zur E-Mail-Story - Michelsenschule
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Eine spannende E-<strong>Mail</strong>-<strong>Story</strong><br />
nach Goethes Werther<br />
vom Kurs 12.de7(Scs) verfasst<br />
und ins Netz gestellt unter:<br />
www.michelsenschule.de<br />
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E R S T E R T E I L<br />
4. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Plötzlicher Umzug<br />
Es tut mir leid, dass ich Berlin so überstürzt verlassen musste, aber ich hatte keine<br />
andere Wahl. Ich habe Berlin verlassen, weil ich Probleme mit Leonore und ihrer<br />
hübschen Schwester bekommen habe. Das Schwesterchen hat sich wohl auch in<br />
mich verknallt und ich hab dabei völlig die Übersicht verloren. Und dann hat es richtig<br />
geknallt – Leonore ist völlig ausgeflippt, hat alle gegen mich aufgehetzt und ich hab<br />
mein Heil in der Flucht gesucht, die Situation war untragbar geworden…<br />
Nun zu meinem hannöverschen Dasein. Ich bin vorerst bei meiner Tante<br />
untergekommen, sag Mutter, ich habe mit der Tante auch die Sache mit dem Erbe<br />
geklärt, sie ist eigentlich ganz nett und hat versprochen uns sogar etwas mehr<br />
abzugeben, als uns rechtlich zusteht. Alles war ein großes Missverständnis, wir<br />
hätten sie eigentlich nur mal an<strong>zur</strong>ufen brauchen. Die Umgebung hier in Hannover ist<br />
sehr schön, nur gefallen mir diese spießigen Herrenhäuser Gärten ganz und gar<br />
nicht. Allerdings habe ich unweit des Maschsees einen kleinen Weiher in der Aue<br />
gefunden, dieses ist mein Lieblingsort hier, ich fahre so oft ich kann mit meinem<br />
gebraucht erstandenen Hollandrad (!) hin, den Z3 hab ich verscherbelt.. Da ich nicht<br />
vorhabe, mein restliches Leben bei meiner Tante abzuhängen, bin ich auf der Suche<br />
nach einer netten kleinen WG.<br />
PS: Mein neues blau-gelbes Rad ist echt der Hammer, es hat sogar eine spezielle<br />
Vorrichtung für meine Laptoptasche (und eine grüne Umweltvignette für die<br />
Innenstadt), nun kann ich dir von überall E-<strong>Mail</strong>s und meine letzten Fotos schicken.<br />
12. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Himmel auf Erden<br />
Ich habe hier unerwartet das Paradies auf Erden gefunden! Du ahnst gar nicht wie<br />
schön die Maschsee-Aue ist. Und dann mein kleiner Weiher, du weißt schon…. Es ist<br />
hier so idyllisch. Der Weiher ist umgeben von einem Schilfgürtel, hier treffen sich<br />
manchmal einige Naturliebhaber, ich schauen ihnen dann einfach stundenlang zu,<br />
während ich unter meiner schönen alten Eiche oder auf dem Steg sitze, sehe ich sie<br />
durch das kniehohe Gras streifen, auf der Suche nach kleinen Insekten oder so…<br />
Außerdem kann man hier ungestört nach einer langen Radtour chillen. Meine Touren<br />
dauern in der wundervollen Umgebung manchmal den halben Tag. Das ist die<br />
Schönheit der Natur, das Entdecken vieler kleiner Wunder.<br />
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13. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Musik<br />
Du fragtest, ob du mir nen Paar neue Alben schicken sollst?<br />
Ich brauche <strong>zur</strong> Zeit keine andere Musik als die von Jack Johnson, Hör doch mal bei<br />
„You Tube“ rein. Du weißt ja selber, wie oft ich vor Kummer in Depressionen<br />
versinke, <strong>zur</strong> Zeit quält mich noch die Sache mit Leonore und dass ich Berlin<br />
verlassen musste, aber wenn ich Jack Johnson höre, bin ich wieder happy. Ich<br />
versuche, mein Herz mit diesen Liedern zu kurieren, es findet einfach nicht <strong>zur</strong> Ruhe<br />
<strong>zur</strong>ück. Wird schon.<br />
15. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Bin ich anders?<br />
Mit einigen Studenten hier an der Uni verstehe ich mich inzwischen ganz gut. Als<br />
ich mich aber am Anfang zu ihnen stellte, sie über dieses und jenes fragte, glaubten<br />
sie wohl, dass ich mich als etwas Besseres fühlen würde. Weil ich halt promoviere.<br />
Weil meine Mutter mir genug Knete rüberschickt.<br />
Eigentlich kann ich ihre erste Reaktion auch verstehen… Bin trotzdem der einzige<br />
Doktorand, der sich mit ihnen abgeben will. Die anderen sind total oberflächlich. Sie<br />
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wollen mit den normalen Studenten nix zu tun haben. Haben anscheinend<br />
vergessen, dass sie selber einmal welche waren.<br />
Letztens ist aber was passiert… Unvorstellbar… Eine Putzfrau kam mit ihrem<br />
sperrigen Putzwagen nicht durch die Mensatür. Aber anstatt ihr zu helfen, gingen alle<br />
an ihr vorbei. Nur ich habe geholfen. Sie ist doch ein Mensch, genau wie wir! -<br />
Irgendwie bin ich anders.<br />
17. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Obwohl ich an der Uni und am Maschsee schon allerlei Leute kennengelernt habe,<br />
habe ich noch keine richtigen Freunde gefunden.<br />
Du fragst mich, wie die Leute hier in Hannover sind: wie überall! Mir kommt es so vor,<br />
als ob sie Freiheit nicht ertragen können. Die meisten arbeiten die ganze Zeit, und<br />
ihre sogenannte Frei(!)zeit versuchen sie mit allen Mitteln loszuwerden, indem sie<br />
sich von allen Seiten berieseln lassen.<br />
Die Zeit, die ich mit den anderen Studenten verbringe, tut wirklich gut. Aber aktiv<br />
genießen und Freude haben können diese Leute auch nicht richtig…<br />
22. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Das Leben existiert nur im Traum<br />
Empfindest du das Leben nicht auch als einengend? Man verbringt sein ganzes<br />
Leben nur damit, Bedürfnisse zu stillen, die keinen Sinn haben, sondern nur unsere<br />
Existenz verlängern. Essen, trinken, schlafen.<br />
In meiner Fantasie aber existiert eine andere Welt! Ich habe das Gefühl, dass das<br />
wirkliche Leben nur im Traum existiert.<br />
Kindern z.B. wollen ständig irgendetwas, sind von einfachen Dingen fasziniert und<br />
irren ziellos durchs Leben. Erwachsene dagegen gehen zielbewusst nutzlosen<br />
Tätigkeiten nach. Außerdem tun sie alles, nur um noch ein bisschen länger zu leben,<br />
egal wie gut oder schlecht ihr Leben ist. Sie merken dies aber selbst nicht.<br />
Ich bin froh, dass ich die Freiheit genießen und jederzeit das einengende Leben<br />
beenden kann.<br />
26. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Anlagen: JackJohnson.Better together.mp3; NatureMorte27.mpg<br />
Wie du weißt, habe ich auch hier wieder einen einzigartigen Platz gefunden. Dort<br />
bin ich glücklich, ich fühle mich wie berauscht oder frisch verliebt. Ich lasse mich<br />
einfach nur in dem Gefühl des Ausgeglichenseins treiben. Wie du dir denken kannst,<br />
sitze ich jetzt gerade hier, höre Musik (übrigens schicke ich dir mein derzeitiges<br />
Lieblingslied mit), fotografiere und zeichne die Natur. Ach, könnte ich dir dieses<br />
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wunderbare Gefühl doch irgendwie nahebringen! Kein Foto, kein Video könnte<br />
dieses Gefühl wiedergeben. Ach, was soll´s, ich bin so überwältigt von dieser<br />
Ausgeglichenheit – obwohl ich sie nicht erfassen kann. Ich schicke dir trotzdem mal<br />
einen pixligen Versuch mit ...<br />
Ein Mensch, der sich von der Natur inspirieren lässt, wird nie schlecht sein. Ganz<br />
im Gegensatz zu denen, die sich von der Gesellschaft (KONSUM!) beeinflussen<br />
lassen.<br />
27.Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Die Frau und ihre Kinder<br />
Da hab ich doch gestern in meinem Brief völlig vergessen, dir davon zu erzählen,<br />
warum ich dir eigentlich schreiben wollte. Da siehst du mal, wie mich die Natur<br />
verzaubert. Gut, heute will ich dir nicht schon wieder davon vorschwärmen, sondern<br />
die andere Geschichte von gestern erzählen.<br />
Zwei kleine Jungen saßen seelenruhig an dem gleichen Ufer, an dem ich saß. Sie<br />
spielten mit ihren Matchbox-Autos. Die kennst du doch bestimmt auch noch!? Mit<br />
denen haben wir früher immer bei mir gespielt. Naja, ich habe mich ehrlich<br />
gewundert, wie eine Mutter heutzutage ihre Kinder irgendwo alleine sitzen lassen<br />
kann. Nach etwa 2 Stunden tauchte sie dann auf. Sie war in der Stadt ein paar<br />
Erledigungen machen, und ging sehr liebevoll mit ihren Kindern um. Ich unterhielt<br />
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mich noch eine Weile mit ihr und erfuhr, dass die beiden Jungen Phillip und Felix<br />
heißen und dass ihr Mann in die Schweiz gefahren sei, um eine Erbschaft zu klären.<br />
Es war wirklich schwer, mich von der Frau und den Kindern zu verabschieden. Wie<br />
schön man es doch als Kind hat, ist mir beim Blick auf diese Kinder wieder<br />
aufgefallen. Ich bewundere auch die Frau: Sie lebt einfach so in den Tag hinein.<br />
Heute war ich wieder bei ihnen. Die Kinder sind zutraulich, erzählen mir allerhand<br />
und ich bin erstaunt, wie sie sich freuen, wenn andere Kinder zum Spielen kommen.<br />
16. Juni<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: SIE!<br />
Vielleicht wunderst du dich, warum ich dir schon so lange keine <strong>Mail</strong> mehr<br />
geschrieben habe. Ich kann dich aber beruhigen, es ist nur etwas Unglaubliches<br />
passiert.<br />
Mir ist da jemand begegnet, wobei es mir sogar jetzt schwer fällt, nicht<br />
abzuschweifen und nur noch von ihr und ihrer erstaunlichen Persönlichkeit zu<br />
erzählen… Ich glaube, ich speichere erst mal ab, übrigens das dritte Mal seit ich<br />
angefangen habe diese <strong>Mail</strong> zu schreiben…<br />
Bin wieder da. Habe mich nur mal aufs Fahrrad geschwungen und bin zu ihr<br />
gefahren. Es ist so schön ,sie mit ihren Geschwistern zusammen zu sehen, die ihre<br />
Anwesenheit wohl genauso genießen wie ich. Aber bevor ich jetzt durcheinander<br />
schreibe, ohne dass du verstehst, worum es wirklich geht, sollte ich wohl von Anfang<br />
an erzählen.<br />
Auf dem Maschseefest habe ich sie kennengelernt und das war mit Sicherheit<br />
einer der glücklichsten Zufälle meines Lebens. Jede Minute die ich mit ihr verbringe,<br />
fallen mir neue wunderschöne Aspekte an ihr auf. Es ist unglaublich! Wovon sie<br />
redet, wie sie redet und sogar wie sich dabei bewegt und aufführt. Manchmal verliere<br />
ich mich so in ihren grünen Augen, dass ich gar nicht mehr mitbekomme, was sie<br />
eigentlich sagt.<br />
Mit ihr zu tanzen, war für mich der "Point of no Return". Als ich erfahren musste,<br />
dass sie einen Freund hat, hatte das für mich zunächst keine wirkliche Bedeutung,<br />
im Nachhinein wurde mir das natürlich schon zum Problem. Jedoch muss ich dir hier<br />
auch noch davon erzählen, wie wir nach dem Fest alleine waren und beide<br />
gleichzeitig an Jack Johnsons „Better Together“ denken mussten und ich sofort<br />
versunken war in einem Meer von Gefühlen, die alle nur auf sie <strong>zur</strong>ückzuführen<br />
waren: Lotta...<br />
19. Juni<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
(Ich weiß nicht mehr, wo ich das letzte Mal stehen geblieben bin, aber ich bin mir<br />
ziemlich sicher, dass ich so gegen zwei pennen gegangen bin, und dich<br />
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wahrscheinlich den ganzen Tag mit meinem Gesülze aufhalten würde, wenn ich nicht<br />
E-<strong>Mail</strong>s schreiben würde.)<br />
Nach dem Maschseefest blieb ich mit Lotta so lange wie möglich zusammen und<br />
hab ihr auch gesagt, dass ich am nächsten Tag sofort zu ihr biken würde - und<br />
genau das tue ich jeden Tag. Seitdem scheint alles um mich herum zu zerfließen und<br />
nichts außer ihr scheint noch wichtig zu sein.<br />
21. Juni<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Mir geht es unvergleichlich gut, und egal, was morgen mit mir passieren würde, es<br />
wäre mir schnurzpiepe, weil ich weiß, dass ich bis zu diesem Tag mein Leben<br />
ausführlich genossen hätte!!!<br />
Ich habe auch schon wieder darüber nachgedacht, wie der Mensch versucht , sich<br />
überall auszubreiten, aber sich gleichzeitig doch einschränken lässt, und durch<br />
Gewohnheiten bestimmt, alle eigenen und neuen Möglichkeiten für sich von<br />
vorneherein ausschließt.<br />
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In mir herrscht <strong>zur</strong> Zeit ein positives Hin und Her der Empfindungen, denen ich mich<br />
trotz allem hingebe. Alle Eindrücke, die mich treffen, ob ich nun gerade Jack<br />
Johnson's Gitarrenspiel zuhöre oder über den Maschsee blicke, sind für mich nur ein<br />
Ausdruck meiner eigenen Leb-haftigkeit.<br />
29. Juni<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Erwachsene und Kinder<br />
Als ich vorgestern mit den Geschwistern von Lotta Topfschlagen spielte, kam der<br />
Doc von Lottas Familie. Er ist ein guter Freund von der Familie und besucht ihren<br />
Vater öfter. Er sah mich sehr mürrisch an und meinte, dass so aus den Kindern ja<br />
nichts Vernünftiges werden könne. Ich solle doch lieber mit ihnen für die Schule<br />
lernen.<br />
Aber du kennst mich ja, mich ließ das kalt. Kinder sollen meiner Meinung nach auch<br />
mal Kind sein dürfen. Natürlich hörte ich später wieder miese Geschichten über mich:<br />
Bin es ja gewohnt.<br />
Ach ja, ich denke oft über die Kindheit nach. Die Kids müssen noch so viel lernen<br />
und später so viel Verantwortung tragen, da sollen sie doch wenigstens jetzt noch<br />
etwas Spaß haben. Die Erwachsenen denken, sie könnten immer über alles und<br />
jeden bestimmen. Irgendwie echt ätzend.<br />
Wenn ich so an unsere Kindheit <strong>zur</strong>ückdenke, ach, haben wir Mist gemacht!<br />
Aber egal, will nicht wieder in alten Erinnerungen graben.<br />
1.Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Zu Besuch<br />
Lotta ist im Moment bei einer Freundin, die hat anscheinend Krebs und es sieht<br />
wohl echt übel aus. Leider ist Lotta deshalb nicht bei mir. Wer weiß, wie lange sie bei<br />
ihr bleiben wird. Fast wünsche ich mir, dass ich auch krank wäre, damit sie mich<br />
pflegen könnte, aber es ist schon fast krank, so etwas zu denken. Also vergess ich<br />
das schnell wieder. Sie wird schon wiederkommen.<br />
Letztens war ich mit Lotta bei einem alten Bekannten von ihr. Sie kennt ihn, sagte<br />
sie, aus ihrer Kindheit. Der hat vielleicht einen super Hof!!! Riesen Grundstück mit<br />
vielen Kastanienbäumen und so. Super Platz zum Fotografieren. Na ja, <strong>zur</strong>ück zu<br />
dem Mann.<br />
Irgendwie komisch, Lotta schaffte es, diesen schon etwas älteren Mann extrem zu<br />
beleben.<br />
Fast so, als hätten sie mal etwas miteinander gehabt, aber unvorstellbar. Er schien<br />
regelrecht verliebt in sie zu sein. Hm, wurde ja so ein bisschen eifersüchtig, um<br />
ehrlich zu sein.<br />
Aber kurz darauf lernte ich seine Frau kennen, also brauchte ich keine Angst<br />
haben.<br />
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Mann, du kannst dir gar nicht vorstellen, wieviel die miteinander gequatscht haben.<br />
Ich hörte mir bereitwillig alles an, denn für mich war es ja nur wichtig bei Lotta zu<br />
sein. Es war einfach schön.<br />
Später kamen noch ein paar andere Leute hinzu und endlich hatte ich auch einen<br />
Gesprächspartner gefunden. Die Unterhaltung mit dem Kerl war echt<br />
aufschlussreich. Möchte dich aber damit nicht langweilen. Nur so viel, wir fingen<br />
zwischendurch an, heftig zu diskutieren und du kennst mich ja, ich neige manchmal<br />
echt zu Übertreibungen, vor allem wenn ich anderer Meinung bin.<br />
Na ja, ich schaffte es, mich dann irgendwann wieder zu beruhigen,<br />
Spät am Abend fuhren Lotta und ich dann wieder nach Hause. Mann, war das ein<br />
schöner Tag!<br />
6.Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Bin ich pädophil?<br />
Lotta ist immer noch bei ihrer krebskranken Freundin. Sieht gar nicht gut aus. Aber<br />
Lotta versucht, ihr die Zeit noch so angenehm wie möglich zu machen. Ich denke<br />
auch, dass sie es schafft, mit ihrem gütigen, freundlichen Charakter. Ach, könnte sie<br />
doch in meiner Nähe sein und mich mal bisschen aufmuntern!<br />
Gestern Abend drehte Lotta mit ihrer Freundin Marianne und den Kindern eine<br />
kleine Runde im Park. Da ich genau wusste, wo sie langgingen, traf ich sie ganz<br />
„zufällig“.<br />
War wieder ein guter Zeitpunkt, um etwas Zeit mit ihr zu verbringen, ohne dass es<br />
wieder zu irgendwelchen Gerüchten kommt. Als wir an einem Springbrunnen<br />
ankamen, setzten wir uns und die Kids spielten im Wasser. Ein paar Meter weiter<br />
stand ein Eiswagen, ich kaufte eins für die Kinder.<br />
Die Kleinste gab ihr Eis mit so einer Hingabe an Lotta weiter, als sei es völlig<br />
selbstverständlich, dass die große Schwester erst etwas haben müsse, dass ich<br />
nicht anders konnte und sie in meinen Arm nehmen musste und ihr ein Küsschen auf<br />
die Wange drückte.<br />
Oje, sie fing gleich lauthals zu brüllen an. Lotta fand das gar nicht so toll und ich<br />
konnte bemerken, dass sie echt sauer wurde.<br />
Hm, versteh das nicht, Lotta war doch sonst nie so empfindlich. Typisch, wie Kindern<br />
so sind, nahm die Kleine ihren Ärmel und wischte sich damit demonstrativ angeekelt<br />
über das Gesicht. Hoffe mal, dass Lotta jetzt nicht dachte, dass ich pädophil oder so<br />
etwa sei; womöglich noch im Internet rumsurfe. Mag Kinder einfach gerne und<br />
wünsche mir selbst mal welche.<br />
Hatte dann abends bei einem Bier im Irish-Pub mit einem Typ, den ich kenne, über<br />
die Situation gesprochen, weil ich Lottas Reaktion einfach nicht auf die Reihe<br />
brachte. Dachte sie tatsächlich, ich wollte ihrer Schwester etwas Böses??<br />
Aber sie kennt mich doch!! Wobei aber die meisten Fälle von Kindesmissbrauch<br />
aus dem direkten Umfeld seien, fügte dann der Pub-Typ noch hinzu. Ist sie der<br />
Meinung, dass ich so drauf bin? Der Typ wusste auch weiter keinen Rat, als zu<br />
sagen, dass ich abwarten solle, Lotta würde sich schon wieder beruhigen. Na ja,<br />
warten wir mal.<br />
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8.Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Versuch zu flirten.<br />
Hoffe es geht dir gut?! Letztens war ich mit den Mädels und ihren Freunden<br />
unterwegs. Hab mich echt super mit den Kerlen unterhalten. Hätte ich gar nicht so<br />
gedacht, sind doch sehr aufgeschlossen. Wenn ich bloß nicht die ganze Zeit so<br />
müde gewesen wäre.<br />
Oh Mann, wenn du Lottas Augen nur jemals sehen würdest. Ich könnte in ihnen<br />
versinken so traumhaft schön.<br />
Ich versuchte die ganze Zeit, Blickkontakt mit ihr aufzubauen, so ein bisschen zu<br />
flirten, du weißt schon, aber es gelang einfach nicht. Weiß nicht, ob sie es einfach<br />
absichtlich nicht wollte oder ob wir uns zufällig immer <strong>zur</strong> falschen Zeit ansahen.<br />
Ich glaub ich werde wieder zum Teenager. Wie peinlich!<br />
10.Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Jedes Mal, wenn von Lotta gesprochen wird, werde ich ganz hibbelig. Da ist dieses<br />
Verlangen nach ihr, welches ich sehr deutlich spüre und das nicht weggeht, obwohl<br />
ich das immer hoffe. Wenn man fragt, ob Lotta mir gefällt, dann werde ich ganz rot im<br />
Gesicht, dieses ist mir super unangenehm, nur leider nicht zu ändern.<br />
11.Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Werte<br />
Ich vermisse Lotta sehr. Da ich sie selten sehen kann, genieße ich die Zeit, die ich<br />
mit ihr verbringe. Sie sprach mit ihren Freund Constantin neulich über ihr zukünftiges<br />
Leben. Was sie schon alles gemacht und erreicht haben und was sie stört an ihren<br />
Leben. Lotta sagte, dass sie schon ganz schön <strong>zur</strong>ückgesteckt habe und dass er<br />
sich auch mal Gedanken darüber machen solle, weil sie es nicht ewig so aushalten<br />
würde.<br />
Sie kam sehr traurig und unsicher rüber.<br />
13.Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Gefühle<br />
Ich fühle mich sehr zu Lotta hingezogen. Ich hoffe so sehr, dass sie mich auch so<br />
sieht, wie ich sie sehe. Ob sie mich liebt? Das größte Problem scheint mir ihr Freund<br />
Constantin zu sein. Ich mache mir sehr viele Gedanken.<br />
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16.Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: I wanna hold your hand<br />
Jede Begegnung, die ich mit Lotta habe, ist wie ein Wunder. Dieses Gefühl von<br />
Liebe und Geborgenheit spüre ich immer wieder aufs Neue. Wenn wir Hände halten,<br />
kann ich an nichts Anderes denken, als wie wundervoll sie ist und dass ich sie nicht<br />
verlieren möchte. Mein Herz hat sich total in Lotta verliebt und dieses kann ich nicht<br />
ändern. Ich würde Lotta so nehmen, wie sie ist. Sie ist einfach mein Ein und Alles.<br />
18. Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Scheiß-Technik!<br />
Heute wollte ich ja eigentlich zu Lotta, aber das blöde Teil (Laptop) ist gerade<br />
heute kaputt gegangen, wohl nicht hollandradtauglich. Ich war so glücklich, sie heute<br />
wieder sehen zu können, aber ich musste den Laptop erstmal zum Computer-Fritzen<br />
geben, das hat lange gedauert!!!<br />
Wie gern wär ich heute bei ihr gewesen, einfach nur in ihrer Nähe. Wenn ich nur<br />
wüsste, was sie heute gemacht hat, vielleicht hat sie ja auch an mich gedacht.<br />
Werde ich verrückt oder ist das normal? Ich muss sie jedenfalls wiedersehen.<br />
19. Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Wunderschönen guten Morgen!!<br />
Du glaubst nicht, was heute passieren wird: ich werde sie endlich wieder sehen.<br />
Nichts habe ich mir sehnlicher gewünscht und jetzt ist es bald so weit. Ich bin<br />
wunschlos glücklich!<br />
20. Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich möchte nicht zu Professor Braun nach Göttingen wechseln, nur weil er einen<br />
Doktoranden sucht und unsere Familie kennt! Warum soll ich springen, wenn er auch<br />
nur den kleinsten Piep von sich gibt? Meiner Mutter würde das natürlich gefallen, die<br />
ist ja immer für so was zu haben; und dann auch noch ihr Sohn bei einem solchen<br />
Guru!<br />
Eigentlich ist es mir egal, was ich mache, ob ich Erdbeeren pflücke oder Spargel<br />
steche, ich muss mich bei jedem Job krumm arbeiten… Alles ist so kompliziert.<br />
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24.Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Mit meiner Kunst am Ende<br />
Anlagen: Lotta.jpg<br />
Bist du wirklich davon überzeugt, dass ich weiter fotografieren sollte? Ich weiß<br />
nicht, ich hab da einfach keinen Draht mehr zu. Außerdem bin ich aus der Übung. Ich<br />
kann´s gar nicht verstehen, da sind so viele Ideen in meinem Kopf, aber nichts bring<br />
ich auf die Pieke, nicht mal die Serie über die Sonnenaufgänge. Da geht gerade gar<br />
nichts mehr.<br />
Hätte ich nur etwas in der Hand, so was wie nen Kuchen, den könnte ich nach<br />
Belieben formen. Die Portraits von Lotta, von denen ich dir erzählt hatte - dreimal<br />
hab ich es probiert, aber es will mir einfach nicht gelingen. Wenigstens hab ich ein<br />
gelungenes Bild von ihr, das hab ich heimlich bei einem Treffen gemacht.<br />
26. Juli<br />
Von: Paul<br />
An. Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich habe mir so oft schon vorgenommen sie nicht jeden Tag zu besuchen, doch es<br />
gelingt mir einfach nicht. Jeden Tag verspreche ich mir, dass ich sie nicht besuchen<br />
werde, aber ehe ich mich versehe, bin ich wieder bei ihr. Das liegt nicht nur daran,<br />
dass sie mich fragt, wann ich wieder einmal zu ihr komme, sondern auch, dass ich<br />
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ganz in ihrer Nähe einen guten Platz zum Fotografieren von Sonnenaufgängen in der<br />
Stadt gefunden habe.<br />
Kennst du noch diese Sache aus dem Physikunterricht, dass Eisen von einem<br />
Magneten angezogen wird? So fühle ich mich, ganz aus Eisen …<br />
30. Juli<br />
Von: Paul<br />
An. Vincent<br />
Betreff: Constantin is back<br />
Heute ist ihr Freund Constantin von seiner Wahlkampftour <strong>zur</strong>ückgekommen. War<br />
ein komisches Gefühl, sie in seinen Armen zu sehen, so ungewohnt. Ich wusste<br />
zwar, dass sie verlobt ist, aber dass der Typ jetzt richtig <strong>zur</strong>ückgekehrt ist, macht<br />
mich richtig fertig. Zum Glück war ich gerade nicht da, als er kam, dies hätte ich nicht<br />
ausgehalten. Er ist ein gutgebauter Typ, sympathisch und sehr nett zu mir, was er<br />
wohl nur ihr zuliebe tut. Ich muss jetzt die Zähne zusammenbeißen und es wohl oder<br />
übel so hinnehmen, wie es nun einmal ist, doch gelingt mir das nicht gut. Ich habe<br />
die Beiden heute besucht und dabei nur wirres Zeug erzählt, welches sie aber ganz<br />
lustig fand. In Zukunft sehe ich aber zu, dass ich nur zu ihr fahre, wenn sie alleine ist<br />
und er mit seinem Wahlkampf zu tun hat.<br />
8. August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Schlaumeier!<br />
Sehr lustig, Vincent. Natürlich gibt es nur die 2 Möglichkeiten. Entweder Lotta gibt<br />
mir eine Chance oder nicht. Also heißt es für mich: aufgeben und eine neue Frau<br />
suchen oder es immer weiter probieren.<br />
Das ist dennoch leichter gesagt als getan. Ich kann doch nicht von heut auf morgen<br />
sagen, ich vergesse Lotta. Das kann doch gar nicht funktionieren. Ich weiß doch, wie<br />
verzwickt meine Lage ist. Du brauchst mir das nicht immer wieder vor Augen führen.<br />
Deine Meinung ist von großer Bedeutung für mich, aber glaube mir, dass das alles<br />
nicht so leicht ist. Ich würde ja gehen, wenn ich wüsste wohin.<br />
10. August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Pechvogel<br />
Es ist wirklich eine Ironie des Schicksals: Der Mann, dem ich es zu verdanken<br />
habe, dass Lotta mich nicht liebt, ist gleichzeitig einer meiner besten Freunde<br />
geworden.<br />
Constantin ist echt ein toller Typ. Unsere Gespräche sind immer sehr interessant.<br />
Wenn ich nicht die ganze Zeit im Hinterkopf hätte, dass er die Person ist, wegen der<br />
ich nicht glücklich sein kann, würde ich vielleicht noch mehr Zeit mit ihm verbringen.<br />
Wir können uns hervorragend über Lotta unterhalten und schwärmen uns<br />
gegenseitig vor, wie toll sie als Freundin beziehungsweise Partnerin ist. Eigentlich<br />
müsste ich mich darüber freuen, dass er überlegt, hier in der Nähe eine Stelle im<br />
Büro seiner Partei zu übernehmen, wäre er nur nicht Lottas Verlobter...<br />
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12. August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Selbstmord, was sagst du dazu?<br />
Es hat sich mal wieder bestätigt. Constantin ist großartig!<br />
Gestern war ich bei ihm und erfuhr, dass seine Mutter hier eine Apotheke besitzt.<br />
Ich kann schon längere Zeit nicht mehr ruhig schlafen und hab ihn deswegen um<br />
Schlaftabletten gebeten. Er hat sie mir natürlich gegeben und ich meinte daraufhin,<br />
dass es mit Schlaftabletten das Leichteste auf der Welt sei, sich umzubringen. Er war<br />
total empört. Constantin ist der Meinung, dass Selbstmord ein Zeichen von<br />
Schwäche ist. Du kennst mich ja, ich bin da ganz anderer Meinung. Schon war eine<br />
hitzige Diskussion im Gange. Für ihn ist der bloße Gedanke an Selbstmord unsinnig<br />
und absolut nicht nachvollziehbar.<br />
Ich bin der Auffassung, dass man nicht immer konkret sagen kann, was richtig und<br />
was falsch ist, wenn es um dieses Thema geht.<br />
Ich habe versucht, ihm zu verdeutlichen, dass es für manche Personen keinen<br />
anderen Ausweg gibt und dass es manchmal die einzige Möglichkeit ist, dem Leben<br />
und der Enttäuschung zu entfliehen. Es ist falsch zu sagen, dass der Suizid<br />
gesellschaftlich nicht anerkannt ist. Alkoholmissbrauch ist ein ähnliches Beispiel, das<br />
heutzutage bei manchen Leuten Entsetzen hervorruft, obwohl es mittlerweile fast<br />
zum alltäglichen Leben gehört.<br />
Constantin erwiderte, dass dieses Beispiel absolut nichts damit zu tun habe, aber<br />
ich bin gewohnt, dass er gewisse Ansichten nicht nachvollziehen kann. (Da kommt<br />
der vernünftige Politiker wieder mal wieder zum Vorschein)<br />
Für mich ist Selbstmord kein Zeichen von Schwäche, sondern das Gegenteil! Man<br />
muss viel Mut und Kraft aufwenden, um seinem vielleicht im Großen und Ganzen<br />
doch schön verlaufenden Leben zu entfliehen. Es gehört einiges dazu, sich zu<br />
entschließen, sich umzubringen.<br />
Ich finde, es ist eine Frage der Größe der auszuhaltenden Qualen.<br />
Jemand, der ein Familienmitglied oder einen guten Freund verliert, der kann so aus<br />
dem Leben gerissen werden und den Entschluss fassen, dass sein Leben sinnlos<br />
geworden ist.<br />
Ich erinnerte ihn außerdem an das Mädchen, das sich von einem Hochhaus<br />
gestürzt hat, nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Sie hatte nach langem Suchen<br />
endlich ihre große Liebe gefunden und sich das erste Mal in ihrem Leben geborgen<br />
gefühlt - um dann zu erfahren, dass der Freund sie verlassen wollte.<br />
Natürlich kann man jetzt sagen, dass die Zeit alle Wunden heilt, aber wenn das<br />
Herz so verletzt wurde, verändert sich die ganze Einstellung zum Leben.<br />
Sie hätte vielleicht irgendwann eine neue Liebe gefunden, so Constantin, doch ich<br />
sagte, dass man von jemandem, der an Krebs stirbt, im Nachhinein nicht erwarten<br />
könne, dass er noch hätte warten sollen zu sterben, bis die Chemotherapie<br />
irgendwann angeschlagen wäre.<br />
Constantin wollte sich dennoch nicht überzeugen lassen und beharrte darauf, dass<br />
Menschen nun mal mit einem gewissen Verstand ausgestattet seien und jeder ihn<br />
gerade in solchen Situationen einschalten solle!<br />
15
Das konnte ich mir nicht mehr anhören. Ich schnappte mir meinen Laptop und ging.<br />
Wir haben beide nicht so recht verstanden, warum der andere nun einen komplett<br />
anderen Standpunkt vertritt, aber das kommt nun mal vor.<br />
15. August<br />
Von: Paul<br />
An. Vincent<br />
Betreff: Was gibt es Schöneres als die Liebe?<br />
Ich war heut wieder bei Lotta, um ihr das Internet ein<strong>zur</strong>ichten, und ich glaube, sie<br />
mag es auch, wenn ich sie besuche.<br />
Auch ihre jüngeren Geschwister lieben es, wenn ich zu Besuch komme. Heute<br />
haben sie alle Lakritz gekriegt und ich habe ihnen wahre Horrorgeschichten (Grimms<br />
Märchen!) vorgelesen.<br />
Es ist spannend ihre Reaktionen zu beobachten, wenn man sich verliest oder die<br />
Handlung ein wenig verändert. Da fühlt man sich fast wie ein Verbrecher.<br />
Und wehe, ich lese die Geschichte nicht ganz bis zum Schluss.<br />
Dann ist das Geschrei groß!<br />
16
18. August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Heute schreib ich dir in tief deprimierter Stimmung.<br />
Kennst du das Gefühl, dass alles, was du schön und inspirierend fandest, plötzlich<br />
unwichtig und sinnlos ist?<br />
So geht es mir jedenfalls gerade.<br />
Wenn ich mir meine Fotos anschaue, denke ich, dass ich die Natur viel zu schön<br />
und zu harmlos dargestellt habe. Auch die Natur ist nicht immer schön und kann<br />
manchmal ganz schön grässlich sein!<br />
Die Natur macht keine Ausnahmen!<br />
Die Stärkeren überleben und die Schwachen haben das Nachsehen!<br />
Ich nehme die Natur <strong>zur</strong> Zeit eher als etwas Negatives war und allein der Gedanke,<br />
dass sie auch inspirierend sein kann, gibt mir noch Kraft.<br />
21. August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich habe schon wieder von ihr geträumt. Es war so real, dass ich geglaubt habe,<br />
dass sie neben mir im Bett liegt. Wir haben auf einer Wiese gesessen, ich hielt ihre<br />
Hand und sie küsste mich. Doch als ich aufwachte und sie nicht neben mir lag,<br />
musste ich echt anfangen zu weinen.<br />
22.August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Mir geht es so schlecht, dass noch nicht einmal meine geliebte Natur ablenken kann.<br />
Und wenn ich doch mit meinem Fahrrad unterwegs bin, nervt mich dieser Johnson<br />
so total, dass ich meinen MP3- Player ausschalte.<br />
Ich wünsche mir eine richtige Beschäftigung, die mich von Charlotta ablenkt. Ich<br />
habe mir sogar schon überlegt, mich woanders auf eine richtige Stelle zu bewerben.<br />
Müsste dir doch gefallen, dass ich <strong>zur</strong> Abwechslung mal richtig <strong>zur</strong> Arbeit gehe! Ich<br />
bin ganz eifersüchtig auf Constantin, der hat den ganzen Tag so viel mit seinem<br />
Wahlkampf zu tun. Doch wenn ich mich fürs Arbeiten entscheide, verliere ich meine<br />
Freiheit. Doch ist es nicht egal, wo ich hingehe? Muss ich denn nicht überall an sie<br />
denken?<br />
28. August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Jubiläum!<br />
Danke, dass du mich an meinem Geburtstag angerufen hast. Heute morgen<br />
brachte der Kurier mir ein Paket von Lotta und Constantin. Sie hat mir ihr rosa Tuch<br />
geschenkt, welches sie bei unserer ersten Begegnung am Maschseefest getragen<br />
hat. Sie kennt mich so gut, dass sie wusste, dass ich mir nichts sehnlicher gewünscht<br />
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habe. Ich küsste das Tuch tausendmal, es duftete so schön nach ihr. In dem Paket<br />
waren noch 2 CDs von Jack Johnson – Na ja, du weißt schon.<br />
Ich versuche, den herrlichen Sommertag noch ein wenig zu genießen. Morgen ist<br />
Schützenfest, das größte weit und breit. Und wenn’s das größte auf der Welt wäre …<br />
30. August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich bin so unglücklich. Ich kann einfach an nichts anderes mehr denken als an sie<br />
und bin völlig verwirrt.<br />
Wenn ich sie zwei, drei Stunden besucht habe und ich dann wieder gehen muss,<br />
schlägt mein Herz so schnell wie der Sekundenzeiger meiner Uhr. Ich will bei ihr<br />
bleiben, doch das geht nicht. Ich fahre dann mit meinem Rad in die Leine-Auen,<br />
fotografiere die ganze Nacht wie ein Besessener den Vollmond. Meistens habe ich<br />
Hunger oder Durst, doch das stört mich nicht. Jede einzelne Zelle meines Körpers<br />
sehnt sich nach ihr. Wenn all mein Elend kein Ende findet, bleibt mir nur noch der<br />
Abgang.<br />
3. September<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Ciao.<br />
Danke, dass du mir meine Entscheidung erleichtert hast. Ich muss weg! weg! weg!<br />
Ich ertrag das alles nicht mehr. Ich will das ja schon länger, aber jetzt ist es soweit,<br />
ich packe meine Sachen.<br />
P.S.: Die neue Jack-Johnson- CD von Lotta schick ich dir demnächst mal per Post,<br />
wenn ich dran denke. Ich selbst kann dieses Geschwafel nicht mehr hören.<br />
10.September<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Adieu<br />
Mon ami, meine Entscheidung wegzufahren ist sicher.<br />
Doch, ich bin mir jetzt sicher, dass ich das Ganze hinter mir lassen kann, hinter mir<br />
lassen muss! Aber gerade jetzt bräuchte ich dich in meiner Nähe, einen wahren<br />
Freund, dem ich alles erzählen kann, was gerade in meinem Kopf vor sich geht.<br />
Jemanden, der mich in dieser nervenaufreibenden Situation beruhigt und mir gut<br />
<strong>zur</strong>edet.<br />
Ich muss Lotta für immer zu verlassen!<br />
Ich hab mir für morgen ein Auto gemietet und will bereits früh aufbrechen. Lotta<br />
ahnt nichts von meinem Vorhaben. Eben hatte ich noch ein zweistündiges Gespräch<br />
mit ihr. Ich hatte mich mit Lotta und Constantin am Pier 17 am Maschsee verabredet.<br />
Ein wunderschöner Augenblick!!! Während ich auf sie wartete, ging gerade die<br />
Sonne unter. Leider hatte ich meine Kamera vergessen, sodass ich dich leider nicht<br />
an diesem Ereignis teilhaben lassen kann.<br />
18
Als dann Lotta und Constantin kamen, war bereits der Mond hinter dem See<br />
aufgegangen. Wir kamen ins Gespräch und ich versuchte, meine Unsicherheit so gut<br />
wie möglich zu verbergen. Allerdings konnte ich kaum einen klaren Gedanken<br />
fassen.<br />
Zu allem Überfluss philosophierte Lotta dann noch über das Leben nach dem Tod<br />
und ob wir uns dort wohl wiederfinden bzw. wiedererkennen würden. Ich versuchte<br />
so gut es ging, die Tränen zu unterdrücken, jedoch hatte ich feuchte Augen, als ich<br />
ihr versicherte, dass wir uns natürlich wiedertreffen würden. Mehr konnte ich nicht<br />
sagen, ohne sofort meine Fassung völlig zu verlieren. Das war natürlich die<br />
gemeinste Frage, die sie mir in meiner Situation hätte stellen können! Lotta<br />
philosophierte jedoch weiter.<br />
Sie fragte sich, ob denn ihre verstorbenen Eltern auf sie stolz sein könnten, wie sie<br />
sich um ihre Geschwister kümmere, fast wie eine Mutter. Da war es um mich<br />
geschehen. Ich brach in Tränen aus und versuchte ihr klar zu machen, dass ihre<br />
Eltern sicherlich stolz auf sie seien. Auch sie brach nun in Tränen aus und erzählte<br />
uns, wie sie am Krankenbett ihrer Mutter versprochen hatte, eine Mutter für die<br />
Geschwister zu sein. Sie sagte auch, dass sie und Constantin diese Phase<br />
zusammen durchgestanden hätten, worauf sich Constantin ebenfalls nicht mehr<br />
beherrschen konnte und Lotta unter Tränen versprach, für immer mit ihr glücklich zu<br />
sein.<br />
Du merkst sicherlich, das war das totale Chaos!<br />
Als die beiden gehen wollten, konnte ich mich kaum von Lottas Hand lösen und rief<br />
ihr nach: „Leb wohl! Wir werden uns wiedersehen!“ Darauf antwortete Lotta nur<br />
trocken, natürlich ohne den Plan meiner Flucht zu kennen: „Morgen, denk ich!“<br />
Z W E I T E R T E I L<br />
20. Oktober<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Umzug<br />
Ich bin gestern hier in Göttingen angekommen und hab erst mal die Liesel geküsst<br />
- genützt hat’s noch nichts.<br />
Professor Braun ist krank und wird wohl einige Zeit zu Hause bleiben. Zeit, um<br />
mich einzugewöhnen.<br />
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Mein Doktorandenplatz ist mir sicher, ein Stipendium ist bereits beantragt: Diesmal<br />
meine ich es ernst!<br />
Ich lese Heinrich Heines Harzreise, kann mir aber noch kein eigenes Urteil über die<br />
Göttinger und ihre „Feuerstellen“ erlauben …<br />
10. November<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich habe heute endlich Professor Braun getroffen. Wir verstanden uns auf Anhieb.<br />
Er fühlt sich in mich ein und bringt mir Freundschaft und Mitgefühl entgegen.<br />
Er ist von den Leuten, die ich bisher kennen gelernt habe, überraschenderweise<br />
der netteste.<br />
Wir stecken bis über beide Ohren in der Arbeit, das finde ich gut so.<br />
24. Dezember<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Dr. Quasi, der Assistent von Braun, und seine Art machen mich krank! Er ist so<br />
gradlinig, dass er sich durch seinen Formalismus oft selbst blockiert.<br />
Ich mit meiner lockeren Art zu arbeiten komme da viel besser <strong>zur</strong>echt. Ich arbeite<br />
alles so ab, wie es anfällt, und reagiere flexibel auf Veränderungen. Aber dieser alte<br />
Sturkopf, versucht dauernd mich zu korrigieren, bis die Abhandlungen genau seinem<br />
Ideal entsprechen. Ansonsten versteht er sie ja noch nicht einmal wirklich. Es ist das<br />
reinste Mobbing! Der Prof ist der letzte, auf den ich mich dabei stützen kann: Er sieht<br />
zwar die Unfähigkeit seines Mitarbeiters und ist meiner Meinung, aber Braun glaubt,<br />
dass man mit solchen Leuten nun mal leben müsse! Juristen!!<br />
Gestern meinte Quasi doch tatsächlich, dass Braun nichts draufhätte, da haben wir<br />
uns aber erst mal ein kleines Wortgefecht geliefert. Ich habe noch nie so jemanden<br />
wie den Professor kennen gelernt, der so gebildet und doch so menschlich ist! Und<br />
ausgerechnet Quasi, dieser Sozialfall, will ihm ans Leder!<br />
Ich rege mich ständig auf und da sind alle dran schuld, die mir diesen Job<br />
aufgequatscht haben. Ich fühle mich wie ein Sklave in dieser von Rang- und<br />
Ruhmsucht verseuchten Welt.<br />
Es gibt hier Leute, die andere nur mit dem unterhalten, was sie besitzen und wen sie<br />
kennen. Gierig und hohl wie die Banker!<br />
Aber ich sage mir immer: jedem das Seine. Damit fahre ich ganz gut, solange ich<br />
nur in Ruhe gelassen werde.<br />
Neulich habe ich die Tochter des Professors kennen gelernt, Luise.<br />
Wir trafen uns beim Jogging und verstanden uns auf Anhieb. Ich habe sie sogar<br />
um ein Wiedersehen gebeten und sie erlaubte mir, sie zu besuchen. Sie wohnt nicht<br />
mehr zu Hause, sondern bei ihrer Tante, einer schrecklichen Frau, die in ihren<br />
Ansichten total festgefahren und sich nur wohl fühlt, wenn sie sich auf ihre illustre<br />
Ahnenreihe berufen kann. Der Großvater mit dem Nobelpreis! Arme Person…<br />
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8. Januar<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Nochmals: Ich kann diese Leute nicht leiden, die sich nur um ihren persönlichen<br />
Aufstieg kümmern und so keinen Sinn mehr für die wirklich wichtigen Sachen haben.<br />
Letzte Woche, beim Schlittenrennen im Harz, gab´s wieder eine Prügelei, weil sich<br />
einige nur profilieren wollten und den Spaß an der Sache komplett verdrängten. Als<br />
ob es so wichtig sei, Erster mit einem Schlitten (!) oder mit einem Tennisschläger (!)<br />
zu werden!<br />
Es gibt überall Leute, die aus dem Hintergrund die Fäden ziehen, gerade auch an<br />
der Uni, wo viele hohe Posten in Wahrheit von den Sekretärinnen ausgeübt werden.<br />
Man muss es nur schaffen, die Bequemlichkeit anderer auszunutzen und auf seine<br />
Ziele zu lenken.<br />
20. Januar<br />
Von: Paul<br />
An: Lotta<br />
Betreff: Marionettentheater<br />
Ich musste dir einfach schreiben!<br />
Ich sitze hier gerade in einer Baude im Harz, in die ich mich während einer Ski-<br />
Wanderung auf Heines Spuren wegen des schlimmen Wetters flüchten musste.<br />
Solange ich in Göttingen voll im Trubel des Neuen steckte, musste ich weniger an<br />
dich denken, ich habe nicht einmal den Wunsch gehabt, mich bei dir zu melden. Aber<br />
jetzt, wo ich hier eingeschlossen bin und nichts machen kann, weil es draußen<br />
unglaublich windig ist und wie verrückt schneit, bist DU mein erster Gedanke. Und,<br />
Lotta, es ist das erste Mal seit Langem, dass ich mich richtig gut fühle.<br />
Wenn du mich so sehen würdest, so durch den Wind… Ich fühle nichts, ich bin<br />
ausgetrocknet, ich weine nicht einmal! NICHTS! Es ist, als wäre ich eine Puppe. Ich<br />
sehe wie die Leute um mich her sich bewegen und frage mich manchmal, ob nicht<br />
alles eine optische Täuschung ist. Aber ich gehöre ja dazu, ich bin auch eine<br />
Marionette, die bewegt wird. Und manchmal komme ich in Kontakt mit den anderen,<br />
merke, dass sie aus Holz sind und weiche <strong>zur</strong>ück.<br />
Nur eine interessante Frau habe ich hier gefunden, Luise Braun. Sie ähnelt Dir ein<br />
bisschen, falls es überhaupt möglich ist, so wie DU zu sein. Du denkst bestimmt,<br />
dass ich mich einschmeicheln will, und damit hast du auch nicht ganz unrecht. Ich<br />
flirte recht viel in letzter Zeit, anderes kann ich ja auch nicht, mache viele Witze und<br />
die Frauen sagen, dass keiner bessere Komplimente macht als ich. Allerdings sagen<br />
sie auch, dass keiner besser lügen kann, loben und lügen liegt schließlich nah<br />
beieinander, das weißt du ja selbst.<br />
Naja, ich wollte Dir von Luise erzählen. Sie hat Charakter und sehr hübsche blaue<br />
Augen, in denen steht, dass sie es gar nicht mag, immer nur als des Professors<br />
Tochter abgestempelt zu werden. Wir unterhalten uns recht oft über ihren Vater, der<br />
ein hohes Tier hier an der Uni ist, und reden darüber, wie es wäre, wenn sie nicht zu<br />
den Reichen und Schönen der High Society Göttingens gehören würde. Ich muss oft<br />
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von DIR erzählen (und schwärmen)! Naja, ich MUSS nicht, ich tue es gerne. Und<br />
Luise liebt dich quasi, du bist ihr sehr sympathisch.<br />
Ich würde jetzt so gerne bei Dir in deinem Zimmer sitzen, mit deinen allerliebsten<br />
Geschwistern um uns herum, die spielen und sich raufen. Und wenn sie zu laut<br />
werden würden, würde ich sie mit einem lustigen Meckern <strong>zur</strong> Ruhe bringen.<br />
Der Sturm ist vorbei, der Sonnenuntergang sieht wunderschön aus in dieser<br />
verschneiten Landschaft. Und ich – ich muss wieder in meinen Käfig <strong>zur</strong>ück…<br />
Mach`s gut, Lotta! Ist Constantin gerade bei DIR?! Und was ist jetzt mit euch??<br />
Verzeih mir meine aufdringliche <strong>Mail</strong> …<br />
DEIN Paul<br />
17. Februar<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Also ich halte es mit diesem Paragrafen-Quasi nicht mehr aus. Ich komme mit<br />
seiner Arbeitsweise einfach nicht zu recht. Er hat eine so pedantische Art zu arbeiten<br />
und zu denken, dass ich mich manchmal einfach nicht zusammennehmen kann und<br />
ihm beinhart meine Meinung sage - und die Dinge nach meiner Art regele. Dafür hat<br />
er mich schon mehrfach angeschwärzt, sodass ich schon eine Abmahnung erhalten<br />
habe.<br />
Ich bin drauf und dran aufzuhören!<br />
20. Februar<br />
Von: Paul<br />
An: Constantin<br />
Betreff: Danke!<br />
Hallo, meine Lieben! Gott möge euch all die guten Tage zukommen lassen, die er<br />
mir wegnimmt!<br />
Danke, Constantin, dass du mir nichts von eurer Hochzeit gesagt! Ich wollte doch<br />
an eurem Hochzeitstag das Bild von Lotta feierlich von der Wand nehmen. Jetzt kann<br />
ich es hängen lassen, als Zeichen dafür, dass ich für immer an zweiter Stelle stehen<br />
werde. Hoffentlich vergisst sie mich nicht. Der Gedanke daran lässt mich<br />
erschaudern...<br />
Paul<br />
22
15. März<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich verschwinde von hier!<br />
Ihr alle seid schuld, weil ihr mich hierher getrieben habt, obwohl ich es eigentlich<br />
gar nicht richtig wollte. Mist! Nun hab ich den Salat und ihr auch! Um deiner Meinung<br />
vorzubeugen, dass ich alles mit meiner Art verderbe, erzähle ich dir mal der Reihe<br />
nach, was vorgefallen ist.<br />
Wie du weißt, schätzt mich Professor Braun sehr und er hat mich gestern Nachmittag<br />
zu sich eingeladen. Unser interessantes Gespräch zog sich etwas hin, als sich auf<br />
einmal weiterer Besuch ankündigte, der mir im Vorbeigehen geringschätzige Blicke<br />
zuwarf. Allem Anschein nach passte der kleine Doktorand nicht in diese hochnäsignoble<br />
Runde und ich wollte mich gerade verabschieden, da tauchte Luise auf. Als<br />
ich sie sah, entschied ich mich doch, noch ein wenig zu bleiben. Doch als ich mit ihr<br />
sprach, merke ich sofort, dass sie anders war als sonst, sie wirkte eher verlegen und<br />
ich vermisste ihre Offenheit. Auch andere Bekannte, die ich begrüßte, wirkten kurz<br />
angebunden.<br />
Wie mir Luise später erzählte, wurde schon hinter meinem Rücken über mich<br />
gesprochen bis jemand den Professor ansprach, der daraufhin auf mich zukam und<br />
mich in den Flur bat: ich möge doch bitte freundlicherweise gehen! Zerknirscht nahm<br />
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ich mein Fahrrad und fuhr zu einer Stelle am See, von der ich den Sonnenuntergang<br />
beobachten konnte. Auf dem Laptop suchte ich mir die Verse raus, in denen<br />
Odysseus von einem Schweinehirten bewirtet wird. Danach ging es mir wieder<br />
besser.<br />
24. März<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich habe um meine Entlassung an der Uni gebeten.<br />
Ja, ich weiß, was du davon hältst, und es tut mir leid, dass ich dir vorher nichts<br />
erzählt habe. Ich wollte einfach nur noch weg, bitte versuche, es meiner Mutter<br />
beizubringen. Und komm mir jetzt nicht mit dem üblichen Pipapo wie ich hätte<br />
bleiben müssen und so: Das ist mir egal, auch wenn ihr es nicht verstehen könnt, ich<br />
muss weg!<br />
In den nächsten Tagen werde ich Professor Braun noch auf einem Kongress<br />
assistieren, dann ist endgültig Schluss.<br />
Ich denke, ich werde ein wenig reisen. Geld habe ich noch.<br />
5. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Nostalgie<br />
Hier habe ich jetzt alles geregelt. Morgen reise ich über Einbeck nach Hildesheim,<br />
meinem Geburtsort, um mich der glücklicheren Tage meiner Kindheit zu erinnern.<br />
Außerdem möchte ich unser schönes Haus wiedersehen, aus dem wir, nach dem<br />
Tode meines Vaters, in die hässliche Vorstadt von Berlin gezogen sind. Ich schreibe<br />
dir.<br />
9. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Hildesheim, die Rosenstadt. Wie schön die Erinnerungen sind, damals war noch<br />
alles gut. Ich musste daran denken, wie ich früher nur weg wollte. Und jetzt komme<br />
ich von der kalten Welt wieder <strong>zur</strong>ück nach Hause. Ich erinnere mich noch gut an die<br />
damaligen Tage, ich konnte stundenlang durch das Innerstetal stromern. Auch die<br />
ehemalige Ackerbauschule besteht noch, an der mein Großvater glaub ich Lehrer<br />
war, heute ist das ein Gymnasium. Aber kein bekanntes Gesicht mehr!<br />
Ich bin alleine, was für eine beschissene Welt.<br />
24
25. Mai<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Professor Braun hat mich überredet, ihm nochmals bei einer Vortragsreihe in Bonn<br />
<strong>zur</strong> Hand zu gehen. Jetzt sitze ich hier in einem gediegenen Hotelzimmer mit Blick<br />
auf den Rhein (wo ich doch lieber die Leine sehen würde)<br />
Du glaubst nicht, was mir gestern durch den Kopf gegangen ist. Als ich am Abend<br />
den Fernseher eingeschaltet hatte, berichteten sie wieder über Terroranschläge und<br />
den Kampf in dieser Welt. Über all das Elend und wie Amerika sie davon befreien<br />
will. Und da geschah es: Ich beschloss in den Krieg zu ziehen. Hauptsache, weit<br />
weg.<br />
Ich sprach mit Braun darüber, aber er empfahl mir, die ganze Sache sausen zu<br />
lassen, da ich nicht der richtige für den Krieg sei.<br />
Ich hätte irre sein müssen, ihm nicht zu glauben.<br />
18. Juni<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Wo ich hin will?<br />
Ich sag´s dir, aber du musst die Klappe halten. Vorerst bleib ich noch auf Reisen.<br />
Ein mir bekannter Geologe hat mich eingeladen, die stillgelegten Salzbergwerke in<br />
Bad Salzdethfurt und Giesen zu besichtigen: Die Gänge sollen Hunderte von<br />
Kilometern lang sein - aber das ist auch nur ein Versuch, um Lotta wieder näher zu<br />
kommen. Ach, ich könnte über meine eigene rosarote Brille lachen, na was soll´s...<br />
Ich glaub, ich sehe mich in Hannover nach einer Bleibe um, vielleicht ist mein altes<br />
WG-Zimmer frei …<br />
29. Juli<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Hannover: die Hölle!<br />
Boah, ich halt das einfach nicht aus! Sie und er, ich und sie nicht. Ich bin<br />
mittlerweile so rettungslos eifersüchtig, ich fang bei jedem zweiten Gedanken fast an<br />
zu heulen.<br />
Und dann muss ich auch noch mit ansehen, wie er sie liebevoll betatscht, dieser<br />
Grobian.<br />
Und weißte was!? Sie wäre viel glücklicher mit mir! Er kann ihr doch gar nicht das<br />
bieten, was sie braucht. Er ist einfach nicht feinfühlig genug, versteht nicht wie man<br />
eine Frau richtig behandelt. Ein grober Klotz, ach! Zwar ist er ihr ganz ergeben, aber<br />
er irgendwie will er ihr doch nur an die Wäsche ...<br />
Ach, was rede ich da, er war immer gut zu ihr, ich bin verwirrt. Ich schreib dir,<br />
wenn’s mir wieder besser geht ...<br />
25
4. August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich hab erkennen müssen, dass es nicht nur mir so geht, dass nicht nur ich mich<br />
vor Kummer selbst zerstöre.<br />
Jeder Mensch, den man auf der Straße trifft, hat seine eigenen Probleme und<br />
manchen geht es sogar schlimmer als mir.<br />
Erst gestern habe ich eine ehemalige Kommilitonin mit ihren Kindern auf einer<br />
Bank vor der MHH getroffen. Ihr ältester Sohn erkannte mich und lief mir entgegen.<br />
Seine Mutter sah in mein Gesicht und berichtete mit, dass sie gerade von der<br />
Intensivstation komme, wo ihr jüngster Sohn Hannes an einer Hirnhautentzündung<br />
gestorben sei. Wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, war ich wie vom Donner<br />
gerührt und konnte weder klar denken noch sprechen. Sie versuchte ihre Kinder mit<br />
einer Packung Schokoriegel abzulenken und bot auch mir etwas an.<br />
Schweigend nahm ich mir einen Riegel und ging.<br />
21. August<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich bin froh, dass du nicht das durchmachen musst, was in meinem Herzen<br />
vorgeht! Es gibt Momente, da bin ich völlig glücklich und kann mir keinen schöneren<br />
Moment vorstellen.<br />
Und dann gibt es wieder Augenblicke, in denen stelle ich mir un glaubliche<br />
Situationen vor, beispielsweise wie es wäre, wenn Constantin umkommen würde<br />
und ich Lottas Nummer eins werden würde. Sich derartige Dinge vorzustellen zu<br />
können, macht mich beklommen. Bin ich ein Ungeheuer?<br />
3. September<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich kann´s nicht fassen! Wieso? Ich frage mich, warum jemand anderes das Recht<br />
hat, auf das Mädchen zu stehen, das ich doch so heiß und innig wie kein Zweiter<br />
liebe! Wir sind zwar eigentlich nichts weiter als Freunde, und trotzdem kann ich es<br />
nicht ertragen, wenn Constantin mit ihr spricht. Sie gehört zu mir! (Bald kann ich mich<br />
nur noch in ausgeleierten Schlagerversen ausdrücken!)<br />
6. September<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Auf dem Maschseefest, als ich die süße Lotta das erste Mal sah und mit ihr ins<br />
Gespräch kam, trug ich mein gelb-blau-kariertes Sommerhemd. Letzten Endes ist es<br />
26
ja ein gewöhnliches Hemd, aber wenn ich es sehe oder trage, erinnere ich mich an<br />
diesen schönen Tag. Es ist wie Musik, die man in einer bestimmten Situation gehört<br />
hat und immer, wenn man sie hört, erinnert man wieder an jedes Detail.<br />
Wie dem auch sei, ich habe mir bereits eine Jacke und eine Hose in den gleichen<br />
Farben in einem dieser großen Modehäuser gekauft, die jetzt versuchen, alles auf<br />
Englisch an den verblödeten Kunden zu bringen. Ich sage nur SALE! (Genau! = frz.<br />
schmutzig!) In Berlin ist das doch bestimmt der gleiche Scheiß (oder muss ich shit<br />
sagen?)?<br />
15. September<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Habe ich dir schon von den Nussbäumen auf dem Pfarrhof zu Ahrbergen erzählt,<br />
unter denen ich früher mit Lotta gesessen habe? Das waren herrliche Bäume, sie<br />
machten den Pfarrhof ganz vertraulich und spendeten kühlenden Schatten. Jetzt<br />
haben sie diese schönen Bäume gefällt! Als ich deshalb mit dem Schulleiter aus dem<br />
Dorf sprach, hatte er Tränen in den Augen. Er hat mir erzählt, dass der alte Pfarrer<br />
die Bäume vor Jahren mühevoll gepflanzt habe. Das ganze Dorf sei jetzt wütend auf<br />
die Frau des neuen Pfarrers, denn sie hat veranlasst, dass die Bäume gefällt<br />
werden. Und das nur, damit sie nicht mit dem Laub zu kämpfen hat oder von Kindern<br />
gestört wird, wenn die versuchen an die Nüsse zu kommen!<br />
Ich habe die anderen Einwohner gefragt, warum sie nichts dagegen getan hätten.<br />
Diese zuckten mit den Schultern und sagten nur, dass es der Wille des<br />
Bürgermeisters gewesen sei und dagegen könne man nichts tun.<br />
Als der Bürgermeister und der Pfarrer aber das Holz auch noch an den<br />
Meistbietenden verschachern wollten, mischte sich die zuständige Kammer ein und<br />
machte selber den Reibach. Ach, wenn es mir besser ginge, wäre ich schon längst<br />
bei den Grünen …<br />
10. Oktober<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Schon wenn ich in ihre grünen Augen sehe, bin ich überglücklich!<br />
Und es verärgert mich total, wenn ich sehe, dass Constantin weniger glücklich mit<br />
ihr zu sein scheint.<br />
12. Oktober<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Mein Musikgeschmack hat sich mittlerweile geändert. Ich höre schon lange keinen<br />
Jack Johnson mehr, mir ist wirklich nicht mehr danach. Ich höre jetzt viel öfter die<br />
Hamburger Band Tocotronic, das ist das wahre Leben:<br />
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Mein Ruin das ist zunächst<br />
Etwas das gewachsen ist<br />
Wie eine Welle die mich trägt<br />
Und mich dann unter sich begräbt<br />
19. Oktober<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Diese Leere in meiner Brust! Ich denke mir oft, dass ich wieder glücklich werden<br />
könnte, wenn ich sie nur einmal an mich drücken könnte!<br />
26. Oktober<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Der letzte Besuch bei Lotta war irgendwie seltsam. Ich war gerade im<br />
Nebenzimmer und hab Kaffee gekocht und Lotta hatte Besuch von irgendwelchen<br />
Freundinnen. Sie haben über Belanglosigkeiten geredet, der treibts mit der etc. Aber<br />
sie haben auch über eine Bekannte von ihnen gesprochen, die todkrank im<br />
Krankenhaus liegt.<br />
Es war komisch, aber irgendwie habe ich mitgefühlt, also auch darüber<br />
nachgedacht, wie wenig letztlich ein Menschenleben heutzutage zählt. Wenn ich so<br />
zwischen all dem Kram von Lotta stehe, Kleidung, Schmuck usw. dann ist das zwar<br />
alles "normal" und vertraut, aber ich frage mich, ob ich wirklich hierher gehöre und ob<br />
eine Lücke klaffen würde, wenn ich plötzlich weg wäre.<br />
Naja, soviel dazu, bin etwas durch den Wind ...<br />
27. Oktober<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Manchmal würde ich am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Ich habe<br />
so viel verdammte Liebe von mir, die einfach nicht erwidert wird. Aber wie denn<br />
auch?!<br />
30. Oktober<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff:<br />
Ich dreh durch!<br />
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Fast jeden Tag seh ich sie! Ich würde so gerne mal was machen, Initiative<br />
ergreifen, weißte? Aber ich darf nicht!<br />
Es ist so verdammt schwer, sich nicht das zu nehmen, was man mag, oder<br />
unbedingt möchte ... Ist ja eine urmenschliche Veranlagung ...<br />
3. November<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Versager<br />
Die Nächte sind scheiße (Pardon!). Ich schlafe schlecht schlecht schlecht, vor<br />
allem aber das Aufwachen macht mich fertig. Ich habe schon morgens immer dieses<br />
miese Gefühl im Bauch, dass ich sowie nie das bekommen werde, was ich unbedingt<br />
möchte.<br />
Man könnte fast religiös werden bei so viel innerer Unausgeglichenheit. Mal<br />
schwärm ich rum wie ein Jugendlicher, mal bin ich einfach nur leer. Ich kapier´s nicht.<br />
15.November<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Sein oder Nichtsein<br />
Zunächst danke ich dir für deinen Rat, Vincent.<br />
Irgendwie mache ich mir die ganze Zeit Gedanken, ob mein Leben noch einen<br />
wirklichen Sinn hat. Vielleicht soll das alles nicht mehr sein… Ich weiß es einfach<br />
nicht und befinde mich in einem merkwürdigen Zwiespalt.<br />
Am Ende von Tocotronics ,,Ruin’’, du weißt schon, heißt es: ,,Wie eine Welle, die<br />
mich trägt und mich dann unter sich begräbt!’’ – ich finde das ist eine passende<br />
Beschreibung für meine Situation, denn alles um mich herum scheint<br />
zusammenzubrechen…<br />
21.November<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Kopflos<br />
Wieso macht sie es mir so schwer?!<br />
Allein die Art und Weise, wie sie mich anschaut, zerreißt mich innerlich. Auf dem<br />
Weg nach Hause bekomme ich SIE nicht mehr aus dem Kopf - an Schlaf ist nicht zu<br />
denken.<br />
Grüß unbedingt Mutter von mir.<br />
24.November<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Innerer Kampf<br />
Als ich sie heute sah, schien sie mir irgendwie verändert. Ich hatte das Gefühl, als<br />
schaue sie mich anders an. Am liebsten hätte ich sie geküsst, ihr gesagt, wieviel sie<br />
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mir bedeutet. Innerlich kämpfte mein Herz gegen meinen Verstand- ich sehnte mich<br />
so sehr nach ihr, doch wäre es nicht richtig, ihr zu nahezutreten…<br />
30. November<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Bist du eigentlich glücklich?<br />
Ich musste unbedingt auf andere Gedanken kommen, also bin ich heute mit<br />
meinem neuen Bergrad(!) (der gelb-blaue Holländer ist mir geklaut worden) zum<br />
Maschsee gefahren und ließ meine Füße ein wenig im Wasser baumeln. Aber selbst<br />
das stellte mich nicht zufrieden, wie auch alles andere, was ich heute versuchte.<br />
Als ich so dasaß, sah ich nicht weit von mir einen Mann, der etwa in meinem Alter<br />
sein musste, mit seiner Freundin sitzen. Die beiden sahen so glücklich zusammen<br />
aus - ich dachte mir nur, wie gerne auch ich wieder mit solcher Leichtigkeit das<br />
Leben genießen würde. Aber dafür ist es zu spät.<br />
Bei diesem Gedanken kamen mir tatsächlich die Tränen… Mittlerweile glaube ich<br />
fast, dass man irgendwann nicht mehr glücklich sein soll!<br />
Und ich habe,auch keine Kraft mehr, um dieses ungewisse Glück zu kämpfen.<br />
1.Dezember<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Neuigkeiten!<br />
Vincent! Der arme Kerl, von dem ich dir letztens geschrieben habe, war früher<br />
Angestellter bei Lottas Vater! Seine Liebe zu Lotta, die nicht erwidert wurde, hat ihn<br />
verrückt gemacht, und letzten Endes wurde er deswegen sogar gefeuert.<br />
Constantin, ganz der Politiker, hat mir diese Geschichte gerade genauso locker<br />
erzählt, wie du sie in diesem Moment vielleicht liest und verstehst, ich aber versuche<br />
vergeblich, meiner Gefühle Herr zu werden.<br />
Meine E-<strong>Mail</strong> kommt vielleicht trocken rüber, aber ich koche innerlich.<br />
4.Dezember<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: …<br />
Mit mir ist es vorbei. Ich halt´s nicht länger aus.<br />
Heute war ich bei IHR zu Hause und habe ihr beim Klavierspielen zugesehen. Sie<br />
spielt die schwierigsten Melodien mit einem Ausdruck! Unglaublich…<br />
Ihre kleine Schwester saß auf meinem Schoß und hat ihre Puppe geküsst. Mir<br />
kamen plötzlich Tränen in die Augen, ich hab mich dann vorgebeugt und ihren<br />
Ehering gesehen… Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und die Tränen fingen<br />
an zu fließen.<br />
Plötzlich fing sie an, unser altes Lied zu spielen, was all die Erinnerungen<br />
<strong>zur</strong>ückbrachte, die guten, aber auch die schlechten. Das war der Tropfen, der das<br />
Fass zum Überlaufen gebracht hat! Ich ging im Zimmer auf und ab, ich konnte es<br />
nicht ertragen: Um Gottes Willen, hab ich geschrien, um Gottes Willen, hör doch auf!<br />
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Sie hat ruckartig aufgehört zu spielen und starrte mich geschockt an. Paul, hat sie<br />
mit einem Lächeln gesagt, das mir den Rest gab, Paul, du bist krank. Du hast dich so<br />
verändert. Hau jetzt ab! Und bitte, beruhige dich.<br />
Ich hab mich von ihr weggerissen.<br />
Gott! Mach´ Schluss mit meinem Elend!<br />
6.Dezember<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Wahn<br />
Wie mich diese Frau verfolgt…<br />
Egal, ob ich wach bin oder träume, ich sehe immer nur IHR Gesicht. Wenn ich<br />
meine Augen schließe, sehe ich ihre Augen. Ich kann es dir gar nicht beschreiben,<br />
ich schließe meine Augen und schon sind IHRE da! Wie ein Meer, wie ein Abgrund<br />
schweben sie vor mir.<br />
Was ist der Mensch?!<br />
Ein „Halbgott“! Lächerlich! Gerade bei solchen Sachen fehlen ihm die nötigen<br />
Fähigkeiten. Und wenn er unglaublich glücklich ist oder unfassbar leidet, gerade<br />
wenn er versucht, sich zu verlieren, dann wird er aufgehalten und wieder in die kalte<br />
Realität befördert!<br />
8.Dezember<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Das Wasser steigt.<br />
Vincent, es geht mir gerade so, wie es Leuten gegangen sein muss, die aus<br />
Unglück wahnsinnig geworden sind. Manchmal packt es mich, es ist nicht Angst und<br />
auch keine Lust, sondern ein Toben in mir, das mich von innen her zerreißt. Und<br />
dann, trotz der Kälte, gehe ich raus und treibe mich stundenlang rum.<br />
Auch gestern musste ich raus. Ich habe abends noch gehört, dass die Leine und<br />
die ganzen Bäche von Hannover meine Lieblingsplätze überschwemmt haben! Ich<br />
hab dann meinen MP3-Player geschnappt, Tocotronic angemacht und bin noch nach<br />
23.00 Uhr losgeradelt.<br />
Es sah echt schlimm aus! Felder und Gärten überschwemmt, die Nacht tat mit dem<br />
Mondschein ihr Übriges. Als ich die schwarze Flut so gesehen habe, durchlief mich<br />
ein Schauer, aber komischerweise auch eine Sehnsucht. Eine Sehnsucht, mich<br />
einfach fallen zu lassen, einfach mit meinem miserablen Leben Schluss zu machen.<br />
Vincent, du glaubst nicht, wie gerne ich da runtergesprungen wäre, um allem ein<br />
Ende zu machen! - Aber ich weiß, dass meine Zeit noch nicht abgelaufen ist.<br />
Dann habe ich unten all die Plätze erkannt, die ich mit Lotta verbinde. Bäume,<br />
unter denen wir gesessen haben, die Wiesen, die wir durchstreiften – alles von<br />
Wasser bedeckt. Erinnerungen an eine schöne Zeit!<br />
Ich kam mir vor wie ein Neunzigjähriger, der kurz bevor er stirbt, noch seine<br />
wichtigsten Sachen zusammensucht.<br />
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17. Dezember<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Es wird schlimmer.<br />
Was ist denn jetzt mit mir los? Ich erschrecke vor mir selbst! Ich dachte, meine<br />
Liebe sei brüderlich und rein … Und jetzt dieser Traum. Diese Nacht! Ich trau mich<br />
kaum, dir zu schreiben, was ich geträumt habe… Ich zittere es zu sagen: Ich hielt<br />
SIE in meinen Armen, fest an mich gedrückt, und habe sie mit zahllosen Küssen<br />
überdeckt. Sie war ebenso im Rausch wie ich.<br />
Mann, was bin ich denn für ein Mensch, ich rufe mir diesen Traum sogar<br />
andauernd wieder ins Gedächtnis! Das alles macht mich völlig fertig, schon seit acht<br />
Tagen kann ich nicht mehr richtig denken, ständig habe ich Tränen in den Augen, ich<br />
höre nur noch Tocotronic - Es wäre besser, wenn ich gehen würde.<br />
Mit mir ist´s aus!<br />
20. Dezember<br />
Von: Paul<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Keine Rückkehr<br />
Danke, für die Hilfe. Nein, ich will erst mal nicht zu euch <strong>zur</strong>ück. Warte aber noch<br />
14 Tage, dann kannst du mich abholen, wenn du möchtest.<br />
Sag Mutter, sie soll für mich beten und dass sie mir nicht böse sein soll, wegen all<br />
dem Stress, den ich ihr bereitet habe.<br />
Mach´s gut, Vincent, mein Bester!<br />
24.Dezember<br />
Von: Justin<br />
An: Vincent<br />
Betreff: Paul W.<br />
Anlagen: BriefanLotta.doc<br />
Hallo, Vincent,<br />
Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, wer ich bin. Ich bin Justin, ein Mitbewohner<br />
der WG von Paul.<br />
Ich habe keine guten Nachrichten, es schrecklich, was mit Paul passiert ist. Aber<br />
es scheint sein letzter Ausweg gewesen zu sein. Er hat sich vor zwei Tagen<br />
entschieden, sein Leben durch eine Überdosis an Schlaftabletten zu beenden.<br />
Ich möchte Ihnen und seiner Mutter mein herzliches Beileid aussprechen und<br />
denke, dass Sie wissen möchten, was hier die letzten Tage geschehen ist. Denn wie<br />
ich mehreren Gesprächen entnommen habe, sind Sie Pauls bester Freund und sein<br />
einziger Kontakt zu seiner Familie. Daher werden Sie auch die Geschichte mit Lotta<br />
und Constantin kennen …<br />
Ich schildere Ihnen seine letzten Tage aus meiner Sicht.<br />
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Es war der Sonntag vor Weihnachten, als Paul zu mir sagte: „Justin, ich fahre zu<br />
Lotta.“ Ich dachte mir nichts dabei, es war ja sehr oft der Fall gewesen, dass er sich<br />
zu ihr auf den Weg machte. Paul besuchte Lotta so oft, dass es in ihrer Ehe zu<br />
Spannungen kam. Constantin machte Paul für all seine Probleme verantwortlich.<br />
Paul legte seine Treffen mit Lotta nun so, dass Constantin nicht anwesend war.<br />
Dieser verbot Lotta aber schließlich, sich mit Paul zu treffen.<br />
Dies alles hat mir Paul erzählt. Doch als er an diesem Sonntag wiederkam, wurde<br />
mir klar, dass dieses Treffen nicht normal verlaufen war. Ich wollte ihn ansprechen,<br />
aber es war unmöglich, an ihn heranzukommen. Er knallte seine Tür zu und war<br />
verschwunden. Er hat in seinem Zimmer getobt und rief etwas wie: „Sie gehört dir<br />
nicht, niemals, sie gehört mir!“<br />
Er wollte keinen sprechen, ich hätte ihm gerne geholfen, aber es war nichts zu<br />
machen. Er hörte in letzter Zeit sowieso lieber Musik als sich mit mir zu unterhalten<br />
oder in die Natur zu gehen, wie er so sonst immer getan hat. Leider war es keine<br />
fröhliche Musik, ganz im Gegenteil! Auch an diesem Abend lief das Lied, welches ihn<br />
durch die ganze traurige Zeit begleitete - „Mein Ruin“ von Tocotronic. Ich werde<br />
Ihnen nun die Lieblingsstrophen Ihres besten Freundes abschreiben, die er meistens<br />
laut mitsang. (Können Sie auch im Internet anhören.)<br />
Ich denke, der Songtext sagt mehr als ich es je könnte:<br />
Mein Ruin das ist zunächst<br />
Etwas das gewachsen ist<br />
Wie eine Welle die mich trägt<br />
Und mich dann unter sich begräbt<br />
Mein Ruin ist, was mich zieht<br />
Wiederholung als Prinzip<br />
Ein Zusammenbruch, ein Fall<br />
Ein Versuch, ein Donnerhall<br />
Mein Ruin ist mein Bereich<br />
Denn ich bin nicht einer von euch<br />
Mein Ruin ist was mir bleibt<br />
Wenn alles andere sich zerstäubt<br />
Morgens um sechs betrat ich Pauls Zimmer,denn ich hatte nichts von ihm gehört.<br />
Normalerweise steht er morgens immer sehr früh auf. Da musste also etwas nicht<br />
stimmen. Aber was ich vorfand, hätte ich nicht erwartet…<br />
Ich fand ihn auf dem Sofa liegend. Auf dem Tisch stand sein Laptop mit einem<br />
geöffneten Dokument, daneben eine leere Wodkaflasche und eine leere Packung<br />
Schlaftabletten. Ich fühlte sofort den Puls, aber es war nichts zu spüren. Sofort rief<br />
ich den Notarzt und Lotta und Constantin an. Lotta und der Notarzt trafen gleichzeitig<br />
ein, doch der Arzt konnte nicht mehr helfen, die Dosis war zu groß.<br />
Als Lotta ihn so leblos liegen sah, zitterte sie am ganzen Körper. Vielleicht hat sie<br />
gespürt, dass Paul sich ihretwegen das Leben genommen hat. Bei dem geöffneten<br />
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Dokument auf seinem Laptop handelte es sich nämlich um einen Brief an Lotta.<br />
Diesen Brief schicke ich Ihnen als Anlage mit.<br />
Ich werde Paul vermissen. Er ist tot, aber er wird in meiner Erinnerung weiterleben!<br />
Ihr Justin Hansen<br />
Anlage: BriefanLotta.doc<br />
Lotta, meine Lotta!<br />
Ich habe beschlossen zu sterben.<br />
Dies schreib ich DIR an dem Tag, an dem ich dich zum letzten Mal gesehen habe.<br />
DU gehörst nicht zu Constantin, du gehörst zu MIR!<br />
Der gestrige Abend war unsere letzte Begegnung und der letzte Tag in meinem jungen Leben. Kaum war ich zu Hause,<br />
warf ich mich in meinem Zimmer auf die Knie, hörte danach noch das Lied, welches mich durch die letzte Zeit<br />
getreulich begleitet hat.<br />
Meine Gedanken waren wirr, doch jetzt ist es mir klar: Ich will sterben! Es ist nicht aus Verzweiflung, es ist in<br />
der Gewissheit zu wissen, dass ich überflüssig bin.<br />
Constantin ist ohne jedes echte Gefühl. Hat er sich tatsächlich nicht an unser Gespräch über den Selbstmord<br />
erinnert!? Ich weiß nicht, ob du von der E-<strong>Mail</strong> weißt, die ich ihm gestern Abend nach unserem Treffen geschickt habe.<br />
In dieser bat ich ihn um starke Schlaftabletten, weil ich seit langer Zeit nicht schlafen könne. Ihm muss doch sofort<br />
klar gewesen sein, dass ich sie nicht brauchte, um meine Schlafstörungen zu beseitigen, sondern um sie anderweitig zu<br />
verwenden!<br />
Und falls du auch davon Bescheid wusstest, wovon ich hundertprozentig überzeugt bin, dann bin ich dir sehr<br />
dankbar. Wahrscheinlich warst es auch du, die dem von mir bestellten Kurier die Schlaftabletten übergeben hat!? Ich<br />
hätte gerne deine Reaktion gesehen… Entweder hast du sie ihm mit klammheimlicher Freude übergeben, weil du froh<br />
warst, dass ich endlich aus deinem Leben verschwinden würde, oder du hast sehr zögerlich reagiert, weil du geahnt<br />
hast, dass ich mit Hilfe der Schlaftabletten nicht meine „normalen“ Schlafstörungen könnte ...<br />
Lotta, ich opfere mich bei vollem Bewusstsein, denn einer von uns dreien muss gehen.<br />
O Liebes, ich habe sogar darüber nachgedacht, Constantin zu ermorden, doch jetzt habe ich wohl die bessere Lösung<br />
gefunden.<br />
Du erwartest mich am Weihnachtsabend , doch statt meiner wirst du diesen Brief in Händen halten.<br />
Sei ruhig! Ich bitte dich, sei ruhig!<br />
Es gibt noch etwas, worum ich dich bitte:<br />
Ich möchte ich in den Kleidern begraben werden, die ich jetzt trage. Diese Kleider hast du zuletzt berührt und ich<br />
möchte ewig deinen Duft riechen! Außerdem wünsche ich mir, dass du die blassrote Schleife, welches du mir zum<br />
Geburtstag geschenkt hast, mit ins Grab legst.<br />
Ich küsse DICH.<br />
Ich küsse DICH.<br />
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Leb wohl.<br />
Dein Paul<br />
PS: Anbei ein Foto aus glücklicheren Tagen.<br />
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An diesem Text haben mitgearbeitet:<br />
Fenja Presuhn (Fotografie), Isabel Kunze, Larissa Behrens,<br />
Merten Zenker, Conrad Schütte (Fotomodell), Johannes<br />
Ostermeyer (Fotomodell), Viktoria Forstmeier, Annika Funk<br />
(Fotomodell), Jannick Bettels, Dorian Schrell, Jens<br />
Buerschaper, Ute Reichert, Christina Deneke, Stephanie<br />
Wuttke, Johannes Lüntzel, Lewin Schmidt, Bastian<br />
Schillmöller, Mark Rode, Börge Steenken, Tim Schnurer,<br />
Manuel Eggers.<br />
Ein besonderer Dank geht an Isabel, die unserem Projekt<br />
viele Stunden geopfert hat.<br />
Copyright: <strong>Michelsenschule</strong> Hildesheim. 12.de7(Scs). Juni 2009<br />
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