />

Kriminelles Verhalten ist der Endpunkt einer langen Kette von Belastungen:<br />

ungünstige <strong>Sozialisation</strong>sbedingungen in der Familie, geringer Schulerfolg, fehlender<br />

Schulabschluss, mangelhafte Berufsausbildung, Arbeitslosigkeit.<br />

Tabelle 7: Schichtzugehörigkeit und psychische Auffälligkeiten (1040 Patienten der kinder- und<br />

jugendpsychiatrischen Universitätspoliklinik Berlin zwischen 6 und 18 Jahren, Prozentangaben)<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 32


(Nach Petri 1979, 107)<br />

Gesamt UnterschichtMittelschichtOberschicht<br />

N = 354 N = 528 N = 158<br />

Kontaktstörungen 54,0 45,1 44,9<br />

Einordnungsstörungen 34,7 26,1 25,3<br />

Nägelknabbern 32,2 24,6 27,8<br />

Hypermotorik 28,2 214 22,2<br />

Ängstlichkeit 26,6 25,2 17,1<br />

Wegnehmen/Stehlen 16,9 10,2 11,4<br />

Gesteigerte Aggression 16,1 11,6 7,6<br />

Überanpassung 12,7 17 4 10,1<br />

Leistungsversagen 29,9 27,5 38,0<br />

Depressive Verstimmung 12,1 17,2 10,1<br />

Allg. Stimmungsstörung 10,2 12,5 17,1<br />

Darmfunktionsstörung 6,5 8,3 13,3<br />

Magenbeschwerden 6,2 6,4 11,4<br />

Offensichtlich sind Belastungen, die sich Kinde m und Jugendlichen in sozial und materiell<br />

benachteiligten Familien stellen, von ihnen schwieriger zu bewältigen.<br />

Angehörige sozial Privilegierter Familien verfügen über mehr Macht und Einfluss,<br />

über mehr ökonomische Ressourcen, mittels derer sie die Belastungssituationen<br />

besser bewältigen können – z.B: Selbstmord:<br />

1) gespannte und zerrüttete soziale Beziehungen zu den Eltern<br />

2) Leistungsschwierigkeiten in der Schule /Schulversagen<br />

3) Krisen in Beziehungen zu Gleichaltrigen / anderes Geschlecht<br />

Risikokonstellationen für gesundheitliche Beschwerden<br />

Tabelle 8:<br />

Bildungsstand des Vaters, Schulformzugehörigkeit und psychosomatische Beschwerden (13-16jährige Jugendliche),<br />

%-Anteile mit überdurchschnittlicher Symptomhäufigkeit<br />

Schulformzugehörigkeit<br />

Bildungsgrad Haupt- Real- Gym- Gesamt<br />

des Vaters schule schule nasium schule<br />

niedrig 43% 51% 44% 61%<br />

mittel 43% 44% 43% 54%<br />

hoch 52% 58% 36% 39%<br />

Tab. 8 zeigt, dass der Wert für psychosomatische Beschwerden in den Subgruppen besonders<br />

hoch liegt, in denen Eltern den höchsten Bildungsgrad besitzen, die befragten Schüler/innen<br />

jedoch nur Hauptschulabschluss erreichen.<br />

D.h. im hohen Erwartungsdruck liegen erhebliche Belastungsmomente.<br />

Belastungen im Erwachsenenalter:<br />

Lebensbedingungen, die zu Beeinträchtigungen führen:<br />

1) Berufs- und Erwerbbereich<br />

2) Familien- und Freizeitbereich<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 33


Tabelle 9: Sterbewahrscheinlichkeit der Männer zwischen dem 35. und 60. Lebensjahr nach<br />

ausgewählten Berufen sowie nach fernerer Lebenserwartung<br />

(Frankreich, 1975-1980)<br />

(nach Oppolzer 1986, 100)<br />

Beruf, Berufsgruppe Fernere Lebenserwartung<br />

im Alter von 35 (in Jahren)<br />

Professor 43,2<br />

Ingenieur 42,3<br />

Selbständiger/Freie Berufe 42,0<br />

Lehrer 41,1<br />

Verwaltungsfachleute d. höh. Ebene 41,4<br />

Techniker 40,3<br />

Landwirte 40,3<br />

Arbeitgeber aus Industrie und Handel 39,5<br />

Kleinere Kaufleute 38,8<br />

Angestellte des Handels 38,4<br />

Büroangestellte 38,5<br />

Facharbeiter 37,5<br />

Dienstpersonal 36,0<br />

Ungelernte Arbeiter 34,3<br />

Erwerbstätige zusammen 38,8<br />

Die Stellung im Beruf führt nachweislich zu einem unterschiedlichen Risiko für<br />

Sterblichkeit und Erkrankungshäufigkeit. Die Unterschiede im Sterblichkeitsrisiko<br />

beginnen bereits mit der Geburt. Je niedriger die soziale Schicht, umso höher die<br />

Häufigkeit der Fehlgeburten.<br />

Der wesentliche Grund Für die höheren Krankheits- und Sterblichkeitsraten bei Angehörigen<br />

niedriger Berufsgruppen muss im signifikanten Zusammenhang zwischen beruflicher Stellung<br />

und Qualifikation und dem Ausmaß an Gesamtbelastung in den Arbeits- und den davon<br />

beeinflussten Lebensbedingungen gesehen werden.<br />

Daher: Berufsposition, Einkommen, Ausbildung und Wohnqualität - Faktoren für soziale<br />

Schichtzugehörigkeit.<br />

Tabelle l0: Häufigkeit verschiedener Arten von (behandelten) Psychosen nach<br />

Sozialschichten (pro 100.000 Einwohner, alters- und geschlechtskorrigiert;<br />

New-Haven /USA, 1950)<br />

Krankheitsarten Sozialschicht<br />

I-lI III IV V<br />

Affektive Psychosen' 40 41 68 105<br />

Alkohol- und Suchtpsychosen 15 29 32 116<br />

Organische Psychosen 9 24 46 254<br />

Schizophrene Psychosen 111 168 300 895<br />

Alters-Psychosen 21 32 60 175<br />

Schichteinteilung:<br />

I Unternehmer, hohe Beamte, Freie Berufe etc.<br />

II Kleinunternehmer, mittlere Manager, angestellte Akademiker etc.<br />

III Verwaltungsangestellte, Techniker, qualifizierte Handwerker, kleine Ge<br />

werbe treibende<br />

IV Gelen» und angelernte Arbeiter und Verkäufer etc.<br />

V An- und ungelernte Arbeiter<br />

(Nach Hollingshead & Redlich 1958)<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 34


Berufsbezogene Risikofaktoren<br />

Arbeitslosigkeit<br />

So sehr sich ungünstige Arbeitsbedingungen<br />

negativ auf die Gesundheit niederschlagen -<br />

noch wesentlich belastender als schlechte<br />

Arbeitsbedingungen ist Arbeitslosigkeit. In der<br />

Untersuchung von Jahoda, Lazarsfeld und<br />

Zeisel aus dem Jahre 1933 über die<br />

Arbeitslosen von Marienthal wird zum ersten<br />

Mal umfassend versucht, die sozialen,<br />

psychischen und gesundheitlichen<br />

Auswirkungen der existenziell bedrohlichen<br />

Arbeitslosigkeit zu analysieren. Die Autoren<br />

beschreiben vier „Haltungstypen" als Reaktion<br />

auf bzw. Bewältigungsversuche von<br />

Arbeitslosigkeit: Ungebrochene, Resignierte,<br />

Verzweifelte, Apathische. Diese<br />

Haltungstypen stehen in enger Beziehung zur<br />

ökonomischen Lage: Die Ungebrochenen<br />

haben das höchste Einkommen, die<br />

Apathischen das geringste. Diese Beziehung<br />

wird auch Für den Gesundheitszustand der<br />

Kinder hergestellt: Bei Kindern mit dem<br />

besten gesundheitlichen Befund stehen noch<br />

38,4 % der Väter in Arbeit, bei Kindern mit<br />

dem schlechtesten Befund keiner der Väter<br />

(Jahoda 1983).<br />

Die sozialen, psychischen und körperlichen<br />

Folgen von Arbeitslosigkeit sind nur im Blick<br />

auf die Verlusterlebnisse zu verstehen, die<br />

Arbeitslosigkeit auch unter den heute<br />

veränderten Beziehungen zwischen Leben und<br />

Arbeit mit sich bringt:<br />

• Verlust der Struktur des Tages durch<br />

die Arbeit<br />

• Verlust der ökonomischen Sicherheit<br />

und der Möglichkeit der<br />

Bedürfnisbefriedigung durch<br />

finanzielle Mittel<br />

• Verlust der Perspektive, die in<br />

individueller Form (Karriere) und<br />

sozialer Form (Anerkennung) mit dem<br />

Beruf verknüpft ist.<br />

• Verlust der sozialen Kontakte mit<br />

Berufskollegen<br />

• Verlust der Arbeit als Lebensäußerung<br />

und Verlust der<br />

Befriedigungsmöglichkeit des<br />

produktiven Bedürfnisses<br />

• Verlust des Gefühls der eigenen<br />

Wichtigkeit in der Gesellschaft<br />

• Verlust von Anregungen durch die<br />

soziale Umwelt<br />

• Verlust der Ernährerrolle in der<br />

Familie, usw.<br />

Wie ein Überblick über neuere<br />

Untersuchungen von Walter (1985, 57) zeigt,<br />

erhöht sich im Falle von Arbeitslosigkeit die<br />

Belastung der Betroffenen enorm. Bereits die<br />

Ankündigung von geplanten<br />

Werkschließungen kann bei den Beschäftigten<br />

und bei ihren Familien zu massiven<br />

psychosomatischen Beschwerden und<br />

Gesundheitsbeeinträchtigungen führen<br />

insbesondere zu Kopfschmerzen,<br />

Schlafstörungen, Magenbeschwerden,<br />

Herzbeschwerden, Blutdruckerhöhungen.<br />

Kommt es dann zur Arbeitslosigkeit und<br />

dauert diese länger an, so erhöht sich das<br />

Risiko der Gesundheitsbeeinträchtigungen der<br />

Betroffenen erheblich: Herzkrankheiten,<br />

Bluthochdruck und Störungen der<br />

Verdauungsorgane stehen dabei im<br />

Vordergrund der durch Arbeitslosigkeit<br />

bedingten Krankheiten. Außerdem werden die<br />

Quoten von Selbstmord, psychiatrisch<br />

erfassbaren Krankheiten und auch von<br />

Delinquenz spürbar gesteigert.<br />

In neueren deutschen Untersuchungen<br />

(Benninghaus 1987) wurden die Dimensionen<br />

Aufgabenvielfalt, Entscheidungsspielraum,<br />

psychische I Arbeitsanforderungen und<br />

Umgang mit anderen Personen erfasst. Im<br />

Vordergrund steht auch hier die Dimension<br />

Aufgabenvielfalt, die stärker als alle anderen<br />

Variablen mit solchen Faktoren wie der<br />

Zufriedenheit mit der Arbeit, dem<br />

Selbstwertgefühl, dem Kompetenzgefühl, dem<br />

Gefühl der Depressivität und<br />

psychosomatischen Beschwerden sowie dem<br />

psychischen und physischen Gesamtbefinden<br />

korreliert. Weiterhin erwiesen sich auch die<br />

Dimensionen Entscheidungsspielraum und<br />

Arbeitsanforderungen als signifikante<br />

Prädiktoren für einzelne Variablen. Der Grad,<br />

bis zu dem Fachkenntnisse eingebracht und<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 35


schöpferische Begabungen und Ideen<br />

entwickelt werden und umfangreiche<br />

Kenntnisse und hohe Qualifikationen sowie<br />

eine breite Facette von Arbeitsanforderungen<br />

stimuliert werden können, erweist sich auch<br />

hier als wesentlich.<br />

Als ungünstig für das Wohlbefinden stellen<br />

sich hingegen schlechte ergonomische<br />

Arbeitsbedingungen (nach Temperatur, Staub,<br />

Licht, Lärm), schwere körperliche Arbeit,<br />

monoton- repetetive, anforderungsarme<br />

Arbeitstätigkeiten, mangelnde soziale<br />

Anerkennung und Fehlen von Kooperations-<br />

und Kommunikationsbeziehungen am<br />

Arbeitsplatz sowie das Gefühl von geringer<br />

Kontrolle über die Arbeitssituation heraus. Je<br />

mehr diese Merkmale auf einen Arbeitsplatz<br />

zutreffen, desto höher ist die allgemeine<br />

Belastung von Arbeitenden und desto<br />

wahrscheinlicher ist das Auftreten von<br />

psychischen und körperlichen<br />

Beeinträchtigungen. Kombinationen von<br />

Stressoren aus dem physiologischen und<br />

psychologischen Bereich erweisen sich als<br />

besonders belastend.<br />

Anforderungsarme Arbeitstätigkeit, fehlende<br />

Kooperation, geringe Autonomie und<br />

Selbstbestimmung und mangelnde<br />

Transparenz führen demnach zu Störungen im<br />

Wohlbefinden und zu andauernden<br />

psychischen und körperlichen Beschwerden,<br />

zu einem Abbau der intellektuellen<br />

Leistungsfähigkeit und der geistigen<br />

Beweglichkeit, zu einem passiven<br />

Freizeitverhalten und zu geringem<br />

Engagement im politischen und auch<br />

gewerkschaftlichen Bereich und haben<br />

Auswirkungen auf<br />

den gesamten Lebensstil. Der Zusammenhang<br />

zwischen der Arbeitsgestaltung und der<br />

übrigen Lebensgestaltung ist deutlich<br />

ersichtlich: Die Persönlichkeit eines Menschen<br />

entwickelt sich maßgeblich in<br />

Auseinandersetzung mit der Arbeitstätigkeit<br />

und strahlt auf die übrigen Lebensbereiche aus<br />

(Kohn & Schooler 1983).<br />

Durch die neue technologische Entwicklung<br />

kommt es zu neuartigen Risiken.<br />

Psychosoziale Nebeneffekte der<br />

elektronisch-technischen Innovation<br />

(verstärkte Automation, verstärkte Trends zu<br />

Riesenunternehmen usw.) können wachsende<br />

Anonymität und Heterogenität der sozialen<br />

Beziehungen sein. In vielen Bereichen kommt<br />

es zu einer immer intensiveren und strengeren<br />

Arbeitsteilung mit segmentierten<br />

Arbeitsbereichen und sozialer Distanz<br />

zwischen den Berufstätigen. Die soziale und<br />

psychische Verträglichkeit der neuen<br />

Techniken ist teilweise noch nicht erwiesen.<br />

Daneben bestehen die „alten" Risiken der<br />

herkömmlichen Technik am Arbeitsplatz<br />

weiter: Der Gebrauch verschiedener<br />

chemischer und anderer toxischer Stoffein<br />

Bergbau, Industrie und Landwirtschaft kann zu<br />

Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen,<br />

verschiedenen Haut-, Lungen-, Blasen- und<br />

andere Krebskrankheiten und Krankheiten<br />

durch Strahlen führen; der rücksichtslose<br />

Gebrauch von kapitalintensiven<br />

Produktionsmethoden verursacht<br />

Arbeitsunfälle, Arbeitsunfähigkeit und damit<br />

verbunden Angst, Depression, Alkoholismus<br />

sowie vermehrtes Rauchen mit der Folge von<br />

Bronchitis und Lungenkrebs; der Einsatz von<br />

Arbeitskräften für passive, repetive und<br />

maschinenähnliche Arbeitsvollzüge kann<br />

psychosomatische und Stress-Krankheiten zur<br />

Folge haben; die Umweltverschmutzung<br />

betrifft (z.B. durch Bleivergiftung,<br />

Vergiftungen durch Schwefeldioxid usw.) den<br />

Gesundheitszustand breiter<br />

Bevölkerungsgruppen; der Zwang zur<br />

Beschleunigung der Arbeitsvollzüge führt zur<br />

Zunahme der Risiken von Arbeitsunfällen und<br />

Straßenverkehrsunfällen; der Zwang zur<br />

Nutzung neuer und nicht ausreichend geprüfter<br />

Energiequellen hat Gesundheitsrisiken und<br />

Todesfälle z.B. durch Atomkraftwerke zur<br />

Folge (Walter 1985, 31).<br />

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Auswirkungen belastender Ereignisse und Übergänge im Lebenslauf:<br />

Wie bereits bei der Analyse von Belastungen im Kindesalter diskutiert, ist in der psychologischen<br />

Forschung zur Erlassung berstender Ereignisse in Familie, Freundeskreis und Freizeit, teilweise unter<br />

Einschluss des Arbeitsbereiches, ein differenziertes Instrumentarium entwickelt<br />

Die Social Readjustment Rating Scale (SRRS) umfasst insgesamt 43 Life- Events, darunter (mit dem<br />

jeweilig Durchschnitts-Punktwert der Belastung):<br />

1. Tod des Ehepartners 100<br />

2. Scheidung 73<br />

3. Trennung vom Ehepartner 65<br />

4. Haftstrafe 65<br />

5. Tod eines nahen Familienangehörigen 63<br />

6. Eigene Verletzung oder Krankheit 53<br />

7. Heirat 50<br />

8. Verlust des Arbeitsplatzes 47<br />

9. Aussöhnung mit dem Ehepartner 45<br />

10. Pensionierung 45<br />

11. Änderung im Gesundheitszustand<br />

eines Familienmitglieds 44<br />

12. Schwangerschaft 40<br />

13. Sexuelle Schwierigkeiten 39<br />

14. Familienzuwachs 39<br />

15. Geschäftliche Veränderung 39<br />

16. Erhebliche Einkommensveränderung 38<br />

17. Tod eines nahen Freundes 37<br />

Die vorliegenden Untersuchungen weisen au!<br />

einen Zusammenhang zwischen Belastungen<br />

und den alltäglichen Lebensaktivitäten, den<br />

Mustern des Lebensstils und der Lebensweise<br />

ein-,. Bevölkerungsgruppe, hin. Alle<br />

einschlägigen Studien liefern Belege = eine<br />

stärkere Ausprägung verschiedener Symptome<br />

von Lebensbelastung in Bevölkerungsgruppen<br />

mit ungünstigem sozio- ökonomischem Status.<br />

Offenbar sind sowohl die objektiven<br />

Belastungskomponente: wie auch die subjektiv<br />

wahrgenommenen Belastungen in den<br />

unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen<br />

höher. Auch herrscht in stärkerem Maße das<br />

Gefühl vor, den Entwicklungsaufgaben und<br />

den alltäglich= Herausforderungen des Lebens<br />

nicht in vollem Maße gewachsen zu sein, so<br />

dass es zu einem Gefühl von Machtlosigkeit<br />

gegenüber Lebensforderungen, fehlendem<br />

Selbstvertrauen sowie zur Entwicklung von<br />

ungeeigneten Strategien der<br />

Lebensbewältigung kommt.<br />

Durch die objektiven Lebensumstände sind<br />

Unterschichtangehörige also einer größeren<br />

Zahl von belastenden Ereignissen und<br />

Situationen ausgesetzt und sie sind zugleich<br />

„verletzlicher" durch diese objektiven<br />

Belastungen als es in den sozialen<br />

Mittelschichten und Oberschichten.<br />

der Fall ist. Kessler und Cleary (1980)<br />

erklären das durch die relativ begrenzten<br />

Zugangsmöglichkeiten sowohl zu<br />

intrapsychischen als auch zu sozialen<br />

Ressourcen, also zu den<br />

Bewältigungsmechanismen und<br />

Kontrolltechniken der Lebenssituation auf der<br />

einen Seite und den materiellen und<br />

immateriellen Unterstützungsmöglichkeiten<br />

auf der anderen Seite.<br />

Diese Merkmale der Lebensweise drücken<br />

sich in unterschiedlichen sozialen Definitionen<br />

von Gesundheit und Krankheit aus. Wie Baur<br />

(1987) betont, wird Krankheit bei Mitgliedern<br />

unterer sozialer Schichten oft als Schwäche<br />

interpretiert, welche die gewohnte Nutzung<br />

des Körpers beeinträchtigt oder behindert.<br />

Krankheit wird dann zur Kenntnis genommen,<br />

wenn sie sich, jenseits einer relativ hohen<br />

Schmerzschwelle, nicht mehr übergehen lässt.<br />

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Körperliche Empfindungen und Krankheit<br />

signalisierende Symptome unterhalb dieser<br />

Schwelle scheinen nicht wahrgenommen zu<br />

werden. Dementsprechend sind ärztliche<br />

Konsultationen bei Mitgliedern unterer<br />

Schichten relativ seltener als bei denen<br />

höherer Schichten, auch wenn der<br />

Gesundheitszustand schlechter ist.<br />

Entsprechend der Idee einer längerfristig<br />

perspektivierten „Fitness" nehmen Mitglieder<br />

der höheren Schichten deutlich mehr das<br />

medizinische Vorsorgesystem in Anspruch<br />

und suchen den Arzt häufiger aus<br />

prophylaktischen Gründen auf (Baur 1987,<br />

196).<br />

Unterschiedliche Gesundheitsvorstellungen<br />

finden ihren Ausdruck auch in<br />

Ernährungsgewohnheiten. In den unteren<br />

sozialen Schichten werden Nahrungsmittel<br />

bevorzugt, die als nahrhaft und kräftigend<br />

gelten und Lebenskraft und Stärke geben<br />

sollen, während in höheren sozialen Schichten<br />

eher leichte und natürlich zubereitete Speisen<br />

überwiegen. In den höheren sozialen<br />

Schichten herrscht zudem ein besseres<br />

Ernährungswissen vor, das durch neue<br />

Informationen auf dem Laufenden gehalten<br />

wird.<br />

Wie die Analysen von Bourdieu (1984, 298)<br />

zeigen, sind Unterschiede nicht nur im<br />

Nahrungsmittelkonsum und der<br />

Essenszubereitung auszumachen, sondern<br />

auch in der Art und Weise des Essens und<br />

Trinkens. Sie lassen sich auch in<br />

Unterschieden der Körpersprache und der<br />

Körperkontrolle erkennen: Angehörige<br />

höherer Schichten treiben häufiger Sport und<br />

verwenden dafür mehr Freizeit. Der Zugang<br />

zum Sport wird diesen Schichten auch deshalb<br />

erleichtert, weil sie ihre eigenen<br />

Wertorientierungen, die sie im Zusammenhang<br />

mit ihrer spezifischen Art der<br />

Lebensbewältigung entwickeln, in den Sport<br />

einbringen können, z.B. Selbständigkeit,<br />

Selbstverantwortung, Leistungsstreben,<br />

Selbstdisziplin, Ausdauer, Erfolgsmotivierung,<br />

gezielte Risikobereitschaft (Baur 1987, 302).<br />

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Ad 8) Jugend und Beruf<br />

Determinanten der Berufswahl:<br />

An dieser Stelle kann selbstverständlich weder die fehlende Theorie der Berufswahl entwickelt, noch<br />

die Datenfülle empirischer Erhebungen wiedergegeben werden. Dennoch sollen - ausgehend von<br />

einem Determinantenschema einige Aspekte verschiedener Disziplinen zur Berufswahl angedeutet<br />

und als Diskussionsanreiz angeboten werden. Dieses Angebot ist ein Weg, um den )privaten(<br />

Charakter der Berufswahl aufzubrechen, um die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen<br />

Dimensionen bewusst zu machen, um auf diese Weise Berufswahl-Handeln durch sachliche<br />

Überlegungen vorzubereiten.<br />

Präferenzen- Erwartungs-.<br />

hierarchie hierarchie<br />

1. Unmittelbare Determinanten<br />

Berufsinformation Technische<br />

Qualifikation, Werthierarchie<br />

2. Sozialpsychologische<br />

Attribute<br />

Allgemeiner Wissensstand,<br />

Fähigkeiten.. Schulniveau,<br />

soziale Stellung und<br />

Beziehungen, Einstellung zum<br />

Berufsleben .<br />

3. Individuelle Entwicklung ,<br />

Schulische Entwicklung,<br />

Veränderungen<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozess.<br />

Familieneinfluss<br />

Berufswahl.<br />

und Selektion<br />

Biologische Konditionen Soziale Struktur,<br />

soziale Stratifikation,<br />

Normen, Demographie<br />

Determinantenschema zur Berufswahl<br />

Ideale Realistische<br />

Standards Einschätzung<br />

I. Unmittelbare<br />

Determinanten<br />

normale Nachfrage, Funktionale<br />

und nichtfunktionale Erfordernis;<br />

Entlohnung'<br />

II. Soziökonomische Organisation',<br />

Berufsbesetzung und Abgangsraten;<br />

, Arbeitsteilung, Politik der<br />

relevanten Organisationen<br />

III. Historischer Wandel<br />

Trend in der sozialen Mobilität;<br />

Veränderungen in der industriellen<br />

Zusammensetzung, Wandel an der<br />

Konsumfront<br />

Wirtschaftliche Grundlagen<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 39


Determinanten der Berufswahl<br />

Eine Möglichkeit, sich des Umfeldes und der Voraussetzungen der individuellen Studien- und<br />

Berufswahl bewusst zu werden, ist ein Blick auf ein sog. Determinantenschema. Die Abbildung<br />

zeigt das in der einschlägigen Literatur häufig zitierte Schema von Peter Blau.<br />

Es geht bei diesem Schema nicht um alle Details und die letzte Eindeutigkeit aller Begriffe.<br />

Entscheidend ist die Aussage, dass die Berufsfindung als ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren<br />

aufgefasst und - abweichend vom vorherrschenden privaten Ereignischarakter - als komplexes<br />

Einflussfeld interpretiert wird. Nach Blau sind es insgesamt acht Faktoren, die die Berufsfindung<br />

determinieren, vier auf der Seite der Berufswelt, vier auf der Seite des Individuums:<br />

Berufswelt:<br />

1. Nachfrage, die zu einer bestimmten Zeit besteht<br />

2. Funktionale Anforderungen (technische Qualifikation)<br />

3. Nicht-funktionale Anforderungen (Status, Religion)<br />

4. Art der Gegenleistung (Prestige, Entlohnung, Aufstiegschancen ...)<br />

Individuum:<br />

5. Informationsniveau über die Berufswelt<br />

6. Eignung<br />

7. Andere, nicht leistungsrelevante Merkmale sozialer Art<br />

8. Allgemeine Wertorientierung<br />

Legt man einen noch gröberen Raster an, dann lassen sich unterscheiden: soziologische Faktoren<br />

ökonomische Faktoren psychologische Faktoren<br />

Unter Bezug auf diese Gliederung sollen einige Aspekte zur Berufswahl dargestellt werden als<br />

Ansatzpunkte zur Reflexion, zur Diskussion - und zum Widerspruch.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 40


<strong>Sozialisation</strong> - Strukturmodell<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 41


Informationstheoretisches Modell der Berufswahl (Ries, Berufswahl)<br />

Start<br />

nein<br />

---------<br />

ja<br />

Gesellschaft und<br />

ihre Normen<br />

bewirken ...<br />

beim Jugendlichen<br />

eine<br />

Statusunvollständig<br />

keit<br />

Jugendlicher<br />

antizipiert einen<br />

Zielstatus<br />

Qualifiziert die<br />

erhaltenen<br />

Informationen.<br />

Informationen<br />

ü ?<br />

Informationen<br />

bestätigen die<br />

Rangreihe und<br />

führen zum<br />

E t hl<br />

nein / ja<br />

Der Jugendliche<br />

meldet<br />

Statusansprüche<br />

an<br />

Entwurf einer<br />

entsprechenden<br />

Rangreihe<br />

alternativer<br />

B f ll<br />

Informationsermittl<br />

ung und<br />

Reaktivierung des<br />

Informationspotenti<br />

l<br />

Gesellschaft gibt<br />

über die<br />

Rollenstruktur<br />

Informationen frei<br />

Gesellschaft als<br />

Rollendistributeur<br />

prüft die<br />

Ansprüche und<br />

h ißt i t<br />

nein / ja<br />

Jugendlicher<br />

übernimmt Rolle,<br />

Statusunvollständig<br />

keit behoben -<br />

i t i t<br />

Fehlende<br />

Orientierung über<br />

die Zugänglichkeit<br />

dieser berufsrollen<br />

Stopp<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 42


3.4. Beruflicher Habitus<br />

In Anlehnung an den französischen Bildungs- und<br />

Kultursoziologen Bourdieu hat Windolf (1981) den<br />

Begriff des „beruflichen Habitus" als Resultat der<br />

Verknüpfung von <strong>Sozialisation</strong> und Familie, Schule<br />

und Erwerbstätigkeit, die allesamt durch die<br />

gesellschaftliche Reproduktion durch Arbeit geprägt<br />

sind, diskutiert. Der berufliche Habitus ist ein stabiles<br />

System verinnerlichter interner Handlungsregeln, die<br />

nicht nur der Anpassung an die Arbeitsanforderungen,<br />

sondern auch der Selbstinterpretation und der Deutung<br />

gesellschaftlicher Verhältnisse dienen. Die sozialen<br />

Anforderungen, die beim Erlernen und Ausüben eines<br />

Berufs erfüllt werden, führen zu Akteuren mit einem<br />

gleichen Habitus, d. h. gemeinsamen Denk- und<br />

Beurteilungsmustern sowie Handlungsschemata.<br />

Der berufliche Habitus ist ein idealtypisches Konstrukt,<br />

ein Bezugsrahmen für individualisierende<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozesse. Er konkretisiert sich durch die<br />

Beteiligung am betrieblichen Arbeitsprozess, wodurch<br />

die Erwerbstätigen in den jeweiligen kulturellen Code<br />

der Organisation eingefügt werden; dies geschieht durch<br />

Initiationsprozesse und Statuspassagen, nachdem<br />

Selektionskriterien überwunden sind. Dabei geht es<br />

darum, die impliziten Spielregeln oder den „geheimen<br />

Lehrplan" der Arbeitsorganisation zu entschlüsseln. Der<br />

Betrieb rekrutiert Mitglieder, die soziale und kulturelle<br />

Grundqualifikationen mitbringen und unterzieht sie<br />

einer Einweisungsphase (z. B. als Trainee,<br />

Referendar/in, Volontär/in, Assistent/in), um das für den<br />

beruflichen Habitus konstitutive „Betriebswissen" zu<br />

vermitteln. Auch wenn der Betrieb keine expliziten<br />

Lernprozesse neben der Berufsausbildung und<br />

Weiterbildung organisiert, so verweist das Konzept des<br />

beruflichen Habitus auf mehr oder weniger lange<br />

berufliche Orientierungsphasen, die vor allem für die<br />

akademischen Professionen von Bedeutung sind.<br />

Als Leitmotiv der beruflichen <strong>Sozialisation</strong>sforschung<br />

ist nach Schumm (1982) die Fragestellung zu sehen, ob<br />

und wie Arbeitserfahrungen die Fähigkeiten zu<br />

selbstverantwortlichen Handeln stärken oder<br />

schwächen. Dabei stehen beruflichfachliche<br />

Qualifikationen und verinnerlichte normative<br />

Orientierungen in Bezug auf Arbeitsleistung,<br />

Zuverlässigkeit, Aufstieg, Kollegialität, Konflikt und<br />

Kooperation im Betrieb im Mittelpunkt. Im Hinblick<br />

auf die Einführung neuer Arbeitstechniken und<br />

Umstellungen in der Betriebsorganisation gewinnen<br />

Eigenverantwortung und die Bereitschaft zur<br />

Mitgestaltung von Arbeitsabläufen an Bedeutung.<br />

Bei der Untersuchung der <strong>Sozialisation</strong>seffekte<br />

beruflicher Arbeit sind drei Ebenen zu unterscheiden:<br />

• Welche Arbeitsanforderungen und<br />

-bedingungen sind überhaupt<br />

sozialisationsrelevant;<br />

• auf welche Weise wird die Identität bzw.<br />

Persönlichkeitsstruktur durch Arbeitserfahrung<br />

geprägt und<br />

• welche langfristig wirksamen<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozesse gehen von der<br />

beruflichen Arbeit aus und inwieweit tragen sie<br />

zur Reproduktion des gesellschaftlichen<br />

Normen- und Wertesystems bei?<br />

Sie bilden den Rahmen für das Ausmaß an Akzeptanz<br />

bzw. Kritik von betrieblichen Herrschaftsstrukturen,<br />

Entscheidungsprinzipien und Arbeitsbelastungen. Zur<br />

Erfüllung konkreter Arbeitsaufgaben sind schließlich<br />

regulative Nonnen notwendig, die alltagssprachlich als<br />

„Arbeitstugenden", wie Disziplin, Gründlichkeit,<br />

Sorgfältigkeit und Übersicht, bezeichnet werden.<br />

Die technisch-organisatorischen Arbeitsanforderungen<br />

verweisen auf ein Bündel von Qualifikationen, die aus<br />

Kenntnissen, praktischen Fertigkeiten und Fähigkeiten<br />

zusammengesetzt sind. Die normativen Orientierungen<br />

beziehen sich auf subjektive Ansprüche, Erwartungen<br />

und Motivation, insbesondere das Ausmaß der inneren<br />

Verpflichtung der Berufstätigen bei der Erfüllung von<br />

Aufgabenstellung im Betriebszusammenhang. Die<br />

berufsbezogenen normativen Orientierungen sind in<br />

soziale Deutungsmuster eingelagert, die Vorstellungen<br />

über die gerechte Verteilung gesellschaftlicher<br />

Privilegien und materieller Ressourcen enthalten.<br />

Aus sozialisationstheoretischer Sicht stellt sich damit<br />

die Frage nach dem Verhältnis von Berufsarbeit und<br />

persönlicher Identität (Leithäuser & Heinz 1976).<br />

Entsprechend der Theorie des symbolischen<br />

Interaktionismus führen <strong>Sozialisation</strong>sprozesse nicht zu<br />

einer mechanischen Verinnerlichung von<br />

Handlungserwartungen, vielmehr wer<br />

den diese durch die Akteure interpretiert und mit ihrer<br />

Biographie in Verbindung gebracht. Dementsprechend<br />

schlagen sich auch restriktive Arbeitsbedingungen nicht<br />

in einer total angepassten Arbeitspersönlichkeit nieder.<br />

Auch bei begrenzten Handlungsspielräumen und<br />

anspruchslosen Tätigkeiten entwickeln die Arbeitenden<br />

Bewältigungsstrategien, die der Identitätsverteidigung<br />

dienen (Heinz 1982). Berufliche Anforderungen und<br />

Arbeitssituationen prägen also das Arbeitshandeln nicht<br />

direkt, sie sind durch berufliche <strong>Sozialisation</strong>sprozesse<br />

vermittelt und werden von den Beteiligten interpretiert.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 43


Das Bild vom Alter<br />

Verachtet, hoch geehrt, konfliktreich,<br />

beziehungslos<br />

Die neue Art von Berufstätigkeit der Jungen<br />

außerhalb der „Haushalte" hatte zur Folge,<br />

SN 2/02<br />

dass der unmittelbar sichtbare Beitrag der<br />

hat sich im Lauf der Zeit sehr gewandelt- und<br />

damit die Wert- oder Geringschätzung der<br />

Alten.. Keine Rede kann jedenfalls davon sein,<br />

dass die heutige Gesellschaft das Alter<br />

besonders gering schätzt oder dass die<br />

Übereinstimmung der Generationen verloren<br />

gegangen sei. Das traute Miteinander der<br />

Alten zur Produktion verloren ging. Eine<br />

staatliche Altersvorsorge war erst im Aufbau.<br />

Die Alten wurden zur Last. Paradoxerweise<br />

trugen dazu auch die Fortschritte der Medizin<br />

bei: Immer mehr Menschen überlebten bis ins<br />

hohe Alter- die Alten wurden mehr und mehr<br />

zu Pflegefällen.<br />

Generationen gab es so gut wie nie -und wenn<br />

doch, hatte es eher materielle denn<br />

romantische Gründe. Das wurde längst auch in<br />

sozialwissenschaftlichen Arbeiten belegt.<br />

Mit der Wende zum 20. Jahrhundert war es<br />

vorbei mit dem ehrfurchtsvollen Aufblicken<br />

der Jugend zum Alter. Jugendliche<br />

Verhaltensmaßstäbe - Leistung, Aktivität,<br />

Aggressivität setzten sich durch, der Status der<br />

Alten sank und sank. Die Einführung der<br />

Pensionsversicherung brachte zwar große<br />

Fortschritte in der sozialen Absicherung- das<br />

systematische und kollektive Ausscheiden<br />

ganzer Jahrgänge aus dem Berufsleben wurde<br />

aber bald mit Begriffen wie Entbehrlichkeit<br />

oder gar Nutzlosigkeit der Pensionisten<br />

verknüpft.<br />

Schlimm dürfte es den meisten Alten von der<br />

frühen Neuzeit bis ins 17. Jahrhundert<br />

gegangen sein. Damals wurden die<br />

Abgearbeiteten als nicht mehr vollwertige<br />

Mitglieder der Gesellschaft gesehen, folglich<br />

schlechter behandelt und an den Rand<br />

gedrängt. Der alte Mensch wurde jedenfalls in<br />

Europa verachtet. Kein Wunder, dass die<br />

Furcht vor dem Alter damals oft größer als die<br />

Furcht vor dem Tod war. Und als alt galt man<br />

einst schon mit 40 Jahren.<br />

An Ansehen gewann das Alter erst im 18.<br />

Jahrhundert. Hauptursache für den<br />

Prestigegewinn: In der landwirtschaftlich<br />

geprägten Gesellschaft hatte alle Macht und<br />

Verfügungsgewalt, wer Land und Hof besaß.<br />

Wer sich gegenüber den Eltern wohl verhielt,<br />

konnte damit rechnen, einen größeren Erbteil<br />

zu bekommen. Zu keiner Zeit - weder vorher<br />

noch nachher -erreichte die „Verehrung" der<br />

Alten ein derart großes Maß.<br />

Sehr lange währte diese Phase nicht. Zwar<br />

erfuhren die älteren Menschen auch im 19.<br />

Jahrhundert Wertschätzung, gleichzeitig<br />

wurde aber der Status der Jungen deutlich<br />

aufgewertet. Ende des 19. Jahrhunderts<br />

standen die Zeichen schließlich endgültig auf<br />

Generationenkonflikt: Dank der<br />

fortschreitenden Industrialisierung fanden die<br />

Jungen außerhalb des heimatlichen Hofes<br />

Arbeit und konnten unabhängig vom<br />

elterlichen Erbe Existenz und Familie gründen<br />

- die Eltern büßten Macht und<br />

Einflussmöglichkeit ein.<br />

Und heute? Die einen Wissenschafter sagen,<br />

das Verhältnis der Generationen sei Anfang<br />

des 21. Jahrhunderts eher von<br />

Beziehungslosigkeit denn von<br />

Konfliktreichtum gekennzeichnet, wobei sich<br />

immer mehr der "kompetente, selbstständige<br />

und selbstbestimmte ältere Mensch"<br />

herauskristallisiert. Andere Wissenschafter<br />

sagen, das Verhältnis der Generationen sei<br />

beziehungsvoller als früher, die gegenseitige<br />

Unterstützung funktioniere jedenfalls<br />

innerhalb der Familie sehr gut. Sowohl die<br />

Jungen als auch die Alten seien in einer Art<br />

"Solidaritätsdrehscheibe" Geber und Nehmer<br />

zugleich, kaum jemand bleibe im Notfall allein<br />

wobei die Älteren den Wohlstand der Jungen<br />

stützen, indem sie ihnen finanziell unter die<br />

Arme greifen (und zwar kräftig), während die<br />

Jungen den Älteren bei der Hausarbeit zur<br />

Hand gehen oder sie pflegen. Der große<br />

Schönheitsfehler: Zwar sind es (öfter) die<br />

Söhne, die elterliche Unterstützung<br />

entgegennehmen, es sind aber (meist) die<br />

Töchter, die sich mit Arbeit und Pflege<br />

bedanken. i.b.<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 44


Die „neuen Alten" - neue Freuden, neue Fragen<br />

Fröhlich, optimistisch, gesund, interessiert und konsumfreudig. Vor gar nicht langer Zeit wäre<br />

niemand auf die Idee gekommen, "die Alten" so zu charakterisieren. Unterdessen charakterisieren<br />

sich "die Alten" selbst so. Abwegig finden sie bloß, dass man sie als aalt" bezeichnet.<br />

Womit wir auch schon bei einem Paradoxon sind: Wer aus dem Berufsleben ausscheidet, wird sofort<br />

in die Schublade mit der Aufschrift „alt` gesteckt (manche stecken sich freilich kokett selbst hinein).<br />

Die Einteilung eines Lebens in bloß drei Phasen - Jugend, Erwerbszeit, Alter - mag vor gut 1V0<br />

Jahren gestimmt haben, als die Kindheit abrupt in Fabriken endete und die staatliche<br />

Altersversorgung für die Abgearbeiteten erst im Aufbau war. Anfang des 21. Jahrhunderts ist es aber<br />

höchste Zeit, sich eine neue Etikettierung für einen Lebensabschnitt auszudenken. der von der Lage<br />

am Arbeitsmarkt und den Regeln der Pensionsversicherung bestimmt wird. aber so gut wie nie von<br />

den körperlichen und geistigen Kräften der Betroffenen. Weshalb wir es eben längst nicht mehr mit<br />

„den Alten' zu tun haben, sondern mit mehreren Generationen von nicht mehr Jungen: Da sind die<br />

"neuen Alten" (viele von ihnen noch keine 60), dann sind da die "Älteren" (65 bis 70 und aufwärts),<br />

und erst viel später kommen wir zu jenen, die man vielleicht wirklich alt nennen kann.<br />

Bleiben wir kurz bei Letztgenannten: Die Zahl der 80- bis 90-jährigen hat sich seit den 50er Jahren<br />

verfünffacht, die Zahl der 90-Jährigen und Älteren hat sich verneunfacht. Dass der medizinische<br />

Fortschritt (an dem in Europa dankenswerterweise alle, unabhängig von ihrer Brieftasche, teilhaben<br />

können) seine Wirkung tat. ist hoch erfreulich. Gleichzeitig kündigt sich ein Engpass bei der<br />

Altenpflege an. Derzeit werden noch fast alle Alten (mehr als 90 Prozent) in der Familie - also in<br />

Wahrheit: von den Töchtern und Schwiegertöchtern gepflegt. Da anzunehmen ist, dass die Töchter<br />

und Schwiegertöchter demnächst selbst bis 65 berufstätig sein werden und noch mehr anzunehmen<br />

ist, dass die Söhne und Schwiegersöhne auch weiterhin kaum Bereitschaft zur Altenpflege innerhalb<br />

der Familie zeigen, wird es mit "Gratis"- Pflegern knapp.<br />

Das ist aber nur eines der Probleme, die sich beim Thema Alter auftun. Zwar bemüht sich die Politik<br />

oft redlich, Lösungen anzubieten (hochlöblich etwa die Einführung des Pflegegeldes: lobenswert<br />

auch die Karenz zur Sterbebegleitung, die demnächst kommen wird) - oft geht ihr aber auch der Mut<br />

aus. Und: So notwendig die nächste Pensionsreform ist allein mit ihr wird man die Fragen der neuen<br />

Generation nicht lösen können. Ihren Beitrag müssen auch die jungen Alten selbst leisten und wenn<br />

es bloß der ist, Körper und Geist so lange wie möglich fit zu erhalten und sich nicht in die<br />

Zuschauerloge zurückzuziehen.<br />

Inge Baldinger<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 45


Inhaltsverzeichnis:<br />

Soziologie / <strong>Sozialisation</strong>...................................................................................................................1<br />

Literatur:.............................................................................................................................................1<br />

<strong>Sozialisation</strong>: ......................................................................................................................................2<br />

Übersicht: .......................................................................................................................................2<br />

Zur Begriffsklärung....................................................................................................................2<br />

Schichtspezifische <strong>Sozialisation</strong> ................................................................................................2<br />

<strong>Sozialisation</strong> und Gesundheit.....................................................................................................2<br />

Zur Begriffsklärung: Abgrenzung und Konkretisierung....................................................................3<br />

G. Wurzbacher: ..............................................................................................................................3<br />

Personalisation: ..........................................................................................................................3<br />

Andere Autoren sehen den <strong>Sozialisation</strong>sprozess unter anderen Gesichtspunkten ...................3<br />

H. Fend:..........................................................................................................................................3<br />

J. Wössner: .....................................................................................................................................4<br />

I.L. Child: .......................................................................................................................................4<br />

J. A. Clausen: .................................................................................................................................4<br />

T. Parsons:......................................................................................................................................4<br />

M. Mead: ........................................................................................................................................4<br />

Hilfen zur Begriffsklärung: ........................................................................................................4<br />

<strong>Sozialisation</strong> umfasst alle Einflüsse von außen,.........................................................................5<br />

„Mensch" und „Gesellschaft".............................................................................................................5<br />

Kulturspezifische Lebensalterphasen und <strong>Sozialisation</strong>sbedingungen eines lebenslangen<br />

<strong>Sozialisation</strong>sprozesses in der industriellen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland<br />

(Österreich)...............................................................................................................................10<br />

Soziologische Lebensaltersphasen ...........................................................................................10<br />

Soziales Feld, sozialisationsdominante Orientierungen und Rollenpartner.............................10<br />

Struktur einer elementaren <strong>Sozialisation</strong>ssequenz ...................................................................12<br />

Das labile Gleichgewicht der Ich-Identität...............................................................................14<br />

Ich - Identität ................................................................................................................................14<br />

Determinanten der Verfügbarkeit über soziale Rollen.............................................................15<br />

Klassifikationsschema für soziale Rollen (nach Dreitzel 1972: 140). .....................................16<br />

3.4. Der <strong>Sozialisation</strong>sprozess – Phasen nach T. Parsons................................................................18<br />

<strong>Sozialisation</strong>: ............................................................................................................................18<br />

Die erste Phase .............................................................................................................................19<br />

Die zweite Phase ..........................................................................................................................19<br />

Die dritte Phase ............................................................................................................................19<br />

Die vierte Phase............................................................................................................................20<br />

Die fünfte Phase ...........................................................................................................................20<br />

Klassen und soziale Schichten in westlichen Industriegesellschaften – neue<br />

Entwicklungstendenzen....................................................................................................................21<br />

Schichtspezifische <strong>Sozialisation</strong> / ....................................................................................................22<br />

milieuspezifische <strong>Sozialisation</strong> ........................................................................................................22<br />

Idealtypische Gegenüberstellung (Hartfiel /Holm: Erziehung in der modernen<br />

Industriegesellschaft) ...............................................................................................................22<br />

Allgem. Wertsystem.............................................................................................................22<br />

Dieser Sachverhalt wird in der Soziologie unter dem Stichwort „schichtspezifische<br />

<strong>Sozialisation</strong>" untersucht und diskutiert.......................................................................................23<br />

10.2. Schicht und Handlungskompetenz......................................................................................23<br />

Raum deutscher Sozialmilieus .........................................................................................................27<br />

Das Mentalitätsfeld der neuen sozialen Milieus ..............................................................................28<br />

Individualisierungsthese:..................................................................................................................29<br />

<strong>Sozialisation</strong> und Gesundheit...........................................................................................................30<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 46


Belastungen im Kindesaster.........................................................................................................30<br />

Lebensbereich Familie: ............................................................................................................30<br />

Belastungen:.................................................................................................................................30<br />

Trennung der Eltern: ................................................................................................................30<br />

Materielle und immaterielle Deprivation:....................................................................................30<br />

Interaktionsqualität der Familie: ..................................................................................................31<br />

Außerfamiliärer Lebensbereich:...................................................................................................31<br />

Akut belastende Lebensereignisse. (für Kinder im Grundschulalter)..........................................31<br />

Zusammenhänge personaler und sozialer Belastungsfaktoren: ...............................................32<br />

Für gesunde Entwicklung von Kindern entscheidend:.............................................................32<br />

K. Hurrelmann: <strong>Sozialisation</strong> und Gesundheit.............................................................................32<br />

Jugendspezifische Risikofaktoren:...............................................................................................32<br />

Risikokonstellationen für gesundheitliche Beschwerden.........................................................33<br />

Belastungen im Erwachsenenalter: ..............................................................................................33<br />

1) Berufs- und Erwerbbereich..................................................................................................33<br />

2) Familien- und Freizeitbereich..............................................................................................33<br />

Berufsbezogene Risikofaktoren ...................................................................................................35<br />

Arbeitslosigkeit ........................................................................................................................35<br />

Auswirkungen belastender Ereignisse und Übergänge im Lebenslauf:...................................37<br />

Determinanten der Berufswahl: ...................................................................................................39<br />

Determinanten der Berufswahl.....................................................................................................40<br />

Berufswelt: ...................................................................................................................................40<br />

Individuum: ..................................................................................................................................40<br />

<strong>Sozialisation</strong> - Strukturmodell.....................................................................................................41<br />

Informationstheoretisches Modell der Berufswahl (Ries, Berufswahl) .......................................42<br />

3.4. Beruflicher Habitus ...............................................................................................................43<br />

Das Bild vom Alter ..........................................................................................................................44<br />

Die „neuen Alten" - neue Freuden, neue Fragen..........................................................................45<br />

Inhaltsverzeichnis:........................................................................................................................46<br />

Otto Stoik / Skriptum / <strong>Sozialisation</strong> / Akademienverbund Pädagogische Hochschule Diözese Linz / 2006 1 47

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